Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz - Lidia Maksymowicz - E-Book

Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz E-Book

Lidia Maksymowicz

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Beschreibung

Lidia Maksymowicz ist drei Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Dreizehn Monate lang überlebt sie in dieser Hölle, getrennt von ihrer Mutter, in der Kinderbaracke. Sie ist eines der kleinen »Versuchskaninchen« von Dr. Josef Mengele, der seine lebensbedrohlichen »Experimente« an ihr durchführt. Lidia sieht, wie die anderen Kindern nach und nach sterben, an den Folgen der Experimente, am Hunger. Sie selbst ist eine der Wenigen, die überlebt – auch durch die Liebe ihrer Mutter, die sich in lebensgefährlichen Momenten in ihre Baracke schleicht, ihr etwas Gemüse oder Brot zusteckt, sie in den Arm nimmt und ihr einbläut, vor den SS-Männern keine Emotionen zu zeigen, um nicht ihren Zorn auf sich zu ziehen. Nach quälenden 13 Monaten ist der Krieg zu Ende. Doch nach der Befreiung findet Lidia ihre Mutter in Auschwitz nicht. Man erzählt ihr, dass sie tot sei. Doch Lidia hört nicht auf zu glauben, dass ihre Mutter am Leben ist und nach ihr sucht. Und tatsächlich gleicht es einem Wunder, dass Lidia sie eines Tages wiederfindet...
Lidia Maksymowicz hat beschlossen, ihr Leben dem Erzählen ihrer Geschichte und dem Schreiben zu widmen. Denn es kann sich alles wiederholen. »Wir sind wieder dabei, Worte des Hasses, der Spaltung, der Abschottung zuzulassen. Wenn ich sie aus dem Munde von Politikern höre, verschlägt es mir den Atem. Hier, in meinem Europa, zu Hause, immer noch diese schrecklichen Worte. Gerade jetzt, in Momenten wie diesen, kann die Dunkelheit wieder über uns hereinbrechen.«

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Zum Inhalt:

Lidia Maksymowicz ist drei Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Dreizehn Monate lang überlebt sie in dieser Hölle, getrennt von ihrer Mutter, in der Kinderbaracke. Sie ist eines der kleinen »Versuchskaninchen« von Dr. Josef Mengele, der seine lebensbedrohlichen »Experimente« an ihr durchführt. Lidia sieht, wie die anderen Kindern nach und nach sterben, an den Folgen der Experimente, am Hunger. Sie selbst ist eine der wenigen, die überlebt – auch durch die Liebe ihrer Mutter, die sich in lebensgefährlichen Momenten in ihre Baracke schleicht, ihr etwas Gemüse oder Brot zusteckt, sie in den Arm nimmt und ihr einbläut, vor den SS-Männern keine Emotionen zu zeigen, um nicht ihren Zorn auf sich zu ziehen. Nach quälenden dreizehn Monaten ist der Krieg zu Ende. Doch nach der Befreiung findet Lidia ihre Mutter in Auschwitz nicht. Man erzählt ihr, dass sie tot sei. Doch Lidia hört nicht auf zu glauben, dass ihre Mutter am Leben ist und nach ihr sucht. Und tatsächlich gleicht es einem Wunder, dass Lidia sie eines Tages wiederfindet …

Lidia Maksymowicz hat beschlossen, ihr Leben dem Erzählen ihrer Geschichte und dem Schreiben zu widmen. Denn es kann sich alles wiederholen. »Wir sind wieder dabei, Worte des Hasses, der Spaltung, der Abschottung zuzulassen. Wenn ich sie aus dem Munde von Politikern höre, verschlägt es mir den Atem. Hier, in meinem Europa, zu Hause, immer noch diese schrecklichen Worte. Gerade jetzt, in Momenten wie diesen, kann die Dunkelheit wieder über uns hereinbrechen.«

Zur Autorin:

Lidia Maksymowicz, 1940 geboren, wurde Ende 1943 zusammen mit ihrer Mutter, einem Bruder und den Großeltern aus Belarus nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Von Dezember 1943 bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 verbrachte sie dreizehn Monate in der »Kinderbaracke« des KZ, wo sie den Menschenversuchen von Josef Mengele ausgesetzt war. Trotzdem überlebte sie das Konzentrationslager so lange wie kein anderes Kind. Erst 1962, siebzehn Jahre nach der Befreiung, fand sie ihre Mutter wieder. Lidia Maksymowicz lebt heute in Krakau.

Zum Autor:

Paolo Rodari ist Vatikankorrespondent für die italienische Tageszeitung La Repubblica und Autor mehrerer Bestseller.

LIDIAMAKSYMOWICZ

PAOLORODARI

Ich war zu jung,

um zu hassen

Meine Kindheit in Auschwitz

Aus dem Italienischen

von Victoria Lorini

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

La bambina che non sapeva odiare bei Solferino.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 2024

©2022 Lidia Skibicka Maksymowicz & Paolo Rodari c/o the Association La Memoria Viva

Translation rights arranged through Vicki Satlow of The Agency srl.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, nach einer Idee von bij Barbara, unter Verwendung der Motive: MGStudio/Imageselect, Vilenia/Photomario/Shutterstock.com und Privatarchiv Lidia Maksymowicz

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

Vorwort von Papst Franziskus:

© Dicastero per la Comunicazione-Libreria Editrice Vaticana

Bildteil: © Privatarchiv Lidia Maksymowicz

ISBN 978-3-641-31373-9V001

www.heyne.de

Gewidmet ist dieses Buch den Kindern,

die nicht das Glück hatten,

der Hölle von Birkenau zu entkommen,

und meinen beiden Müttern,

denen ich das Leben verdanke.

Inhalt

Grußbotschaft von Papst Franziskus

Grußwort von Liliana Segre

Grußwort von Sami Modiano

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Danksagung

Bildteil

27. Januar 2022

Grußbotschaft von Papst Franziskus

Ich bin froh, dass ein Buch wie das von Lidia, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt hat, zum Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus erscheint. Ihre Worte, so steht zu hoffen, sollen erinnern helfen, was gewesen ist. Denn Erinnern ist ein Ausdruck von Menschlichkeit, Erinnern ist ein Zeichen von Zivilisation, Erinnern ist die Voraussetzung für eine bessere Zukunft in Frieden und Geschwisterlichkeit. Was ich bei der Generalaudienz am 27. Januar 2021 sagte, gilt so auch heute: »Sich zu erinnern, heißt wachsam sein, weil Dinge wie diese sich wiederholen können, beginnend mit ideologischen Entwürfen, die ein Volk retten wollen und am Ende ein Volk und die Menschlichkeit zerstören. Gebt acht, wie dieser Weg des Todes, der Vernichtung, der Brutalität begonnen hat.«

Als ich Lidia am 26. Mai 2021 im Innenhof von San Damaso kurz begrüßen durfte, küsste ich die Nummer, die 70072, die ihr in Birkenau in den Unterarm gestichelt worden war. Es war eine schlichte Geste der Versöhnung, auf dass die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig bleibe und wir aus den dunkelsten Seiten der Geschichte lernen, auf dass wir sie nicht wiederholen, auf dass wir nie wieder die gleichen Fehler begehen. Weiterhin gilt es, unermüdlich Gerechtigkeit zu üben, Eintracht zu fördern und Integration zu unterstützen, um als Werkzeuge des Friedens und Erbauer einer besseren Welt zu agieren. So wollen wir Lidia in ihrem Engagement unterstützen, die vor einem Jahr sagte: »Ich habe es mir zu meiner lebenslangen Mission gemacht, mich zu erinnern und darüber zu sprechen, was mir widerfahren ist.« Und die weiter sagte, vor allem jungen Menschen davon erzählen zu wollen, damit sie nie wieder zulassen, dass so etwas passiert.

Grußwort von Liliana Segre1

Lidias Geschichte ist ein Splitter aus dem KZ-Universum, der Ort der Verdammnis Birkenau, die erzählten Ereignisse ein Würfelspiel mit dem Tod. Im Hintergrund die unaussprechlichste Tragödie des 20. Jahrhunderts. Das Jahr null der Zivilisation.

Warum noch immer davon reden? Aus Pflicht. Aus Pflicht zur Erinnerung. Jetzt und allezeit, wie ein Mantra im dritten Millennium. Das Schlüsselwort ist »Erinnerung«, diese ganz besondere Kategorie, die, insofern wir sie zur Anwendung bringen, unsere Demokratie gesund erhalten hilft. Wer vergisst, ist anfälliger für die Gefahren von Intoleranz und Gewalt. Doch wie sich impfen gegen dieses »scheußliche Virus«?

Indem wir die Geschichte genau studieren und uns an der Verfassung ausrichten, von der sich alles ableiten lässt. Den jungen Menschen, die diese Seiten aufschlagen werden, wünsche ich eine gute Zukunft, frei von den Schatten der Vergangenheit. Für solche wie mich, die sich immer noch halb untergegangen, halb gerettet fühlen, ist es eine Zeit, die nicht vergeht.

1 Liliana Segre ist eine Überlebende der Shoah. Die Unternehmerin ist seit 2018 Senatorin der Italienischen Republik auf Lebenszeit. (Anm. d. Red.)

Grußwort von Sami Modiano2

Es war bewegend, jemanden wie Lidia zu treffen, ich konnte gar nicht anders, als sie zu umarmen! Ihre Geschichte ist so ähnlich der meinen, die Einsamkeit, die entsetzlichen Erlebnisse im Vernichtungslager, mit nur drei Jahren den Armen der Mutter entrissen, die absolute Ungewissheit über das Morgen!

So vieles verbindet uns in der schmerzvollen Erfahrung unserer Vergangenheit, wobei uns der Wille, niemals aufzugeben, geholfen hat, die Hürden im Leben zu überwinden.

Die Wunde bleibt, aber wie Lidia nach so vielen Jahren ihre Mutter wiederfinden durfte und ihr dramatisches Schicksal erzählen konnte, habe auch ich in meiner Frau Selma einen Menschen gefunden, der sich meiner angenommen hat und immer für mich da war.

Lidias Aufzeichnungen stehen für ein beispielhaftes Leben: für Kraft und Mut, für ein Beharren im Guten, für Nächstenliebe und nie wieder Krieg!

Wie sie entschied ich mich nach vielen Jahren des Schweigens, das Erlebte zu schildern und meine Botschaft zu überbringen: »Mai più – nie wieder«.

2 Sami Modiano hat die Inhaftierung im KZ Auschwitz-Birkenau überlebt. Der Autor berichtet als Zeuge der Shoah. (Anm. d. Red.)

1

WENIGEERINNERUNGSFETZEN. WIEBLITZE, DIEIMDunkel einer fernen Nacht aufflackern und verschwinden, weit weg in der Zeit und doch nah, so nah, als wäre es gestern gewesen. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten, seit man mich mit meiner Mutter ins Konzentrationslager deportiert hat.

Ich bin fast vier Jahre alt, sie ist zweiundzwanzig.

Sie hält mich im Arm, als wir am Gleis von Birkenau aussteigen. Es ist Dezember 1943. Und es herrscht bittere Kälte. Der Schnee fällt wie Eis. Ringsumher nichts als Ödnis. Ich schaue auf den rotbraunen Waggon, in dem wir tagelang eingepfercht gefahren sind, die Beine längst taub, dazu das Gefühl, jeden Moment ersticken zu müssen. Fast übermächtig nun der Drang, ihn wieder zu besteigen. Eben noch wollte ich nur raus, nach Sauerstoff gierend, nach Luft. Jetzt nicht mehr, jetzt will ich wieder hinein. Will nur zurück. Will heim.

Ich erinnere mich an Arme, die mich fest umschlingen. Meine Mutter, die mir das Gesicht verhüllt. Oder bin ich es, die ihr Gesicht vergraben will an ihrer Brust, die nach der schier endlosen Reise ganz eingefallen ist? Ununterbrochen hat der Zug beschleunigt und verlangsamt. Nicht enden wollende Zwischenhalte vor unbekannten Landschaften.

Deutsche Soldaten teilen die Neuankömmlinge in zwei Reihen auf. Ein paar Dutzend Meter hinter uns, auf einem aus Ziegeln erbauten Turm, stehen Wachsoldaten. Wir landen in der rechten Reihe. Viele andere in der linken, ausgelesen unter den Ältesten, wahrscheinlich erachtet man sie als die Gebrechlichsten und Schwächsten. Wenige Anhaltspunkte lassen erahnen, wie es ausgehen wird. Es gibt keine Worte, nur Resignation. Für jegliches Aufbegehren fehlt die Energie. Es fehlt die Kraft für die Durchsetzung jedweder Art von Rebellion.

Ich stinke, meine Mutter stinkt auch. Es stinken auch alle anderen, die gerade aus dem Zug gestiegen sind. Und doch ist dieser Geruch das einzig Freundliche, das einzig Vertraute in einer fremden Welt. Wo sind wir? Niemand spricht, niemand bietet Erklärungen an. Wir sind einfach hier.

Das Gebell der Hunde ist etwas, das ich nie vergessen habe. Noch heute, wenn auf der Straße ein Hund bellt, schnellen die Gedanken hierher zurück, auf diese inmitten von Schnee und Wind treibende Rampe, während die Soldaten ihre Befehle kläffen. Oft kehren die SS – ich werde lernen, sie so zu nennen – im Schlaf zurück, in Träumen, die real erscheinen. Die mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken lassen, schweißgebadet, verängstigt, zitternd. Sie schreien, ohne dass ich den Sinn ihrer Worte verstehe. Und dann das Spucken, das höhnische Gelächter, die Blicke voller Hass.

Die Tiere werden an der Leine gehalten. Sie schäumen aus dem Maul, aufgehetzt durch die Ruten der Deutschen. Es macht ihnen Spaß, sie auf uns zuzutreiben, und sie blecken ihre Zähne, stellen sich auf die Hinterbeine, ohne zu merken, dass die Beute vor ihnen sich bereits ergeben hat. Sie ist längst tot.

Mit Gewalt wird meine Mutter von mir getrennt. So wie andere Mütter von anderen Kindern. Schreie und Tränen. Sie wird weggebracht, ich weiß nicht, wohin. Kurze Zeit später sehe ich sie wieder, kahl rasiert und vollständig nackt. Sie hat kein einziges Haar mehr. Aber sie umarmt mich trotzdem. Und sie lächelt. Ich erinnere mich, sie lächelt mich an, als wolle sie sagen: Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich frage sie: Wo sind deine Zöpfe geblieben? Sie antwortet nicht. Und die Großeltern? Wo sind die Großeltern geblieben? Und wieder bekomme ich keine Antwort.

Wir schauen zum hinteren Ende des Lagers. Schwarzer Rauch quillt aus zwei Schornsteinen. Später erfahre ich, dass sie den Flammen als Abzug dienen, die in den Öfen der Krematorien lodern. Ruß, der den Himmel verdunkelt. Ruß, der sich, so sagt man mir später, kilometerweit in den Lungen der hier lebenden polnischen Bevölkerung festsetzt, bis hinter Oświęcim, noch jenseits der Weichsel. Gestank von verbranntem Fleisch. Der Geruch von Tod. Wir sagen nichts. Niemand sagt etwas. Auch die Polen atmen widerstandslos ein. Wir und sie erahnen alles. Die Großeltern sind nicht mehr.

Hinter den Schornsteinen der Stacheldraht. Hinter dem Stacheldraht kahle Bäume. Eine Lichtung erstreckt sich, ich weiß nicht, wie weit. Dort draußen möchte ich sein, der Freiheit entgegenlaufen, weit, so weit wie möglich. Die Freiheit ist so nah und zugleich so unerreichbar. Es sind nur ein paar Meter. Doch näher heranzukommen, ist unmöglich. Sie sagen mir, jemand habe versucht hinüberzuklettern. Er bekam einen Stromschlag, war sofort tot. Andere wurden, nur noch wenige Schritte vor der Freiheit, von den Salven der Maschinengewehre niedergestreckt.

Heute habe ich Mühe, in Einzelheiten zu rekonstruieren, was mir widerfahren ist. Mit über achtzig Jahren vermag ich nicht mehr zu sagen, ob die aufblitzenden Bilder, die mir wie scharfe Klingen ins Gedächtnis fahren, von etwas herrühren, das ich tatsächlich erlebt habe, oder von den Erzählungen der Freunde, die ein paar Jahre älter sind als ich, und mir später vom gemeinsam Erlebten berichtet haben. Die einzige Gewissheit ist, dass ich dort war – ich bin dort gewesen. Meine Erinnerungen und die Erzählungen der anderen überlagern sich, bis sie, ineinander verschlungen, eins werden. Und ich vermag nicht mehr genau auseinanderzuhalten, was das Meine ist und was das Ihre. Ändern kann ich es nicht. Es ist nun einmal so.

Ich komme ins Lager, als ich noch ganz klein bin. Ich verlasse es, als ich mein fünftes Lebensjahr vollendet habe und auf das sechste zugehe. Ich gehöre zu den Kindern, die am längsten dort drinnen waren, bin vielleicht eines der jüngsten, die es geschafft haben, davonzukommen, am Leben zu bleiben. Manchmal frage ich mich, ob ich damals zu klein war, um heute etwas erzählen zu können. Es ist nicht leicht, hierauf eine Antwort zu geben. Fraglos hinterlassen dreizehn Monate Birkenau in jedem Alter tiefe Spuren. Jene Tage, Monate, Jahre sind eine Wunde, die seither in mir fortbrennt und mich, wie ich weiß, bis ans Ende meiner Tage begleiten wird. Ohnehin verstärkt die Tatsache, dass ich mich nicht haarklein an alles erinnere, den Schmerz dieser Verletzung, ihr Ausmaß. Nicht alle erlittenen Misshandlungen sind mir voll bewusst. Und doch hat es sie gegeben. Und doch sind sie da. Sie leben in mir, in meinem Unterbewusstsein, fort. Sind meine Wegbegleiter. Sperrig und präsent zugleich. Sie bedingen meine Tage. Mein Schweigen. Mein Lächeln, gefolgt von Momenten der Traurigkeit. Birkenau stirbt nie. Birkenau ist unauslöschlicher Teil derer, die es durchgemacht haben. Es ist ein Ungeheuer, das nicht aufhören will zu reden, seine unaussprechliche Erfahrung mitteilen zu wollen.

Mir wird das erst nachträglich klar, mit jeder Begegnung, bei der ich aufgerufen bin, Zeugnis abzulegen, überall auf der Welt zu berichten, was geschehen ist. Jedes Mal ertappe ich mich dabei, etwas zu sagen, das ich so noch nie gesagt habe. Tief in meinem Verstand vergrabene Fragmente werden hochgeschwemmt, finden neue Worte und überraschen vor allem mich selbst, aber auch meine Familie und die Menschen, die mir zugetan sind. Das hast du uns nie erzählt! Ich weiß, antworte ich. Es war immer da und hat jetzt erst seinen Weg nach draußen gefunden. Ich glaube, der wahre Grund dafür ist der Umstand, dass ich in Birkenau ein Kind war. Kinder speichern alles, manches verheimlichen sie, manches bringen sie durcheinander, aber sie vergessen nichts. Niemals. Und mit dem Heranwachsen durchleben sie, was ihnen widerfahren ist, erneut und mit neuem Bewusstsein. Was der Verstand vergräbt, stirbt nicht, es lebt fort. Und erwacht mit der Zeit zu neuem Leben. Volles Bewusstsein über die erlittenen Misshandlungen erlangt man erst Jahre später, bisweilen erst nach Jahrzehnten. So ist es bei vielen. So ist es auch bei mir.

Was mir angetan worden ist in jenen langen Monaten der Gefangenschaft? Der Körper hat es durchlebt, der Verstand hat es abgespeichert, dann aber auch begraben. Nur um wieder etwas freizugegeben, Jahr für Jahr, wie das Meer sein Treibgut.

Mein Geist – oft denke ich über ihn nach. Ich vergleiche ihn mit einem uralten, gemächlich dahinschmelzenden Gletscher. In Birkenau legte sich die große Kälte über alles, Emotionen, Gefühle, Worte. Dann, ganz langsam, wich der Frost anderen Jahreszeiten. Die Außentemperaturen wurden allmählich milder. Und was einst bedeckt war, kehrt nun zurück ans Licht.

Mit all dem zurechtzukommen, ist nicht leicht. Es ist eine Lebensaufgabe. Hart, aber zugleich unverzichtbar. Sicher, ich tue das für mich selbst. Aber ich tue es auch für andere, für Freunde, Bekannte, für Freunde von Freunden, für solche, die ich zwar nicht kenne, aber die zur selben Menschenfamilie gehören wie ich. Ich will klar und deutlich sagen, was ich denke. Die Dunkelheit der Lager lässt sich nicht ein für alle Mal zu den Akten legen. Der Hass, der jene Todesfabriken genährt hat, lauert beständig, kann immer wieder aufflackern. Es gilt, wachsam zu sein, vor allem durch ein Erinnern an das, was gewesen ist, und durch die Berichte darüber. Wofür waren sie sonst gut, die Winter der Todeslager? Wofür, wenn nicht dazu, der Menschheit ihre dunkelste Seite bewusst zu machen und alles zu tun, damit sich diese Seite nicht wieder erheben kann, dass sie nicht wieder eine Stimme bekommt, eine Staatsbürgerschaft, neue Energie und Lebenssaft. Was nützt Birkenau, was all die Vernichtungslager, wenn sie nicht dafür sorgen, dass diese Finsternis uns nicht noch einmal umfängt?

In den Zeitungen lese ich von neuen Wellen des Antisemitismus. Menschen wie mir, die die Lager überlebt haben, will dies unmöglich erscheinen, aber auch bedrohlich. Denn für uns Überlebende sind die Lager keine Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, sondern etwas, das sich gestern, vor wenigen Stunden zugetragen hat, es sind Höllen, denen wir gerade erst entkommen sind. Sie sind hier, lauern hinter der nächsten Ecke, gerade noch konnten wir umschwenken, einen anderen Weg einschlagen. Ihnen noch mal auf den Leim zu gehen, ist immer möglich.

Der Fehler vor der Einrichtung der Lager? Worten ein Bürgerrecht zu verleihen, die eine jede Logik entbehrende Feindseligkeit transportierten, aber urplötzlich legitim schienen. Und heute wieder! Wieder dulden wir Worte, die nach Hass, nach Spaltung, nach Abrechnung schmecken. Wenn ich sie aus dem Mund von Politikern höre, nimmt es mir den Atem. Hier, in meinem Europa, in meinem Zuhause, wieder jene schrecklichen Worte. Und gerade jetzt, in Zeiten wie diesen, kann die Dunkelheit jederzeit erneut über uns hereinbrechen. Vergessen wir das nie.

Meine Mutter ist eine wunderschöne Frau. Im Zug zur Hölle sind ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Sie ist stark, athletisch, stolz auf ihre Herkunft. Sie stammt aus Belarus, ist eine Nachfahrin der Slawenstämme aus dem Osten. Als Partisanin leistet sie jedem Eindringling Widerstand und kapituliert erst, als sie Ende 1943 von den Nazis gefangen genommen wird. Auch im Lager hört sie nicht auf zu kämpfen. Und standzuhalten. In Birkenau wird ihre Strategie das Schweigen. In den Wäldern von Belarus redete, kommandierte, organisierte sie die Verteidigung unseres Volkes. Sie war präsent und aktiv. In Birkenau tut sie genau das Gegenteil. Sie hört auf zu sprechen. Sie täuscht dem Feind Gleichgültigkeit vor. Und vor allem lernt sie zu kriechen.

Von ihrer Baracke bis zu meiner – so hat meine kürzliche Rückkehr an jenen Ort des Todes ergeben – sind es nur etwa 50 Meter. Eine dritte Baracke liegt dazwischen. Von Zeit zu Zeit riskiert sie es. Und kommt mich besuchen. Auf einem hölzernen Wachturm ist ein Deutscher postiert, das Gewehr im Anschlag. Er beobachtet jede Bewegung, tanzt einer aus der Reihe, ergeht es ihm schlecht. Wenn er sie herumschleichen sieht, ist es das Ende. Ein Erschießungskommando oder die Gaskammer sind ihr dann sicher. Aber sie wagt sich trotzdem heraus. Taucht in die Dunkelheit ein. Tarnt sich im Gras und Schlamm. Und kriecht. Kriecht auf allen vieren vorwärts, ohne Angst.

Von unseren Begegnungen erinnere ich, mehr als alles andere, die Umarmungen. Es gibt hier nichts zu essen. Und doch gelingt es ihr, mir hin und wieder ein paar Zwiebeln zuzustecken. Ich esse Stückchen für Stückchen davon, erst füttern mich ihre abgemagerten Finger, dann esse ich allein im Dunkel der Nacht. Manchmal spüre ich Erde und Dreck zwischen den Zähnen. Es gibt kein Wasser, mit denen man die Zwiebeln waschen könnte. Man isst sie, wie sie sind, darf kein Gramm davon vergeuden. Ich teile mit niemandem. Mein Instinkt sagt mir vor allem eines: überleben. Schlimm, es zuzugeben, aber so läuft es. Auch bei den anderen Kindern. Es ist ein tierischer Instinkt, wild und brutal. Ist, was aus uns geworden ist. Was wir sind. Was wir alle gemein haben, in Birkenau.

Ich kann mich, wie ich gestehen muss, nur mit Mühe daran erinnern, was zwischen uns gesprochen wurde. Dabei gab es durchaus Gespräche. Doch mir sind davon nur ein paar Sätze im Gedächtnis geblieben, einer ging ungefähr so: Lass nicht nur Zwiebeln da, bitte, lass mir doch auch deine Hände da, dann hab ich sie bei mir im Dunkel der Nacht.

Die Nächte im Lager waren entsetzlich. So überwältigend war die Angst vor der Dunkelheit, das Gefühl, für immer verlassen worden, für immer verloren gegangen zu sein.

Die Hände meiner Mutter sind schmutzig. Und verhärmt. Klammern sich an Grasbüschel, wenn sie im Dunkeln vorwärtskriecht. Manchmal tasten sie durch Schlamm. Schwarze Fingernägel, die sich ins regennasse Erdreich graben. Sie tasten sich vorwärts, Meter um Meter, einen nach dem anderen.

Wenn sie sicher ist, dass man sie nicht sieht, schleicht sie von ihrer Baracke zu jener der Kinder, meiner Baracke, die für die Versuchskaninchen des Doktor Josef Mengele reserviert ist. Sie sucht nach mir zwischen all den hölzernen Pritschen, die uns als Betten dienen. Jeweils dreistöckig sind die Pritschen dicht wie Waben entlang des gesamten inneren Umfangs der Baracke aneinandergereiht. Und darinnen stapeln auch wir uns in drangvoller Enge, einer über dem anderen, aufgehäuft wie Ameisen. Schnell lerne ich, dass man besser in den oberen Nischen liegt, dicht unter der Decke, wo man vor der Notdurft der Bettkameraden sicher ist. Doch nicht immer gelingt es mir, eine der oberen Pritschen zu ergattern, und dann muss ich mich mit einem Platz in der Mitte zufriedengeben. Andere Male bekomme ich nur eine der unteren Pritschen ab, gleich über dem Boden. In diesem Fall weiß ich, was mich erwartet: stinkende Ausscheidungen. Immer nehme ich alles schweigend hin. Sich zu beschweren, zu weinen, kann als Zeichen von Schwäche ausgelegt werden und bedeutet unweigerlich das Ende. In Birkenau muss man sich immer stark geben, entschlossen, nicht überheblich, aber gerade eben noch lebendig.

Meine Mutter kommt nach mir suchen.

Von Nische zu Nische flüstert sie meinen Namen.

Luda?, fragt sie mit leiser Stimme.

Wenn keiner antwortet, schleicht sie weiter.

Und wieder fragt sie: Luda?

Hin und wieder muss sie nach mir suchen. Und sei es nur, um meine Hände zu halten. Und sich gleichzeitig zu vergewissern, dass ich noch da bin. Dass mich, während sie bei der Zwangsarbeit war, Doktor Mengele nicht geholt und umgebracht hat. Oder dass ich zumindest lebend in die Baracke zurückgekehrt bin, geschunden vielleicht, aber am Leben.

Dann wieder gibt es Tage der Verzweiflung. Etwa, wenn sie zur Baracke kommt und mich nicht findet. Auf den Holzpritschen bin ich nicht. Sie rutscht auf dem Ziegelboden aus, dem einzigen Luxus, den die erwachsenen Lagerinsassen den SS-Leuten für unsere Baracke abringen konnten. Wie die anderen besitzt sie kein Fundament, ist aber immerhin mit einem richtigen Fußboden ausgestattet. Meine Mutter stolpert an den Zeichnungen vorbei, die ein paar von uns an die feuchten, grauen Wände gemalt haben. Ich bin nirgends zu finden. Als wäre ich verschwunden. Dann sagt man ihr, dass Mengele mich geholt habe und ich seit einem Tag fehlen würde. Verzweifelt verlässt sie die Baracke. Kommt am nächsten Tag zurück. Nichts. Noch immer kann sie mich nicht finden. Am dritten Tag sieht sie mich wie ohnmächtig ausgestreckt auf einer Pritsche liegen, fast im Koma, mein Körper durchsichtig wie Glas. Mengele muss es zu weit getrieben haben, wie durch ein Wunder bin ich nicht gestorben.

Meine Mutter streichelt mich, versucht, mich wiederzubeleben. Es gibt nicht viel, das sie tun kann. Aber ich überlebe. Wache trotz allem auf – ein Wunder des Lebens in Tagen von Tod und Trostlosigkeit.