Ich überlebte Rumbula - Frida Michelson - E-Book

Ich überlebte Rumbula E-Book

Frida Michelson

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Beschreibung

"Der vergessene Holocaust" - die Verbrechen der Deutschen im Osten Europas, die schon in den ersten Tagen ihres Eroberungsfeldzugs mit Massakern begannen und bald in systematische Massenerschießungen übergingen - wurden erst nach und nach in Nachkriegsdeutschland bekannt und dokumentiert. Der authentische Bericht von Frida Michelson über den Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland, den Beginn der Ausgrenzung, Verfolgung, Zwangsarbeit, Ghettoisierung und anschließender Vernichtung im Wald von Rumbula, der sie durch einen Zufall entkam, ist ein einzigartiges Dokument.

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Seitenzahl: 296

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Frida Michelson, geb. 1906, lebte und arbeitete zur Zeit der deutschen Besetzung als Schneiderin in Riga. Ihr unglaublicher Bericht über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung, über Zwangsarbeit, Ghettoisierung und den anschließenden Massenmord im Wald von Rumbula, dem sie knapp entkam, ist ein einzigartiges authentisches Dokument. Ende 1971 konnte Frida Michelson mit ihren beiden Söhnen nach Israel auswandern. Sie starb dort im Jahr 1982.(Aufnahme n.d. Krieg)

Frida Michelson

Ich überlebte Rumbula

© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

© der deutschen Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH,

Hamburg 2020

© 1973, 2005, 2011, 2014 David Silberman

Deutsche Fassung nach der Übersetzung von Matthias Knoll herausgegeben

vom Harro von Hirschheydt Verlag, Riga

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Uwe Melichar

Coverabbildung: Frida Michelson in einem selbstgenähten Kostüm in Jūrmala, 1934

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher „Europa“, 1945

eISBN 978-3-86393-553-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-093-6

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Der Beginn der Tragödie

Varakļāni

Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit

Ghetto

Die erste Aktion

Die zweite Aktion

Auf der Flucht. Familie Bērziņš

Untergetaucht in Riga

Pesla

Frau Šeink

Olivia Viļumson und ihre Familie

Überwintern in Riga

Wieder bei Frau Šeink

Letzte Prüfungen

Die Befreiung

Die Jahre nach dem Krieg

David SilbermanZur Entstehung des Buches. Ein Nachwort

Paula OppermannMassenerschießung in Rumbula und der Holocaust in Lettland. Eine Chronologie

Anmerkungen

Editorischer Hinweis:

Der vorliegenden deutschen Fassung liegt die Übersetzung der 2014 erschienenen lettischsprachigen Ausgabe „Es izdzīvoju Rumbulā“ (Ich überlebte in Rumbula) von Matthias Knoll zugrunde. Die lettische Übersetzung aus dem Russischen von Ilze Eris basiert auf der dritten Fassung der russischsprachigen Ausgabe „Фрида Михельсон: Я пережила Румбулу“ (Moskau/Riga 2011). Mit Zustimmung des Co-Autors David Silberman (s. auch in dieser Ausgabe sein Nachwort „Zur Entstehung des Buches“) wurde der Text anhand der 1979 in den USA erschienenen erweiterten englischsprachigen Ausgabe „I survived Rumbuli“ (Holocaust Library, New York 1979) ergänzt.

Der Beginn der Tragödie

Der 22. Juni 1941 ist ein warmer und sonniger Sonntag, meine jüngere Schwester Necha1 und ich sind in fröhlicher Stimmung, denn heute kommt unsere Mutter zu uns nach Riga zu Besuch. Sie lebt mit ihrem Mann, unserem Stiefvater, in Līvāni2. Wir bereiten alles für ihren Empfang vor, und wollen ihr Rigas schönste Ecken zeigen und sie danach nach Jūrmala3 bringen.

Während wir auf dem Bahnsteig stehen und auf den Zug warten, können wir unsere Freude über das bevorstehende Wiedersehen kaum bändigen. So lange ist sie nicht bei uns gewesen … Sieh nur, da kommt der Zug, unsere Mutter steigt aus, und wir laufen ihr entgegen. Doch Mutter ist in einer merkwürdig gedrückten Stimmung, sie umarmt uns und beginnt, ohne wie üblich alle möglichen Fragen zu stellen, gleich über ihre Sorgen zu sprechen:

„Ach Kinder, ich habe in letzter Zeit so schreckliche Vorahnungen und das Gefühl, dass ich mich beeilen müsste, euch zu sehen.“

Wir versuchen, sie zu beruhigen, und gehen gemeinsam in meine Wohnung in der Krišjāņa Barona iela.4 Das Essen ist schon vorbereitet, wir bewirten unsere Mutter, erzählen ihr Neuigkeiten und sprechen über Bekannte. Dann lassen wir sie ein wenig ausruhen und sie schläft ein.

Ich gehe derweil zum Laden, um Eiscreme zu kaufen. Auf der Straße herrscht ganz ungewohnter Lärm. Irgendetwas ist passiert. Plötzlich ertönt eine aufgeregte laute Stimme aus der Menge:

„Hitler hat die Sowjetunion angegriffen! Es ist Krieg! Gerade wurde es im Radio gemeldet, ich habe es selbst gehört!“

Ich bleibe stehen wie vom Donner gerührt. Also doch Krieg … und was bedeutet das für uns? Ich renne nach Hause, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Damit ist unser Fest zu Ende und auch die Freude über unser Wiedersehen. Es beginnen Stunden des Wartens, die ganze Zeit verfolgen wir beunruhigt die Nachrichten im Radio.

Zwei Tage später, am Nachmittag des 24. Juni, taucht ein deutsches Bombergeschwader über der Stadt auf, etwa dreißig Flugzeuge. Irgendwo in einiger Entfernung detonieren die ersten Bomben. Aus Flakgeschützen werden Salven auf die Flugzeuge abgefeuert, aber ohne Erfolg – keines von ihnen fängt Feuer. Pausenlos heulen die Sirenen, im Radio verkündet eine Stimme monoton: „Luftangriff! Luftangriff!“

Der Hausmeister klopft an die Wohnungstür: Alle Hausbewohner müssen sich unverzüglich in den Schutzraum im Keller begeben. ‚Was soll das schon für ein Schutzraum sein‘, überlege ich. ‚Wenn das Haus getroffen wird, würden wir darunter ohnehin alle bei lebendigem Leibe begraben werden.‘

Am nächsten Tag macht sich Mutter bereit, zurück nach Līvāni zu fahren. Als wir sie zum Bahnhof begleiten, ist uns schwer ums Herz; wer weiß, wo, wann und ob wir uns überhaupt wiedersehen werden, wenn die Erde unter den Füßen brennt.

Mein Bruder Schalom5 ist als Freiwilliger zur Roten Armee gegangen. Ich beschließe, für eine Weile in Varakļāni bei unseren Verwandten unterzuschlüpfen. Ich bin davon überzeugt, dass die Rote Armee rasch mit dem Feind fertig wird. Meine Schwestern Sarah6 und Necham wollen jedoch in Riga bleiben. Beim Abschied schärfe ich ihnen ein, dass sie, wenn die Front näher rückt, Riga sofort verlassen und nach Russland fliehen sollten.

Varakļāni

Ich habe noch eine Fahrkarte ergattert und es geschafft, einen Zug nach Varakļāni7 zu bekommen, zu unseren Verwandten, den Talvinskis. Wie es sich zeigt, fahren viele Menschen in diese Richtung. Der Zug ist dermaßen überfüllt, dass die Türen der Wagen offen bleiben – sogar auf den Stufen stehen Leute. Als der Zug losfährt und Geschwindigkeit aufnimmt, strömt frische Luft in den Wagen, aber auch Rauch von der Lokomotive. Es herrscht Gedränge, die Reisenden haben besorgte Gesichter. Keiner spricht, nur hin und wieder ist das Aufschluchzen von Kindern zu hören. An den Bahnhöfen steigt weder jemand ein noch aus. Ich werde von der Menge fast erdrückt, vom Gewicht des Koffers fangen Hüften und Rippen an zu schmerzen. Erst in Krustpils steigt endlich ein großer Teil der Fahrgäste aus, und ich kann mich hinsetzen.

Meine Sitznachbarin schaut aus dem Fenster und überlegt laut für sich: „Ich glaube, hier steigen die Leute in einen anderen Zug um und fahren weiter nach Daugavpils oder Zilupe, um über die Grenze nach Russland zu gehen.“ Ohne jede Vorwarnung fährt der Zug plötzlich los und wir lassen den überfüllten Bahnhof von Krustpils hinter uns.

Ich überlege, ob es die richtige Entscheidung war, nach Varakļāni zu fahren. Was passiert, wenn die Deutschen Lettland einnehmen und besetzen?

So erreichen wir Stirniene8, und ich haste in Richtung Ausstieg. Am Bahnhof stehen Pferdegespanne bereit, um die Passagiere je nach Bedarf weiterzubefördern. Abends gegen acht treffe ich in Varakļāni ein.

Die Talvinskis freuen sich über mein Kommen, doch auch hier wird die Wiedersehensfreude von dem Auftauchen deutscher Bomber über Varakļāni überschattet.

Es vergehen Tage voller Unruhe. Auf der Hauptstraße sind Lastwagen und Kriegsgerät unterwegs – die Roten treten den Rückzug an.9 Unter ihnen sieht man auch Fahrzeuge der einheimischen Bevölkerung – alle ziehen in einem großen Strom gen Osten.

Bald lässt der Verkehr nach, und ein Meer übermüdeter Fußgänger taucht auf – sowohl Rotarmisten als auch Zivilisten, Familien mit Kindern. Einige von ihnen frage ich, woher sie kommen und wohin sie gehen. Niemand weiß etwas Sicheres zu sagen, man vermeidet, direkte Antworten zu geben.

Es ist klar, dass die Front näher gerückt ist und diese Soldaten als Letzte geblieben waren. Demnach rücken die Deutschen vor. Aufregung und Panik machen sich breit. Wir wissen nun, dass es hier nicht mehr sicher ist und man irgendwohin fliehen, sich retten muss. Alle packen ihre Koffer, andere machen sich schon auf den Weg, dennoch geschieht alles in großer Heimlichkeit. Niemand spricht darüber.

Auch meine Tante Talvinska packt, von der allgemeinen Stimmung angesteckt, ihre Sachen. Ihr Sohn hat ein Pferd besorgt, spannt es ein und lädt allerlei Gebrauchsgegenstände auf. Ich sitze auf dem Wagen und warte auf die Übrigen. Die Tante kann sich einfach nicht von ihren Bekannten losreißen, die sie umzustimmen versuchen:

„Wo wollen Sie denn hin? Wir sind doch alte Leute und haben niemandem Böses getan, uns wird man in Ruhe lassen.“

Die Tante beginnt zu zweifeln. In diesem Augenblick kommt ein jüdisches Mädchen zu uns und berichtet, sie sei mit dem Zug nach Zilupe gefahren, aber nicht über die Grenze gekommen. Niemand von der großen Masse an Flüchtlingen sei nach Russland reingelassen worden, deshalb sei sie nach Varakļāni zurückgekehrt. Nun wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.

Es vergeht eine Stunde, zwei … Wir erfahren, dass man mit Pferdegespannen nirgendwo mehr hinkommt und dass die Straßen unter dem Beschuss einheimischer Kollaborateure stehen würden.

Meine Verwandten wollen nun außerhalb der Stadt bei einer befreundeten Bauernfamilie das Ende der Gefechte abwarten. Das Dörfchen liegt etwa drei Kilometer hinter Varakļāni. Dorthin fahren wir mit unserem Gespann. Gegen Abend sind wir da. Der Bauer führt uns ins Haus und hilft uns, uns für die Übernachtung einzurichten.

Am nächsten Morgen verlassen wir das Haus, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Aus dem nahen Wald kommt ein etwa zwanzig Jahre alter, breitschultriger Mann mit rosigem Gesicht und Bastschuhen an den Füßen. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, tritt er an den Bauern heran. Sie gehen ein Stück abseits und unterhalten sich flüsternd. Danach sagt uns der Bauer, dass wir in die Stadt zurückkehren könnten – dort sei wieder alles ruhig und niemand würde uns behelligen.

Der junge Mann wirkte wenig vertrauenerweckend, und wir sind nicht so richtig überzeugt, ob das stimmt. Der Bauer verspricht, selbst nach Varakļāni zu gehen, um sich einen Eindruck von der dortigen Lage zu machen. Mehrere Stunden später kehrt er zurück und bestätigt, dass in der Stadt tatsächlich alles friedlich sei, und rät uns, unverzüglich aufzubrechen.

Zum Abschied werden wir noch üppig verköstigt, die Tante dankt dem Bauern, bezahlt großzügig für die Aufnahme, und wir kehren nach Varakļāni zurück. Tatsächlich ist dort alles ruhig.

Ich schaue, wie es unseren Verwandten und Bekannten geht. Aber die meisten verstecken sich noch irgendwo. Einem meiner Cousins, Gūtmans, ist es offenbar noch gelungen, mit seiner Familie das Land zu verlassen. Ich erfahre, dass manche lediglich in die Dörfer der Umgebung geflüchtet sind und andere sich in Kellern versteckt haben. Insgesamt weiß keiner von dem anderen, jeder steht für sich allein.

Am nächsten Tag tauchen die ersten Deutschen in der Stadt auf. Gerüchte gehen um, dass es sich um Fallschirmspringer handelt. Sie stoßen auf keinerlei Widerstand. Ganz im Gegenteil – es finden sich Einheimische, die sich anbieten, sie mit der Gegend vertraut zu machen, und ihnen zeigen, wo Juden wohnen. Die Deutschen beginnen sich in der Stadt einzurichten und machen auch Runden durch die Häuser der Juden, wobei sie Lebensmittel und nicht selten auch Schmuck fordern.

Ein deutscher Soldat tritt an den Brunnen gegenüber von unserem Haus, und bevor er Wasser schöpft, ruft er uns zu:

„Wenn das Wasser vergiftet ist und auch nur ein einziger Deutscher Schaden nimmt, werden Hunderte von Juden dafür mit dem Leben bezahlen!“

Am nächsten Morgen besuche ich ein paar entfernte Verwandte, die gleich hinter der Stadtgrenze wohnen. Sie haben eine sechzehnjährige Tochter. Die Sonne scheint, und wir beide machen es uns vor dem Haus auf dem Rasen bequem. Ich versuche, die Anspannung der vergangenen Tage abzuschütteln, doch auf einmal wird unser Frieden von einer lauten Stimme auf Deutsch gestört: „Fräuleins! Fräuleins!“

Das junge Mädchen wird schreckensbleich, schmiegt sich an mich und versteckt sich hinter meiner Schulter. Ein betrunkener Deutscher kommt auf uns zu gestolpert und fragt:

„Sind Sie zu haben, Fräuleins?“

Das arme Mädchen zittert noch mehr vor Angst, doch ich antworte ihm ruhig und kaltblütig:

„Gehen Sie dort zu diesem Haus, da gibt es viele Frauen. Die werden Ihnen gefallen, glauben Sie mir, sie werden Ihnen sofort um den Hals fallen. Sie werden wirklich zufrieden sein –“, und zeige dabei auf ein großes Wohnhaus.

Der Deutsche, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann, droht, er würde mit mir abrechnen, falls ich ihn belogen haben sollte, begibt sich aber dennoch in die angegebene Richtung. Wir laufen schnell ins Haus und verstecken uns auf dem Dachboden. Durch einen Spalt beobachten wir die Straße und warten ab, was nun passiert. Der Deutsche betritt tatsächlich das bewusste Haus, kommt aber bald wieder herausgewankt und schießt mit der Pistole in die Luft. Er sucht uns und fragt Passanten, wo wir geblieben sind. Jetzt zittere auch ich vor Angst. Erst als er die Suche abbricht und davonstiefelt, beruhigen wir uns einigermaßen.

Am gleichen Tag beobachten wir, wie ein Lette, indem er auf ein großes Roggenfeld zeigt, einem deutschen Offizier verrät, wo sich sowjetische Soldaten versteckt halten. Kurz darauf tauchen mehrere bewaffnete Deutsche auf. Sie gehen in Richtung Kornfeld und führen bald eine Gruppe verletzter und erschöpfter Rotarmisten als Kriegsgefangene ab.

Solche Szenen wiederholen sich auch am folgenden Tag. Eine Gruppe Gefangener nach der anderen wird durch die Straßen getrieben. Wir blicken ihnen mitleidig nach, ohne den Blick von den Todgeweihten abzuwenden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns dasselbe Schicksal bevorsteht.

Nach einigen Tagen wird bekannt gegeben, dass Juden keine Verbindung mehr zu Nichtjuden unterhalten dürfen – sie dürfen nicht mit ihnen in einer Schlange anstehen, keinen nichtjüdischen Arzt konsultieren oder anderweitig „arische“ Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Lebensmittel können Juden fortan nur noch in einem speziell ihnen zugewiesenen Laden auf dem Marktplatz einkaufen.

Vor diesem Laden bilden sich jetzt jeden Tag lange Schlangen, doch mit Ware wird er schlechter beliefert als die übrigen Geschäfte – und so werden wir nie richtig satt. Dadurch kommt es vor, dass in der Schlange um den Platz und um die Zuteilung der Lebensmittel gestritten wird oder einfach nur aus heiterem Himmel. Die deutschen und einheimischen Passanten lachen dann hämisch, wenn sie das sehen, und machen spöttische Bemerkungen.

Einmal stand ein psychisch krankes jüdisches Mädchen in der Schlange – um die neunzehn, zwanzig Jahre alt. Sie konnte ihr Mienenspiel nicht kontrollieren. Es sah so aus, als würde sie Fratzen schneiden und ohne Grund lachen. Ihr Verhalten zog die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich. Sie beobachteten das Mädchen eine Weile, dann befahlen sie ihm, aus der Schlange hervorzutreten und zu singen und zu tanzen. Als sich das Mädchen weigerte, schlugen die Deutschen sie erbarmungslos mit ihren Peitschen. Das Mädchen fing an, bestialisch zu schreien, und die Deutschen bogen sich vor Lachen.

Jeden Tag werden von den Deutschen auf der Straße willkürlich jüdische Passanten, vorwiegend ältere Menschen, rausgegriffen und gezwungen irgendwelche Arbeiten zu verrichten. Meistens lassen sie sie wieder und wieder ein und dieselben Straßen, Höfe und Räume fegen …

Von Zeit zu Zeit veranstalten sie auch „Säuberungen“ in den Häusern wohlhabender Juden. Sie raffen Lebensmittel zusammen, stopfen sich die Taschen mit wertvollen Dingen voll und nehmen sich alles, was sie wollen. Hin und wieder verschleppen sie auch junge Jüdinnen in ihr Hauptquartier. Dort werden sie vergewaltigt, zusammengeschlagen und aus dem Fenster im ersten Obergeschoss geworfen. Um sich möglichst unattraktiv zu machen, waschen und kämmen sich die jüdischen Mädchen nicht mehr und tragen schmutzige Kleidung. So sahen die ersten Tage der Nazi-Okkupation in Varakļāni aus.

Eine offizielle Verordnung fordert, dass alle Bauern aus der Umgebung von Varakļāni sich am folgenden Sonntag auf dem Marktplatz versammeln sollen. Auch ich gehe hin, um zuzuschauen, verkleide mich aber so, dass mich niemand erkennen kann.

Dann fangen die Deutschen an, verschiedene Waren in die Menge zu werfen, hauptsächlich allerlei Kleinigkeiten – Zigarettenpäckchen, Streichhölzer, Kaffee, Nähzeug. Die Leute versuchen, die Sachen zu ergattern, reißen sie sich gegenseitig aus den Händen, manche prügeln sich und es kommt zu einem Handgemenge, Schreie ertönen – jemand wird sogar zu Tode getrampelt.

Die Deutschen schießen mehrfach in die Luft und verteilen nichts mehr. Die Menge murrt unzufrieden, die Situation ist bis aufs Äußerste aufgeheizt. Alle warten, dass noch etwas passiert.

Wahrscheinlich wollten sie damit ein Kennenlernen mit den Einwohnern organisieren und sich mit blumigen Reden als Befreier präsentieren. Mit Geschenken und Versprechungen wollten sie die Bevölkerung gewogen stimmen und gegen „Bolschewiken und Juden“ aufhetzen. Doch sie verloren die Kontrolle über die Menge, so dass die Reden ausblieben und die Veranstaltung scheiterte. Anschließend wurde verkündet, dass das Kennenlernen zu Ende sei und die Leute sich unverzüglich zu zerstreuen und nach Hause zu gehen hätten.

In der Stadt gehen Gerüchte um, dass alle Juden ermordet werden. Die lettischen Bekannten, Freunde, Nachbarn sprechen nicht mehr mit uns, gehen auf der Straße mit abgewandtem Kopf vorbei, als würde es uns nicht mehr geben. Die Freundschaft ist vorbei.

Alle Anzeichen deuten auf einen unausweichlichen Tod hin, und mich überkommt Verzweiflung und quälende Angst. Es ist unmöglich, an irgendetwas anderes zu denken, bei jedem Klopfen an der Tür oder einer fremden Stimme erbebe ich. Wahrscheinlich kommen sie uns jetzt holen, gleich ist es so weit …

Wir beschließen, uns zu vergiften, bevor man uns zur Ermordung führt. Die Tante hat ein wenig Rattengift, das sie für alle verteilt. Wir wollen nicht, dass Deutsche nach uns hier einziehen und sich wohlfühlen, deshalb zerkratzen wir die Möbel, reißen die Tapeten herunter, schütten Tinte auf den Teppich, verwüsten den gesamten Haushalt und schlachten die Hühner …

So vergehen mehrere Tage. Am 15. Juli wird bekannt gegeben, dass alle, die als Flüchtlinge nach Varakļāni gekommen sind, an ihren Wohnort zurückkehren können. Ich gehe aufs Polizeirevier, um mich zu erkundigen, ob es wahr sei, dass man nach Hause zurückkehren dürfe und ob ich eine Bescheinigung bekommen könne, die mir gestattet, nach Riga zu fahren. „Sie können fahren, wohin Sie wollen“, antwortet mir der Polizist, „aber wir stellen keinerlei Genehmigungen aus und übernehmen keine Garantie für die Fahrt.“

Ich bin fest entschlossen, sofort loszufahren, muss aber irgendwie zum Bahnhof kommen. Ich gehe zum örtlichen lettischen Fuhrunternehmer mit der Bitte, mich für einen guten Preis zum Bahnhof zu bringen, aber er lehnt kategorisch ab: Ariern sei es strengstens untersagt, mit Juden zu sprechen, geschweige denn sie zu befördern.

Ich muss also einen jüdischen Fuhrmann finden. Ich bekomme die Adresse eines Juden und wende mich mit derselben Bitte an ihn, doch er hat Angst zu fahren: Unterwegs könne man uns beide erschießen, er aber habe Frau und Kinder. Endlich gelingt es mir, einen anderen Juden, der ein Pferd besitzt, zu finden und zu überreden. Am Nachmittag bringt er mich zum nächstgelegenen Bahnhof – nach Stirniene, acht Kilometer hinter Varakļāni.

Auf dem Bahnhof sind bereits viele Menschen versammelt – Männer, Frauen, Kinder, offensichtlich gestrandete Flüchtlinge.

„Wie sind Sie denn hergekommen?“, frage ich einige.

„Genauso wie Sie“, wird mir unwillig geantwortet.

Sie sind verschlossen, und jede Familie bleibt für sich, von keinem ist Genaueres herauszubekommen. Bald fährt der Zug nach Krustpils ein. Die Menschen steigen ein, und der Zug fährt weiter.

Nicht weit von mir sitzen zwei Jüdinnen, Mutter und Tochter. Die Mutter weint, schnieft und jammert – möglicherweise wurde einer ihrer Angehörigen ermordet. Die Tochter versucht, sie zu beruhigen. Die neben ihnen sitzenden Lettinnen stellen unverhohlen ihr Missfallen zur Schau und setzen sich demonstrativ auf andere Plätze.

Am Abend erreichen wir Krustpils, doch der Zug fährt nicht weiter: Endstation. Der größte Teil der Fahrgäste bleibt jedoch im Wagen; erst morgen soll ein Zug nach Riga fahren.

Die Zeit verstreicht nur langsam. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie im Bahnhofsgebäude Juden in einer Schlange am Fahrkartenschalter stehen und registriert werden. Mir scheint, dass einige von ihnen mit demselben Zug wie ich aus Varakļāni gekommen sind. Die Frage, was das alles zu bedeuten hat, lässt mir keine Ruhe. Ich steige aus dem Zug und gehe in Richtung Fahrkartenschalter, doch eine Frau in der Schlange bedeutet mir mit der Hand, ich solle nicht näherkommen. Unauffällig gehe ich weiter.

Eine meiner Mitreisenden kommt mir entgegen und sagt mit gedämpfter Stimme: „Weißt du, was ich gesehen habe?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: „Ich habe gesehen, wie Juden in einen Güterwaggon gepfercht wurden. Als sie drinnen waren, wurde er mit Brettern zugenagelt. Dort …“ Sie weist in die Richtung.

Tatsächlich steht dort ein mit Brettern vernagelter Waggon, der an zwei Stellen auf Deutsch mit Kreide mit „183 Juden“ beschriftet ist.

Als wir wieder im Zug sind, erzählt sie es auch den übrigen Reisenden. Ihre Worte jagen mir kalte Schauer über den Rücken, doch ich verrate mich nicht. Ich beginne ein ungezwungenes Gespräch mit meinen Sitznachbarinnen. Allmählich versiegen die Gespräche. Ich tue so, als sei ich müde, und schließe die Augen. Der Gedanke, dass sich in dem Güterwaggon Menschen befinden, geht mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder sehe ich die Aufschrift „183 Juden“ vor mir. So viele Menschen können nur stehend in so einen Waggon passen. Welches Schicksal steht ihnen bevor? Sie werden ersticken und zugrundegehen. Ich bekomme Gewissensbisse. Ist es richtig, dass ich mich hier als Arierin maskiere, während mein Volk in Agonie stirbt? Aber einer muss doch überleben, um von dem Geschehenen zu berichten! Vielleicht hat der Allerhöchste mich dazu ausersehen, Zeugin zu sein? Ja, ich muss alles tun, was in meinen Kräften steht, um zu überleben – vom Verrat natürlich abgesehen! Ich muss um mein Leben kämpfen!

Die Vorstellung, dass ich wundersamerweise verschont werde, um als Zeugin zu überleben, stärkte mich in den schweren Momenten der Verzweiflung und gab mir die Kraft, um meine Existenz zu kämpfen, als der Tod schon ganz nahe war.

Es wird bereits heller. Vor Aufregung habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Es dämmert und dann geht strahlend die Sonne auf, doch mein Herz ist von Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit bedrückt.

Die Mitreisenden erwachen, machen sich zurecht und warten auf den Zug nach Riga. Meine Nachbarinnen folgen dem Beispiel anderer, indem sie sich auf einem grünen Rasenplatz hinter dem Bahnhofsgebäude niederlassen, ihren Proviant auswickeln, essen, trinken, sich unterhalten und fröhlich sind. Ich beschließe, mich ihnen anzuschließen, um nicht aufzufallen. Eine von mehreren Frauen umringte Lettin in mittleren Jahren hat ein Kartenspiel in der Hand und legt auf einer auf dem Gras ausgebreiteten Decke die Karten: Sie möchte die Karten fragen, ob ihr Sohn noch am Leben sei. Eine der Umstehenden fragt, ob die Karten nicht auch verraten können, ob ihrem Mann und ihrer Tochter nichts Schlimmes zugestoßen sei und wo sie sich derzeit befänden.

Ich mische mich in das Gespräch ein und sage, dass ich wahrsagen könne. Sie freuen sich und bitten mich in ihre Mitte. Das Kartenspiel wird mir gereicht, und ich lege los. Natürlich lege ich die Karten zum Guten aus: Ihre Angehörigen seien am Leben, bald würden sie sich alle wiedersehen und glücklich sein, allen Frauen prophezeie ich eine sonnige Zukunft. Mit dieser Beschäftigung vergeht die Zeit. Gegen ein Uhr mittags wird der Zug nach Riga bereitgestellt und es kommt Bewegung in die Reisenden, sie begeben sich zum Zug. Trotz des Gedränges bleiben die einzelnen Gruppen zusammen. Ich weiche nicht von der Seite der Lettinnen und ergattere neben ihnen einen Fensterplatz.

Ein Pfiff ertönt, die Lokomotive faucht, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Wir sind unterwegs in Richtung Riga. Das eintönige Rattern der Räder, das Schaukeln des Wagens und die schlaflos verbrachte Nacht tun das ihre – ich gleite allmählich in den Schlaf.

„Kindchen, du hast wohl einen Albtraum gehabt?“, weckt mich meine Sitznachbarin. „Du hast furchtbar gestöhnt im Schlaf.“

„Was habe ich gesagt?“ Sofort bin ich hellwach.

„Du hast ‚Nein, nein!‘, gerufen, als ob dich jemand schlagen würde.“

Ich bemerke, dass ein Mitreisender, der an der Tür steht, mich nicht aus den Augen lässt. Ich versuche, ihn nicht anzusehen, wende mich ab und schaue aus dem Fenster. Doch als sich unsere Blicke für einen Moment treffen, überkommt mich eisige Kälte und Angst. Ich spüre seinen Wunsch, mich für jeden hörbar als Jüdin zu entlarven, dann bin ich erledigt. Ich reiße mich zusammen und beginne mit meinen lettischen Nachbarinnen ein Gespräch:

„Danke, dass Sie mich geweckt haben! Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Normalerweise schlafe ich tagsüber nicht.“

Meine Sitznachbarin bietet mir etwas zu essen an. Ich sage, ich müsse auf meine Figur achten, und wir lachen. Ich sehe, dass auch der Blick meines Bedrohers weich wird, er setzt sich hin und löst den Blick von mir. Erleichtert atme ich auf.

Der Zug läuft in Gostiņi ein. Aus Riga kommt uns ein langer Zug mit offenen Plattformwaggons entgegen, auf denen sich Hunderte lettischer Freiwilliger befinden, überwiegend junge Burschen in den graugrünen Uniformen der Selbstschutzeinheiten und der Armee der Ulmanis-Ära. An ihren Ledergürteln sind Waffen befestigt. Ich höre sie rufen:

„Sind bei euch im Wagen irgendwelche Juden?“

Mein Herz bleibt stehen vor Angst, das Blut schießt mir ins Gesicht – gleich werden sie hereinstürzen und mich ergreifen. Doch in diesem Augenblick ertönt am Fenster eine laute Antwort:

„In unserem Wagen sind keine Juden.“

Der Mitreisende, der mich mit seinem durchdringenden Blick so misstrauisch beobachtet hat, wiederholt ebenfalls diese Worte. Ich atme erleichtert auf, unser Zug fährt wieder weiter. Einige Stunden später bin ich endlich in Riga und mache mich sofort auf den Weg nach Hause.

Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit

Es ist der 16. Juli. Auf dem Weg zu meiner Wohnung gehe ich durch die bekannten Rigaer Straßen, die immer von so vielen Juden bevölkert waren, doch jetzt ist nur selten einer zu sehen. Zusammengesackt und mit bekümmerten Gesichtern ziehen sie dahin, niedergedrückt von der Last der Sorgen und der Angst. Hingegen sieht man auf Schritt und Tritt geschniegelte deutsche Soldaten. Mit strahlenden Gesichtern spazieren sie mit lettischen Fräuleins herum, die sich mit hellen Kleidchen und weißen Hüten herausgeputzt haben. Sie genießen das Leben, scherzen, lachen und flirten.

Meine Seele ist von Kummer und Trauer erfüllt. Ich besteige eine Straßenbahn. In ihr befindet sich kein einziger Jude. Vielleicht ist es uns untersagt, mit der Tram zu fahren? Bald habe ich mein Haus in der Krišjāņa Barona iela erreicht. Weil ich keinen Schlüssel habe, komme ich nicht in die Wohnung hinein, also gehe ich zum Hausmeister Koslowski hinunter, der im selben Aufgang wohnt. Seine Frau öffnet die Tür. Ohne jede Einleitung, sogar ohne sie überhaupt begrüßt zu haben, frage ich sie, ob sie etwas von meinen Schwestern weiß.

„Das letzte Mal habe ich sie ein paar Tage vor dem Einmarsch der Deutschen gesehen“, antwortet sie. „Als sie die Wohnung verließen, wollten Ihre Schwestern den Schlüssel bei uns hinterlegen, aber ich habe ihn nicht angenommen.“

„Haben sie mir nichts ausrichten lassen?“

„Nein. Sie haben auch nicht gesagt, wo sie hingehen. Aber falls sie versucht haben, nach Russland zu fliehen“, die Koslowski zögert kurz, „dann wurden sie wahrscheinlich festgenommen und getötet. Hier sind entsetzliche Dinge geschehen.“

„O Gott!“

Ich bringe kein Wort mehr heraus. Stehe da wie angewurzelt. Mir wird schwarz vor Augen, ich drohe ohnmächtig zu werden. Die Hauswartsfrau nimmt mich bei der Hand, führt mich in die Wohnung und setzt mich auf einen Stuhl. Als ich wieder bei Kräften bin, bieten mir Nachbarn an, bei ihnen in einem freien Zimmer zu übernachten.

Nachdem ich am nächsten Morgen meinen Koffer bei den Hauswartsleuten untergestellt habe, gehe ich in die Stadt; vielleicht treffe ich Bekannte und kann die Lage klären. Doch sowie ich die Straße überquert habe, ergreifen mich zwei bewaffnete lettische Polizisten mit rot-weiß-roten10 Armbinden.

„In der Falle, Vögelchen!“, ruft der eine aus. „Bringen wir sie weg!“

„Was soll ich denn für ein Vögelchen sein?“, frage ich unwillkürlich, verblüfft von dem unerwarteten Zugriff. „Sie werden mich wohl mit jemandem verwechselt haben.“

„Red’ nicht so viel und beweg’ dich!“, herrscht mich der zweite Polizist an.

Sie zerren mich an den Armen durch die Straße, als drohte ich zu fliehen. Wir erreichen die Präfektur. Die Polizisten bringen mich in einen Keller, erst dann lassen sie mich los. In dem Raum befinden sich bereits zahlreiche Festgenommene – Männer und Frauen, junge und alte.

Ich bitte die Wachleute, rasch nach Hause laufen zu dürfen, um das Allernotwendigste zu holen – ich hatte nichts am Leib als ein dünnes Kleidchen. Meine Worte treffen auf taube Ohren, niemand wird hinausgelassen – nicht einmal Mütter, deren Säuglinge zu Hause geblieben sind: Die Frauen weinen und flehen, sie nur für einen Moment hinauszulassen, damit sie jemanden beauftragen können, die Kinder zu beaufsichtigen und zu füttern. Nichts vermag die harten Herzen der Polizisten zu erweichen – weder Worte noch Tränen …

In der Präfektur berichten mir Rigaer Juden von den Gräueltaten der Nazis in den ersten Tagen der Okkupation: Tausende von Frauen und Männern seien auf den Straßen aufgegriffen oder bei der Arbeit oder zu Hause festgenommen und ins Zentralgefängnis oder andere Gefängnisse gebracht worden. Die meisten Verhaftungen seien in der Nacht vorgenommen worden, wobei die Täter die Menschen ohne Bekleidung, im bloßen Nachthemd aus den Betten holten …

Insbesondere sei die jüdische Intelligenz in den Fokus geraten: Ingenieure, Juristen, Ärzte, Architekten, die Leiter von Produktions- und Handelsunternehmen. Sobald die Nazis jemanden dieser Berufsgruppen erkannten, holten sie ihn aus der Menge der Festgenommen heraus und erschossen ihn auf der Stelle.

Tausende von Juden, darunter auf den Straßen aufgegriffene Kinder, zwangen sie, die Ermordeten fortzuschaffen und zu begraben sowie Straßen und Gebäude zu reinigen. Vielen wurde befohlen, sinnlose Arbeiten zu verrichten, um die nationalsozialistischen Täter zu belustigen und ihre Opfer zu erniedrigen. Die Zwangsarbeit dauerte vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit, und die Menschen mussten in der glühenden Sonne ohne Essen und Trinken arbeiten.

Nur ein Teil der zum Arbeiten Gezwungenen durfte nachts nach Hause zurückkehren. Sie erhielten aber den Befehl unter Androhung von Strafe, morgens wieder auf der Präfektur zu erscheinen, um dort für weitere Arbeiten eingeteilt zu werden. Die meisten aber wurden nach der Arbeit wieder direkt zur Präfektur gebracht, wo sie, ohnehin schon völlig erschöpft, auch noch die Nacht in unerträglicher Enge und stickiger Luft auf dem Boden hockend zubringen mussten und im Morgengrauen erneut zu schwer Sklavenarbeit genötigt wurden.

Gleich in den ersten Tagen nach der Besetzung seien Hunderte von Juden zur Präfektur gebracht und gefoltert worden. Greise mit langen Bärten zwang man, Tallit und Tefillin anzulegen und sowjetische Lieder zu singen und dazu zu tanzen. Bei Weigerung drohte man ihnen mit Erschießung. Mädchen und junge Frauen wurden gezwungen, sich vor ihren Verwandten und Bekannten nackt auszuziehen und unzüchtige Geschlechtsakte zu vollziehen, viele wurden von den Selbstschutzleuten vergewaltigt. Durch das Erlittene verloren einige den Verstand.

Manche Opfer zwang man auch, in mörderischem Tempo unter Knüppelschlägen eine Treppe hinauf und hinunter zu rennen, bis sie, besonders Ältere und Kranke, tot zusammenbrachen.

Bestialisch gepeinigt wurden insbesondere diejenigen, die in die Folterkammern der lettischen Faschistenorganisation Pērkonkrusts in der Valdemāra iela 19 gerieten. Die Pērkonkrustler taten sich in besonderem Maße durch antisemitische Hetze hervor, sie waren die aktivsten Mörder bei den Massenvernichtungsaktionen und begingen als Erste Raubzüge in den Wohnungen ihrer Opfer.

Entsetzen packt mich, als ich von der unfassbaren Barbarei der Deutschen und ihrer Handlanger erfahre. Mir wird erzählt, dass vor einigen Tagen eine ganze Gruppe jüdischer Frauen nach der Arbeit auf einem offenen Feld lediglich deshalb erschossen wurde, weil sie „schlecht“ gearbeitet hätten.

Ob das vielleicht eine Falle ist? Vielleicht wurden wir hergebracht, damit sie morgen wieder jemanden zum Erschießen haben? Was soll ich tun? Ich beginne, eine Lücke zu suchen, durch die ich entkommen könnte, doch vergeblich, alle Türen sind verriegelt und bewacht.

Mehrere Stunden vergehen unter zermürbendem Warten. Dann wird die Tür geöffnet, ein Polizist tritt ein und verkündet: Zwölf Frauen werden zum Arbeiten aufs Land gebracht. Er beginnt mit der Selektion, und auch ich werde ausgewählt. Auch auf ein gebrechliches und gebeugtes Mütterchen fällt die Wahl. Die Angst steigt. Es heißt, dass die alten Leute gar nicht erst zur Arbeit gebracht werden, sondern gleich zu den Gruben.

Der Schutzmann11 befiehlt, uns in einer Kolonne aufzustellen. Wir werden über die Daugava zum Bahnhof Zasulauks gebracht. Ein Güterzug fährt ein. Uns wird befohlen, einzusteigen, und die Waggontüren werden verriegelt. Nach etwa einer Stunde hält der Zug, die Türen werden geöffnet, und wir müssen uns in Reih und Glied aufstellen. Wir sind von Polizisten umzingelt, unsere Namen werden auf irgendeiner Liste eingetragen. Das ist ein gutes Zeichen – also sind wir nicht zur Erschießung hergebracht worden.

Als ich mich umsehe, erkenne ich die Gegend, wir befinden uns in Jelgava, wo ich viele Bekannte hatte: Vielleicht entdecke ich ja ein bekanntes Gesicht. Doch in der Stadt sieht man nur ganz wenige Zivilisten, es kommen uns fast ausschließlich deutsche Soldaten und Polizisten entgegen. Dann sehe ich einen Konvoi von Einheimischen, offenbar festgenommene kommunistische Aktivisten. Sie wirken erschöpft und gequält, ihr Anblick ist mitleiderweckend.

Nach der Registrierung befiehlt ein Polizist, uns in Bewegung zu setzen. Übernächtigt schleppen wir uns die staubige Straße entlang. Einige Frauen sind schon völlig entkräftet. Hinter einem Wald geht prachtvoll die Sonne unter. Wohin wir marschieren, wissen wir nicht.

Nach einem Marsch von etwa zehn Kilometern gelangen wir endlich an einen Einsiedlerhof wohlhabender Bauern. Es ist bereits später Abend. Aus dem Haus kommt uns der Wirt entgegen, ein Lette in mittleren Jahren. Nachdem er mit dem Aufseher etwas besprochen hat, weist er uns einen Platz im Stall auf dem Heuboden an, wo wir übernachten sollen.

Erschöpft von dem langen Marsch und verängstigt von allem Erlebten, kriechen wir hinauf. Die meisten von uns haben seit über vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, der Durst ist quälend, und wir haben Angst. Was erwartet uns?

Eine Lage Heu bedeckt den Boden. Es gibt nichts, womit man sich zudecken kann. Wir sammeln das Stroh zu einem Häufchen zusammen, lassen uns eng zusammengezwängt irgendwie darauf nieder und fallen vor enormer Erschöpfung bald alle in Schlaf. Noch vor Sonnenaufgang werden wir mit einem lauten Anschnauzer geweckt:

„Aufstehen, Zeit zum Arbeiten!“

Wir krabbeln hinunter, wo uns der Aufseher schon erwartet und zu einer Küche bringt. Endlich gibt man uns zu essen. Wir erfahren, dass wir ein Zuckerrübenfeld jäten müssen.

Das riesige Feld ist von Unkraut überwuchert, die Blätter der Rüben sind kaum noch zu erkennen. Der Boden ist lehmig und hart, es ist schwer, das Unkraut herauszuziehen. Für uns Städterinnen, die wir an solche Arbeit nicht gewöhnt sind, zu schwer und anstrengend. Bald haben alle blutige und schwielige Hände. Der Aufseher überprüft häufig, ob wir auch schnell genug arbeiten.

Jeden Tag teilt er uns ein bestimmtes Stück von dem Feld zu – das Pensum, welches wir zu schaffen haben – und schärft uns mit Nachdruck ein, dass wir, wenn wir schlecht arbeiten, erschossen werden. Uns ist klar, dass er seine Drohungen jederzeit wahr machen kann, und wir bemühen uns, alles zu seiner Zufriedenheit zu machen – wir arbeiten so gut wir können, wenn auch mit letzter Kraft. Als wir mit den Äckern des einen Bauern fertig sind, werden wir zu einem anderen Bauern gebracht. Die Arbeit ist dieselbe.

Unser Arbeitstag dauert von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Weder uns noch unsere einzigen verschwitzten Kleider, die wir am Leibe tragen, dürfen wir waschen. Schmutz und Schweiß haben sich in den Körper eingefressen, die Haut juckt, und es tauchen schon Läuse auf. Auch die Haare können wir uns nicht kämmen – weder haben wir einen Kamm, noch wird uns eine Arbeitspause gewährt. Zumindest werden wir verköstigt.

Manchmal sind die Nächte frostig. Dann drängen wir uns eng aneinander, doch auch das hilft nicht – es ist derart kalt, dass man nicht einschlafen kann. Die Schinderei und die unmenschlichen Verhältnisse, die glühende Sonne auf dem offenen Feld und die kalten Nächte bewirken das ihrige – wir sind entkräftet und Krankheiten breiten sich aus.

Unser altes Mütterchen wird auf dem Acker plötzlich ohnmächtig. Wir ziehen sie in den Schatten, legen sie ins Gras, verdecken sie, damit sie vom Aufseher nicht bemerkt wird, und versuchen, sie mit kaltem Wasser wieder zu sich zu bringen.

Am nächsten Tag bekommt ein junges Mädchen einen Sonnenstich. Sie hat unerträgliche Kopfschmerzen, muss sich ununterbrochen übergeben, und wir befürchten, dass sie stirbt. Es gelingt uns aber, den Aufseher zu überreden, dass er uns erlaubt, sie in den Schatten zu legen und ihr zu helfen – natürlich nur unter der Bedingung, dass wir übrigen Frauen das Pensum der Kranken übernehmen.