Tränenrot - Ralf Gebhardt - E-Book

Tränenrot E-Book

Ralf Gebhardt

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Beschreibung

Gleich ihr erster Streifendienst stellt die jungen Polizistinnen Sophie Schellenberg und Nicole Wolff vor gewaltige Probleme. Als sie auf dem Parkplatz eines halleschen Einkaufscenters eine Leiche im Kofferraum eines PKWs finden und auf eigene Faust einem Verdacht folgen, ahnen sie nicht, was es mit dem Italiener Luca Pacano auf sich hat. Sophie hat sich ausgerechnet in ihn verliebt. Schnell geraten sie immer tiefer in die Fänge der Mafia, werden mit Schutzgelderpressung und Drogen konfrontiert. Schließlich erhalten sie ein "Angebot, das sie nicht ablehnen können": Durch Informationen aus der kriminellen Szene würden sie schnell Polizeikarriere machen, wenn sie sich auf die Seite der Familie Pacano stellen. Die beiden Freundinnen bitten um Bedenkzeit, obwohl Nicole zu diesem Zeitpunkt bereits Lucas Freund Rajko verfallen ist. Als sie eine Party besuchen, auf der sie Luca und Rajko treffen, eskaliert die Situation. Das, was dann passiert, übersteigt ihr Vorstellungsvermögen: Im Strudel des Bösen werden sie selbst von Jägerinnen zu Gejagten …

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Tränenrot

Ralf Gebhardt

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Danksagung

Dank an die LeserInnen

Ralf Gebhardt

Impressum

Landmarks

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Dieser Roman ist fiktiv. Die Figuren und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten sowie lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Bei Orten und Örtlichkeiten habe ich mir die Freiheit genommen, sie den Erfordernissen der Geschichte anzupassen.

Prolog

»Du sollst Gerechtigkeit haben. Eines Tages, und dieser Tag wird vielleicht niemals kommen, werde ich dich bitten, mir dafür einen Gefallen zu tun.«

(Don Vito Corleone, in »Der Pate« von Mario Puzo)

Sie hörte und fühlte jeden ihrer schnellen Herzschläge. Aber Sophie konnte sich weder beruhigen noch ihre Augen öffnen. Die Kopfschmerzen trafen sie in kurzen Wellen wie das Auf und Ab einer Sirene. Ihre Haut kribbelte unangenehm.

Was für ein fürchterlicher Alptraum!

Sie ballte ihre Fäuste und unterdrückte ihre Tränen.

Dichtung oder Wahrheit?

Erst jetzt bemerkte sie, dass alle Heizkörper-Thermostate voll aufgedreht waren, mitten im Mai: Schweiß hinterließ salzige Spuren auf ihrer Haut.

Zumindest bin ich in meiner eigenen Wohnung. Ich muss auf Arbeit. Und zwar JETZT!

Sophie setzte sich auf. Es gelang erst im dritten Versuch. Ihre Zunge schien auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein. Sie vermied es, zu schlucken, denn das schmeckte abartig bitter. Draußen war es bereits hell, unmöglich zu sagen, wie spät es war.

Nachdem sie ihre Beine aus dem Bett geschwungen und auf dem Boden aufgesetzt hatte, schrie sie und riss die Augen auf. Scherben eines dünnen Glases bohrten sich tief in ihre Fußsohlen. Der weiße Fellteppich und das Bettlaken, auf das sie sich instinktiv zurückzog, färbten sich dunkelrot.

Verdammte Scheiße! Sieht aus wie ein kaputtes Weinglas!

Sie zog die Splitter heraus und stand unter Schmerzen auf. Ihre Füße hinterließen blutige Abdrücke.

Wie soll ich da in meine Schuhe kommen? Ich muss mich saubermachen.

Als sie die Taschentücher-Box vom Beistelltisch nehmen wollte, sah sie die offenstehende Balkontür.

Habe ich vergessen, sie abends zu schließen?

Hätte sie nicht aufgepasst, würde jetzt eine Beule ihren Kopf zieren. Sie zitterte, schob die Tür zurück, riss einige Papiertücher heraus und wischte damit über ihre zerschnittenen Füße. Plötzlich hielt sie inne und schrie erneut. Auf dem Tisch stand ein weiteres Glas. Unbeschädigt.

Zwei Weingläser? Bin ich allein?

Sie versuchte, sich zu sammeln.

Das ist doch meine Wohnung! Oder ist da noch jemand?

Im Flurspiegel betrachtete sie sich einen Moment. Einen Pyjama trug sie sonst nicht, wohl aber einen Slip. Sie hielt sich fest und blickte auf eine Zigarettenkippe neben der Tür.

Meine letzte Zigarette hatte ich vor mehr als acht Jahren!

Als sie daran roch, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

Süß. Ist das Gras? Mist!

Angeekelt warf sie die Kippe zurück auf den Boden und versuchte, sich zu konzentrieren. Denk nach, verdammt! Du bist Polizistin, also handle auch so!

Sie sah sich prüfend um und lief dann zum Bad, um ihre Füße zu versorgen. Die Badtür stand offen. Sie wusste nun, dass sie allein in der Wohnung war. Zumindest das war beruhigend. Sie ging zurück zum Schlafzimmer und betrachtete das zerwühlte Bett. Als sie die Decke zur Seite schob, erblickte sie verwundert einen schmalen roten Slip.

Aber ich besitze doch nur schwarze Unterwäsche! Was zum Teufel ist hier los?

Sie durchstreifte erneut ihre Wohnung. Schließlich bemerkte sie einen Zettel, unter der Tür durchgeschoben. Ihr Kopf schmerzte, sie hatte Angst, umzufallen. Es brauchte einige Versuche, die Nachricht aufzuheben.

»Bitte keine späten Feten mehr, klar? Bei dem Lärm kann ja kein Mensch schlafen. Es grüßt ein besorgter Nachbar.«

Fete?

Sie knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in Richtung der Kippe. Für einen Moment presste sie die Hände vor die Augen. Sie hörte den Puls in ihren Ohren wummern.

Was für eine Fete? Ich verstehe das nicht, habe doch gestern nur wenig getrunken. Sophie sah auf die Uhr.

7:54 Uhr, mein erster Sonntagsdienst und ich komme zu spät. Wo ist mein Handy?

Es lag in der Ladeschale neben dem Bett. Erleichtert griff sie danach und ging ins Bad, klappte den Deckel der Toilette hoch und setzte sich. Sie zitterte.

Tief durchatmen, befahl sie sich.

Ich muss mich beruhigen und zu Kräften kommen!

Lautlos wiederholte sie die Sätze, wie ein Mantra. Dann öffnete sie die Nachrichten-App. Vielleicht sollte ich zum Arzt? Beruhige dich, Kleines. Sag wie ein Profi einfach Bescheid, dass du später kommst, okay?

Sie scrollte durch die Kontakte, bis sie die Nummer des Dienststellenleiters gefunden hatte.

In drei oder vier Stunden müsste ich doch wieder fit sein!

Gerade als sie ihre eigenen Gedanken bestätigt hatte und eine Entschuldigung schreiben wollte, fiel ihr Blick auf die letzte Nachricht im Chat-Verlauf.

Heute früh, 4:17 Uhr: »Tut mir leid, kann heute nicht zum Dienst, bin früh erst mal zum Doc. Melde mich, Sophie.«

Versendet um 4:17 Uhr.

Was? Meine Nachricht? Wer hat das geschrieben? Das Handy ist doch immer gesperrt! Plötzlich flimmerte es vor ihren Augen. Sie ließ sich langsam nach vorn sinken, um sich auf Händen und Füßen abzustützen. Das Zittern wurde heftiger, sie schlug die Zähne aufeinander, hechelte wie ein Hund. Das letzte Stück vom Profi in ihr analysierte die Situation.

Da hat JEMAND meinen Fingerabdruck genutzt. Während ich schlief. Hat das Handy entsperrt. Und Nachrichten geschrieben. JEMAND trägt rote Unterwäsche. JEMAND feiert nachts …

Ihre Arme knickten ein, ihre Beine rutschten hilflos zur Seite, als wären die Fliesen voller Seife.

Noch bevor sie ein Weinkrampf erfasste, erbrach sie sich heftig. Sie schloss die Augen und versuchte, den stechenden Geruch zu ignorieren.

Ich trage keine rote Unterwäsche, ja? Das müsst ihr mir wirklich glauben! Und habe ich euch schon gesagt, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen kann?

Sie schluchzte.

Ach ja, das wisst ihr ja schon …

Dann wurde es schwarz um sie.

Eins

Er bemerkte den geparkten Streifenwagen und die wartende Polizistin.

Verdammt! Sitzt er da hinten auf der Rückbank? Komme ich zu spät?

Rajko verlangsamte seine Schritte, blieb stehen und bückte sich. Er genoss das Weiß seiner neuen Nike-Schuhe, band die Schnürsenkel fester und nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen.

In dem Moment, als die Polizistin sich abwandte, um die andere Seite der Halleschen Sternstraße im Auge zu behalten, nahm er die kleine Treppe zur Kneipe in einem Schritt und trat ein.

»Guten Tag.« Er nickte in Richtung Theke und setzte sich an einen der runden Tische an der halbhoch dunkel-getäfelten Wand. Die kurze Zeit genügte, um sich einen Überblick zu verschaffen, zumal er der einzige Gast war.

»Bin gleich bei Ihnen«, rief der Wirt aus dem Halbdunkel.

Rajko griff zu der in Leder gebundenen Speisekarte. Kurz nach 14 Uhr, die Mittagszeit ist eigentlich vorbei. Er blätterte.

Geschickt, die eine steht hier drin und befragt den Wirt, die andere bleibt draußen, um ihr den Rücken freizuhalten. Respekt.

Ihm entging nicht, wie hübsch die zweite Polizistin war. Angenehm schlank, selbst die Uniform konnte ihre Maße nicht verbergen. Als sie sich zu ihm drehte und in seine Richtung kam, hatte er Mühe, gleichmütig zu gucken.

»Guten Tag, auch wenn Sie gerade erst gekommen sind, darf ich Sie was fragen?«

Verdammt, ist die jung!

»Guten Tag, gern. Sie dürfen.« Er lächelte und unterdrückte die Geste, ihr einen Platz anzubieten.

»Ist Ihnen etwas aufgefallen, draußen oder beim Betreten des Lokals?«

Du bist mir aufgefallen!

Er zählte still bis sieben.

»Nein, nicht, dass ich wüsste. Was meinen Sie?«

»Danke, das reicht mir schon, wir suchen Zeugen, nichts Konkretes. Schönen Tag noch.«

Sie klappte den Notizblock zu.

»Tja, also wenn Sie keine Anzeige erstatten wollen, dann schönen Tag noch.« Ihre Abschiedsworte galten dem Wirt. »Auf Wiedersehen.«

Und wir sollten uns wiedersehen. Eine Polizistin hatte ich noch nie. Und dann gleich so eine!

»Sorry für die Verwirrung. Was darf’s denn sein?«

»Ein Pils. Was ist passiert?«

»Nichts, kein Grund zur Sorge.«

Nichts? Und der Streifenwagen vor der Tür?

Rajko nutzte die Wartezeit, um sich gründlich umzusehen. Die Einrichtung war alt, aber sauber. Wie die Wandverkleidung war auch der Tresen aus dunklem Holz. Nur jede zweite Deckenlampe brannte und verbreitete ein schummeriges Licht. Die Regale mit den Bierkrügen und gerahmten Fotos von Halle blieben dezent im Hintergrund. Es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben.

»Dann zum Wohle.«

Er nickte dankbar, setzte das Glas an.

»Wollen Sie auch was essen?«

Hättest du mich eigentlich gleich fragen können. Ist der Wirt verwirrt?

Die Redewendung gefiel ihm. Er lächelte.

»Hm. Was können Sie empfehlen?«

»Schnitzel mit Blumenkohl. Alles Bio, selbst die Kartoffeln sind hier aus der Region. Unser Montags-Special.«

»Klingt gut, nehme ich.«

Solide Hausmannskost.

Rajko hielt einen Moment die Luft an, als der Wirt mit einem karierten Lappen über den Tisch fuhr. Er hasste feuchte Tücher wie die Pest, denn zumeist hatten sie einen stechenden Geruch. Dieses zum Glück nicht.

Deine Jeans und das weiße Hemd, das sich da über dem Bäuchlein spannt, haben schon bessere Zeiten gesehen, mein Lieber.

Er schätzte den Wirt auf Anfang 50.

»Und, die Polizei?« Seine Finger hatten den Henkel des Bierglases umfasst.

»Ach, nichts Besonderes. Der Streife kam das an die Tür gelehnte Fahrrad seltsam vor. Da sind sie reingekommen. Ein junger Kerl wollte Geld von mir. Ein äußerst unfreundlicher Schwachkopf. Sie haben ihn gleich mitgenommen.« Er winkte ab. »Aber machen Sie sich keine Sorgen.«

Keine Sorgen?

»Ich lasse Sie kurz allein, gebe hinten in der Küche wegen dem Essen Bescheid, okay?«

Verdammter Mist! Und genau dafür hat mich der Chef angesetzt.

Er lehnte sich zurück, verfolgte fast eine Minute den Sekundenzeiger der Wanduhr, bevor er einen weiteren Schluck Bier nahm. Es schmeckte bitterer als in der Heimat, war aber besser als nichts.

Er blätterte in der Tageszeitung, ohne wirklich zu lesen.

Guck, ob er was taugt, ob wir ihn einsetzen können! Das hatte der Chef gesagt.

Die jungen Kerle haben die große Fresse, denken, dass sie die Helden sind. In ihrer Heimat beklauen sie Touristen oder spielen dafür Handlanger. Klar, irgendwann muss man den nächsten Schritt wagen, und das, bevor sie strafmündig werden. Trotzdem ist es schwer, gutes Personal zu finden. Die heutige Prüfung hat er leider nicht bestanden. Ich rede mit ihm, vielleicht kann ich ihm etwas beibringen.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als der Wirt zurückkam und einen Steinkrug mit in Servietten gewickeltem Besteck auf den Tisch stellte.

»Essen kommt gleich, dauert nicht mehr lange. Noch eins?« Er deutete auf das fast leere Glas.

Rajko zögerte.

»Ein kleines. Der Tag ist ja noch jung.« Er trank den letzten Schluck. »Hat er Sie bedroht?«

Der Wirt schien überrascht, senkte den Blick. »Nicht mit einer Waffe, nein. Eher verbal.« Seine Haut verfärbte sich ungesund, wurde fleckig. Unmittelbar darauf fuhr er sich mit der Hand über den Hemdkragen. »Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Sie sind auf der Durchreise?«

»Wie man es nimmt, vielleicht bleibe ich länger.«

»Das ist gut. Halle ist die grünste Stadt Deutschlands. Wird Ihnen gefallen. Bier kommt auch gleich. Tut mir leid, das von eben.«

In Wirklichkeit meinst du wohl eher, wie unangenehm es dir ist, dass ich es mitbekommen habe. Aber weißt du, was mir leidtut? Dass der Junge seinen Job nicht zu Ende geführt hat!

Rajko beobachtete, wie der Wirt mit zitternden Fingern ein Glas aus dem Wandregal nahm, nachpolierte und dann erst das Bier zapfte.

Hm, die beiden Polizistinnen scheinen mir ein gutes Team zu sein, professionell, gefällt mir. Ich hoffe, dass wir nie Stress miteinander bekommen. Aber ich behalte euch im Auge, versprochen. Und nicht nur ihr arbeitet im Team, liebe Bullen, nicht nur ihr! Oder sollte ich sagen: Bullinnen?

»So, dann lassen Sie es sich mal schmecken.«

»Oh, danke Ihnen!« Er hatte nicht bemerkt, dass der Wirt zurückgekommen war. Rajko sah ihm nach, als er zur Theke ging.

Du wirst mich schon bald anflehen, dein verdammtes Geld anzunehmen, glaube mir!

»Haben die Polizistinnen gesagt, was sie mit dem Jungen machen?«

»Nein, der hat ja nur rumgepöbelt, nichts Konkretes. Sie nehmen ihn mit, wollen seine Personalien überprüfen.«

»Na dann.«

Rajko warf einen Blick auf die scharfen Bügelfalten seiner Hose, bevor er zu Messer und Gabel griff.

Das hört sich gut an. Der Junge verdient eine zweite Chance. Wir kommen später zurück, beide. Dann, mein lieber Wirt, sprechen wir in aller Ruhe darüber, was dir dein Schutz wert ist.

Zwei

Es sollte sich besser anfühlen. Doch jetzt lag alles im dumpfen Grauschwarz, zersetzt mit den Lichtern der Straßenlampen. Ein dünner Nieselschleier schluckte viel vom blinkenden Blaulicht.

»Du hattest wohl einen lauschigen Sommerabend erwartet statt einem Ausläufer der Eisheiligen?« Nicole bekam keine Antwort. Sie bohrte weiter. »Auch wenn es ein langer Tag war, ich sehe das doch, dass mit dir was nicht stimmt. Also raus damit, was bedrückt dich, Sophie?«

»Na ja, bedrücken ist vielleicht das falsche Wort, aber ich muss immer noch an den Jungen von heute Mittag denken.«

»Doch nicht etwa an den Schutzgeldeintreiber aus der Kneipe?«

»Ja. Wir hätten ihn nicht gleich mitnehmen sollen.«

»Sag mal, spinnst du?« Das Lächeln von Nicole verschwand.

»Nein, im Ernst. Wer weiß, vielleicht hat man ihn gezwungen. Er ist minderjährig, fast noch ein Kind. Bestimmt hat er nicht nachgedacht.«

»Jetzt mal stopp, Weltretterin, niemand fängt eine Verbrecherkarriere erst mit 18 Jahren an! Schutzgelderpressung ist nun wirklich keine Kleinigkeit, kein Kavaliersdelikt. Der Haftrichter wird entscheiden, was passiert. Wir haben das Richtige getan.«

»Und wenn wir erst mal nur in Ruhe mit ihm geredet und ihn belehrt hätten? Bestimmt steckt viel Gutes in ihm.«

»Nein, das bringt nichts. Wir sorgen für Recht und Ordnung. Das ist unsere Aufgabe.« Nicole schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass du zu weich für diese Welt bist, Sophie. Du musst unbedingt strenger werden, sonst kannst du dich nicht mit der dunklen Seite der Macht anlegen!« Und nach einer kurzen Pause: »Dafür gibt es übrigens das Jugendstrafrecht. Nur so, falls dich das tröstet.«

»Verdammt, du hast ja recht.« Sie zögerte. »Aber ich werde dennoch versuchen, mit ihm zu reden. Wenn wir seine Gründe wissen, können wir ihm vielleicht helfen, ein besserer Mensch zu werden.«

»Tu, was du nicht lassen kannst. Wenn sie dich überhaupt zu ihm lassen. Aber pass auf, dass es nicht zu persönlich wird. Und jetzt«, sie hob die Stimme, »sollten wir uns auf den Einsatz konzentrieren, zu dem wir gerade unterwegs sind. Auch wenn es langweilig wird.«

»Schon gut, aber du brauchst es nicht schönzureden, ich wette nicht mit dir.«

»Langweilig.«

Der Regen nahm zu und die Intervalle des Scheibenwischers wurden kürzer. Das Wasser spritzte bis an die Seitenscheiben, als sie durch eine Pfütze fuhren.

»Wir wollten doch öfter mit großer Kapelle fahren, wenn wir mit der Funkstreife unterwegs sind.«

Sophie war sich nicht sicher, ob der Satz ihrer Freundin eine Frage oder eine Aussage war. Sie sah weiter auf die Fahrbahn und drückte die Taste für die Sirene, um sie kurz darauf wieder auszuschalten.

»Hast ja recht, leerer wird die Straße nicht. Will ja keiner raus, in diese verregnete Hässlichkeit.«

Nicole schob ihre Füße auf das Armaturenbrett. »Hättest du mal bei Dienstbeginn meine Wette angenommen.«

»Pff, wirst sehen, das ist wieder ein stinklangweiliger Einsatz.«

»Also doch noch eine Wette?«

»Vergiss es. Ich bin froh, dass wir überhaupt allein fahren durften, ohne die sonst übliche Begleitung durch die alten Hasen, sind ja erst ein paar Monate dabei. Die Umsetzung der Frauenquote erweist sich hier als Glück für uns. Ohne die hieße es auf unbestimmte Zeit: Willkommen im langweiligen Innendienst! Das Aufregendste, was Sie erleben, meine Herrschaften, ist das Anspitzen Ihrer Bleistifte.«

In der Zwischenzeit überquerten sie den Riebeckplatz und fuhren weiter auf der B 6. Nicole sah kurz aufs Handy. »Noch ungefähr zwei Kilometer, dann links.«

»Und wenn wir einfach weiterfahren, dann sind wir in gut 30 Minuten in Leipzig. Was meinst du?« Sie blickten sich für einen Moment in die Augen und nickten synchron.

»Aber wir haben uns nun mal für diese wunderschöne Stadt entschieden.«

Ja, und man hat uns zum Dank einen Streifenwagen verpasst, der nach all den Dienstjahren wie das Zuhause eines nassen und filzigen Bettvorlegers muffelt!

»So, hm, was ist denn nun hier so schön?« Wieder ein gleichzeitiges Nicken als Zeichen, dass das Ganze nicht so ernst gemeint war.

»Halle ist toll, immerhin nennt sie sich Saale-, Salz- und Händelstadt.«

»Verschon mich damit. Davon habe ich noch nichts gesehen. Oh verdammt …« Sophie bremste hart. Ein Bus vom Schienenersatzverkehr war, links vom Bahnhof kommend, eingebogen. Der Busfahrer setzte umgehend den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Er hob entschuldigend die Hände. Nicole streckte den Mittelfinger nach oben.

»Na, du wirst doch nicht …?«

»Was? Doch, die Sirene wieder einschalten.«

Sie beschleunigten und nutzten beide Fahrbahnhälften, um schneller voranzukommen.

»Gleich siehst du links ein Einkaufscenter, dort bitte auf den Parkplatz.«

Sophie erinnerte sich an die Ansage der Leitstelle: aufgebrochener PKW mit eingeschalteter Warnblinkanlage.

»Da vorn muss es sein.« Sie fuhr langsamer und warf dabei einen Blick auf die Uhr. Mitternacht lag seit mehr als drei Stunden hinter ihnen.

»Da!« Im gleichen Moment stellte ihre Freundin die Sirene wieder aus. Sie rollten auf das blinkende Auto zu.

»Ich bin hinter dir.«

»Toll, so stellt sich wohl jeder Polizeischüler vor Ende des Studiums seinen ersten unbeaufsichtigten Einsatz vor.«

»Genau, wie im Film, Streifenfahrt mit Einlage.«

Sie stiegen zeitgleich aus und legten jeweils die rechte Hand auf ihre Pistolen. Die Warnblinkanlage zauberte ein zuckendes Licht über die Reste der eingeschlagenen Scheiben.

»Uff, hier an der Bundesstraße ist man schnell wieder weg. Ruck zuck in jede Richtung.« Nicoles Blick verweilte kurz an der Tankstelle und auf den Rücklichtern eines wegfahrenden Sportwagens. Jetzt war auch dieses Areal verlassen. Hinter ihr befanden sich einige Messehallen. Das hatte zumindest die Karte auf dem Handy angezeigt. Ausmachen konnte man sie im Nebel aber nicht.

Sie zog eine kleine Kamera aus der Uniformjacke. Viel gab es nicht zu fotografieren, denn erwartungsgemäß war um diese Zeit der restliche Parkplatz komplett leer. »Lass mich erst mal eine Runde um die Karre drehen.«

Sie zog Gummihandschuhe über und umkreiste den BMW. »Der 5er ist optisch echt gut in Schuss, Respekt. Aber noch von der vorletzten Serie, nicht mein Ding.«

»Angeberin!«

Sie ließ die Szene auf sich wirken, versuchte, die Geräusche des nahen Logistikflughafens zu ignorieren. Die Splitter der eingeschlagenen Scheiben passten nicht so richtig zu der Beschreibung, die sie erhalten hatten. Vorsichtig öffnete sie nacheinander alle Türen. Das Innere des PKWs war ebenfalls in einem guten Zustand. »Wer immer auch die Karre hier abgestellt hat: danke dafür, dass er das direkt unter einer Laterne gemacht hat.« Sophie beugte sich über das Lenkrad. Ihr Kopf zuckte zurück. »Stinkt ganz schön nach Alkohol. Und schau mal dort!« Sie zeigte auf die Lederummantelung der Gangschaltung. »Das scheint mir auch kein Kuchenmehl zu sein.« Sie fotografierte das weiße Pulver und rollte dann ein Wattestäbchen nebst einer kleinen Tüte aus ihrer Hosentasche.

»Oh, Frau Kommissarin ermittelt!«

»Quatsch, man darf ja noch Wünsche haben! Wir wollen doch irgendwann mal zur Kripo, oder? Jeder fängt mal klein an. Ohne Streifendienst …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, packte die Tüte ein.

»Hast du vorhin auch den Schatten gesehen?«

»Den was?«

»Na, den Schatten. Mir war so, als wäre jemand weggelaufen, wahrscheinlich ein Mann, in Richtung der Messehallen.«

»Einen Mann? Nein, nichts gesehen. Du und die Kerle. Das ist Wunschdenken! Überleg doch mal, wer soll um die Zeit hier rumlaufen? Deinen Traumprinzen findest du so ganz bestimmt nicht.«

Sophie winkte ab, froh darüber, dass man in der Suppe nicht sah, wie sie rot wurde.

Nicole umfasste ihre Schultern, so als wolle sie sich entschuldigen.

Auch wenn du es ganz bestimmt nicht hören willst: Sei froh, dass du noch eine Jungfrau bist! Doch das ließ sie lieber unausgesprochen. Wir sind total gegensätzlich. Verrückt.

»Ich habe jedenfalls niemanden gesehen.« Sie zeigte auf das Auto. »Du hast heute das Kommando. Also?«

»Hm, also abgesehen von den zerstörten Scheiben kann ich nichts Verdächtiges erkennen.« Schnell hatte Sophie Fahrer- und Beifahrersitz vor- und zurückgeklappt und dabei einen Blick unter die vorderen Fußmatten geworfen. Es gelang ihr allerdings nicht, das Handschuhfach zu öffnen. »Mist! Können die Kollegen nachher machen. Lass uns den Abschlepper rufen. Die sollen das Auto erst mal auf ihrem Hof sichern, am Vormittag kümmern wir uns um eine Halterabfrage.« Wie angekündigt hatten sie den Wagen ohne Nummernschilder vorgefunden. Aber vielleicht half ja die Fahrgestellnummer.

»Den Zeugen, der das Fahrzeug gefunden und uns angerufen hat, befragen wir ebenfalls.«

»Insgeheim muss ich ihn ja beglückwünschen, der ist nach seiner Spätschicht hier vorbeigefahren und hat uns angerufen, weil ihm das Auto verdächtig vorkam. Wäre er ausgestiegen, hätte er auf uns warten dürfen. So konnte er weiterfahren.«

»Und wir hätten die Freude, seine Aussage aufzunehmen.« Nicole steckte sich eine Zigarette an. Im dichten Nebel war der Rauch fast nicht zu erkennen.

»Du wolltest doch aufhören?«

»Bla bla … habe ich ja ... Ich wollte auch einen ersten richtigen Einsatz. Und jetzt? Warten auf den Abschleppdienst.« Sie spuckte aus und zog ihr Handy heraus, um nach der Telefonnummer zu suchen. »Den wir noch nicht mal angerufen haben.« Dann wählte sie und schilderte ihr Anliegen. Die Antwort gefiel ihr nicht.

»Wenn es flotter geht, ist das auch nicht schlimm!« In einer schnellen Bewegung schob sie das Handy zurück, fast wäre es ihr heruntergefallen. »Die sind am anderen Ende der Stadt, Parksünder suchen. Wenn du mich fragst, dann nur des Geldes wegen. Aber was soll´s, warten wir eben.«

Sie lehnten sich an den Streifenwagen. Der Regen hatte aufgehört.

»Ich habe eine Idee. Wir könnten das Ganze beschleunigen, in der Leitstelle anrufen und den Zeugen, der das hier gemeldet hat, gleich zur Befragung vorführen lassen. Dann haben wir den Bericht schneller.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Nicole, oder? Um ein paar Stunden zu gewinnen?«

»Hä? Warum nicht?«

»Also, du sagtest doch, dass er von der Schicht kam. Lass ihn schlafen. Der arme Kerl hat bis spät in die Nacht gearbeitet. Ist doch egal, wann wir den Bericht haben, das ist nicht dringend.«

»Okay, von mir aus. Ich wollte die Sache nur beschleunigen.«

»In dem Fall können wir ruhig mal weniger hart sein.«

»Hm.«

Sie schwiegen, betrachteten die winzigen Positionslichter eines Flugzeuges.

Sophie schüttelte den Kopf.

»Was hast du?«

»Oh, nichts, also eigentlich. Ich dachte gerade an meinen Vater. Er wollte nicht, dass ich Polizistin werde. Einmal hat er sogar gesagt: Tu das nicht! Denn dann wirst du den Glauben an das Gute im Menschen verlieren, meine Kleine.« Und nach einer Pause: »Ich hoffe so sehr, dass er unrecht behält.«

Sie schwiegen beide, müde vom langen Arbeitstag.

»Weißt du«, nahm Sophie den Faden wieder auf, »dieser Mann, also der Schatten …«

»Ich dachte, da sind wir drüber weg?«

»… erinnert mich an jemanden.« Ihr Gesicht war entspannt, die Augen halb geschlossen.

»Jemanden Bestimmtes? Erzähl.«

»Von der Statur her. Ich habe gestern jemanden kennengelernt« Sie hob die Hand, als sie sah, dass ihre Freundin sie unterbrechen und nach Einzelheiten fragen wollte. »Nicht was du denkst, nein, es war in der Eisdiele am Markt. Er hat mir meine Brieftasche aufgehoben. Dabei hatte ich noch nicht mal gemerkt, dass ich sie überhaupt verloren habe. Und, stell dir vor, er hat mich zum Essen eingeladen.« Sie bemerkte nicht, dass ihre Augen geschlossen waren. »Er sah italienisch aus, trug einen sehr gepflegten Bart. Und sein Geruch hat mich verzaubert. Sorry, ich konnte die Einladung nicht ablehnen.«

»Warum entschuldigst du dich dafür? Ist doch ein freies Land, Schwester, das freut mich für dich!«

Sie waren nicht wirklich Schwestern, aber manchmal fühlte es sich so an. Sophie lächelte, musste sich die Umarmung ihrer Freundin gefallen lassen.

»Respekt, ein paar Tage hier und schon das erste Date!«

»Und jetzt weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich hingehen soll. Ich …«

»Nun hör aber auf, das gibt’s doch wohl nicht! Wenn du nur einmal auf dein Herz hören und deine Schüchternheit vergessen würdest. Du gehst da hin, klar? Und wie heißt er eigentlich?«

Sophie schwieg.

»Wie, sagtest du, heißt er?«

»Das …« Sie schluckte. »Das habe ich vergessen zu fragen.«

»Das ist doch toll, so habe ich meine Schwester noch nie erlebt!« Nicole rollte mit den Augen und gab ihr einen Kuss. »Du gehst hin und berichtest mir davon, klar? Und jetzt Themenwechsel. Du hättest die Wette gewonnen, es war ein langweiliger Einsatz, ein langweiliger erster Tag. Ich hoffe, dass wir bald die anderen aus unserer Klasse treffen und hören, ob die wenigstens mehr Spaß hatten. Es wird Zeit, dass wir wieder was gemeinsam unternehmen. Es muss ja nicht gleich jeden Tag so wie früher sein.«

Noch eine Zigarette.

»Ich wette nie.«

»Das weiß ich, Schwester.«

»Ich weiß aber, wo er wohnt, also so ungefähr, zumindest die Straße im Paulusviertel.«

»Und ich vermute richtig, dass du nachher einen kleinen Umweg fahren möchtest, um mal kurz vorbeizukreuzen?«

Sophie nickte.

Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, deinen Romeo dort um diese Zeit auf einer Dachterrasse oder so zu sehen, so tue ich dir trotzdem den Gefallen. Jeden. Aber das weißt du ja.

Einige Minuten später sahen sie einen LKW, der an der Ampel vor der Parkplatzeinfahrt warten musste.

»Der Schlepper. Wird aber auch Zeit, der Feierabend ruft. Und dieser britische Niesel hier raubt mir noch den letzten Nerv.«

»Verflixt!«

»Was …?«

»Komm!« Nicole zog ihre Freundin mit. »Der Kofferraum, den haben wir vergessen, lass uns nachsehen.«

Als sie am BMW ankamen, schob sich Sophie vor. »Du bist heute für die Deckung zuständig, nicht vergessen.«

»Deckung, bei einem Autowrack?«

Dann zogen sie erneut Handschuhe über. Der Kofferraum ließ sich leicht öffnen, auch wenn es für einen kurzen Moment so schien, als würde etwas klemmen.

»Das Dunkle, was da klebt, ist kein Rost, vermute ich, es glänzt an einigen Stellen …«

Doch Nicole hatte den Deckel bereits mit Schwung geöffnet.

Gleichzeitig hörten sie die Bremsen des LKWs. Orangefarbene Rundumleuchten erhellten den Parkplatz.

»Scheiße, damit habe ich echt nicht gerechnet. Das ... das ist Blut!« Angewidert zog Nicole ihre Hand zurück. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Verdammt viel Blut sogar! Hier liegt eine männliche Leiche. Die Augenlider sind mit Klebeband fixiert, so als habe er seinen eigenen Tod bis zum Schluss verfolgen sollen. Erspar dir am besten den Anblick. Verdammte Sauerei!«

»Guten Abend, die Damen!« Der LKW-Fahrer sprang herunter.

Sophie wollte sich vorbeugen, um besser sehen zu können, hielt jedoch in der Bewegung inne. In den Augen von Sophie stand das Entsetzen. Ihr Gesicht färbte sich wie in Wellen abwechselnd dunkelgrün und gelblich-weiß. Sie atmete pfeifend, zitterte und hielt sich am Fahrzeug fest. Schließlich beugte sie sich seitlich zurück und erbrach sich, direkt auf die Stiefel des LKW-Fahrers. Als der anfing, zu protestieren, legte ihm Nicole eine Hand auf seinen rechten Unterarm. Sie zog ihr Zigarettenpäckchen hervor, hielt es ihm hin.

»Danke, dass du gekommen bist. Ich darf doch du sagen? Tut mir leid, da macht jetzt erst mal jemand von unserem Laden weiter, den Wagen kannst du nicht mitnehmen. Und bloß nicht in den Kofferraum schauen!«

Doch diese Warnung kam zu spät. Der Fahrer schaffte es zumindest, bis zu einem Gebüsch zu rennen.

Nicole gab zuerst ihrer Freundin ein Taschentuch, dann dem Fahrer. »Jetzt heißt es erst mal wieder warten.« Sie ging zurück zum Streifenwagen. »Schickt die SpuSi und gleich jemanden von der Kripo. Wir haben eine Leiche.«

Das war kein natürlicher Tod. Hätten wir mal gewettet, Schwesterchen! So uninteressant war der allererste eigene Nachteinsatz dann doch nicht.

Sie schoss einige Fotos, half ihrer Freundin aufzustehen, hakte sie unter und lief dann mit ihr zum LKW-Fahrer. Der lehnte noch immer haltsuchend am Streifenwagen. Seine Gesichtsfarbe wechselte ins ungesunde Grau-Blau.

Memme!Nicole lächelte, schaltete das Blaulicht an.

Dann warten wir mal auf die Kollegen.

Drei

Es war spät geworden. Montags verirrten sich nur wenige Touristen in sein Lokal, heute hatten sie dafür umso entschlossener gegessen und getrunken. Feierabend. Endlich zu Hause. Er gähnte, zog die Lederjacke aus und warf sie auf die Kommode vor seiner Wohnungstür. Ihn störte der anhaftende Gaststättengeruch. Normalerweise hätte er sie zum Auslüften auf den Balkon gebracht. Aber heute war irgendetwas anders.

Er schloss auf, zog tief die Luft ein.

Rieche ich Rauch? In meiner Wohnung?

Er schaltete das Licht an.

Verdammt, jetzt brennt nur noch ein Strahler! Immer mehr von den blöden Lampen verrecken, muss mich drum kümmern.

Weiter in Richtung Wohnstube. Auch hier dunkel. Der Rauchgeruch war jetzt sehr präsent. Der Druck auf den Lichtschalter blieb ohne Erfolg, ebenso der Wiederholungsversuch.

Was …?

Plötzlich leuchtete die Stehlampe am Fenster auf. Er sah, dass die Vorhänge geschlossen waren. Und dass etwas neben einem der Sessel stand. Etwas, was da sonst nicht war. Instinktiv vorsichtig ging er näher, versuchte, die Situation zu begreifen. Da teilte sich der Vorhang zur Terrassentür. Ein Mann trat ein. Seine Haltung war gebückt, das Haar erkennbar grau bis weiß. Nur den Kopf hielt er betont gerade, so, als wolle er damit den restlichen Körper zu einem aufrechten Gang zwingen.

Der Alte ging in kleinen Schritten zum Sessel, ließ sich hineinfallen.

»Guten Abend.« Es gelang ihm nicht, ein erschöpftes Schnaufen zu unterdrücken. Langsam schob er die Manschetten unter den Sakkoärmeln zurecht. Schließlich lockerte er den Krawattenknoten ein fast unmerkliches Stück.

Der Wirt war jetzt hellwach.

»Wie sind Sie hier herein …?«

»Pssst.« Der Alte hob die Hand.

»Wie sind …« Er hatte angefangen, den Satz zu wiederholen, da traten links und rechts je ein Mann an seine Seite. In dem kurzen Moment registrierte er, dass sie jung, kräftig und gut trainiert waren. Einer umgriff seine Schultern, der andere versetzte ihm einen harten Schlag gegen die Brust. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Schmerz und der plötzlich fehlende Sauerstoff ließen ihn zusammenklappen. Er wurde untergehakt.

»Ich hatte dich doch gebeten, still zu sein, oder?« Und nach einem Zögern: »Oder?«

Der Wirt nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.

»Nun, geht’s wieder?«

Auf sein angedeutetes Nicken hin zogen sich die beiden Männer zurück.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie Ski-Masken trugen. Sein Schmerz wirkte nach, so heftig, dass er die Tränen nur mit Mühe unterdrücken konnte. Er sah in die schwarzen Pupillen des Alten, fühlte seine nun stärker werdende Angst und senkte dann als erster den Blick.

Der Alte zog eine Zigarre heraus, zündete sie genüsslich an. Dass er dabei zitterte, nahm ihm nichts von seiner Würde. Er paffte mehrmals und blies den Rauch mit Absicht in die Augen seines Gegenübers.

»Du kennst mich?« Er sprach leise, flüsterte fast. Man merkte, dass ihn das Sprechen anstrengte.

»Ja, Herr Pacano, ich kenne Sie.«

»Gut. Sehr gut. Heute ist der Tag der schlechten Zahlungsmoral. Ich denke aber, du kennst mich noch zu wenig. Und deshalb besuche ich dich persönlich.«

In diesem Moment raschelte es, die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich und seine Haushälterin, die ihm zweimal pro Woche als gute Fee zumindest etwas Ordnung in die Wohnung brachte, kam heraus. Um diese Zeit? Aber sie sah nicht ihn an, sondern den alten Mann. Sie verneigte sich tief und küsste dessen Ring. »Es ist alles hergerichtet, Don Pacano, so, wie Ihr es wünscht.«

»Danke, meine liebe Sandra, vielen Dank.« Er strich ihr übers Haar, als wolle er sie beruhigen. Er ließ sie in der gebückten Haltung stehen, während er weitersprach. »Mir scheint, dass dich etwas bedrückt?«

»Ich hätte mich nie getraut, danach zu fragen, Don.«

»Schon gut, Sandra, raus damit.«

»Mein Sohn Manuel, er ... in der Schule ... also, sie hänseln und mobben ihn.«

»Hat er abgenommen, dein Sohn, sich ertüchtigt, wie ich es ihm vorgeschlagen habe?«

»Ja, hat er, Don, wirklich, glauben Sie mir!« Sie zitterte. »Aber sie hänseln ihn, die Neuen.«

»Welche Neuen?« Die Stimme des Alten hob sich.

»Es sind die Migranten, Don, er ist in Neustadt in einer Klasse, wo die Zugezogenen die Mehrheit haben. Sie schimpfen ihn ein weißes Schwein, einen Nazi, aber das ist er nicht, wirklich nicht, Don, das müssen Sie mir glauben! Sie wollen, dass er zu Allah betet, diese verdammten schwarzen Mistschweine.«

»Man flucht nicht unter Gottes Dach.« Der Don verschränkte seine Arme.

Sandra spürte den aufsteigenden Weinkrampf. »Mein Kleiner, sie haben ihn verprügelt und seine Sachen zerrissen …« Der Rest ging in einem Schluchzen unter.

Pietro Pacano versteifte sich. Er nahm sein Seidentuch aus dem Jackett, winkte sie so nah heran, dass er ihre Tränen wegwischen konnte. Aus seiner linken Hosentasche zog er ein Bündel Geldscheine hervor und drückte es ihr in die Hand.

»Sandra, nimm das und kauf ihm sobald als möglich die besten Klamotten, die du finden kannst. Grüß ihn von mir, er möge weiter Sport treiben, ich bin stolz auf ihn. Ein besseres Aussehen und die nötige Fitness werden ihm mehr Respekt verschaffen. Im Hintergrund sind wir natürlich weiterhin für ihn da. Und eines Tages kann er mir seinen Dank auf seine Art selbst zeigen, ganz bestimmt.«

»Gewiss doch, Don, gewiss doch und danke!« Sie küsste mehrmals den Ring, bevor sie sich erhob.

Einer der beiden jungen Männer trat an sie heran, reichte ihr einen kleinen Notizblock und einen Bleistift. »Darf ich um die Namen bitten?«

Sie schrieb auf, was sie wusste.

»Danke, sei unbesorgt, es wird nicht wieder vorkommen. Ach ja, ehe ich es vergesse: Stimmt deine Handynummer noch, falls wir dich erneut kontaktieren wollen?«

»Selbstverständlich Don, Sie können mich immer rufen und um alles bitten, was Sie wollen! Um alles!«

»Danke, meine Liebe, ich weiß. Dann auf bald.«

Sie verneigte sich mehrmals und ging rückwärts zur Tür. Schüchtern nickte sie dem Wirt zu, als hätte sie ihn erst jetzt bemerkt.

Der Mann, der zuvor den Block gebracht hatte, gab ihr ein Päckchen Papiertaschentücher, bevor er hinter ihr die Tür schloss.

Pietro Pacano warf einen Blick auf den hingehaltenen Notizzettel.

»Klärt das bitte, ja? Sorgt für Ordnung in der Neustadt. Und sorgt dafür, dass die Leute hier auf dem Zettel ab sofort die Straßenseite wechseln, wenn sie Sandras Kleinen sehen. Bringt ihnen den nötigen Respekt bei. Ich habe nichts gegen Ausländer. Aber die Migranten sollen sich anpassen. Erklärt ihnen die Regeln, und bitte gleich richtig! Klarheit von Anfang an. Jemand, der unter meinem Schutz steht, wird nicht gemobbt. Ein paar Knochenbrüche und fehlende Zähne sollten für den Anfang reichen, treibt es also nicht zu wild. Und vielleicht gibt es jemanden in der Familie, der sich mit Nachdruck um die sportliche Betätigung des Jungen kümmert. Meiner Meinung nach kann er auch die erste Ausbildung an der Waffe bekommen.«

Er hüstelte.

»Okay, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wir hatten geklärt, dass du mich kennst.« Erneut zog er an der Zigarre.

Trotz des Schmerzes in seiner Brust war der Wirt näher herangetreten, tastete nach der Lehne, um sich hinzusetzen. Auf ein fast unmerkliches Blinzeln des Dons hin standen die beiden maskierten Männer neben dem Wirt. Sie holten synchron aus und traten ihm brutal in die Kniekehlen. Er schrie auf, sackte zusammen und schlug mit dem Gesicht zuerst auf dem Boden auf. Er blieb auf der Seite liegen. Es war ihm unmöglich, sich hinzuknien oder aufzustehen.

»Ich hatte dich nicht gebeten, näher zu kommen und dich hinzusetzen. Aber ich muss mit dir reden!«

Er benutzte das Glas mit Rotwein, das auf dem Beistelltisch neben dem Sessel stand, als Aschenbecher.

»Also, hör zu.« Seine Stimme war so leise, dass man ihm nur mit höchster Konzentration verstand.

»Ich habe mir das hier als Heimat für mich und meine große Familie ausgewählt, vor sehr, sehr langer Zeit, als der Großvater noch lebte. Und es gefällt mir hier, sehr.

---ENDE DER LESEPROBE---