Opfergrab - Ralf Gebhardt - E-Book
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Opfergrab E-Book

Ralf Gebhardt

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Beschreibung

Ein brutaler Serienmörder und ein Wettrennen gegen die Zeit …
Thaler und Kralik ermitteln im packenden Kriminalthriller

Eigentlich wollten die beiden Kriminalhauptkommissare Christian Thaler und Stephan Kralik sich bei ihren Ermittlungen nicht in die Quere kommen – zu gegensätzlich sind sie. Doch als Frauenleichen im Wochentakt gefunden werden, wissen beide, dass sie es mit einem grausamen Serienmörder zu tun haben und sie diesen nur gemeinsam stellen können. Deshalb raufen sich die eigensinnigen Ermittler zusammen und folgen der einzigen Spur, die sie haben: Neben jedem neuen Opfer brennt ein weißes Grablicht, während  eine Spielkarte auf ihre Stirn genagelt ist und die Arme auf ein Holzkreuz gebunden sind. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der Thaler und Kralik bis in die Vergangenheit führt …

Erste Leser:innenstimmen
„Sympathisches Ermittlerduo und ein hochspannender Fall, ich kann den Krimi nur empfehlen!“
„Hat mich immer wieder überrascht und vor allem durchgehend an die Seiten gefesselt.“
„Überzeugende Mischung aus Krimi und Thriller, aber nichts für schwache Nerven.“
„Schreibstil und Handlung laden zum Verschlingen ein – Spannung pur!“

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Seitenzahl: 382

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Über dieses E-Book

Eigentlich wollten die beiden Kriminalhauptkommissare Christian Thaler und Stephan Kralik sich bei ihren Ermittlungen nicht in die Quere kommen – zu gegensätzlich sind sie. Doch als Frauenleichen im Wochentakt gefunden werden, wissen beide, dass sie es mit einem grausamen Serienmörder zu tun haben und sie diesen nur gemeinsam stellen können. Deshalb raufen sich die eigensinnigen Ermittler zusammen und folgen der einzigen Spur, die sie haben: Neben jedem neuen Opfer brennt ein weißes Grablicht, während  eine Spielkarte auf ihre Stirn genagelt ist und die Arme auf ein Holzkreuz gebunden sind. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der Thaler und Kralik bis in die Vergangenheit führt …

Impressum

Erstausgabe Juli 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-330-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-384-9 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-957-5

Covergestaltung: Jasmin Kreilmann unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © Wstockstudio, © chisi666, © Ensuper, © Nik_Merkulov, © jannystockphoto, © amber_85 Lektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 21.07.2023, 16:03:56.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig. Bei Orten und Örtlichkeiten hat der Autor sich die Freiheit genommen, sie den Erfordernissen der Geschichte anzupassen.

Opfergrab

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Opfergrab
Ralf Gebhardt
ISBN: 978-3-98637-957-5

Ein brutaler Serienmörder und ein Wettrennen gegen die Zeit … Thaler und Kralik ermitteln im packenden Kriminalthriller

Das Hörbuch wird gesprochen von Moritz Brendel.
Mehr Infos hier

Eins

Die schwarz-grüne Fliege versuchte schon den ganzen Tag vergeblich, hinter den geschlossenen Lamellen gegen den Staub und die Hitze des Fensterglases anzufliegen. Niemand machte sich die Mühe, sie zu verscheuchen oder zu erschlagen. Dafür war sie nicht lästig genug. Je ruhiger sie wurde, je weniger Beachtung bekam sie. Bis zu dem Moment, als sie herunterfiel und einfach liegen blieb. Es war die plötzliche Stille, die alle hellhörig machte.

„Der Tod gehört zum Geschäft.“

„Tja, wem sagst du das.“

„Der Sensenmann richtet sich nach keinem Zeitplan.“

„So, genug der Philosophie, meine Herren, es ist Freitag, neunzehn Uhr. Wir haben ausreichend abgestandene Büroluft eingeatmet. Auch wenn es heute, wie leider so oft, keinen Grund zum Feiern gibt, sollten wir am Ritual festhalten.“

Sie nickten und würfelten nacheinander. Torsten verlor, er hatte mit der Zwei die niedrigste Zahl. Seufzend stand er auf.

„Öffnen müsst ihr selber.“

Er stellte die eisgekühlten Bierflaschen mit Schwung auf die Schreibtische seiner Kollegen.

„Na dann, zum Wohle!“

„Was trinkst du? Ein Alkoholfreies?“

Mario sah auf. „Einen erwischt es immer.“

„Lasst mich ja mit dem Zeug in Ruhe und macht euch um mich mal keine Sorgen. Ersatzstoff trinke ich nicht. Einer der Bullen muss ja nüchtern bleiben, um fahren zu können, und das Schicksal hat bekanntlich soeben beschlossen, dass ich an der Reihe bin.“

Die anderen waren froh, dass sie mehr Glück gehabt hatten als Torsten. Sie schoben ihre Unterlagen in die Aktenmappen und schlossen sie weg.

„Montag ist auch noch ein Tag.“ Nun war es an Silvio, eine Lebensweisheit von sich zu geben.

Gläser brauchten sie nicht. Wie immer standen sie noch kurz mit den Flaschen in der Hand vor der Glaswand und betrachteten die Bilder, Zeichnungen und Notizen der ungelösten Fälle.

„Schon was vor?“ Silvio mochte kurze Sätze.

„Am Wochenende? Eigentlich nicht. Das Wetter soll aber schön werden.“ Mario hob seine Flasche.

„Na dann, wir könnten ja morgen Abend bei mir grillen und die eine oder andere Hopfen-Kaltschale trinken.“

Torsten übernahm nun wieder die Initiative.

„Als wenn wir nicht schon in der Woche genug aufeinanderhängen.“

Sie lachten und stießen an.

„Also abgemacht.“

Dieser kurze Satz klang wie ein Chor, den Mario mit den Worten beendete: „Aber nur mangels besserer Ideen und weil wir sonst keine Freunde haben.“

Schweigend betrachteten sie die neuesten Fotos, einer jungen Frau. Sie war noch nicht lange tot gewesen, als man sie gefunden hatte.

„Ein hübsches Mädchen.“

„Du sagst es, Torsten.“

Sie prosteten sich zu.

„Blond, jung, perfekte weiße Zähne. Julia Keller war eine sehr schöne Verkäuferin.“ Silvio nickte, um seine Worte zu unterstreichen.

„Schluss jetzt, das macht sie auch nicht wieder lebendig. So, wie du von ihr sprichst, könnte man denken, du bist wie ein Schüler, der in seine Lehrerin verliebt ist.“

Torsten nahm einen letzten Schluck Cola. „Trinkt aus, ich will nach Hause. Sonst muss ich mit euch Pappnasen noch in der Polizeiinspektion übernachten und mir den Ort hier als Nebenwohnung eintragen lassen.“

Wenig später saßen sie in seinem alten Passat und fuhren in Richtung Hochstraße zur Neustadt.

„Was für eine Woche.“

Silvio saß hinten rechts und gähnte. Er hatte die Augen halb geschlossen, um nicht von der tief stehenden Sonne geblendet zu werden.

„Wir ermitteln jetzt schon eine Woche und haben immer noch nichts Konkretes in Erfahrung gebracht. Wir wissen, wie sie heißt, woher sie kommt und kennen ihre Familiengeschichte. Aber vom Täter oder der Täterin wissen wir noch gar nichts. Darüber hinaus ist das ja auch nicht unser einziger Fall. Es gibt immer mehr zu tun, als wir eigentlich schaffen können. Ich weiß nicht, ob irgendwann der Tag kommt, an dem wir mal nichts haben und an dem es keine ungeklärten Fälle mehr gibt. Wäre ich gläubig, würde ich dafür beten. Ein Tag ohne Ermittlungen, Tod, Gewalt und Sumpf. Keine Sonderkommission, nichts, nur alte Berichte abtippen und den Schreibtisch aufräumen.“

Er kurbelte die Fensterscheibe herunter und spuckte. „Knicken, lochen, abheften. Bürosport.“

„Mach zu, es zieht. Es waren übrigens erst fünf Tage“, entgegnete Torsten.

„Häh?“ Silvio schloss das Fenster.

„Es waren fünf Tage, mein Lieber. Du sagtest gerade, dass wir schon eine Woche ermitteln. Montag wurde die Leiche gefunden und heute ist Freitag. Das ist noch keine ganze Woche, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Selbst, wenn man den Sonntag hinzurechnet, an dem sie ermordet wurde, ergibt das keine volle Woche.“

„Klugscheißer! Konzentrier dich lieber aufs Fahren!“, sagte Silvio entnervt.

Sie hatten in der Zwischenzeit den Halleschen Riebeckplatz überquert. Es gab um diese Zeit kaum Verkehr, nur einige Ausflügler.

„Warum lag sie in einer Dorfkirche? Warum sah es so aus, als hätte man sie gekreuzigt? Warum überhaupt sie?“ Torsten war gedanklich noch immer bei dem Fall.

„Hört auf, Jungs, ich hasse es, Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Wir schrubben schon in der Woche mehr Stunden, als unserem Dienstherrn eigentlich zustehen.“

Mario, der auf dem Beifahrersitz saß, sprach sonst eher wenig.

„Kripo hin oder her, ich will jetzt Feierabend haben, okay? Also lasst mich in Ruhe.“

Er schloss die Augen und fügte ein leises „Bitte“ hinzu.

Doch es dauerte nicht lange, da fing Torsten schon wieder an. „Noch mal ganz kurz, entschuldigt, aber mir geht da etwas nicht aus dem Kopf. Ich muss die ganze Zeit an die Spielkarte denken, die man ihr auf die Stirn genagelt hatte.“

Sofort waren sie in Gedanken wieder bei der Pik Sieben.

„Diese Karten kann man in jedem größeren Supermarkt kaufen. In der Spielwarenabteilung oder bei den Zeitschriften ist das Massenware. Oft sogar auch am Bahnhofskiosk und einfach online. Aber warum ausgerechnet …“

Silvio fiel ihm ins Wort: „Ja, Massenware, das stimmt, darum dreht es sich doch. So können wir das nicht zurückverfolgen. Außerdem hat der Täter keinerlei Spuren hinterlassen. Die Pik-Sieben kann Zufall oder Absicht sein … sie kann uns etwas sagen wollen …“

Silvio unterbrach ihn. „Okay, es war eine schwarze Spielkarte und keine Herzdame, auch keine andere Karte, verdammt. Das hast du doch alles schon in deinen Bericht geschrieben, es lohnt sich also nicht, erneut darüber zu spekulieren, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Kreuz hätte eine religiöse Bedeutung, Pik könnte das Gegenstück zur roten Sieben sein, und schwarz für das Böse stehen. Oder die Bedeutung liegt noch tiefer, wie beim Tarot. Vielleicht sind wir aber auch komplett auf dem Holzweg, und alles ist ganz anders. Wir wissen es nicht. Noch nicht zumindest.“

„Jemand hat sie auf die Stirn des Opfers genagelt, und zwar jedes Mal. Das lässt mir einfach keine Ruhe. Wartet, ich habe …“, sagte Torsten.

„Du sollst dich aufs Fahren konzentrieren!“, bekam er als Antwort.

„… also, ganz kurz noch, okay? Das war eine nigelnagelneue Spielkarte, da sind wir uns doch einig. Wir haben uns alle Gedanken darum gemacht, unsere Theorien besprochen und aufgeschrieben. Aber eins, meine Freunde, haben wir alle gesehen und dennoch nicht beachtet.“

Jetzt hatte Torsten mit seiner kleinen Kunstpause die volle Aufmerksamkeit des Teams. Er klappte die Sonnenblende nach unten und drehte den Kopf seitlich, um seine Kollegen besser sehen zu können.

„Es ist nur ein Detail, doch es scheint nicht unwichtig zu sein. Es war eine nagelneue Spielkarte, frisch aus einem Blatt gezaubert … warum hat sie dann im rechten oberen Drittel eine feine Kerbe? Es sieht aus wie ein kleiner, seitlicher Schnitt.“

„Hm.“ Mario kratzte sich am Kinn. „Ja, stimmt. Jetzt, wo du es sagst. Ist mir auch aufgefallen, aber bis gerade fand ich es nicht weiter wichtig. Wir sollten das nächste Woche bei der Soko-Besprechung erwähnen, und vor allem in die Akten zu den Ermittlungen eintragen, damit die anderen Kollegen auch darauf achten. Kann ja nicht sein, dass das ein Zufall ist. Eine neue Spielkarte mit einer Kerbe, das muss einfach eine Bedeutung haben. Aber nun konzentrier dich lieber wieder auf den Verkehr und guck besser nach vorn …“

Doch es war bereits zu spät. Dort, wo sich die Hochstraße in Doppelspuren teilte und in der Mitte die Abfahrt zur Innenstadt freigab, stand ein Tanklaster. Dessen Warnblinklicht war eingeschaltet. Torsten schrie auf, versuchte, das Lenkrad herumzureißen und zur rechten Seite auszuweichen. Er bremste mit voller Kraft, aber es reichte nicht aus. Sie prallten gegen einen in der Nebenspur fahrenden Lieferwagen, wurden zurückgeschleudert und krachten in den seitlichen Unterfahrschutz des Tankwagens. Die Dachholme des Passats hielten nicht stand und bogen sich nach innen. Metall kreischte und Funken flogen. Nur Bruchteile von Sekunden später erfolgte ein Schlag von rechts, von dem Lieferwagen, der sich mehrmals gedreht hatte und nun in sie hineingeknallt war. Dieser Aufprall drückte sie noch tiefer unter den Lkw, riss dessen Schutzplanken ab und zerdrückte das Dach des Volkswagens. Der Aufschlag war so heftig, dass der Fahrer des Lieferwagens durch die Frontscheibe geschleudert wurde und hart auf den Asphalt knallte. Autoteile und Glassplitter zerbarsten in einer Wolke. Zäher, gummihaltiger Chemiegeschmack legte sich auf ihre Zungen und feiner Rauch stieg auf.

Dass es außerdem intensiv nach auslaufendem Benzin roch, registrierten sie längst nicht mehr.

Zwei

Gierig sog sie die frische Luft ein und genoss den Geruch von geschnittenem Holz und feuchtem Laub. Es war Samstagmittag, eine Zeit, zu der meist relativ wenige Menschen im Park unterwegs waren. Wie jede Woche genoss sie ihre Joggingrunde um den kleinen See. Ihre Schirmmütze schützte sie vor den Strahlen der hochstehenden Sonne, die es fast geschafft hatte, die Folgen des Vorabendregens zu vertreiben.

Die geplanten zehn Kilometer waren erledigt. Doch vor der letzten Kurve wäre sie fast ausgerutscht.

Verdammt!

Sie nahm die Kopfhörer aus den Ohren und lief langsamer.

Das fehlte gerade noch.

Dann stoppte sie die Lauf-App auf dem Telefon.

Ist doch eigentlich eine ganz passable Zeit geworden. Zufrieden steckte sie das Handy wieder ein.

Die letzte Runde um den See, knapp 1,8 Kilometer, lief sie langsamer, um zur Ruhe zu kommen. Sie beobachtete die Enten und ließ das Rauschen der Bäume auf sich wirken.

Sitzt da jemand?

Sie kam näher und sah, wie sich ein Mann an einem Stamm abstützte. Seinen rechten Schuh und die Socke hatte er ausgezogen. Jetzt konnte sie erkennen, dass sein Knöchel feuerrot war.

„Oh, hallo, ist Ihnen etwas passiert? Das sieht ja böse aus.“

Der Mann blickte auf. „Nicht so schlimm, geht schon. Ich bin im Matsch ausgerutscht.“ Er zeigte auf eine Pfütze. „Ich bin oft hier, um zu joggen und mag diesen Wald. Aber so was habe ich noch nicht erlebt. Dabei hatte ich meinen Lauf gedanklich schon beendet, verflixt.“

„Ging mir eben auch so.“ Sie nickte. „Tut mir leid, dass Ihnen das passiert ist. Kann ich irgendwie helfen?“

„Das ist wirklich nett, dass Sie fragen. Wenn Sie mich bis da vorn ein wenig stützen könnten, wäre das super. Dort steht mein Auto, es sind nur ein paar Hundert Meter. Ich nehme mir immer Kühlakkus mit, für alle Fälle.“ Er lächelte und deutete auf das Logo seines weißen T-Shirts. UKH, die Abkürzung für das Universitätsklinikum Halle. „Sonst werde ich ja immer zu Sportverletzungen gerufen.“

„Ah, ein Profi also.“ Ihre Skepsis war vollkommen gewichen. „Na dann mal los, haken Sie sich einfach bei mir ein.“

Sie trat näher heran und ergriff seinen Arm, um ihm damit Halt zu geben.

„Das ist wirklich nett von Ihnen.“

Er setzte den rechten Fuß immer nur ganz kurz auf und verzog dabei sein Gesicht.

„Ist doch nicht der Rede wert“, entgegnete sie. Um ihn abzulenken, fuhr sie fort: „Sind Sie oft hier?“

„Wie man es nimmt. Fast jedes Wochenende. Ist ja nicht weit von Halle entfernt. Der See und der Park gefallen mir. Gut, dass hier alles unter Naturschutz steht. Ich brauche diese Laufeinheiten, um den Kopf freizubekommen. Die Runden sind relativ klein und damit gut kalkulierbar. Hier kann ich wunderbar abschalten.“

Sie witzelten über andere Laufstrecken und schlammige Wege, und suchten in Gedanken die nächsten Herausforderungen.

„Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder. Man sieht sich ja angeblich immer zwei Mal im Leben. Schauen Sie, da steht auch schon mein Auto.“

Er zeigte auf den schwarzen Mercedes-Van mit dem weißen UKH-Schriftzug. Dann öffnete er die Reißverschlusstasche seiner Trainingsjacke, um ihr den Schlüssel zu geben.

„Bitte, setzen Sie mich einfach auf die Türschwelle an der Schiebetür. Wenn Sie noch so nett wären, mir einen Akku aus der Kühlbox zu geben? Die steht zwischen den Sitzreihen. Den Rest schaffe ich dann allein.“

Sie öffnete die Schiebetür und half ihm dabei, sich vorsichtig auf die Treppenstufe zu setzen. Wieder verzog er das Gesicht.

„In der Box finden Sie auch Wasser, mit und ohne Kohlensäure. Bitte nehmen Sie sich eine Flasche und bringen Sie mir die mit, die bereits angefangen ist.“

„Nein danke, ich brauche nichts.“

„Oh doch, ich bitte Sie herzlich darum. Nach dem Laufen muss man trinken, denn der Körper verliert viel Flüssigkeit. Außerdem möchte ich mich gern bei Ihnen revanchieren. Nehmen Sie sich eine Flasche, suchen Sie sich die Sorte aus. Tun Sie mir doch bitte den Gefallen.“

„Na gut, Sie haben gewonnen.“

Wenig später war sie zurück und hielt ihm die angefangene Wasserflasche und einen Kühlakku hin. Sie öffnete ein stilles Wasser für sich.

„Na dann, zum Wohle.“

Er zitterte ein wenig, als er den Akku an den Knöchel hielt.

„Oh, wie herrlich!“, seufzte er. „Das wird bestimmt schnell helfen. Setzen Sie sich doch noch einen Moment. Es ist genug Platz.“ Er klopfte mit der flachen Hand neben sich.

„Wenigstens bis Sie ausgetrunken haben.“

Sie nahm das Angebot an, nachdem er so weit wie möglich zur Seite gerutscht war. In großen Schlucken leerte sie die Flasche.

„Können Sie denn mit dem Fuß überhaupt fahren?“

Er nickte. „Ja, bestimmt. Es wird auch schon ein wenig besser. Ich bin nach dem Laufen immer komplett fertig, und werde regelrecht müde davon. Sie auch?“ Er sah ihr direkt in die Augen.

„Nein, eigentlich nicht. Das Training erfrischt mich eher. Nur manchmal …“ Sie schluckte. „Also, echt jetzt, wo gibt es denn sowas. Heute merke ich es auch, dass ich …“ Die Wasserflasche rutschte aus ihren Händen. „Mir ist jetzt … wie soll ich sagen … also ganz plötzlich … mir ist irgendwie total komisch.“

Sie verdrehte ihre Augen. „Ich fühle mich plötzlich so müde …“

„Das ist gar nicht schlimm, kein Grund zur Sorge. Ruhen Sie sich einfach mal einen Moment aus.“

Er prüfte kurz die Umgebung, dann rutschte er näher an sie heran.

Sie wollte sich bücken, um die Flasche wieder aufzuheben, doch weder ihr Arm noch ihre Hand gehorchten ihr. Ihr Blick schien sich zu vernebeln, dann schloss sie auch schon ihre Augen. Ganz langsam sank sie an seine Schulter.

„Ist schon gut, meine kleine Retterin, ruh dich aus.“

Er strich ihr tröstend übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mit der anderen Hand fuhr er unter ihre Knie und hob sie in den Wagen. Dann stand er auf, streckte sich und griff in die Kühlbox, um einen Waschlappen hervorzuholen, den er mit etwas Speiseöl getränkt hatte.

Brennt ganz schön, die Scheiße.

Er rubbelte die Salbe, so gut es ging, von seinem Fußgelenk. Ist ja auch ordentlich rot geworden.

Grinsend zog er Strumpf und Schuh wieder an.

Hat auf jeden Fall ihren Zweck erfüllt, und die Show hat sie ja überzeugt, das ist die Hauptsache.

Er warf den Lappen zusammen mit der heruntergefallenen Flasche ins Auto, ohne darauf zu achten, wo die Sachen hinfielen. Dann schloss er die Schiebetür.

Die Klinik-Aufkleber mache ich später ab. Immer wieder schön, wenn die Leute sofort glauben, was sie sehen.

Er lief vorn um das Auto herum und stieg ein.

Was für ein herrlicher Tag! Wie nett und hilfsbereit die Menschen doch sind.

Er warf einen Blick in den Rückspiegel, schaltete das Radio ein und hörte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nur leise Rockmusik.

Du darfst nicht auffallen, mein Freund. Sei vorsichtig. Nur nicht auffallen.

Drei

„Wirklich großartig.“ Kralik öffnete so wütend die Bürotür, dass sie an die Wand knallte. „Mitten in der Nacht. Als wenn das nicht bis morgen früh hätte warten können.“

Er gab der Tür einen Tritt, und sie krachte zurück ins Schloss. Den Autoschlüssel warf er auf seinen Schreibtisch. Er erschrak, als er einen Mann vor der Glaswand mit den Ermittlungsfotos sah. Es dauerte einen Moment, bis er wusste, mit wem er es zu tun hatte.

„Schlecht geschlafen?“

Schlecht geschlafen? Was für ein Witzbold! Es ist schließlich kurz nach ein Uhr morgens!

Den Fluch, den er auf den Lippen hatte, schluckte er herunter. Er beschloss, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

„Nein, sehr gut sogar, aber leider zu kurz. Ich wurde ja unsanft geweckt, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

Er zog betont langsam seine Lederjacke aus und nutzte die Zeit, um sich zu beruhigen.

„Guten Morgen, Herr Staatsanwalt.“

„Guten Morgen, Kralik.“

Staatsanwalt Arnold Bergmann drehte sich um und kam auf ihn zu. Auch um diese Zeit sah er äußerst gepflegt aus, fast so, als habe man ihm gerade den braunen Vollbart frisiert. Sein dunkelbraunes Schurwoll-Sakko über dem marineblauen Rollkragenpullover schien farblich abgestimmt zu sein.

Wie macht er das nur, immer so perfekt auszusehen, verflixt?

Bergmann lehnte sich an die Stirnseite von Kraliks Schreibtisch, kreuzte die Beine übereinander und achtete dabei auf den Sitz der Bügelfalten.

„Würden Sie mir einen Kaffee mitbringen?“

Kralik entgegnete nichts, holte jedoch zwei Becher Kaffee vom Automaten.

„Ich habe mir übrigens gestattet, Ihnen etwas zum Lesen auf Ihren Schreibtisch zu legen.“

Dabei zeigte der Staatsanwalt auf einen Aktenstapel und nahm nickend den Kaffee entgegen.

Kralik trank in kleinen Schlucken, verbrannte sich aber trotzdem die Zunge, während er durch die Aktenmappen blätterte.

„Neues zum Fall Julia?“

„Ja, auch das.“

„Das meiste kenne ich bereits. Ich übergebe morgen alles dem Leiter der Soko. In der Frühbesprechung bringt er uns dann auf den gleichen Stand.“

„Das, mein lieber Kralik, glaube ich eher nicht.“

Er pustete in seinen Kaffee, trank aber nicht.

„Wie meinen Sie das?“

Der Staatsanwalt stand auf und umrundete den Schreibtisch, bevor er antwortete. „Nun, wir haben ein kleines Problem. Freitagabend sind die Kollegen Kümmel, Exner und Meerbusch verunglückt. Das gesamte Team. Ein Autounfall. Exner kann Sie also nicht auf den aktuellen Stand bringen.“

Er setzte sich wieder und nippte an seinem Becher.

Kralik brauchte ein paar Atemzüge, bevor er die Tragweite des Ganzen begriff.

„Das ganze Team der Soko hat es erwischt? Warum weiß ich davon nichts?“

„Ich erzähle es Ihnen doch gerade. Am Wochenende wollte ich Sie damit nicht belästigen. Sie haben ja auch ein Recht auf ungestörte Freizeit, nicht wahr?“

Recht auf ungestörte Freizeit? Okay, dann gehört die Nacht von Sonntag auf Montag anscheinend nicht mehr dazu.

„Ich verstehe.“ Er kratzte sich mehrmals an der Stirn und wusste nicht, wie er danach fragen sollte. „Was … wie geht es den Kollegen denn?“

„Das wissen wir nicht. Zumindest nicht so genau. Es ist offenbar ziemlich schlimm. Sie befinden sich alle auf der Intensivstation.“

„In der Uniklinik?“

„Hm.“ Bergmann schlürfte weiter sein Getränk. „Ja.“

„Dann fahre ich da nachher mal hin.“

„Schön langsam, ja? Zuerst müssen wir etwas klären.“

„Was denn?“

Kralik merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und er um Fassung ringen musste. „Was kann denn verdammt noch mal wichtiger sein als das Leben der Kollegen? Was ist hier überhaupt passiert? Und warum?“

„Nun beruhigen Sie sich erst mal wieder. Sie können im Moment sowieso nichts ausrichten. Wir müssen uns wohl in Geduld üben.“

In Geduld üben? Das sagst ausgerechnet du?

„Bitte, was ist denn los?“

„Später. Zuerst müssen wir über die Soko reden. Schließlich braucht diese einen neuen Leiter.“

Kralik trank demonstrativ einen großen Schluck von seinem Kaffee, denn er wusste ganz genau, was jetzt kam.

„Sie übernehmen die Leitung!“ Bergmann stand auf und reichte ihm die Hand. „Gratuliere.“

Er zeigte auf die Akten. „Sie sollten sich einlesen, bevor Sie losfahren. Aber keine Sorge, die Kriminaltechnik ist bereits vor Ort.“

„Einlesen? Losfahren? Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.“

Bergmann antwortete nicht, sondern winkte ihn zur Fotowand. Neben dem Bild von Julia Keller war nun ein weiteres Foto einer Frau angebracht.

„Ich schlage vor, dass Sie erst mal ihre Identität klären. Wenn Sie diese ermittelt haben, kommen Sie bitte gleich zu mir, ja? Ich höre mich in der Zwischenzeit genauer um und erzähle Ihnen später auch mehr Details über den Autounfall.“

Der Staatsanwalt drehte sich um und ging zur Tür.

„Moment noch, Herr Bergmann. Warum zur Soko Julia? Gibt es hier Gemeinsamkeiten?“

„Und ob. Gut kombiniert. Ich sagte doch schon … lesen Sie sich ein.“

Mit einem Ruck öffnete er die Tür.

„Ach ja, Kralik, das hätte ich fast vergessen: Ihren neuen Job üben Sie nur kommissarisch aus, versteht sich, oder?“

Das Wort kommissarisch hatte er theatralisch betont.

Der Staatsanwalt schloss jetzt die Tür, um sie gleich darauf erneut kurz zu öffnen.

„Zurzeit haben wir leider niemand anderen zur Verfügung, mit dem Sie schon einmal zusammengearbeitet haben. Die anderen laufenden Fälle erlauben es nicht, jemanden abzuziehen. Ich weiß, dass Sie Verstärkung brauchen, und habe Ihnen deshalb auch jemanden zugeordnet, den Sie zumindest vom Namen her kennen müssten. Christian Thaler.“ Er lächelte. „Ich muss schauen, ob ich Ihnen bei Gelegenheit noch weitere Unterstützung zuteilen kann. Hoffnung habe ich da allerdings nicht.“

Jetzt schloss er die Tür endgültig.

Kralik stand schwer atmend auf, stellte sich vor die Glaswand und schüttelte den Kopf.

Christian Thaler? Dass der Staatsanwalt nichts von mir hält, weiß ich ja, aber die Not muss schon extrem groß sein, dass er mir diese Aufgabe überträgt. Eine kürzere Amtseinführung habe ich noch nie erlebt. Kommissarisch natürlich, wie er betont hat! Er putzte umständlich seine Nase.

Aber dann teilt er mir ausgerechnet Thaler, diese Null, zu? Offensive ist für den doch ein Fremdwort.

Er griff nach einem weißen Stift und starrte einen Moment lang auf das neue Foto neben dem von Julia. Dort, wo sonst die Namen der Opfer standen, schrieb er:

Unbekannt.

Es war überflüssig, und das wusste er auch.

Dass der Tag nicht gut wird, war klar, als ich mitten in der Nacht geweckt wurde. Aber dass er so schlecht wird, habe ich nicht geahnt.

Kralik lief zurück zu seinem Schreibtisch, ließ sich schnaufend in den Sessel fallen und griff nach der obersten Mappe.

***

Die Uhr an seinem Handgelenk vibrierte. Thaler versuchte, sie zu ignorieren, doch vergeblich.

Er öffnete widerwillig die Augen und schob die Füße langsam über den Bettrand. Sein Handy lag auf dem Wohnzimmertisch. An normalen Wochentagen half ihm das, auch tatsächlich aufzustehen. Denn so musste er jedes Mal zuerst ins Wohnzimmer gehen, um den Wecker abschalten zu können. An ein Weiterschlafen war nach dem kurzen Tastendruck nämlich nicht mehr zu denken. Aber für diese Uhrzeit jetzt hatte er sich definitiv keinen Wecker gestellt.

Es war ein Anruf. Er schaltete das Licht an. Es dauerte eine Weile, bis er das Handy endlich entsperrt hatte. Auch ohne Brille konnte er sehen, wer da anrief.

„Ja?“

„Guten Morgen, Kollege Thaler, Sie müssen bitte so schnell wie möglich herkommen.“

„Hm, okay, mache ich.“

Er beendete das Gespräch, bedauerte allerdings schon wenig später, dass er dem Diensthabenden nicht ebenfalls einen guten Morgen gewünscht hatte.

Aber ein Anruf um halb zwei, also mitten in der Nacht, verheißt ganz bestimmt nichts Gutes.

Er duschte hastig, um munter zu werden, und band sich die nassen Haare zu einem Zopf zusammen. Er nahm sich außerdem die Zeit, um seine Zähne zu putzen. Auf eine Rasur verzichtete er allerdings.

Die Sachen für den neuen Arbeitstag hatte er wie immer schon am Vorabend zurechtgelegt. Jeans, ein schwarzes Hemd und eine beige Jacke. Er entschied sich außerdem für leichte Stoffturnschuhe, was er allerdings sofort bereute, als er die Haustür öffnete und ihm eine Windböe Regen ins Gesicht peitschte. Erkennen konnte er nichts in der Schwärze der Nacht. Die Straßenlampen waren leider immer noch defekt.

Mit dem Auto in die Nacht. Schattenlicht. Keine weißen Randstreifen, Gegenverkehr mit Blendung, Regentropfen, die auch blendeten, manchmal sogar mehrfach, Nebelschleier, keine Straßenmarkierung, ungesehene Bordsteinkanten, dunkel gekleidete Personen. Lichtblitze, Leuchtreklame. Mehr ahnen, wo es langgeht, als dass man es wirklich sehen kann. Zu oft zu wenig gesehen. Gut gegangen, Glück gehabt. Regennacht, sie ruft mit der Angst.

Lieber nicht.

Er ließ die Tür ins Schloss fallen und lief zurück in seine Wohnung, um ein Taxi zu rufen. Die Zeit würde ausreichen, um sich noch schnell eine Schnitte zu schmieren.

Scheiße, Mann.

Thaler hatte keine Lust, unter diesen Bedingungen mit dem eigenen Auto zur Polizeiinspektion zu fahren.

Ich hasse das. Kann man mich nicht bei Tag rufen, wenn es hell ist? Dann sage ich eben, dass es nicht anders ging. Auf die paar Minuten kommt es nun auch nicht mehr an. Es weiß ja niemand, dass ich nichts getrunken habe und eigentlich doch selbst fahren könnte.

Er schloss die Wohnungstür und ging wieder nach unten, zurück zur Haustür. Dort lehnte er die Stirn gegen die verzierte Glasscheibe und wartete.

Das Taxi wird gleich da sein.

Die Kühle war das Einzige, was sich im Moment angenehm anfühlte.

***

Kralik warf die Mappen zurück auf die Tischplatte und stürzte den letzten Schluck seines Kaffees hinunter. Er sah sich um.

Keine Ahnung, wo Thaler sitzen soll. Hier in der Soko hat doch jeder seinen festen Tisch, er aber natürlich nicht. Daher ist schon alles besetzt.

Bei dem Gedanken an die Kollegen beschlich ihn ein ungutes Gefühl.

Egal, er wird schon irgendwo einen Platz finden.

Er riss jetzt eine Seite aus seinem Notizbuch und schrieb im Stehen:

Bin losgefahren. Wir treffen uns später.

Dieses Blatt heftete er an die Glaswand.

Wenn nicht, ist es auch gut. Bis jetzt hast du mir ja auch nicht gefehlt.

Er nahm seine Jacke vom Stuhl und suchte nach dem Autoschlüssel. Die Adresse der kleinen Dorfkirche hatte er sich bereits eingeprägt.

Auf geht’s, dann wollen wir mal die Dame auf dem Foto kennenlernen.

***

Kralik musste kaum mehr als fünfzehn Kilometer fahren. Schon von Weitem sah er die rotierenden Blaulichter und die rot-weißen Absperrbänder. Er fuhr langsamer und ließ die Szene auf sich wirken. Kurz darauf stellte er sich abseits auf den Parkplatz vor der Kirche. Er hatte nämlich keine Lust, Kratzer im Lack zu riskieren. Das britische Metallicgrün seines BMW gefiel ihm ausgesprochen gut, und das sollte möglichst lange so bleiben.

Er griff nach einem Kaugummi sowie nach seinem Handy und stieg aus.

„Guten Morgen, Kollege.“

„Guten Morgen.“

Der junge Beamte von der Kriminaltechnik hielt ihm das Absperrband hoch, damit er sich nicht bücken musste.

„Wird ja bald hell hier.“

„Stimmt.“

Stephan Kralik hatte den Namen des Beamten vergessen, auch wenn er ihn bereits mehrmals an verschiedenen Tatorten gesehen hatte. Aber das war ihm egal, schließlich spielte der Bursche nicht in seiner Liga.

„Gleich da vorn, Herr Kriminalhauptkommissar, direkt hinter dem ersten Mauervorsprung.“

Er nickte dankbar und marschierte los. Den Fundort hätte er wegen des Scheinwerferlichtes auch so erkannt.

Der schmale Weg vom Parkplatz aus führte zwischen zwei Torsäulen direkt zur Kirche. Ein historischer Bau mit zwei Türmen, von denen einer allerdings nicht mehr existierte. Kralik mochte Sandsteinbauten sehr. Auch diese Kirche hier gefiel ihm, denn sie strahlte Gemütlichkeit und die Ruhe der Jahrhunderte aus.

Aber warum ist es gerade hier passiert, in Osmünde bei Halle? Und noch dazu in einer Kirche?

Ein Mauervorsprung verdeckte die direkte Sicht auf die Eingangstür. Unmittelbar dahinter hatte man die weibliche Leiche gefunden.

Kralik blieb stehen und sog die kühle Nachtluft tief in sich hinein. Er wusste nicht genau, was es war, irgendwie eine Mischung aus Pferd und Schwein, ein Geruch, der ihn erdete und ihm sagte, dass er sich auf dem Dorf befand.

Eine Beamtin, die er auch schon bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen hatte, kam jetzt auf ihn zu und hielt ihm den üblichen weißen Überziehanzug hin.

„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Seien Sie bitte vorsichtig, die Spurensicherung ist noch nicht ganz fertig.“

„Guten Morgen, danke, geht klar.“

Er bemühte sich nicht, ihren Namen aus seinem Gedächtnis zu kramen, denn die Kollegin war zwar jung, aber definitiv nicht hübsch. Außerdem hatte sie ein paar Pfund zu viel auf den Rippen.

„Sagen Sie mal, wer hat eigentlich die Leiche gefunden?“

„Der Pfarrer. Er wollte die Kirche aufschließen und irgendwelche Papiere holen. Die Kollegen von der Streife haben seine Aussage bereits aufgenommen und ihn danach wieder nach Hause geschickt. Hat ihn ganz schön mitgenommen das Ganze.“

„Ich verstehe, danke.“

Manchmal frage ich mich wirklich, wie die Leute mit solch einem Aussehen und Gewicht den Einstellungstest bei der Polizei bestehen. Absolut furchtbar.

Kralik deutete ein Lächeln an. Er zog Handschuhe über und ging dann weiter zur Gerichtsmedizinerin.

„Guten Morgen, Gudrun.“

Sie war ebenfalls nicht hübsch und noch nicht einmal jung. Dafür aber wichtig, deshalb kannte er auch ihren Namen.

„Guten Morgen Stephan, du kennst das ja schon, wir müssen abwarten, ob es überhaupt ein guter Morgen wird.“

Kralik nickte. „Hast du denn schon was für uns?“

Die Ärztin sah ihn einige Sekunden lang an, bevor sie antwortete: „Das Opfer ist zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Der Tod ist wahrscheinlich zwischen Sonntagmittag und Mitternacht eingetreten. Näheres dann …“

„… wenn sie auf deinem Tisch liegt, ich weiß. Hast du noch etwas, was ich wissen sollte?“

„Tja, das musst du entscheiden.“

Sie zog vorsichtig das Tuch von dem Gesicht der Toten.

Kralik war einiges gewöhnt, dennoch erfasste ihn jetzt ein kurzer, heftiger Schauer. Er sah eine junge Frau vor sich. Sie war nicht sein Typ, aber auf ihre Art trotzdem sehr schön. Rotbraune Haare umschlossen ein gepflegtes, molliges Gesicht. Kralik registrierte die Abdrücke seitlich an den Nasenflügeln. Wahrscheinlich ist sie Brillenträgerin.

Aber das war es nicht, was ihn erschaudern ließ. Denn auf ihre Stirn war eine Spielkarte genagelt, eine Pik Sieben und zwar mit einem großen Kupfernagel. Neben ihr brannte ein weißes Grablicht.

Genau das habe ich schon einmal gesehen, bei dem Opfer Julia.

Er schluckte schwer. „Würdest du mir auch den Rest zeigen?“

Die Ärztin nickte und zog das Tuch komplett herunter. Ein Insektenschwarm stob auseinander. Kralik schnaufte. Er sah, dass man die junge Frau an ein Holzkreuz gebunden hatte. Ein Draht ging mittig durch ihre Handflächen. Damit hatte man sie fixiert. Die Wundränder schillerten in einem blauroten Farbton.

Er deutete auf die restliche Haut der Hände.

„Hm, kein Blut zu sehen. Wahrscheinlich weggewischt. Was denkst du?“

Sie nickte. „Sehe ich im Moment genauso.“

„Das ist wohl nicht der eigentliche Tatort.“

„Nein, eher nicht. Dagegen spricht, dass wir sowohl rund um die Wunden als auch in unmittelbarer Nähe kein Blut gefunden haben, und sie muss definitiv einiges verloren haben, an den Händen, den Knöcheln und besonders an der Stirn. Außerdem gibt es Schleifspuren auf dem Weg, die vermuten lassen, dass jemand sie hier abgelegt hat.“

Kralik zog sein Handy hervor und machte einige Fotos.

Die Frau war nackt, bis auf ihre Unterwäsche.

„Verletzungen?“

Die Ärztin stand aus der Hocke auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Noch ehe sie antworten konnte, fuhr Kralik fort: „Entschuldige, Gudrun, ich weiß. Tut mir leid. Du musst dich nicht festlegen, aber erste Vermutungen würden mir dennoch weiterhelfen.“

„Nur, weil du es bist. Dem ersten Anschein nach nicht. Bis auf kleine Abdrücke und Verfärbungen, vermutlich dort, wo man sie angefasst hat, um sie zu transportieren. Die dunklen Ringe um Hand- und Fußgelenke stammen vermutlich von Fesseln. Den Rest kriegst du dann, wie immer, so schnell wie möglich. Ich würde nämlich gern in Ruhe meinen Job machen.“

„Schon gut, schon gut. Nur noch eine letzte Frage: Hast du irgendetwas gefunden, das uns ihre Identität verraten könnte?“

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Bedaure.“

Dann winkte sie zwei weiteren Kollegen zu, die die Leiche vorsichtig vom Kreuz lösten und in einen Sarg legten. Sie beachtete Kralik nicht mehr weiter, denn sie war längst wieder vollkommen in ihrer Arbeit versunken.

Stephan Kralik drehte sich um, steckte sich ohne Rücksicht auf die Spurensicherung eine Zigarette an und lief dann um die Kirche herum.

Das Gelände war weitläufig und sehr gepflegt. Alte und neue Grabsteine wechselten sich ab. Überall waren Blumen zu sehen. Dazwischen standen Bäume mit Namenstafeln. Er zog seine Taschenlampe hervor, las einige der Tafeln und vergaß die Namen sofort wieder. Als er zu Ende geraucht hatte, zog er sein Notizbuch hervor und schrieb:

Von der Straße aus unmöglich einsehbar. Zurückgesetzt und dennoch öffentlich, schnell über die angrenzende Bundesstraße zu erreichen. Auch zur Autobahn ist es nicht weit. Für anonyme Besuche gut geeignet.

Er klappte das Buch zu und steckte sich entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten direkt noch eine weitere Zigarette an.

Mit dem Pfarrer reden kann Thaler, dann hat er morgen wenigstens gleich eine Aufgabe.

***

Kralik hängte zuerst seine Jacke zurück auf den Stuhl, bevor er den Kollegen mit einem Nicken begrüßte.

„Ausgeschlafen?“

„Nein.“

Thaler stand auf und streckte sich.

„Nichts dagegen, wenn ich den hier nehme?“

Er hatte sich den am weitesten in der Ecke stehenden Schreibtisch freigeräumt.

„Mir doch egal. Ich mache das Ganze nur kommissarisch. Sollen die doch entscheiden, die was zu sagen haben.“

Er schickte einige Handyfotos an den Drucker und befestigte sie anschließend an der Glaswand.

„Muss das sein, dass das ganze Licht angeschaltet ist? Das nervt! Ist ja hell wie auf einem Flugfeld der NATO. Wirklich jede einzelne Lampe ist an!“

„Tja, ich finde es besser als das Halbdunkel, da bekommt man ja Depressionen.“ Thaler zuckte mit den Schultern und ergänzte noch: „Dann kann man besser gucken, und es gibt ja auch Vorschriften, wie hell Büros ausgeleuchtet sein müssen.“

„Vorschriften? So so.“

Sie sahen sich abschätzend an.

„Wechseln wir vielleicht lieber das Thema. Wollen wir du zueinander sagen, so wie es hier üblich ist?“

Thaler zögerte einen Moment, bevor er die hingehaltene Hand ergriff.

„Ich weiß ja auch, dass man uns nicht wirklich was zutraut“, sagte Kralik und setzte sich.

„Aber sie haben keine anderen, und müssen deshalb das nehmen, was da ist. Es gibt schließlich genug ungeklärte Fälle. Außerdem wären dann noch die Fußballspiele, die vielen Demos und der ganze Quatsch. So viele Beamte, wie wir bräuchten, gibt es gar nicht.“ Er winkte ab.

„Ich habe keine Ahnung, wann die anderen Kollegen der Soko wieder fit genug für den Dienst sind. Machen wir unter den Umständen einfach das Beste daraus.“

„Was ist denn passiert?“

„Ein blöder Autounfall, es hat sie alle erwischt. Genau weiß ich es nicht, das erfahre ich, wenn ich das nächste Mal bei Staatsanwalt Bergmann bin.“

„Hm, also erst mal weiter ermitteln. Den bisherigen Stand kenne ich grob. Gibt es was Neues dazu?“

Kralik berichtete von seinem Ausflug in die Kirche.

„Ich besuche gleich nach dem Staatsanwalt noch mal den Pfarrer, ich möchte mit ihm reden.“

„Mit dem Pfarrer? Er wird kaum dabei gewesen sein …“

„Hör zu, ich wiederhole mich nicht gern. Wir arbeiten erst wenige Minuten zusammen, und das auch nur aus der Not heraus, weil wir es müssen. Da kommst du schon mit dummen Mutmaßungen um die Ecke? Ich will, dass das unterbleibt, ist das klar? Von uns zwei Verlierern haben sie mich zum Vorgesetzten gemacht, merk dir das. Daraus schlussfolgere ich, dass sie dir noch weniger zutrauen. Überflüssige Meinungsäußerungen und Unterbrechungen vertrage ich nicht! Zumindest nicht von dir. Sieh dich doch mal an, jahrelang in der EDV gewesen und Profile erstellt. Du bist ein Nerd, kein Ermittler. Aus der Deckung heraus zu argumentieren ist einfach, schön schwätzen und so, klar. Aber die Welt ist kein Computerspiel, das wahre Leben ist anders. Oder hat der feine Herr etwas Konkretes zu bieten?“

Christian Thaler versteifte sich. Mit solch einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Langsam ging er zur Fotowand und wischte das Unbekannt sowie die Fragezeichen unter dem Bild weg. Dann nahm er eine dünne Mappe hoch. Er legte sie auf den Schreibtisch seines neuen Vorgesetzten, gab sie ihm nicht in die Hand.

Kralik schlug mit der Faust auf den Tisch, bevor er die Mappe zu sich heranzog. Er pfiff, als er das Foto sah.

„Vanessa Baumann, zweiunddreißig, Ärztin. Soso, und woher hast du das?“

„Der Computerfritze konnte eins und eins zusammenzählen und hat die Kollegen gebeten, ihn in Sachen Vermisstenliste auf den aktuellen Stand zu bringen. Die Fotos hat er dann mit dem hier an der Wand abgeglichen. Einfache Basisarbeit, lernt man schon auf der Polizeischule.“

Kralik biss die Zähne zusammen, nahm sich einen Stift und schrieb den Namen des Opfers unter das Foto.

„Wir reden später, ich muss jetzt erst mal zu Bergmann.“

„Frauengeschichten“, murmelte Thaler vor sich hin.

„Wie bitte?“

Kralik war sofort aufgesprungen.

„Na ja, die Opfer sind doch alle weiblich, oder?“ Thaler verzog keine Miene. Sie wussten beide, dass er damit eigentlich auf den Ruf des Frauenhelden Kralik angespielt hatte.

Doch dieser antwortete nicht auf die Provokation. Er eilte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Ich muss unbedingt ruhiger werden. Viel ruhiger.

***

„Kommen Sie doch rein.“ Der Staatsanwalt bot ihm einen Platz an, jedoch nichts zu trinken. Er setzte sich ihm gegenüber auf ein Ledersofa und hörte sich Kraliks Bericht an, ohne ein Wort zu sagen.

„Okay, noch was?“, fragte er, als Kralik geendet hatte.

„Nur eines noch, wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf.“

„Nur zu.“

„Ich halte den Kollegen Thaler für eine Fehlbesetzung.“

„Halt, mehr will ich nicht hören. Er hat immerhin in kurzer Zeit den Namen des zweiten Opfers herausgefunden.“

Woher weißt du das denn? Erzählt habe ich es dir nämlich nicht.

„Es ist nur …“

„Ich habe Halt gesagt!“ Bergmann war langsam aufgestanden und hatte sich über den Tisch gebeugt.

„Was nehmen Sie sich heraus? Glauben Sie, dass ich das nicht weiß? Ja, er ist ein unsportlicher Computer-Nerd, unfähig, Verantwortung zu übernehmen und hat noch dazu noch nie an einem Tatort ermittelt. Er war auch noch nie im aktiven Dienst einer Soko tätig, lebt zurückgezogen und ist nur bedingt teamfähig. Ein Eigenbrötler, wie er im Buche steht. Außerdem, ich formuliere es mal vorsichtig, vermeidet er Tätigkeiten, wenn es dunkel ist. Er glaubt, dass er dann eine Gefahr für sich und andere ist, denn Thaler ist nachtblind, doch er denkt, dass wir das nicht wissen. Er versucht, es so gut wie möglich zu vertuschen. Der Flurfunk sagt außerdem, dass man ihn im Kollegenkreis auf keinen Fall bei einem Einsatz dabeihaben will. Sie sollten das alles wissen, falls es mal hart auf hart kommt.“

„Ach herrje, auch das noch …“

Bergmann hob die Hand und flüsterte jetzt fast: „Ich war noch nicht fertig!“

Er brauchte einige Atemzüge, um sich zu sammeln.

„Würde ich Thaler jetzt vor mir haben und ihn um seine Meinung bitten, würde er mir bestimmt in einer etwas freundlicheren Art und Weise sagen, dass Sie ebenfalls eine Fehlbesetzung sind. Ihre Abenteuerlust, Ihre Unbeherrschtheit, die Vorliebe für schnelle Autos und nicht zuletzt Ihr Ruf in Sachen Umgang mit Frauen ist wohl kaum dazu geeignet, Sie zum Leiter einer Soko zu machen. Deshalb sind Sie auch nur kommissarisch eingesetzt, verstanden? Wenn Sie mir erlauben, eine persönliche Meinung hinzuzufügen, dann sollten Sie wissen, dass ich hoffe, dass die Dauer der Ihnen übertragenen Führungsaufgabe nur sehr kurz ist … so kurz wie möglich.“

Er wollte sich nicht in Rage zu reden, deshalb trank er einen Schluck Wasser, um sich wieder zu beruhigen.

„Damit sind die Fronten für mich geklärt. Folgendes merken Sie sich bitte als Spielregeln. Erstens: Wir reden nie wieder über die Eignung einer anderen Person in dieser Soko und treten immer als ein funktionierendes Team auf, sowohl nach innen als auch nach außen. Zweitens: Wenn ich mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden bin, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das bald der Fall sein wird, dann werde ich Thaler zum kommissarischen Leiter ernennen.“ Er hob den rechten Zeigefinger. „Bäumchen wechsle dich … so einfach ist das. Es ist mir scheißegal, was die Leute denken und was später in Ihrer Personalakte steht. Ich hoffe und bete außerdem, dass die Presse von unserer wirklich hervorragenden Expertenbesetzung der Soko nichts erfährt.“

Dann winkte er ab und ließ sich wieder auf das Ledersofa fallen.

„Ich denke, wir haben uns verstanden. Ich werde ab sofort wieder zu freundlicheren Formulierungen übergehen, denn ich wollte nur sicherstellen, dass Sie sich bewusst sind, wie ernst die Lage ist. Noch Fragen?“

Kralik erhob sich und trat ans Fenster. Es dauerte fast eine Minute, ehe er sich wieder umdrehte und etwas sagte. Dabei versuchte er, die zur Faust geballte Hand in seiner Hosentasche zu verstecken.

Er wechselte nun abrupt das Thema. „Sie wollten mir von unseren drei verunglückten Kollegen erzählen.“

„Ach ja, stimmt, sorry. Torsten Kümmel wollte die Kollegen Exner und Meerbusch direkt am Freitagabend nach Dienstschluss mit seinem Privatwagen zu Hause absetzen. Die Truppe hat sich ein Feierabendbier gegönnt. Ich nehme mal an, dass er als Fahrer nüchtern geblieben ist, kann es aber natürlich nur vermuten. Hinter dem Riebeckplatz in Richtung B 80 hat es dann den Unfall gegeben. Der Wagen ist nahezu ungebremst in einen Tanklaster gerast. Keine Ahnung, warum. Die Drei hatten verdammtes Glück, dass der Tankwagen leer war. Unvorstellbar, was passiert wäre, wenn das Ding in die Luft geflogen wäre! Dabei sind sie außerdem auch noch seitlich mit einem Kleintransporter kollidiert. Dessen Fahrer hatte allerdings weniger Glück, er wurde durch den Aufprall aus dem Fahrzeug geschleudert. Genickbruch, muss sofort tot gewesen sein.“ Bergmann zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

„Tja, und unsere Leute sind noch immer auf der Intensivstation. Schwere Verletzungen, Näheres weiß ich leider nicht. Ich befürchte nur, dass sie uns auf absehbare Zeit keine Hilfe bei den Ermittlungen sein werden.“

Er seufzte schwer.

„Die ganze Soko im Krankenhaus, herrje.“

Kralik klemmte sich die mitgebrachten Unterlagen unter den Arm.

„Gut, wir halten Sie auf dem Laufenden. Heute Nachmittag werde ich mal in der Uniklinik vorbeifahren.“

„Tun Sie das, und vergessen Sie mir die guten Sitten nicht, wenn Sie später wieder auf Ihren Kollegen treffen. Sie sind jetzt das Team, auf das ich zähle.“

Vier

Kralik fuhr direkt zum Universitätsklinikum am Rande der Stadt. Er wollte nicht bis zum Nachmittag warten. Weil er die Preise des Besucherparkhauses kannte und keine Lust hatte, diesen Wucher zu bezahlen, parkte er kurzerhand in einer Seitenstraße in der Nähe des ehemaligen Finanzamtes.

Ich bin ja selbst nicht krank, also kann ich auch ein Stück zu Fuß gehen. Wenn ich laufen muss, dauert es außerdem länger, bis ich den Kasper im Büro wiedertreffen muss. Schön, wenn man so nette Kollegen hat!

Er stieg aus, atmete mehrmals tief durch und lief dann los.

Die beiden Toten stammen also aus Halle. Was haben sie gemeinsam? Warum wurden sie in unterschiedlichen Kirchen aufgefunden? Wieso überhaupt in Kirchen? Kannten sie sich? Was bedeuten die Kreuzigungen, und vor allem, was soll die auf die Stirn genagelte Spielkarte aussagen? Zweimal eine Pik Sieben. Damit ist die Karte wohl nicht zufällig ausgewählt worden.

Kralik griff zu seinem Handy. Es dauerte eine Weile, bis er sich zum zuständigen Labor des Landeskriminalamtes durchgefragt hatte.

„Wir untersuchen bereits das Blut, und jetzt fragen Sie auch noch nach DNA-Spuren auf den Spielkarten? Meinen Sie, wir denken da nicht selbst dran? Nun hören Sie mal, Herr Kollege, Sie glauben wohl, dass wir nichts anderes …“

„Entschuldigung. Ich wollte nur höflich nachfragen.“

Nein, eigentlich will ich Druck machen.

„Übermorgen. Frühestens.“

Damit war das Gespräch beendet.

Er spuckte wütend aus und traf dabei fast den Schuh eines Joggers. Zur Entschuldigung hob er die Schultern. Der Läufer antwortete mit einer Wischbewegung vor der Stirn.

Kralik versuchte, aus dem immer gleichen Kreislauf der Gedanken herauszukommen. Es gelang ihm aber nur mit Mühe, die Gesichter der beiden ermordeten Frauen zu verdrängen.

Er ignorierte die Fußgänger-Ampel an der Kreuzung und lief mitten durch den fließenden Verkehr. Jedem Hupton winkte er zurück. Als er den Aufgang zur Klinik erreicht hatte, fühlte er sich erfrischt. Er lächelte. Doch an der Drehtür stockte er kurz.

Hätte ich für die Kollegen vielleicht etwas mitbringen sollen? Quatsch, die Jungs sind ja auf der Intensiv.

Mit einem Lächeln trat er an den Infoschalter, zeigte seinen Dienstausweis und bat darum, mit einem der diensthabenden Ärzte sprechen zu dürfen.

Wenig später stand er vor einer Scheibe und sah in einen der Räume der Intensivstation.

„Der Professor ist gleich für Sie da. Ich hole ihn. Momentchen.“ Die Schwester verschwand, bevor er sich bei ihr bedanken konnte.

Zwischen Trennwänden aus Stoff konnte er die schlafenden Kollegen mehr erahnen als sehen. Sie waren in hellgrüne Laken gehüllt, verdeckt von unzähligen Schläuchen und Leitungen. Das Weiß der Wände und Zimmerdecke stach unangenehm in seinen Augen. Diese reine, hoch technisierte Welt war ihm vollkommen fremd. Das Gefühl nahm er dankbar auf, obwohl er fröstelte, denn es lenkte ihn von den eigenen Problemen ab. Hier ging es nämlich nur um eines: den Kampf um Leben und Tod.

Ein sehr leises Piepen und Klacken der Geräte war zu hören, wenn jemand die Tür öffnete. Der Lichtschein der Kontrollmonitore wirkte gespenstisch und machte ihn beinahe ehrfürchtig. Als eine Hand vorsichtig seine Schulter ergriff, fuhr er erschrocken herum.

„Kommen Sie, Herr Kommissar, lassen Sie uns ein paar Schritte gehen. Ich muss dringend mal raus.“

Sie gaben sich die Hand.

„Professor Hogrebe.“

„Angenehm, Kralik.“