Ich war in der Hölle und fand das Paradies in mir - Maksim Klasanovic - E-Book

Ich war in der Hölle und fand das Paradies in mir E-Book

Maksim Klasanovic

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Beschreibung

Mit 31 Jahren begeht Maksim den Fehler seines Lebens und wird in Thailand zu 13 Jahren Haft verurteilt. Davon sitzt er mehr als acht im härtesten Knast des Landes unter unglaublichen Zuständen ein. Heute sagt er: "Das Gefängnis hat mich zu einem besseren Menschen gemacht." Nicht nur, dass Maksim unter brutalen Bedingungen überlebt, er findet auch einen Weg, seine Seele zu retten, seinen Geist zu beruhigen und sich selbst zu finden: Meditation und Yoga. Und er entscheidet sich für ein spirituelles Leben. Heute ist er wieder auf freiem Fuß und unterrichtet viele Menschen in seiner meditativen Methode, innere Ruhe zu finden und Energie zu tanken. Er verhilft ihnen zu mehr Lebensfreude und Erfolg. In seinem neuen Buch spricht er offen über die Erfahrungen seiner Transformation.

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ICH WAR IN DER HÖLLEUND FAND DAS PARADIES IN MIR

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Dein Kamphausen Media-Team

Maksim Klasanovic

Ich war in der Hölleund fand das Paradies in mir

Lektorat:

  Ina Kleinod

Gestaltung Umschlag:

  Kerstin Fiebig, ad department

Innenteil/Satz

  Wilfried Klei

Cover-/Autorenfoto:

  © Christoph Kottmann

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld [email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-594-8

ISBN E-Book: 978-3-95883-595-5

1. Auflage 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.de abrufbar.

Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.Weitere Informationen hierzu finden Sie unterwww.kamphausen.media

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen undsonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabesowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Maksim Klasanovic

ICH WAR IN DER HÖLLE

UND FAND DAS PARADIES IN MIR

8 JAHRE IN THAILANDS HÄRTESTEM KNAST

Für meine Mutter – der ich die schlimmsten Jahreihres Lebens beschert habe, und für meine Tochter,die große Teile ihrer Kindheit durch meine Fehlerohne ihren leiblichen Vater verbringen musste.

Ich bitte euch um Verzeihung.

Prolog

Alles auf Anfang

JUNG & NAIV

Überall und nirgends zu Hause

Endlich raus in die Welt

Nichts wird mehr sein, wie es war

FREI & EGOZENTRISCH

Wie dumm kann man sein?

Im Club der Ahnungslosen

Wer schreit, hat Unrecht

Umzug ins Unbekannte

KRISE & ABSTURZ

Die Vermessung des Schlafes

Wem die Stunde schlägt

Es geht noch schlimmer

Die kleinen Könige

Ganz normale Tage

SCHOCK & WIDERSTAND

Mund auf, Augen zu und durch

Lass uns shoppen gehen

Zeit der Unschuld

WUT & KAMPF

Ein Traum wird wahr

Besuch von Mama

Rausholen, was geht

Tief in der Nacht

Wieso anfechten?

Ein halber Meter Leben

DEMUT & AKZEPTANZ

Krank werden verboten

In Sachen Dankbarkeit

Recht und Ordnung

Unter persönlichem Schutz

Bodybuilding für den Kopf

SPORT & GEDANKENHYGIENE

Es ist angerichtet

Die schwarze Dreizehn

Ich kann und will es nicht glauben

Von Anwälten und Abzockern

Ist es Karma?

SCHULD & SINNSUCHE

Wana’s Foreign Leader

Die große Überfahrt

Knast ist (nicht gleich) Knast

Ausnahmen bestätigen die Regel

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil

REFLEXION & GEISTIGE NAHRUNG

11 Brieffreunde und 1 Engel

Take it easy

Die Geburt von Thai Miki

ATMEN & MEDITIEREN

Mann der Talente

Börsencrash im Bombat

Immer weiter auf der Leiter

Katzenmenschen

Körpergefühle

LAUFEN & FÜHLEN

Schritt für Schritt

Alphamännchen

Liebe deinen Nächsten

Ich war einmal

LIEBEN & LOSLASSEN & BETEN

Meine kleine große Liebe

Huckepack in den Tod

Die Prügel-Lotterie

Phönix aus der Asche

YOGA & ACHTSAMKEIT

Stunde der Ruhe

Große Hoffnung Nr. 4

Glück macht süchtig

WAHRNEHMUNG & SUMMEN

Die Yoga-Klasse

So weit weg und doch so nah

Mein Mädchen

In göttlicher Mission

Back in Business

Aufschwung von innen

SOZIALE & EMOTIONALE KOMPETENZ

Ein König wird gekrönt

Eine Romanze hinter Glas

Kopfrechnen und Kopfschütteln

Die große Angst

NICHT ANHAFTEN

Ein Kuchen für die Freiheit

Die Zaubertasse

Abflug ins Ungewisse

Zurück in der Zukunft

MUT & VERTRAUEN

Einer von vielen Millionen

Apps mit krasser Verspätung

Miki im Wunderland

Von einem, der auszog, das Lehren zu lernen

NEUE VISIONEN

Alles schläft, einer macht

Epilog

Was wurde eigentlich aus …?

Der Autor

Prolog

Ich saß mit den unglaublichsten Typen im Gefängnis. Einer hatte seine Freundin in Stücke zersägt und in einer Sporttasche entsorgt. Ein anderer hatte mindestens drei Tote durch gepanschte Drogen auf dem Gewissen. Einer, der später sogar mein Freund wurde, hatte mit bloßen Händen seinen Nebenbuhler erwürgt. Und wieder ein anderer hatte als Mafiaboss einen ganzen Stadtteil regiert und tyrannisiert. Mit all diesen Menschen lebte ich in einer Zelle.

In den Jahren meiner Inhaftierung habe ich Dinge erlebt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existieren. Vieles davon werde ich mein Leben lang nicht vergessen und es erinnert mich immer wieder daran, wie gut es mir heute geht – ganz egal, wie groß die Sorgen und Probleme meines Lebens in Freiheit auch sein mögen. Als ich einsaß, gab es unzählige Tage, die sich anfühlten wie die Hölle auf Erden. Viele meiner Freunde sind in diesem Knast zerbrochen, wurden wahnsinnig oder zu Seelenlosen. Manche von ihnen sind auch gestorben. Ich war dabei. Ich habe es hautnah erlebt. Ich hätte in jeder Sekunde einer von ihnen sein können. Doch ich habe überlebt – und nicht nur das, dieser Knast war auch das Beste, was mir überhaupt passieren konnte. Ohne diese harte, späte Schule meines Lebens wäre ich sehr wahrscheinlich nicht derselbe, der ich heute bin. Ich hatte Glück, denn in diesen fast neun Jahren nahm ich an einigen Gabelungen auf meinem Weg nur zufällig die richtige Abzweigung. Und ohne die Kraft meines Herzens hätte ich es nicht geschafft.

Alles auf Anfang

JUNG & NAIV

Seit knapp 15 Stunden bin ich wieder frei. Und jetzt dieses Grün! Es hat beinahe etwas Unwirkliches und ich kann mich gar nicht daran sattsehen. Es ist ein sattes, leuchtendes Grün, eingebettet in die blau anmutenden Berge des Schwarzwalds. In all den Jahren im Gefängnis habe ich keine Pflanzen und Bäume mehr gesehen, nichts. Ich war umgeben von Asphalt und Beton und diesem trostlosen Grau in all seinen Abstufungen und Schattierungen. Man sagt ja, Grün sei die Farbe der Hoffnung, doch in diesem Moment, nach all der Zeit hinter Mauern und Stacheldraht, ist es für mich die Farbe des Paradieses. Ich sitze vorne im Auto, bei heruntergelassenem Fenster, und spüre den Wind in meinem Haar. Die Landschaft fliegt an mir vorbei. Alles ist genau wie früher, nur nehme ich es anders wahr – viel intensiver. Lebendiger. Heiliger. Zum ersten Mal seit einer langen Ewigkeit bin ich wieder in Deutschland. Als wir von der Autobahn abfahren und auf die Berge zusteuern, spüre ich, dass ich neben meiner Freiheit auch wieder ein Zuhause habe. Eines, das jetzt viel besser zu mir passt als damals, als ich von hier fortgegangen bin. Damals schien es für mich nur eine Richtung zu geben: nach oben! Ich kannte nur diesen einen Blick, hoch hinaus. Und ich stieg tatsächlich auf, weit sogar. Doch so hoch ich kam, so tief war mein Fall – ins Bodenlose. Ich musste mich erst selbst verlieren, um mich anschließend wieder neu finden zu können. Ich erinnere mich noch gut, wie alles anfing …

Damals lebte ich in Thailand und mein Freund John Miller bat mich um Hilfe. Einer seiner Bekannten, ein Amerikaner, wollte Drogen kaufen. John und ich lebten damals ein Leben auf der Überholspur. Rücksichtslos in allen Belangen und mit Vollgas zogen wir vorbei an den anderen. Und wir berauschten uns. Meistens an Alkohol, manchmal an Drogen, aber immer an Geld. Geld war alles für uns – und ich glaube, wir hätten damals so gut wie alles dafür getan. Unser ganzes Leben war darauf ausgerichtet. Wenn wir miteinander redeten, sprachen wir übers Geschäft. Eigentlich war es egal, mit wem John sprach: Es ging immer ums Geschäft. Unser Business war Timesharing, und John war ein echter Veteran. Er hatte schon Mitte der 1990er Jahre damit angefangen, als kaum jemand etwas davon wusste. John kannte jeden Kniff, jeden Trick und jedes Geheimnis in der Firma und es war immer interessant, wenn er aus dem Nähkästchen plauderte. Vor allem anfangs, als ich noch frisch in seinem Team war, sog ich seine Geschichten und sein Fachwissen geradezu in mich auf. Mit Drogen hatte er aber eigentlich nicht so viel zu tun. Er war eher ein konservativer Typ. Na gut, er kiffte täglich, aber das taten alle hier. Doch jetzt ging es um Meth-Amphetamine, auch bekannt als ICE oder Crystal Meth. Synthetisch hergestellte Rauschmittel der schlimmsten Art. Eine brutal harte Droge. John kannte sich damit nicht aus, aber sein Freund, der Ami, wollte es unbedingt kaufen. Ich hatte das Zeug vor Jahren sogar schon mal probiert. Doch als mir klar wurde, wie schnell man davon süchtig werden kann, wollte ich nie wieder was damit zu tun haben.

Im Vergleich zu dieser Droge war Marihuana ein homöopathisches Kraut. Marihuana, Gras oder „Ganja“, wie die Thais sagen, war die am häufigsten verkaufte Droge in Thailand. Ganja war überall, es war allgegenwärtig. Vor allem die Touristen deckten sich damit für einen entspannten Thailand-Urlaub ein. Aber auch in der Firma und bei meinen Kollegen stand es hoch im Kurs. Wir arbeiteten viel und lange. Alkohol und die sogenannten Einstiegsdrogen gehörten zu unserem Alltag. Manchmal nahmen wir auch Kokain. Der Druck, der auf jedem einzelnen Verkäufer lastete, war enorm groß. Je mehr Abschlüsse wir machten, desto mehr Geld verdienten wir. Und wir verdienten gut. Oft bedeutete mehr Geld dann auch mehr Drogen. Oder härtere. Viele meiner Freunde und Kollegen konsumierten Mengen, bei denen man nicht mehr von gelegentlichem Gebrauch sprechen konnte. Sobald ihr Lohnzettel einen gewissen Level erreicht hatte, stiegen auch die Fixkosten für ihre Drogen. Das war einfach so, als sei es ein ungeschriebenes Gesetz. John war nicht so extrem. Ich glaube, er wollte damals einfach nur seinem Freund weiterhelfen. Der musste ihm wohl in den Ohren gelegen haben, daher kam er irgendwann auf mich zu und fragte: „Kennst du irgendwen, der ICE besorgen kann?“ Ich hörte mich ein bisschen um, kannte vielleicht ein oder zwei Leute, die wiederum jemanden kannten, der Meth verkaufte. Genauso hart wie die Droge selbst, waren auch die Typen, die damit Geld verdienten. Wer im Meth-Business steckte, von dem hielt man sich am besten fern. Ich hatte schon viele gesehen, die zu völlig kaputten Gestalten mutiert waren. Man konnte sie überall in der Stadt dabei beobachten, wie sie auf der Suche nach Geld für ihre Sucht waren. Typen, die auf Meth waren, hatten nur eines im Sinn: mehr Meth. Dafür taten sie alles. Wirklich alles. Sie lebten in einem Kreislauf aus Konsum und Kollaps. Obwohl ich das alles wusste, wurde ich aktiv und bereits drei Tage später fündig. Es gab da einen Typen mit einem auffälligen schwarzen Toyota, der in der Firma häufig ein- und ausging. Ich wusste, dass er Kokain vertickte und sprach ihn an, ob er jemanden kennen würde, der ICE besorgen könne. Er gab mir seine Telefonnummer und ich gab sie an John weiter. So einfach war das. Durch unsere Arbeit kannten wir eine ganze Menge Leute. Bei mir hätte man sogar sagen können, Gott und die Welt. Im Gegensatz zu John pflegte ich meine Kontakte aber auch mehr. Wenn ich ein Geschäft abgeschlossen hatte, war der Fall damit nicht für mich erledigt. Ich löschte auch nur selten Leute und Kunden aus dem Speicher meines Handys. Wer wusste schon, ob man die nicht noch mal brauchen könnte? Kontakte knüpfen. Kontakte halten. Kontakte nutzen. Darin war ich schon immer gut gewesen. Ich war schon Netzwerker, bevor es das Wort Netzwerk überhaupt gab.

Das andere große Ding in meinem Leben war wie gesagt Geld. Darum drehte sich bei mir schon alles seit meiner frühesten Kindheit, beziehungsweise bei meinen Eltern. Die waren Ende der 1960er Jahre als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Zuerst mein Vater, dann meine Mutter. Und weil keiner so recht sagen konnte, wie lange sie dort bleiben dürften, hatten meine Eltern versucht, so viel Geld wie möglich zur Seite zu legen, damit es uns bei unserer Rückkehr nach Jugoslawien mal besser ginge als so vielen anderen in diesem armen Land. 1973 kam meine Schwester Mona auf die Welt und meine Eltern hielten es für das Beste, sie in die Obhut meiner Großeltern in Jugoslawien zu geben. Nur so konnten sie beide weiterhin arbeiten gehen und doppelt verdienen. Als ich dann geboren wurde, 1979, trafen sie dieselbe Entscheidung. Anfangs war ich noch bei ihnen und etwas über zwei Jahre später brachten sie mich ebenfalls zurück in die Heimat, die sie verlassen hatten.

Überall und nirgends zu Hause

Meine Erinnerungen an diese Zeit sind spärlich, aber ich weiß noch ganz genau, dass ich auf dem Hof meiner Großeltern eine eigene Kuh hatte, um die ich mich kümmerte. Und mit meinem Opa fühlte ich mich ganz besonders verbunden. Ich liebte ihn unglaublich. Irgendwann hielt es meine Mutter aber nicht mehr aus. Sie sehnte sich so sehr nach ihren Kindern, dass sie uns zurückholen wollte. Mona war da schon neun oder zehn, sie hatte Freunde gefunden und sprach ausschließlich serbokroatisch, sodass sich meine Eltern dazu entschlossen, zunächst nur mich nach Deutschland zu holen. Also siedelte ich wieder um, von der ruhigen, geborgenen Welt meiner Großeltern in die stressige Welt meiner Eltern. Und wenngleich meine Mutter mich abgöttisch liebte und nach ihren zwei oder drei Jobs ihre letzten Reste an Zeit auf mich verwendete, bedeutete unser aufs Monetäre ausgerichtete Leben von jetzt an, dass ich unter der Woche in einer fremden Familie verbringen musste, um betreut zu werden. Ständig war ich woanders und ständig wechselten die Familien. Ich glaube, allein in der Kindergartenzeit waren es sieben verschiedene Haushalte.

Ganz am Anfang waren es Italiener, also lernte ich statt Deutsch Italienisch und das war nicht im Sinne meiner Mutter. Sie brachte mich woanders unter, aber da gab es Probleme. Streit war an der Tagesordnung und es gab neue Regeln und Verhaltensweisen, an die ich mich erst gewöhnen musste. Meine Mutter erzählte mir irgendwann später einmal, ich sei in dieser Zeit öfter mit blauen Flecken an Armen oder Beinen nach Hause gekommen – als Begründung dafür, dass sie mich vorsichtshalber weiterreichte an die nächsten Bereitwilligen. Nach einigen weiteren gescheiterten Versuchen kam ich schließlich bei einer tunesischen Familie unter. Und dieses Mal hatte ich ausgesprochenes Glück, denn es gab dort ein gleichaltriges Kind. Der Junge hieß Amin und wir kannten uns schon aus dem Kindergarten. Mit Amin machte alles richtig Spaß! Ich fand in ihm einen echten Freund. Endlich konnte ich irgendwo richtig ankern. Die Dinge wurden ruhiger, geordneter. Meine Eltern waren froh, weil sie meinten, ich meistere alles gut alleine und sie müssten sich weniger Sorgen oder gar Vorwürfe machen. Doch ganz so war es natürlich nicht. Einmal abgesehen von Amin lebte ich mein eigenes, kleines isoliertes Leben und vermied es, so gut es ging, Probleme zu machen. Das klappte auch ganz gut, doch es fehlte auch viel. Es war eben nicht mein Zuhause.

Ich weiß nicht mehr warum, aber eines Tages fragte ich meine Mutter, ob ich nicht einfach allein in unserer Wohnung bleiben könne, schließlich liefe ich sowieso ohne sie zum Kindergarten und zurück und könne mich gut und gerne auch selbst verpflegen. Ich wäre ja auch sonst ziemlich selbstständig für mein Alter. Wenn meine Mutter eines nicht konnte, dann war das, mir irgendwelche Wünsche nicht zu erfüllen, und darum machten wir es so. Ich wurde ein Schlüsselkind, wohnte quasi alleine zu Hause und war täglich mit zwei, drei anderen Jungs unterwegs, bei denen die familiären Umstände ähnlich waren. Amin war immer dabei. Wenn die anderen längst zu Hause sein mussten, hatten wir noch ein, zwei Stunden, bevor wir selbst losmussten, denn bei uns zu Hause war ja niemand. Wir hatten alle Freiheiten und konnten tun und lassen, was wir wollten.

Wenn ich es mir recht überlege, zog sich das eigentlich auch über die gesamte Schulzeit so hin, bis zum Abschluss. Ohne Zweifel gab es für mich in all den Jahren ständig Wichtigeres als Schule. Es fragte ja auch nie jemand nach, wie ich dort vorankäme. Hausaufgaben waren daher eher nebensächlich, die machte ich meistens erst direkt vor der jeweiligen Schulstunde. Und für meinen Abschluss habe ich mich gar nicht erst hingesetzt, um irgendwas zu büffeln. In dieser ganzen Zeit habe ich natürlich jede Menge Mist im Kopf gehabt, so wie alle Jugendlichen. Das Problem war nur: Ich hatte viel mehr Zeit, diesen Mist auch zu bauen. Allerdings fabrizierte ich nie wirklich schlimme Sachen, sondern hielt mich eher an alterstypische Flausen und Dummheiten, die aus einer Laune heraus passierten und bei denen ich selten über die Folgen nachdachte. Viele andere Dinge habe ich zudem viel zu früh erlebt. Ich glaube, ich war noch nicht mal ein Teenager, als ich zum ersten Mal ins „Cräsh“ in Freiburg ging. Das war ein dunkler, lauter, modriger Kellerclub, in dem sich alle möglichen Gestalten rumtrieben. Meistens waren es Punks oder Heavy-Metal-Typen, Waver, Arbeitslose und Süchtige. Gemeinsam war ihnen nur eines: Sie alle wollten nicht so recht in das System passen. Und mitten unter diesen Typen stand ich: im Pumuckl-Pullover. Auch die Mädels spielten viel zu früh eine Rolle in meinem Leben.

Alles in allem: Bei den meisten anderen Jugendlichen richtete sich noch für lange Zeit alles nach der Schule, bei mir gab es diese Leitplanke nicht. Schule war mir einfach nicht wichtig genug. Ich war zwar kein schlechter Schüler, aber Lernen und gute Noten gaben mir einfach keine Bestätigung. Die holte ich mir anderswo, zum Beispiel beim Sport. Ich war in der Schul-Schwimm-Mannschaft aktiv, im Leichtathletik-Verein und der mit Abstand beste Stürmer unserer Fußballjugendmannschaft. Letzteres entpuppte sich schnell als gemeinsames Interesse zwischen meinem Vater und mir. Er war genauso fußballverrückt wie ich und verfolgte jedes meiner Spiele von der Seitenlinie aus. Irgendwann trainierte er uns sogar für ein Jahr: Wir wurden Vizemeister in der Kreisliga und ich Torschützenkönig. Wir verstanden uns bestens und hatten ein wirklich tolles Vater-Sohn-Verhältnis. Die wenigen Stunden, die wir miteinander verbrachten, genossen wir beide sehr. Doch kaum war ich fertig mit der Schule, starb er. Das war 1995. Ich war gerade 16 Jahre alt und hatte eine Lehre als Kfz-Mechaniker begonnen. Sein früher Tod kam nicht nur plötzlich und unerwartet, er stellte auch einen großen, schmerzlichen Verlust für mich dar. Und insbesondere meine Mutter hatte in der Folge eine enorme Last zu tragen, nicht nur finanziell, auch emotional.

Dazu tobte der Krieg in unserer alten Heimat. Er war ein großes Thema für uns Jugoslawen. Wir fühlten uns mittendrin im Balkankrieg, obwohl wir hier in Deutschland lebten. Familienmitglieder, die dort noch wohnten, starben. Andere verloren Haus und Hof. Ständig gab es neue Horrormeldungen und wir alle waren furchtbar angespannt. Damit nicht genug, entwickelten sich schwere Zerwürfnisse untereinander. In Diskussionen sympathisierte plötzlich jeder mit einer anderen Kriegspartei, es wurde unterschieden zwischen bosnischen Serben, bosnischen Kroaten oder Bosniaken. Unzählige Freundschaften zwischen jugoslawischen Familien gingen dabei in die Brüche und nicht selten wurden aus Freunden auch Feinde. Ich selbst verlor auf diese Weise nicht nur Freunde und Verwandte, ich verlor auch ein bisschen den engen Bezug zu meiner Mutter. Dauernd mischte sie sich überall ein. Dabei kam ich doch prima allein zurecht und wusste, was gut für mich war.

Im dritten Lehrjahr brach ich gegen ihren Willen meine Lehre als Kfz-Mechaniker ab. Ich hatte es so satt, morgens aufzustehen, nur um in einem Autohaus putzen und polieren zu gehen. Außerdem verdiente ich mittlerweile ziemlich gutes Geld damit, in Deutschland schrottreife Autos zu kaufen, diese nach Jugoslawien zu exportieren und dort für das Vier- oder gar Zehnfache wieder zu verkaufen. Es war eine ganze Menge Geld für einen Kerl in meinem Alter. Manchmal verdiente ich mit einem Export fast so viel wie ein Lehrling in seinem gesamten ersten Lehrjahr. Doch irgendwann war auch damit Schluss, weil sich die Gesetzeslage änderte. Die Import/Export-Regeln wurden komplizierter und ich liebäugelte mit dem Gedanken, meine Heimat zu verlassen, vielleicht sogar Deutschland, und etwas ganz anderes zu versuchen. Ich wusste zwar nicht, was das sein könnte, aber ich fühlte deutlich, dass es kaum noch etwas gab, das mich hielt. Ich hatte meinen Vater und viele Freunde verloren und auch keine Arbeit mehr. Außerdem hatte ich mich inzwischen von meiner derzeitigen Freundin Sina getrennt, die ich eigentlich hatte heiraten wollen. Ich war vogelfrei … Und dann, eines Tages, las ich in der Zeitung eine Annonce: „Wollen Sie dort arbeiten, wo andere Urlaub machen?“ Mir war sofort klar, dass ich genau das wollte! Dieser Satz wirkte beinahe, als sei er nur für mich formuliert worden. Also bewarb ich mich spontan und bekam kurz darauf prompt eine Zusage.

Endlich raus in die Welt

Ich war 19, als ich von zu Hause wegging. Meine Freunde sagten, ich sei ein Hustler, einer der aus allem Geld mache. In Wirklichkeit war es ein wenig anders. Ich machte seitdem nicht nur aus allem Geld, ich machte auch alles für Geld. Ich hielt ahnungslose Touristen auf der Straße an und sie ließen sich von mir für Timesharing-Modelle begeistern. Ich lockte Menschen zu Präsentationen in tolle Hotels, wo irgendwelche skrupellosen Geschäftemacher ihnen teure Urlaubsmodelle oder Immobilienanteile vermittelten. Die ganze Palette. Mir war bewusst, dass es – vorsichtig gesagt – in diesem Business viele Verlierer und nur wenige Gewinner gab. Doch ich war einer der Letzteren. Und meine ethisch-moralische Grundhaltung ließ es durchaus zu, dass ich das eine oder andere Auge zudrückte, wenn es um meinen eigenen Profit ging.

Schon nach kürzester Zeit war klar, dass ich über ein gewisses Verkaufstalent verfügte und Leute für Dinge begeistern konnte, die sie nicht brauchten. Dann passierte, was in solchen Fällen passiert: Ich wurde befördert – vom Stopper zum Street Captain, vom Marketing Chief zum Area Manager. Die Titel und Berufsbezeichnungen wechselten schneller, als die Firma dafür benötigte, neue Visitenkarten für mich anfertigen zu lassen. Doch egal, ob darauf Director, Captain oder District Manager stand, eines änderte sich nie: Ich verdiente mit all meinen Tätigkeiten ordentlich Knete und wandelte dabei nicht immer auf dem Pfad redlicher Geschäftstugenden. Es dauerte nicht lange und ich arbeitete tatsächlich nur noch dort, wo andere Urlaub machten. Auf Gran Canaria, Ibiza, den Bahamas, in der Karibik. Ich war in elf verschiedenen Staaten tätig und habe insgesamt knapp dreimal so viele Länder bereist. Für viele, die ich kannte, bedeutete ein Umzug in ein fremdes Land meist, die Geschichte ihres bisherigen Lebens zu beenden und eine neue anzufangen. Bei mir war das nicht so. Wenn ich in ein Land reiste, dessen Eigenheiten und Sprache ich nicht kannte, war es meist nur ein kleines Kapitel in meinem Leben, manchmal vielleicht auch nur ein Absatz. Wenn die Urlaubszeit und somit auch die Geschäftssaison an einem Ort endete, war auch meine Zeit dort vorbei. Danach ging es eben wieder woanders hin – dahin, wo das Geschäft gerade brummte.

Ich war an so vielen Orten zu Hause, dass ich schon fast kein Gefühl mehr für mein eigenes Zuhause hatte. Die fremden Sitten und Gebräuche stellten mich vor keinerlei Probleme. Vieles, das mich an einem neuen Ort erwartete, kannte ich ja so oder so ähnlich schon aus meiner Kindheit und den vielen verschiedenen Familien und ihren unterschiedlichen Nationalitäten. Daher konnte ich von Kindesbeinen an Menschen sehr gut einschätzen und wusste schnell, was jemand von mir verlangen konnte und was ich besser nicht täte. In meinem Job brachte ich diese Fähigkeit nun bis zur Perfektion. Ich konnte Menschen regelrecht „lesen“. Ein paar Blicke genügten, um einschätzen zu können, womit ich ihr Interesse wecken konnte und wovon sie träumten oder was sie sich wünschten. Mein immer deutlicher werdendes Sprachtalent half mir sehr dabei, sofort und überall Fuß zu fassen. Damit meine ich nicht unbedingt das, was man landläufig unter dem Begriff versteht, sondern das andere Sprachtalent, mit dem ich so viele Leute umgarnte und um den Finger wickelte. Nebenbei lernte ich allerdings auch blitzschnell die Sprache des jeweiligen Landes – heute spreche ich sechs Sprachen fließend!

Viele Jahre lebte ich so, rastlos und überall zu Hause, wo ich gut verdiente. Doch als ich zum ersten Mal in Thailand war, merkte ich sofort, dass mein Fernweh einen Konkurrenten bekommen hatte. Das Land und die Kultur übte eine so große Faszination auf mich aus, dass ich es bald schon nicht mehr verlassen wollte – paradiesische leuchtend weiße Strände, rund um die Uhr lächelnde Menschen und eine fast schon chillige Gelassenheit. Als Europäer konnte man die Ruhe und Geduld der Leute kaum fassen. Fast elf Jahre lebte ich dort in einer bis dahin ungekannten Sorglosigkeit. Für meine Verhältnisse schien das ewig. Es prägte sogar ein Stück weit meine Persönlichkeit, denn die erstaunliche Freundlichkeit der Menschen färbte auf mich ab. Ich entwickelte in mir selbst eine Art Leichtigkeit und ein heiteres Gemüt. Doch vor allem veränderte ich mich privat: Ich wurde mit 31 Vater und führte ein genießerisches Leben mit Susanna, meiner tollen Freundin, und unserer Tochter Maja. Wir waren glücklich. Wir waren reich. Es ging uns mehr als gut. Ich war Marketing Direktor für drei Hotels und verdiente unfassbar viel Geld, manchmal sogar fünfstellig im Monat. Ich leitete ein fantastisches Team und verbrachte fast mehr Zeit mit meiner Tochter als im Büro. Es war wie ein Traum.

Mittlerweile arbeitete ich selbstständig im Timesharing-Business und hatte in Spitzenzeiten bis zu 50 Angestellte. Doch dann wurde Thailand erschüttert von landesweiten Protesten und politischen Unruhen. Lockdown – die Regierung riegelte Bangkok ab und schloss den Flughafen für über drei Monate. Ich war wie über Nacht meiner Kunden beraubt, denn es kamen keine Touristen mehr ins Land. Durch die ausbleibenden Einnahmen konnte ich mein riesiges Team nicht länger halten und so verabschiedete sich ein Angestellter nach dem anderen und startete woanders neu durch. Nur ich blieb auf der Strecke. Und meine Firma. Rund 200.000 Euro hatte ich mit ihr in den Sand gesetzt und ich wusste, dass die nächsten vier, fünf Monate über meine, unsere Zukunft in Thailand entscheiden würden. Ich kam vorübergehend in der Firma eines Freundes unter, wo auch John, den ich seit vielen Jahren gut kannte, oft vorbeikam. Das half wenigstens für den Moment. Ich war also nicht völlig aufgeschmissen. Susanna und ich schmiedeten Pläne. Deutschland war plötzlich wieder eine Option, nach all den Jahren, in denen ich dort bestenfalls kurz über Weihnachten oder zum Geburtstag meiner Mutter zu Besuch gewesen war. Natürlich waren auch andere Länder im Gespräch. Ich bewarb mich hier und dort, aber eines war ganz sicher: Wir würden nur zusammen als Familie weggehen.

Eines Tages bekam ich einen Anruf aus Australien, mit dem ich überhaupt nicht mehr gerechnet hatte. Vor Wochen oder Monaten hatte ich mich dort für einen Job als Marketingchef in einem der besten Hotels des Kontinents beworben – und jetzt war er zum Greifen nahe. Dazu muss man wissen: Australien war ein kleiner Sehnsuchtsort von mir. Ich wollte da schon immer mal hin, schon als Kind, doch bisher hatte es einfach nie gepasst. Dafür ging es jetzt Schlag auf Schlag. Samstagmorgen. Das Telefon klingelte. „Maksim, du hast die Stelle!“ Pause. „Du warst besser als alle anderen … wir wollen dich!“, erklärte die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Ich habe den Job! Ich habe den Job!, jubelte ich innerlich. Mein Herz schlug wie wild vor Freude und Erleichterung. Ich versuchte, nicht durchzudrehen. „Wow! Me? Really? Are you serious?“ Ich brauchte einen kleinen Moment, erst dann hatte ich mich so weit gefasst, dass ich ein normales Wort mit der Personalchefin wechseln konnte. Sie sagte, ich könne in 48 Stunden nach Australien fliegen, um vor Ort alles Weitere zu besprechen. Die Familie könne gern mitkommen oder auch später dazustoßen. Eine Wohnung stehe auch schon für uns bereit, je nachdem, wie wir uns entschieden. Wir legten auf und ich musste mich erstmal hinsetzen. Doch dann platzte es unvermittelt aus mir heraus: „Schatz, wir können nach Australien! Ich habe den Job!“ Susanna, die gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen, um eine Freundin zu besuchen, drehte sich verblüfft zu mir um und lächelte mich an. „Komm nicht zu spät nach Hause heute Abend“, rief ich ihr euphorisch zu, „das müssen wir feiern!“

In Nullkommanichts fühlte ich mich top vorbereitet, steckte noch ein, zwei Asse in den Ärmel und eine ausgeklügelte Strategie, mit der ich in die Gespräche gehen wollte. Wie gesagt, wenn es um Geld ging, holte ich alles aus mir heraus. Und bei diesem verlockenden Angebot sprühte ich per sofort vor Ideen. Doch heute war Majas Papa-Tag. Ich sammelte mich – heute würden wir ihn noch mehr als sonst genießen. Die Sorgen, die mich in letzter Zeit umgetrieben hatten, waren wie verflogen. Plötzlich klingelte mein Telefon schon wieder. Auf dem Display stand „John“. Das konnte warten. Ich legte das Handy weg. Heute war ich für nichts und niemanden zu erreichen! Ich machte mir ein paar schöne Stunden mit meiner Tochter, wir aßen was Leckeres, spielten, kuschelten und es wäre ein prima Tag gewesen, wenn nicht andauernd mein Telefon geklingelt hätte. Irgendwann nervte es mich. Als Maja mittags kurz eingeschlafen war, ging ich ran.

Nichts wird mehr sein, wie es war

FREI & EGOZENTRISCH

Es war wieder John – im Hintergrund hörte ich seinen Freund, den Amerikaner –, der mir erzählte, sie würden sich heute mit dem ICE-Verkäufer treffen. Drogen gegen Geld. Am Abend wollten alle kräftig feiern. Ich sollte dazukommen, denn schließlich hätte ich mit der Weitergabe der Telefonnummer des Dealers ja erst alles möglich gemacht. Lust hatte ich keine, also vertröstete ich ihn und erklärte, ich müsse bei meiner Tochter bleiben. Ich sei mir sicher, dass es auch ohne mich ein schöner Abend werden würde. Wir blödelten noch ein wenig herum und verabschieden uns dann voneinander. Gleich darauf bimmelte wieder das Telefon. Und dann wieder und wieder. Mindestens zehnmal rief mich John an und füllte meinen Anrufbeantworter mit Sprachnachrichten, wobei sein Alkoholpegel stetig anzusteigen schien: „Hey mate, komm vorbei! Nur auf ein Bier! Ein schnelles Bier …“ „All right, mate: Stell dich nicht so an. Setz dich aufs Motorrad und schwing deinen Hintern hier rüber. Wir waaaaaaarteeeeen!“ Es war immer die gleiche Leier. John hatte so einen Tick, in jedem Satz irgendwo ein „Mate“ einzubauen, was so viel wie Freund oder Kumpel heißt. „Hey mate! How are you doing, mate? All right, mate!“ In der Firma äfften wir ihn deshalb immer nach: „Come on, mate! All right, mate!“ Und dann hatte er auch noch so einen krassen walisischen Akzent. Der war so ungewöhnlich, dass ihn ab und an nicht mal die Engländer verstanden. An diesem Samstag war ich besonders oft sein Mate und bei jedem Anruf hatte er gefühlt ein Promille mehr intus.

Als Susanna gegen halb sieben nach Hause kam, hatten sie mich weichgekocht. „Schatz, ich fahr da ganz kurz hin, trinke ein Bier und bin gegen neun wieder zurück. Die nerven schon den ganzen Tag und geben sonst keine Ruhe mehr.“ Ich verließ die Wohnung und stieg auf mein Motorrad. Circa 30 Minuten sollte die Fahrt zu einer legendären thailändischen Bar dauern. Gleich daneben befand sich eine Tankstelle, unser Treffpunkt. Als ich losfuhr, hörte ich Susanna noch etwas rufen. So etwas wie: „Willst du da wirklich hin? Bist du sicher? Pass auf dich auf … bitte!“ Frauen … Ich meine, Thailand und Drogen, was sollte da schon passieren? Alle nahmen Drogen, die Mafias, die Touristen, sogar die ganz normalen Thais. John zum Beispiel nahm Drogen, solange ich ihn kannte. Dealer kamen sogar in unser Büro, um Kollegen Gras und anderes Zeug zu verkaufen. Wo also lag das Problem? Es mag komisch klingen, aber für mich waren Menschen, die Drogen nahmen, etwas ganz Normales. Ich sah sie jeden Tag. Ich sah jeden Tag, wie jemand Drogen konsumierte. Ich sah jeden Tag, wie jemand Drogen kaufte. In anderen Firmen gingen Pizzaboten ein und aus, bei uns waren es eben Drogendealer oder deren Laufburschen. Völlig normal. Also, was um alles in der Welt sollte da passieren?

Ich stieg vom Motorrad und stellte es vor der Tankstelle ab. Es war eine große Maschine, eine Kawasaki Ninja, recht auffällig. Sie sorgte für großen Aufruhr unter den Thailändern, die an der Tanke abhingen. John und sein Kumpel kamen gerade aus der Bar. Der Ami war vom Hals bis zu den Füßen voller Tattoos. Wir sprachen kurz miteinander und redeten über das Motorrad. Inzwischen war es fast acht. John, ich und der Amerikaner wollten gerade in die Bar gehen, da rollte ein Wagen auf uns zu und stellte den Motor ab. Es war ein schwarzer Toyota Corolla und er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich schaute durch die Scheibe und erkannte den Dealer, dessen Nummer ich an John weitergegeben hatte. Er ließ sich fahren und wurde obendrein von einem Motorrad eskortiert. Abgefahren, dachte ich, der muss ja wirklich viel Geld mit dem Zeug verdienen. Johns Freund wurde hypernervös und hatte es plötzlich eilig. Er bequatschte mich, mitzukommen, da er kein Thailändisch konnte, und irgendwann ließen wir John vor der Bar zurück und liefen auf die Tanke zu. Der Amerikaner sah bei genauerer Betrachtung ganz schön abgewrackt aus, wie von jahrelangem Drogenkonsum gezeichnet. Leider fiel mir das erst jetzt auf, wo aus dem lockeren Beisammensein ein handfester Drogendeal geworden war. Er wollte das ICE schnell, am liebsten sofort, noch auf der Straße. Er wedelte mit einem Bündel Geldscheine vor dem Auto herum und sowohl der Dealer als auch er redeten aufeinander ein. „Das geht so nicht“, sagte ich so leise wie möglich und so laut wie nötig. Ich wollte, dass er zumindest mal kurz in das Auto einstieg, um den Deal abzuwickeln. Der Ami fing sich wieder, dachte kurz nach und stieg dann irgendwann in das Auto des Dealers ein. Ich folgte ihm und sollte als Dolmetscher fungieren. Mir war bei der Sache gar nicht wohl, tat aber, worum ich gebeten wurde, und so saßen wir vier dann in skurriler Runde – Dealer und Fahrer vorn, ich und der Ami hinten. Ich wollte das Ganze jetzt schnell hinter mich bringen, schließlich wollte ich mit Susanna und meinem Engelchen Maja das fantastische Jobangebot aus Australien feiern. Stattdessen saß ich mit diesen Gestalten hier fest. Ich war mit den Gedanken ganz woanders, als ein Pick-up mit quietschenden Reifen vor unserem Wagen anhielt. Auf der Ladefläche saß ein Haufen Männer mit langen Haaren und zerfetzten Jeans. Es waren völlig abgerissene Typen, die direkt von ihren Plätzen aufsprangen. Was ist hier eigentlich los, dachte ich panisch, sind das noch mehr von diesen krassen Drogentypen? Ich schaute den Amerikaner an, er schaute mich an, dann schrie er plötzlich: „Lauf, verdammt noch mal, lauf! Hau ab, weg hier!“

Wir waren in eine Falle getappt. Die Typen waren Zivilfahnder. Sekunden später traf die Unterstützung von drei weiteren Fahrzeugen mit Polizisten in kugelsicheren Westen und mit durchgeladenen Waffen ein. Sie waren plötzlich überall. Zu allem Überfluss ließ der Dealer beim Aussteigen aus dem Auto seine Bauchtasche mit den Drogen im Auto liegen. Es folgte ein blitzschneller Zugriff. Keiner von uns entkam – weder John noch ich noch die anderen. Ich wusste sofort, dass es jetzt gewaltige Probleme geben würde, aber ich war mir dennoch sicher, am nächsten Morgen wieder zu Hause zu sein. Ich hatte ja nichts getan, außer eine Telefonnummer weiterzugeben. Dass ich irgendwann später zu vielen Jahren Haft verurteilt werden würde, kam mir nicht in den Sinn. Und hätte mir in diesem Moment einer erzählt, dass ich erst 2019 wieder ein Weihnachtsfest in Freiheit mit meiner Familie feiern würde, ich weiß nicht, was ich dann getan hätte. Jetzt wollte ich nur noch wissen, wer uns reingelegt hatte, oder verpfiffen. Wer diese Falle inszeniert hatte, in die ich so bereitwillig wie naiv hineingetappt war. Der Dealer war jedenfalls weg. Er flüchtete auf dem Motorrad, das ihn eskortiert hatte. Später erfuhr ich, dass er das immer so machte: Er kam für den Fall der Fälle immer mit einem zweiten schnelleren Fahrzeug. Der Fahrer des Wagens wurde geopfert, er wurde verhaftet, genau wie John Miller und ich. Nur einer von uns lief am Tatort noch ohne Handschellen herum. Man hätte meinen können, er habe mit der ganzen Sache nichts am Hut: der Amerikaner! Der vermeintliche ICE-Käufer war ein Spitzel der Polizei und hatte uns in die Falle gelockt.

Wir schrieben den 30. April 2011, 20:13 Uhr Ortszeit. Das war der Moment, in dem ich mein Leben versaut hatte. Nichts würde von jetzt an mehr sein, wie es war. Ab da war alles vorbei. Nur einer ahnte von diesem Unheil noch nichts: ich.

Wie dumm kann man sein?

Susanna hatte irgendetwas geahnt, ganz im Gegensatz zu mir. Wie dumm und naiv war ich eigentlich? Elf Jahre hatte ich schon in Thailand gelebt und bestimmt hatte ich schon davon gehört, dass die dortige Rechtsprechung mit ihren drastischen Strafmaßen nicht mit der deutschen Jurisdiktion zu vergleichen war. Dass es gang und gäbe war, gerade Ausländer und Touristen auf einen Verdacht hin festzunehmen, sie in Zellen mit unwirtlichen Bedingungen zu stecken und darauf zu hoffen, dass diese dann von ihrem Land oder Verwandten für gutes Geld freigekauft würden. Daran verdienten potenziell alle, von den Polizisten über die Strafverteidiger bis hin zu den Richtern und später den Wärtern in den Gefängnissen. Aber das war damals alles so weit weg von mir. Ich habe zu dieser Zeit definitiv zu wenig darüber nachgedacht, was Drogen anrichten konnten. Es war ein bisschen wie mit dem Rauchen, man weiß, dass man damit ein großes gesundheitliches Risiko eingeht, verdrängt diesen Gedanken aber immer wieder und beruhigt sich damit, dass es einen schon nicht treffen werde, sondern immer nur die anderen. Damals haben von den 100 Verkäufern unserer Firma mit Sicherheit zwei Drittel Kokain konsumiert, Gras geraucht oder beides. Wir fühlten uns „untouchable“, unberührbar, niemals gefährdet, was wir auch taten. Wir waren cool. So cool. Ein Erfolg jagte den nächsten, Druck gehörte zum Alltag wie auch die Drogen. „Uns kann nichts passieren, alles ist gut“, sagte ich zu öfter zu Susanna, wenn sie besorgt war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir, dass uns etwas Schlimmes geschehe. Zu sehr hatte ich mich daran gewöhnt, von Drogen umgeben zu sein, als dass ich es noch für eine Gefahr, geschweige denn für etwas Illegales gehalten hätte. Und selbst, wenn irgendwann mal etwas passieren sollte, da war ich mir ganz sicher, könne man es in Thailand mit genügend Geld wieder richten. Susanna dachte anders. Sie hatte Ängste. Sie machte sich Sorgen um mich. Sie kannte unser Business nicht und wollte es auch nicht kennenlernen. Dafür kannte sie einige meiner Freunde und Arbeitskollegen, wusste um unsere gemeinsame Vorliebe für Partys und konnte bestimmt eins und eins zusammenzählen. Das alles bereitete ihr großes Unbehagen.

Einer meiner thailändischen Freunde hatte einmal zu mir gesagt: „Wenn du Probleme hast, kannst du immer zu mir kommen, selbst wenn es um Mord geht! Ich hole dich da raus! Aber bei einer Sache kann ich dir nicht helfen, Drogen. Lass die Finger davon!“ Für viele Thais waren Drogen eine Art neuartige Pest, die das Land überzog. Sie forderten nicht selten sogar die Todesstrafe für Dealer. Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Aber ob ich nun wusste oder nicht, dass Drogenvergehen in Thailand zum Teil härter geahndet wurden als Morde, Vergewaltigungen und andere schwere Verbrechen, ich hätte mich ohnehin nicht darum geschert. In meiner Wahrnehmung tat jemand, der Drogen nahm, nur sich selbst etwas an – enge Freunde und Familienmitglieder mal ausgenommen. Ich bedrohte ja keinen, gefährdete niemanden, wenn ich selbst Drogen konsumierte. Warum also sollte ich jetzt eine lange Haftstrafe fürchten? Ich lebte mit meinem Kopf noch in Deutschland. Dort hätte ich wegen einer kleinen Menge – welche Substanz auch immer – nichts zu befürchten gehabt. Das Tütchen wäre einkassiert worden und eine Stunde später hätte ich einen neuen Dealer meiner Wahl getroffen. In Thailand war das anders, hier bedeutete ein Gramm etwa vier Jahre Gefängnis. 20 Gramm rechtfertigten eine Verurteilung zu 25 Jahren Haft.

Als ich das hörte, drehte sich mir der Magen um. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Gramm John und sein amerikanischer „Freund“ zusammen eingekauft hatten. John und der Fahrer würden bestimmt lange ins Gefängnis kommen. Das tat mir leid für John, schließlich war er nicht nur irgendein Bekannter oder Arbeitskollege, sondern einer meiner besten Freunde. Für mich zog ich die Möglichkeit einer langen Gefängnisstrafe allerdings gar nicht in Betracht. In meinen Augen konnte es sich nur um Tage handeln, bis ich wieder auf freiem Fuß wäre.

Ich hatte noch nie eine Zelle von innen gesehen. Ganz zu schweigen davon, dass ich selbst in einer solchen inhaftiert gewesen wäre. Aber jetzt, jetzt war es so weit. Schon ein paar Stunden nach der Verhaftung saß ich in dem schäbigen Verhörraum einer thailändischen Polizeiwache und kurz darauf hinter Gittern. Ich, genauso wie John und der Fahrer, wurde fotografiert und musste mit einem Finger auf die Drogen zeigen, die im Fahrzeug beschlagnahmt worden waren. Total bescheuert. Wäre es eine Szene aus einem Mafiafilm oder aus irgendeinem Tarantino-Streifen gewesen, hätte ich jetzt herzhaft gelacht: Drei Typen mit der Ausstrahlung eines geprügelten Hundes zeigen auf einen Haufen Drogen. Zuerst der Fahrer, dann John, zuletzt ich. Der Spitzel, der uns in die Falle gelockt hatte, schaute uns dabei zu. Ich hätte sonst was mit ihm machen können.

In den folgenden Verhören erzählte ich stets dasselbe – die Wahrheit. Dass ich nichts mit diesem Deal zu tun hätte. Dass ich nur eine Telefonnummer weitergegeben und vermittelt hätte. Dass ich nicht gekauft hätte und auch nicht dealte, dass ich weder Käufer noch Verkäufer sei. Und natürlich bekräftigte ich ständig meine Unschuld. Der Reaktion nach war ich wahrscheinlich nicht der erste Verhaftete, der so redete. Sie wollten, dass ich aussagte, was ich wirklich wüsste. Ich hingegen hatte einen ganz anderen Wunsch: zu telefonieren. Man glaubt gar nicht, wen man alles anrufen will in so einer Situation. Den eigenen Anwalt natürlich, aber ich hatte ja gar keinen, weil ich bisher nie einen gebraucht hatte. Und dann natürlich seine Verwandten, den besten Freund, dem man diese unglaubliche Geschichte gleich brühwarm erzählen kann. Am dringlichsten war jedoch der Wunsch, mit Susanna zu telefonieren. Sie und Maja mussten ja schließlich erfahren, was geschehen war. Ich wäre bereit gewesen, alles für diesen Anruf zu tun. „Bitte lasst sie mich doch wenigstens kurz anrufen!“, bettelte ich. Aber das waren nicht die Worte, die die Polizisten von mir hören wollten, und sie vertrösteten mich auf später. Ein ganz unangenehmes Gefühl überkam mich. Angst und Hilflosigkeit gepaart mit Wut auf mich selbst. Ich war in einer Schockstarre. Tausende Gedanken prasselten auf mich ein. Wie ginge es jetzt weiter? Und was passierte dann? Was hatten die mit mir vor?

Die Antwort erhielt ich relativ schnell aus dem Mund eines Übersetzers. „Du wirst mindestens zehn Jahre ins Gefängnis kommen und deine Frau und deine Tochter für lange Zeit nicht wiedersehen. Wenn du dich jetzt dumm anstellst, ist alles vorbei. Verstehst du das? Dann hast du dein Leben gelebt. Sei schlau und hilf uns dabei, die anderen zu verhaften.“ Ich dachte, ich höre nicht recht. Zehn Jahre oder mehr? Ich??? Wofür? Mein Kopf fuhr Achterbahn. Ich kriegte nur am Rande mit, dass die Polizisten plötzlich ganz freundlich zu mir waren. Sie nahmen mich sogar mit in ihr Büro. Dort lief der Fernseher. Fußball, spanische Primera Division, Zusammenfassung vom Classico: Real Madrid gegen Barcelona. Mir wurde ein Bier in die Hand gedrückt und ein Stuhl zurechtgerückt. Völlig surreal schien das alles. Es war, als würde ich mir selbst in diesem Tarantino-Film zusehen. Ich spürte, wie die Polizisten mich auf ihre Seite ziehen wollten: „Sag uns Namen, sag uns Orte! Wo finden die nächsten Deals statt? Nur, wenn du uns hilfst, können wir auch dir helfen. Du kannst freikommen, aber dafür musst du reden!“

In einem Tarantino-Film wäre jetzt das Befreiungskommando in den Raum eingedrungen und hätte mich aus dieser Situation herausgeholt. In der Realität kam keiner. Was also sollte ich tun? Natürlich kannte ich ein paar Ganja- und Kokain-Dealer, aber die wollte ich bestimmt nicht bei der Polizei verpfeifen, nur um meine eigene Haut zu retten. Vor allem nicht, weil ich von einigen wusste, dass sie Familie hatten, genau wie ich. Sie in diese Sache mit reinzuziehen, kam nicht infrage. Außerdem war ich in die ganze Geschichte ja nur hineingerutscht. Ich kaufte ja sonst nicht mal harte Drogen. Ich hatte nur den Kontakt zwischen zwei Menschen hergestellt, ohne eigene Interessen. Irgendwann ließen die Polizisten von mir ab. Ich hatte sogar das Gefühl, sie glaubten mir. Vielleicht, weil ich ihnen immer wieder die gleiche Version ohne Widersprüche erzählte. Vielleicht hatten sie aber auch einfach ihr Interesse an mir verloren und dachten, wieder so ein Idiot aus Europa, der glaubt wohl, wir sind bescheuert! Vielleicht hatten sie sich inzwischen dem Fahrer oder John zugewandt, um aus ihnen mehr herauszubekommen. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich ganz schön in der Tinte saß.

Im Club der Ahnungslosen

Ich war übrigens nicht allein mit meinem spärlichen Wissen über Thailand und dessen Gepflogenheiten, sondern erfreute mich landesweit guter Gesellschaft. Die „Vereinigung ahnungsloser Ausländer in Thailand“ verfügt nämlich über eine ausgesprochen hohe Mitgliederzahl. Die meisten können nichts dafür, dass sie in diese erlesene Gesellschaft aufgenommen werden. Sie werden durch die westliche Welt dazu erzogen. Die wenigen anderen, die dem Club sonst noch beiwohnen, sind einfach nur schlechte Menschen, die Land und Leute bewusst ausnutzen, indem sie dort für zwei Wochen im Jahr ein niveauloses Kolonialherrendasein führen. Deutsche Staatsbürger belegen hier übrigens traditionell einen der Spitzenplätze. Man kann die Mitglieder des Clubs in drei große Klassen aufteilen: die Arglosen, die Ahnungslosen und die Hemmungslosen. Sobald die Hemmungslosen aus dem Flieger steigen, schlägt in ihnen kein Herz mehr, sondern nur noch der Discobeat. Party ist das Einzige, das sie im Kopf haben. Oder Drogen. Oder Sex. Oder am besten alles zusammen. Es gibt Drogenpartys, Sexpartys, Tanzpartys, Drogenpartys mit Sexgarantie, Tanzpartys auf Droge, Sexpartys, auf denen Drogen angeboten werden, und so weiter und so fort. Die Hemmungslosen besuchen jede dieser Partys. Der Grund: Thailand ist billig, vielleicht zu billig. Für Geld bekommt man hier fast alles. Und für etwas mehr Geld bekommt man sogar den ganzen abgefuckten Rest, den sich irgendwelche kranken Hirne so ausdenken. Das macht das schöne Thailand teilweise zu einem Dienstleister der menschlichen Abgründe. Da die Thais auf das Geld angewiesen sind, machen sie auch die richtig üblen Sachen mit. Wie sich jemand fühlen muss, der stundenweise als Sklave westlicher Fantasien missbraucht wird, möchte ich gar nicht wissen. Aber ich weiß, was es mit den stolzen Thais macht und wie sie über uns denken: In ihren Augen sind wir – vorsichtig ausgedrückt – alle krank im Kopf. Sadisten und Herrenmenschen, die in ein fremdes Land fahren, um das auszuleben, was sie in ihrer Heimat nicht dürfen.

Im Straßenbild siehst du auf zehn Männer gefühlt 100 Frauen, die sich verkaufen. Zwölf Euro kostet die ganze Nacht. Wie schön Thailand wirklich ist und worin die wahren Reize des Landes liegen, entdecken die meisten nie oder wenn, dann erst viel später. Wenn sie sich ein Stück abseits der Orte aufhalten, an denen sich alles ums Geld und um Partys dreht. Geld vernebelt die Sinne, heißt es. Und vielen Thailand-Touristen geht es tatsächlich so. Sie denken, etwas Besseres zu sein, ein besseres Leben zu haben als die bemitleidenswerten Thais. Sie unterliegen dabei aber einem Irrtum. Geld in den Taschen zu haben, die Möglichkeit, in die Ferne zu reisen, oder der Luxus, den sie sich in Thailand erkaufen können, gibt ihnen ein Gefühl der Überlegenheit. Sie glauben, ihre europäischen Maßstäbe oder eben ihre deutsche Denkweise auch auf Thailand übertragen zu können, denn schließlich zahlen sie ja gutes Geld dafür. Die Thailänder lassen das aber nicht zu. Nichts liegt ihnen ferner, als sich dieser materiellen westlichen Orientierung unterzuordnen, die ihnen weder spirituell noch emotional das Wasser reichen kann. Dennoch spielen sie das Spiel mit. Und sie spielen es gut. Am Anfang haben wir sie noch im Kolonialstil über den Tisch gezogen, heute tun sie das mit uns. Mittlerweile spielen sie das Spiel so gut, dass nicht mehr wir die Regeln aufstellen, sondern sie. Wenn du beispielsweise von der normalen Polizei erwischt wirst, macht sie dir immer ein Angebot. Du zahlst etwas Geld und alles ist wieder okay. Etwas mehr Geld brauchst du, um nicht in den Knast zu kommen. Du kaufst dich mit einem kleineren oder auch größeren Vermögen frei. Die Thais wissen, wie reich wir Europäer sind. Sie kennen sich aus mit den Marktpreisen und dem Marktwert der Beschuldigten – dieser berechnet sich nach dem, woher du kommst. Sie legen den Preis fest, du zahlst. Zahlst du nicht gleich, dann eben später. Zahlst du gar nicht, bleibst du eben etwas länger im Thailand-Urlaub als die eigentlich geplanten zwei Wochen. So einfach ist das. Und wir? Wir glauben tatsächlich immer noch, dass man in Thailand alles mit Geld regeln kann.

Thais lieben ihr Land, ihre Traditionen und vielleicht auch unser Geld – aber nicht uns Europäer. Wir sind nur geduldet, damit ein kleiner Teil unseres monetären Reichtums innerhalb ihrer Landesgrenzen bleibt. Dennoch geben sie Fremden immer wieder aufs Neue die Chance, den verborgenen Reichtum ihres Landes zu entdecken. Nämlich dann, wenn wir wahres Interesse an ihnen zeigen, wenn wir uns so benehmen, wie es der Respekt gebietet, oder dies zumindest versuchen. Kurz, wenn wir nicht vergessen, dass wir eigentlich nur zu Besuch sind. Wollen wir als Europäer von den Thailändern akzeptiert werden, dann müssen wir bereit sein, uns ein bisschen in ihre Lebensart hineinzudenken. Erst dann mögen sie uns tatsächlich und tun nicht nur so. Dann lächeln sie uns ganz anders an und wir spüren im Kontakt plötzlich tiefere Wärme und Herzlichkeit. Ich glaube, man braucht eine Weile, um die echte Freundlichkeit der Thais von der gespielten unterscheiden zu können. Am besten, man lebt eine Zeit lang dort, wenn man sie wirklich kennenlernen will. Die meisten Touristen denken aber erfahrungsgemäß nicht allzu viel nach und sind einfach happy, dass immer alle so freundlich und gut drauf sind. Sie kratzen nicht gern an der Oberfläche, schon gar nicht an den eigenen Denkmustern. Warum auch, in zwei Wochen sind sie ja wieder weg.

Was uns Westler besonders unterscheidet von der thailändischen oder allgemein von der asiatischen Kultur, wird vor Ort schnell sichtbar: dass wir keine Geduld haben! Schlimmer noch, was wir schon als Geduldsprobe bezeichnen würden, ist für einen Thailänder noch nicht mal ansatzweise problematisch. Es ist ihnen völlig unbegreiflich, warum für uns immer alles schnell gehen muss: das Essen, von A nach B kommen, nicht selten sogar der Sex. Dieses Hasten, diese Hektik, mit der wir angeblich Zeit sparen, gilt ihnen als Zeichen der Schwäche. Dinge in großer Eile zu erledigen, um möglichst schnell einen Haken dran machen zu können, bleibt einem Thai absolut unverständlich. Auch unsere Denke, dass Geld vor allem Macht und Stärke bedeutet, lässt einen Thailänder nur mit dem Kopf schütteln und wahrscheinlich sieht er darin sogar den größten Irrglauben der westlichen Welt. Hinzu kommt unsere Mentalität, zu oft und zu schnell den Mund aufzumachen, zu allem eine Meinung zu haben, oft eine unverrückbare. Und davon auszugehen, wir müssten nur laut genug sprechen, damit uns andere als Anführer ansehen. Ein Thai würde niemals mit erhöhter Lautstärke sprechen. Er würde noch nicht mal die Stimme erheben, während wir schon längst heiser wären von unserer eigenen Brüllerei. Und noch seltener würde er ausrasten. Wenn bei uns der Letzte den Mund aufgemacht hat, schweigen die Thais noch lange. Stattdessen hören sie lieber zu, bilden sich zunächst innerlich ein Urteil und antworten erst, wenn der andere alles gesagt hat, was er sagen wollte.