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Zwei Liebende wollen heiraten, doch zuvor müssen sie in unterschiedliche Ecken unserer Galaxis reisen. Mithilfe der Relativität wollen sie sicherstellen, dass sie dennoch am selben Tag wieder auf der Erde ankommen. Doch immer wieder machen ihnen unvorhergesehene Zwischenfälle einen Strich durch die Rechnung, und so werden Jahrhunderte vergehen, bis sie wieder auf der Erde eintreffen. Unser Planet mag sich in der Zwischenzeit drastisch verändert haben, doch eines ist gleich geblieben: Das Verlangen der Liebenden, einander eines Tages wieder in die Arme zu schließen.
Die koreanische Autorin Kim Bo-Young hat eine unvergessliche Geschichte über die Macht der Liebe und die Kraft der Hoffnung geschrieben – und wie diese Mächte, die alle Menschen antreiben, jedes noch so gewaltige Hindernis überwinden können.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
Am Anfang dieses Buches stand die E-Mail eines Fans an die südkoreanische Science-Fiction-Autorin Kim Bo-Young. Er bat sie um eine Geschichte, mit der er seiner Freundin einen Heiratsantrag machen könne. Kim Bo-Young ließ ihrer Fantasie freien Lauf und schrieb Ich warte auf dich. Die Geschichte spielt in einer Zukunftswelt, in der das Reisen mit Lichtgeschwindigkeit Realität geworden ist und die Menschheit ferne Planeten besiedelt. Doch diese Art zu reisen hat auch ihre Tücken, denn wer sich so schnell wie das Licht bewegt, für den vergeht die Zeit viel langsamer als für die, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Das muss der Held von Ich warte auf dich auf schmerzhafte Weise erfahren, als er und seine zukünftige Frau versuchen, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Erde zu treffen, um dort zu heiraten …
Ich warte auf dich führte nicht nur zu einem geglückten Heiratsantrag, die Geschichte wurde auch ein sensationeller Publikumserfolg und gilt inzwischen als eine der ganz großen Science-Fiction-Erzählungen unserer Zeit. Mit den zwei zusätzlichen Geschichten Auf dem Weg zu dir und Die in die Zukunft gehen hat Kim Bo-Young ihre faszinierende Zukunftswelt zu einem Roman erweitert und damit ein episches Panorama geschaffen, das bis an das Ende des Universums reicht.
Kim Bo-Young, 1975 geboren, hat als Drehbuchautorin und Computerspielentwicklerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Science-Fiction widmete. Heute zählt sie zu den herausragendsten südkoreanischen Autorinnen ihrer Generation. Ihre Geschichten gewinnen regelmäßig die wichtigsten Genre- und Literaturpreise des Landes. Zu ihren zahllosen Fans gehört auch der Regisseur und Oscar-Gewinner Denis Villeneuve (Dune), der bereits sein Interesse bekundet hat, Ich warte auf dich zu verfilmen.
KIM BO-YOUNG
EIN ROMAN IN DREI TEILEN
Aus dem Koreanischen von
Sun Young Yun und Alexandra Schiefert
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgaben:
당신을 기다리고 있어
당신에게 가고 있어
미래로 가는 사람들
This book is published with the support of the Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea).
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Redaktion: Alexander Martin
Copyright © 2021 by Kim Bo-Young
Translation arranged through Greenbook Agency and Marianne Schoenbach Literary Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
nach einer Vorlage und unter Verwendung von Bildmaterial von Damonza und Shutterstock/HAKKIARSLAN
Satz: KCFG –Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-33239-6V001
www.heyne.de
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ICH WARTE AUF DICH
Ein Tag nach Beginn der Reise – ein Tag in Erdzeit
Ich verabschiedete mich von meinen Freunden, da ich sie bis zur Hochzeit eine ganze Weile lang nicht sehen würde. Viereinhalb Jahre, um genau zu sein. Alle sagten, dass sie zur Hochzeit kommen würden. Wir haben Fotos gemacht, und ich habe sogar Halsketten mit einem kleinen Rahmen daran verteilt, in den man die Fotos einlegen konnte. Diese Ketten waren ein Werbegeschenk der Agentur, bei der ich den Hochzeitssaal in der Kirche gebucht habe. Ich bat meine Freunde, die Ketten mit den Fotos, die wir an diesem Tag schossen, auf der Hochzeit zu tragen. So müsste ich mir nicht die Blöße geben, nach ihren Namen zu fragen. Natürlich zogen sie mich damit auf.
»So eine Hochzeit ist ja schön, aber dafür seine Freunde zurücklassen?«
»Jeder, der interstellar heiratet, ist sowieso ein Verräter!«
Ich erwiderte, dass es für mich auch nicht einfach sein würde. Aber als ich hinzufügte, dass ich zwei Monate brauchen würde, hätte ich dafür beinahe eine gefangen. Einen Monat, um Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, und einen Monat, um die Geschwindigkeit zu verringern und zur Erde zurückzukehren. Selbst mit den neuesten Triebwerken und Schwerkraftdämpfern ist das die Grenze. Es dauert mindestens zwei Monate.
Ich erinnere mich noch, wie besorgt du warst, als du mit deiner Familie vor viereinhalb Jahren nach Alpha Centauri aufgebrochen bist. »Für mich sind es nur vier Monate, aber für dich über viereinhalb Jahre. Selbst wenn du mit einem Schiff des Wartens reist und sich die Zeit halbiert, ist es immer noch lange. Nimm das nicht auf die leichte Schulter.«
Ich legte meine Stirn an deine und sagte leise: »Es wird schon gehen.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Es ist doch ein wahrer Glücksgriff, oder? Wenn wir uns wiedersehen, werde ich zwei Jahre älter sein als du – genau umgekehrt wie jetzt.«
Darauf huschte ein warmes Grinsen über dein Gesicht.
»Man sagt ja, dass interstellare Reisen einen gelassener machen«, meinten meine Freunde. »Wenn man monatelang überhaupt nichts tut und nur vor sich hin starrt, wird man entweder ganz ruhig – oder völlig verrückt.«
Ich erwiderte nur, dass ich keine Zeit zum Nichtstun hätte. Ich hatte Arbeit für zwei Monate eingepackt. Buchhaltung, Konkurrenzanalysen, Verkaufszahlen – die ganze Palette. Ehrlich gesagt wusste ich selbst nicht, was mir das in viereinhalb Jahren noch bringen sollte, aber die Firma schien ohnehin keine großen Erwartungen zu haben. Man wollte lediglich sehen, dass ich in dieser Zeit hart gearbeitet hatte.
Auf dem Schiff lernte ich andere frisch Verlobte kennen, und wir beschlossen, uns eine Kabine zu teilen. Nacht für Nacht blieben wir lange auf, erzählten uns Geschichten, machten Witze, prahlten mit unseren Liebsten. Wie lebendige Klischees verwandelten wir den Raum in eine Art Hochzeitstorte – mit rosa Papierblumen und Schleifen überall. Aber die Crew hatte ein Auge auf uns und war mit Klebestreifen bewaffnet. »Wenn das Schiff stoppt, entfällt die Schwerkraft, und dann fliegt euch das ganze Zeug um die Ohren.«
Da ich gerade über Klischees rede – ich habe für dich an Bord einen Liederring gekauft. Die Verkäuferin sagte mir, dass sie darauf jedes beliebige Lied aufspielen könne. Also habe ich einige für dich ausgesucht. Wenn du auf den Edelstein drückst, kannst du sie dir anhören. Wirst du das tun?
Das Schiff ist wie eine kleine Stadt, es gibt sogar ein Café und einen Flohmarkt. Ich arbeite zwar bei einem Lieferanten für Raumschiffteile, aber die fertigen Schiffe hatte ich bisher nie gesehen. Umso mehr hat es mich gefreut, als ich hier überall die Anleitungen sah – gedruckt auf kleine Aufkleber und an den verschiedenen Bauteilen befestigt. Schließlich gehörte ich zu denen, die sie redigiert haben. Ich habe sogar Fotos gemacht, um meinen Freunden zu zeigen, wie meine Arbeit verwendet wird.
Doch schon nach einem Tag wurde alles ziemlich eintönig. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich im All unendlich viele Sterne sehen würde, aber als ich durch das Fenster blickte, war da nichts. So wie man nichts sieht, wenn man nachts aus einem hell erleuchteten Haus nach draußen blickt. Im Weltraum ist es immer Nacht. Aber das ist okay – es sind ja nur zwei Monate.
Die Crew des Schiffs nennt unsere Route die Umlaufbahn des Wartens. Sie verläuft spiralförmig um die Sonne und kehrt am Ende wieder zum Ausgangspunkt zurück. Die Menschen an Bord reisen nicht an einen anderen Ort, sondern in eine andere Zeit. Manche von ihnen reisen in das Jahr, in dem ihre Rente ausbezahlt wird. Andere hoffen, in einem Jahr zu landen, in dem die Grundsteuern geringer sind. Wieder andere, vor allem Künstler, sind der Überzeugung, dass sie in der falschen Epoche leben. Ich habe auch einen Schüler getroffen, der sich auf die Reise gemacht hat, weil er auf die neue Aufnahmeprüfung für die Uni wartet, die bald eingeführt werden soll. Und dann gibt es natürlich Narren wie mich: Menschen, die hier sind, um ihr Alter an das ihres Partners anzupassen, der aus einem anderen Sternensystem zur Erde zurückkommt.
Aber in welche Zeit wir auch gehen – es wird besser sein als jetzt. Es wird weniger Diskriminierung gegen Einwanderer aus anderen Sternensystemen geben, und vielleicht werden auch die Sozialleistungen und das Rentensystem gerechter sein. Die Menschen auf der Erde rennen und schuften, bauen auf und reißen nieder – und wir kommen irgendwann zurück, um die Früchte dieser Arbeit zu genießen. Ich denke, das nennt man wohl »sich ins gemachte Nest setzen«. Oder wie man bei uns sagen würde: sich mit den Händen eines anderen die Nase putzen.
Der Gedanke an unsere Hochzeit raubt mir regelmäßig den Schlaf. Ich wälze mich wie ein kleines Kind im Bett, umarme mein Kissen und summe vor mich hin. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, morgens die Augen zu öffnen – und du liegst neben mir. Dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und träume weiter. Wie es wäre, Vater zu sein. Wie es wäre, wenn ein kleines Baby zwischen uns liegt, schmatzt, gurrt und uns mitten in der Nacht weckt. Wie soll ich es nur die zwei Monate aushalten? Jeder Tag ohne dich fühlt sich schon jetzt zu lang an. Ich kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen.
Ich liebe dich.
Ein Monat nach Beginn der Reise – etwa vier Jahre und vier Monate später in Erdzeit
Ich habe deine Nachricht erst bekommen, nachdem wir Lichtgeschwindigkeit erreicht hatten. Du kommst also zwei Monate später zurück als geplant. Nein, sogar drei Monate in Erdzeit.
So ist es eben. Es lässt sich ja nicht ändern. Einer von der Crew hier meinte, dein Schiff sei das einzige gewesen, das auf den Notruf habe reagieren können. »Das kommt selten vor«, sagte er, »aber ganz ungewöhnlich ist es auch nicht.« Was soll das bedeuten? Vermutlich, dass das Universum unendlich ist, aber die Routen festgelegt sind. Deshalb passiert so etwas hin und wieder.
Ich fragte, ob wir nicht einfach ein bisschen länger fliegen könnten – nur ein kleines bisschen, damit ich mir die drei Monate Warterei auf der Erde ersparen würde. Aber sie sagten, das sei nicht möglich, das Schiff folge einem festgelegten Zeitplan. Ich starrte etwas frustriert nach draußen ins All, als ich einen Frachter sah, der an unser Schiff angedockt hatte. Container voller Snacktüten und Postpakete gingen hin und her. Für eine Weile beobachtete ich das Geschehen, dann kam mir eine Idee. »Wohin fliegt dieses Schiff?«, fragte ich. »Das? Es ist ein Handelsfrachter. Er pendelt zwischen Passagierschiffen und verkauft seine Waren.« Ich fragte, wann der Frachter das nächste Mal auf der Erde landen würde, und die Antwort war: »In drei Monaten.« Volltreffer! Jackpot!
Es gab ein wenig Aufregung, als ich darum bat, auf den Frachter umsteigen zu dürfen. Ich verstand das Problem nicht, schließlich lag das Schiff doch gleich nebenan.
»Es mag so aussehen, als stünde das Schiff still«, sagte der baumlange Kapitän mit düsterer Stimme und sah zu mir hinunter. Ich wünschte, ich könnte dir sein Gesicht zeigen. Wäre er in einer anderen Epoche geboren worden, wäre er wohl über die mandschurische Steppe geritten und hätte seinen Feinden die Kehlen aufgeschlitzt. »Aber wir bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von 293.000 Kilometern pro Sekunde. Ein Taifun, der ganze Wohnblöcke in Stücke reißen kann, bewegt sich mit einigen Dutzend Kilometern pro Sekunde, allerhöchstens.«
Als ich wissen wollte, wieso dann Gegenstände von einem Schiff zum anderen geschickt werden konnten, Menschen aber nicht, erwiderte er, dass das eben nicht möglich sei. Ich fragte, warum, und bekam als Antwort, dass es dafür keinen Präzedenzfall gebe.
Damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. »Die Erde dreht sich mit dreißig Kilometern pro Sekunde um die Sonne. Die Sonne umkreist das Zentrum unserer Galaxie mit zweihundertzwanzig Kilometern pro Sekunde. Und die Galaxie bewegt sich mit sechshundert Kilometern pro Sekunde in Richtung des Virgo-Galaxienhaufens. Aber auf der Erde stürzen deswegen keine Wohnblöcke ein, oder?«
Doch sosehr ich mich auch ins Zeug warf, der Kapitän sagte immer wieder, dass es in den Regularien keinen Vermerk bezüglich Schiffswechsel gebe.
Ich hätte mir nie träumen lassen, noch drei weitere Monate ohne dich leben zu müssen. »Ich bin frisch verlobt«, sagte ich zum Kapitän, »und auf dem Weg zu meiner zukünftigen Frau. Wenn ich drei Monate länger warten muss, vertrockne ich als einsamer Junggeselle, sterbe und irre als ruheloser Geist durch die Weiten des Alls – und werde Sie jede Nacht in Ihren Träumen heimsuchen.«
Er verstand kein Wort von dem, was ich da redete.
Erst nachdem ich auf den Frachter umgestiegen war, wurde mir klar, dass ich womöglich einen großen Fehler gemacht hatte. Wir hatten das Hochzeitsdatum schon festgelegt, und die Anzahlung für den Saal war auch längst überwiesen. Ob die Nachricht, dass wir die Hochzeit um drei Monate verschieben müssen, überhaupt rechtzeitig ankommt? Und was, wenn sie die Anzahlung nicht zurückerstatten?
Dann kam mir noch ein anderer Gedanke. Der Mieter in meiner Wohnung! Wir hatten vereinbart, dass er nach viereinhalb Jahren auszieht. Aber was, wenn er sich einfach taub stellt und auf irgendein Wohnrecht pocht, nur weil ich nicht pünktlich zurückgekommen bin? Gleich nach der Landung muss ich direkt vom Raumhafen nach Hause rennen.
Auf einem Raumschiff nimmt man keine Bewegung wahr. Kein Wind, kein Laut. Die Sterne neigen sich schräg vor meinen Augen: ein Lichtstrom, in dem das ganze Universum zusammenfließt. Alles rauscht in Lichtgeschwindigkeit an mir vorbei – die Erde, mein Zuhause, meine Freunde –, und doch habe ich das Gefühl, stillzustehen. Als würde die Zeit für mich anhalten.
Jemand sagte einmal, dass Raum und Zeit dasselbe sind. Das heißt, eine Reise in eine andere Zeit ist nichts anderes als eine Reise an einen anderen Ort.
Mein Vater verbrachte sein ganzes Leben in seiner Geburtsstadt, aber als er starb, schien es trotzdem so, als hätte er die ganze Welt gesehen. Ich glaube sogar, dass es tatsächlich so war. Denn die Stadt war bei seiner Geburt eine vollkommen andere gewesen, als sie es bei seinem Tod war. Man hatte neue Gebäude errichtet, die Straßen gepflastert, Berge abgetragen, Flüsse umgelenkt. Die Zeit hatte ihn woandershin versetzt. Wer könnte da sagen, er sei immer am selben Ort geblieben?
Der alte Kapitän des Handelsfrachters fragte mich nach dir. Ob ich dich nach der langen Zeit wirklich immer noch liebe. Ich sagte ihm: »Ich habe die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens auf sie gewartet.« Je länger ich darüber nachdenke, desto glücklicher werde ich. Denn du wirst genau so sein, wie ich dich in Erinnerung habe. Du wirst dich nicht verändert haben.
»Die Typen, die auf so ein Schiff steigen«, sagte der Kapitän und reichte mir einen weiteren Drink, »sind die, die nichts bereuen.« Bis dahin war alles gut, aber dann fuhr er fort: »Keine Wurzeln, keine Familie, keine Freunde, und wenn doch, dann haben sie kein gutes Verhältnis zu ihnen …« Ich stand auf und ging in meine Kabine.
Ein Monat und drei Tage nach Beginn der Reise – etwa vier Jahre und acht Monate später in Erdzeit
Es tut mir leid, mein Liebling. Es tut mir so leid. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passiert.
Der Kapitän des Handelsfrachters sagte, er habe sich vertan – er habe die Zeitlinie falsch erwischt. Ich fragte ihn, um wie viel später wir ankommen würden. »Für uns?«, erwiderte er. »Nur ein paar Minuten Unterschied. Aber auf der Erde? Drei Jahre.« Er sagte das mit völlig unbewegter Miene, als wäre es nichts weiter als: »Meine Damen und Herren, wegen schlechten Wetters verzögert sich die Landung um zehn Minuten.« Dann ging er seelenruhig in seine Kabine. Und die Händler auf dem Schiff, in ihren arabischen und indischen Gewändern, standen einer nach dem anderen auf und gingen ebenfalls in ihre Kabinen. Als wollten sie sagen: »Drei Jahre? Pah, halb so wild. Wir dachten schon, es wären fünf.«
Kurz darauf kam ein Crewmitglied und verteilte Briefpapier: »Schreibt eurer Familie und euren Freunden.« Ich fragte: »Weshalb keine elektronischen Nachrichten?« Er sagte, außer der Hülle und dem Antrieb sei am Schiff nichts aus dem 21. Jahrhundert. Sogar das Sonnenwind-Warnsystem funktioniere wie eine Art Aufziehwecker. »Einfache Maschinen halten eben länger.«
»Und was geschieht mit meinem Brief?«, fragte ich. Man werde ihn in Morsezeichen (oder so etwas Ähnliches) umwandeln und ins All senden, wurde mir erklärt. Vorbeifliegende Schiffe würden das Signal empfangen, verstärken und an das nächste Schiff weiterleiten. Großartig, dachte ich. Eine wirklich narrensichere Methode. Wieso sind Postboten früher nie auf die Idee gekommen, sich die Briefe einfach im Vorbeifahren zuzuwerfen?
Ich sagte dem Crewmitglied, dass ich den Hochzeitssaal bereits gebucht hätte und meine Braut auf dem Weg sei – von einem Ort 4,37 Lichtjahre entfernt. Unvorstellbar, wenn der Bräutigam drei Jahre zu spät zur eigenen Hochzeit auftaucht, oder? Der Mann machte zwar ein bedauerndes Gesicht, aber ehrlich gesagt wirkte es nicht sehr überzeugend. Er klopfte mir auf die Schulter und meinte lediglich: »Für wichtige Termine sollte man lieber mit dem Schiff eines großen Konzerns und einer guten Versicherung fliegen.«
In dieser Nacht bin ich zehnmal aufgewacht. Aus Angst, dass dich mein Brief nicht erreicht. Oder dass er dich erreicht – aber du wütend bist und umkehrst. Und wenn du wütend umkehrst – dass du mir nicht einmal antwortest. Und wenn du antwortest – dass ich deine Antwort nie bekomme.
Immer wenn ich wieder einschlief, hatte ich denselben Traum: Ich komme auf der Erde an – und da bist du. Mit einem meiner Freunde neben dir. Und einem Kind auf dem Arm. Du lachst und sagst: »Einen Brief? Habe ich nie bekommen.« Dann sitze ich in einer Bar, trinke allein einen Soju nach dem anderen, während die Leute um mich herum laut durcheinanderreden.
Lach nicht. Es ist mir ernst. Was könnte schlimmer sein als das?
Bitte, mein Liebling.
Warte auf mich.
Nur drei Jahre. Bitte. Drei Jahre. Ich verspreche dir, ich gebe dann für den Rest meines Lebens immer mein Bestes. In Ordnung?
Ein Monat und fünfundzwanzig Tage nach Beginn der Reise – sieben Jahre, acht Monate und fünfundzwanzig Tage später in Erdzeit
Ich habe deinen Brief bekommen.
Verrückt, dass er mich auf diesem alten Schiff erreicht hat. Noch verrückter, dass mein Brief dich erreicht hat. Wir hatten wohl beide Glück, oder? Komisch, das so zu sagen, angesichts der Umstände.
Dein Brief kam als Sprachnachricht an. Es war ziemlich verstörend, ihn mit einer Männerstimme zu hören. Es klang, als würde jemand einfach irgendwelche phonetischen Laute von sich geben, ohne ihren Sinn zu verstehen. Ich musste ihn mir einige Male anhören, um den Inhalt nachvollziehen zu können. Und als mir das endlich gelungen war – hörte ich ihn mir noch einige Male an.
Ich verstehe. Es ist alles meine Schuld. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast genau richtig gehandelt, als du das Schiff gewechselt hast. Ich habe das Schiff gewechselt, weil ich drei Monate länger nicht ertragen konnte – du hättest drei Jahre warten müssen.
Du bist also gleich nach der Landung auf der Erde wieder losgeflogen. Und weil du es eilig hattest, hast du das erstbeste Schiff genommen – ein Forschungsschiff, das dich nicht auf die Umlaufbahn des Wartens gebracht hat, sondern zu einer geologischen Erkundung aufgebrochen ist. Es heißt, solche Schiffe sind meist alt, oft älter als zehn Jahre, fast schon reif für den Schrottplatz. Zum Glück konntest du nach dem Unfall in einer stillgelegten Station Schutz finden, auch wenn sie weit weg von den bekannten Routen liegt.
Bitte weine nicht. Ich habe ein merkwürdiges Geräusch in der Aufnahme gehört. Es klang wie »Hiks-hiks-hiks«. Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, doch dann begriff ich: Das war dein Schluchzen. Die Maschine hat es so transkribiert.
Aber elf Jahre. Elf Jahre …
Ich habe mir deinen Brief noch einmal angehört:
Es geht mir gut. Nur ein paar Kratzer. Aber beim Versuch, das Schiff zu reparieren, ist ein Mitglied der Crew gestorben. Ohne ihn, sagen die anderen, wären wir nie so weit gekommen.
Der Kapitän meint, dass hier lediglich Frachter und Forschungsschiffe vorbeikommen, und da diese Schiffe nur eine begrenzte Zahl an Passagieren mitnehmen können, mussten wir Lose ziehen. Meines gab mir zwei Möglichkeiten: entweder zwei weitere Monate hier warten und dann mit einem Lichtschiff nach Alpha Centauri oder in vier Wochen mit einem Frachter zur Erde – im Tiefschlaf.
Ich fragte, wann der Frachter die Erde erreichen würde. »In elf Jahren«, war die Antwort. Der Kapitän riet mir, das Lichtschiff zu nehmen. In elf Jahren werde die Erde kein Ort mehr sein, an dem man leben wolle. Nicht einmal die, die ihr ganzes Leben dort verbracht haben.
Ich sagte, dass ich zur Erde müsse. Weil du dort auf mich wartest. Da lachten sie alle. Elf Jahre? Kein Mann würde so lange warten. Aber – und das klingt vielleicht seltsam – ich fliege nicht nur zurück zur Erde, weil ich glaube, dass du dort auf mich wartest.
Wenn du diesen Brief erhältst, werde ich bereits im Tiefschlaf sein. Bitte antworte mir. Ich werde deine Worte lesen, wenn ich aufwache. Und was immer du dann entschieden hast – ich werde versuchen, es dir nicht übel zu nehmen. Ich habe meine Wahl getroffen. Du wirst deine treffen.
Hiks … hiks … hiks.
Nein. Das ist nicht wahr. Ich wünsche es mir so sehr, dass ich es nicht einmal aussprechen kann. So sehr, dass ich es nicht zu wünschen wage. Also werde ich schlafen. Damit die Gedanken aufhören. Damit ich nichts Dummes denke.
Wirst du mich abholen? Egal wie. Egal in welcher Form. Ich glaube, ich wäre unendlich traurig, wenn bei meiner Ankunft niemand da wäre. Wenn du nicht am Raumhafen bist – dann gehe ich zur Kirche. Wenn ich allein bin, feiere ich eben allein Hochzeit.
Die Nachricht endete mit einem trockenen, maschinenhaften Laut – wie ein gebrochenes Seufzen.
Es tut mir leid, mein Liebling, es tut mir so leid. Aber ich kann keine elf Jahre warten.
Wir sind schon drei Jahre zu spät. In Erdzeit siebeneinhalb Jahre. Selbst wenn ich jetzt zurückfliege, kann ich nicht sicher sein, ob ich überhaupt noch eine Wohnung oder einen Job habe. Nach drei Jahren ohne Lebenszeichen gilt man praktisch als tot. Sollten meine Onkel mein Konto leergeräumt und das Geld meinen Nichten und Neffen gegeben haben, könnte ich es nicht einmal zurückverlangen. Und sollte mein Mieter behaupten, die Wohnung gehöre ihm – was könnte ich dagegen tun? In dieser ökonomischen Situation wäre es kein Wunder, wenn meine Firma Pleite gemacht hat. Und wenn sie aufgekauft wurde, wieso sollten sie einen Mitarbeiter wie mich übernehmen?
Elf Jahre – nein, achtzehn Jahre! In achtzehn Jahren sind meine Freunde uralt. Mit wem könnte ich noch etwas unternehmen? Was nützt mir Wissen, das achtzehn Jahre alt ist? Alles, was ich gelernt habe – was soll ich damit anfangen? Wer weiß, ob ein einfacher Arbeiter in der Zulieferindustrie dann überhaupt noch seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Nach achtzehn Jahren, in denen ich nichts von der Welt mitbekommen habe – wovon soll ich leben?
Es tut mir leid. Ich fliege nach Hause. Was bringt es, wenn wir uns in elf Jahren wiedersehen und du einen Mann vor dir hast, der nichts mehr besitzt? Kein Haus, keinen Job, nichts. Was wäre das für eine Ehe? Vielleicht sollte es einfach nicht sein. Ich weiß nicht, an welchem Punkt es schiefgelaufen ist. Aber das hier ist einfach nicht richtig.
Bleib gesund. Achte gut auf dich – es heißt, dass der Tiefschlaf den Körper stark mitnimmt. Wenn du auf der Erde ankommst, lade ich dich auf ein gutes Essen ein. Ich werde dich abholen, ich verspreche es dir. Ich werde es nicht vergessen. Bestimmt nicht! Ich liebe dich.
Zwei Monate nach Beginn der Reise – sieben Jahre und neun Monate später in Erdzeit
Wie ist es dir ergangen?
Meinen letzten Brief hast du noch nicht gelesen, oder? Nein, natürlich hast du das nicht. Das wird noch einige Jahre dauern. Aber wenn du diesen Brief hier in Händen hältst, wirst du auch den anderen gelesen haben.
Ich … also … ich bin zurück. Das heißt am Raumhafen. Nach Hause habe ich es nicht geschafft. Eigentlich habe ich es noch nicht einmal zum Raumhafen geschafft. Ich saß eine Woche lang auf dem Schiff fest. Man hat mich allen möglichen Tests unterzogen. Ich war in Quarantäne, musste Impfungen und psychologische Untersuchungen über mich ergehen lassen. Ich habe zwanzig Seiten Formulare ausgefüllt – dreimal. Als ich sagte, dass ich das alles schon ausgefüllt hätte, schrien sie mich an. Da müssen mindestens dreißig Abteilungen am Werk gewesen sein. Als ich den Fernseher an Bord einschaltete, gab es nur einen einzigen Sender, der Nachrichten zeigte. Und ich konnte meine Mails nicht abrufen, da kein Internet verfügbar war.
Dann, nach einer Woche, kam ein junger Kerl auf das Schiff, mit einer Gruppe Rekruten im Schlepptau. Der Typ stand total unter Dampf, als hätte er am Abend zuvor etwas Verdorbenes gegessen. Er fuhr uns an: Wir Alten seien schuld an allem. Faul und träge sei unsere Generation – deswegen sei das Land jetzt im Eimer. Was für eine Unverschämtheit, dachte ich. Es waren doch gerade mal sieben Jahre!
Der Typ sagte, dass Terroristen Seoul eingenommen hätten. Trotzdem sei die Stadt sicher. Was sollte das bedeuten? Die tapferen Regierungstruppen würden den Aufstand bald niederschlagen, sagte er, aber bis dahin sei eine Einreise unmöglich, weil die ganze Bürokratie lahmgelegt sei. Wir sollten einfach verschwinden und es später noch einmal versuchen. Die Passagiere protestierten lautstark. »Lasst uns nach Hause!« Aber der Typ und seine Truppe ließen uns einfach stehen.
Kurz darauf kam eine Frau – vom Roten Kreuz oder vielleicht auch von einer Menschenrechtsorganisation – und sagte uns, es habe einen Militärputsch gegeben. Die Partei, die die Wahl verloren hatte, habe das Kriegsrecht verhängt und das Parlament besetzt, und jetzt würden große Teile der Bevölkerung gegen sie kämpfen. Ich fragte: »Und was unternehmen die Vereinten Nationen?« Sie antwortete: »Die USA sind letztes Jahr bankrottgegangen. Die ganze Welt steckt seither in einer schweren Wirtschaftskrise.« Die Lage war also wirklich nicht sehr rosig.
Die Frau riet uns, in zehn Jahren wiederzukommen. Dann sollte die Wirtschaftskrise vorbei sein und die Situation wieder stabil. Aber wir müssten uns beeilen – jetzt, da das Land noch einigermaßen sicher sei. Würde erst eine Ein- und Ausreisesperre verhängt, säßen wir endgültig fest.
Ich nahm die Frau zur Seite und sagte: »Ich habe einen Hochzeitssaal gebucht. Könnten Sie herausfinden, ob ich die Anzahlung zurückbekomme?« Sie sah mich nur wortlos an und blinzelte ein paarmal. Dann ging sie. Einfach so.
Und dann – weißt du was? Als wir abflogen, hatte ich nur einen Wunsch. Dass dich der letzte Brief, den ich dir geschickt habe, nie erreicht!
Ich hätte einige Tage warten sollen, bevor ich ihn dir schicke. Ich hätte erst zur Erde zurückkehren und mir ein Bild von der Lage machen sollen. Warum musste ich nur sofort antworten? Du hättest ihn ohnehin erst Jahre später bekommen. Ach, hätte ich ihn doch nie abgeschickt! Dann hätte ich dich nach einem nächtlichen Besäufnis angrinsen und sagen können: »Hey, hast du etwa vergessen, dass ich ganze elf Jahre auf dich gewartet habe?« Die Vorstellung brachte mich zum Lächeln, aber gleich darauf wurde ich wieder traurig. Weil ich wusste, dass dieser Zug – nein, dieses Schiff – längst abgefahren war.
Kurz kam mir der Gedanke, ich könnte vielleicht den Kapitän deines Schiffs bestechen, damit er den Brief löscht. Doch dann fiel mir ein, dass dieser Kapitän eine KI ist. Und wie um alles in der Welt besticht man einen Computer? Vielleicht mit der Aussicht auf ein Upgrade? Einem neuen Speichermodul?
Liebling – weißt du, was ich mir gerade vorstelle? Wie lustig es wäre, wenn wir gleichzeitig den Raumhafen betreten würden. In dem Moment, in dem ich dich sehen würde, würde ich dich fest umarmen und dir sagen, dass ich dich liebe, und dich anflehen, mir zu vergeben. Und zur Feier unseres Wiedersehens verbrennen wir die Briefe, die wir uns geschrieben haben, in einem Freudenfeuer und schicken sie als Rauch in den Himmel.
Vier Monate nach Beginn der Reise – dreizehn Jahre und neun Monate später in Erdzeit
Es ist eine ganze Weile her.
Nein, Moment, du kannst ja gar nicht wissen, wie lange es her ist. Ich wurde darüber informiert, dass mein letzter Brief nicht zugestellt wurde, weil du dich im Tiefschlaf befunden hast. Und dass sämtliche Briefe gesammelt und dir, sobald du aufwachst, gebündelt überreicht würden. Der Kapitän deines Schiffs weiß, was er tut, du bist in guten Händen.
Ich bin zur Erde zurückgekehrt.
Etwas früher als die geplanten zehn Jahre. Da wir damals so schnell aufbrechen mussten, fehlte es an Proviant und anderen Gütern, und natürlich beschwerten sich die Passagiere darüber. Mit Abstand am lautesten war eine Frau, die sich darüber aufregte, dass sie nicht mehr genug von ihrer Lieblingsfeuchtigkeitscreme hätte, und dass dieser Mangel ihre Haut zerstören würde. Es gab einen Passagier, der drohte, die Versicherungsgesellschaft des Schiffs zu verklagen, und einen anderen, der ständig darauf hinwies, dass er jemanden kenne, der seit drei Wahlperioden Kongressabgeordneter sei. Irgendwann stimmte ich in die Proteste mit ein. Schließlich machte ich mir ebenfalls Sorgen – wegen meiner Wohnung, meines Bankkontos, meines Jobs. Ich hatte im Laufe der Zeit jede Menge juristischer Unterlagen zusammengestellt. Den Nachweis meiner Identität, einen Wohnsitznachweis, eine Klageschrift gegen den neuen Mieter wegen unbezahlter Rechnungen – alles für den Fall, dass sich jemand mein Eigentum unter den Nagel gerissen hatte.
Der Kapitän hatte es allerdings nicht besonders eilig. Tatsächlich schien es, als wollte er gar nicht zurückkehren, und jetzt, da ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass seine Crew das mitbekommen hatte.
Letztlich kamen wir nach sechs Jahren wieder zurück, auch wenn es für uns nur zwei Monate waren. Während wir uns der Erde näherten, beschlich mich ein komisches Gefühl. Ich konnte meine Heimat nicht entdecken. Es dauerte eine Weile, bis ich den Grund erkannte: Es gab keine Lichter. Früher schimmerte die koreanische Halbinsel nachts immer wie Goldstaub, doch nun war es dunkel. Als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Als ob niemand dort wäre.
Als wir landeten, wurde das Schiff heftig durchgerüttelt. Die Passagiere, die ohnehin schon wütend waren, beschwerten sich lautstark, aber der Kapitän erklärte, dass es keine Landebahn mehr gebe. »Was für ein Unsinn!«, murmelten die Leute und stiegen aus. Doch der Kapitän hatte recht. Nein, nicht ganz. Die Landebahn existierte noch, aber sie hatte sich verformt, und an den Stellen, an denen der Asphalt aufgebrochen war, wucherte Unkraut. Daneben lag das verrostete Raumhafenschild auf dem Boden.
Wir warteten in der Nähe des Schiffs, aber es kam kein Bus, um uns abzuholen. Also machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum Terminal. Die Straße war uneben und schlammig. Einer der Passagiere schimpfte über die miserable Wartung des Raumhafens.
Der Wartebereich des Terminals war leer. Im Inneren war alles mit einer Schicht aus braunem Staub überzogen. Wasser sammelte sich auf dem eingesunkenen Boden. Algen wuchsen in den Pfützen, und surrende Käfer legten dort ihre Eier ab. Die Frau, die zuvor schreiend nach dem Duty-free-Shop gesucht hatte, brachte jetzt kein Wort mehr heraus.
Ich erinnerte mich an einen früheren Gedanken: dass eine Reise in eine andere Zeit wie eine Reise an einen anderen Ort ist. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Mein Zuhause war verschwunden, verloren in der Vergangenheit, in einer anderen Zeit. Es gab keine Rückkehr.
Schockiert standen wir mit unseren Koffern herum, als plötzlich jemand vor mir stolperte und zu Boden fiel. Wie konnte man nur hinfallen, fragte ich mich, wenn es doch gar nichts mehr gab, worüber man stolpern konnte? So wie ich richteten die anderen den Blick ebenfalls nach unten. Die Wasserlache färbte sich rot. Und eine zweite Person stürzte zu Boden.
Geschrei brach los, und inmitten des allgemeinen Aufruhrs schien sich die Zeit zu verlangsamen. Dann wieder rasten kurze Augenblicke so schnell an mir vorbei, dass ich kaum etwas mitbekam. Ich rannte, schubste und trat andere Leute zur Seite. Versteckte mich. Aber auch als ich wieder zu Sinnen kam, wusste ich nicht, was geschehen war. Ich wartete, und als es ruhiger wurde, robbte ich aus meinem Versteck. Überall auf dem Boden verstreut lagen Leichen.
Jemand rief, dass die Unverletzten denen helfen sollten, die verletzt waren, und wie ein Geist – wie eine leere Hülle – wurde ich mitgerissen. Die Frau, die sich so sehr nach ihrer Feuchtigkeitscreme gesehnt hatte, starb, noch während ich ihre Wunden verband. Erst schrie sie vor Schmerzen, und als sie in Schweigen verfiel, wusste ich, dass sie tot war.
Wie beim letzten Mal trieb uns dann eine bewaffnete Truppe zusammen und redete auf uns ein. Die Männer behaupteten, wir wären alle umgebracht worden, wären sie nicht aufgetaucht. Ich dachte nur: Wir wären auch so beinahe alle umgebracht worden. Die Männer wurden wütend und sagten, dass die Leute aus der Vergangenheit alle ahnungslos wären. Dann erklärten sie, dass sie eine zivile Militäreinheit seien und wir besser nicht zurückgekehrt wären, da es Verbrecherbanden gebe, die den Raumhafen nach unbedarften Zeitreisenden durchkämmten. Sie sagten uns, wir hätten Glück gehabt, aber mir war nicht klar, was dieses Glück sein sollte.
Ihre Truppe, erklärten die Männer, sei die einzige, die sich um jene kümmere, die aus der Vergangenheit hier ankamen. Und mit diesen Worten plünderten sie unser Gepäck und unser gesamtes Schiff, nahmen mit, was nicht niet- und nagelfest war. Aber irgendwie waren sie vielleicht doch nette Leute, denn wenn man sie anflehte, ließen sie von manchen Dingen ab. Zum Beispiel konnte ich den Liederring retten, den ich damals für dich gekauft hatte. Ich erklärte dem Mann, der meine Tasche durchwühlte, dass es sich dabei um kein echtes Juwel, sondern um ein Spielzeug handele. Dann drückte ich auf den Stein, und als »O Liebling, wie sehr ich dich liebe …« ertönte, lachte der Mann laut auf, warf mir den Ring an die Stirn und wandte sich ab.
Ich lief ihm nach. Ich brachte es nicht über mich, den Hochzeitssaal zu erwähnen, aber ich stammelte, dass in fünf Jahren ein Frachtschiff ankommen werde und sie es doch bitte auch beschützen mögen. Er warf mir einen kalten Blick zu und sagte, dass das Schiff nie ankommen würde. Alle Schiffe, die die Nachricht empfangen hätten, seien längst umgekehrt. Ich sagte ihm, dass meine Verlobte in diesem Schiff schlief und nichts von einer Nachricht wissen konnte. »Warum schläft sie?«, fragte er, aber noch bevor ich etwas erwidern konnte, ging er davon.
Für eine lange Zeit streiften wir alle ziellos in der Gegend herum – wie ältere Arbeiter, die gerade entlassen worden waren. Einige sagten, sie wollten nach Hause, und dann gingen sie. Ihre halbleeren Koffer ratterten hinter ihnen her.
Ich reparierte die Radioanlage des Schiffs, damit wir die Nachrichten hören konnten. Es war jene Art von Radio, bei dem man eine Antenne ausrichten und die Frequenz einstellen musste. So etwas kannte ich nur aus dem Museum, aber in unserer derzeitigen Lage war es das Einzige, das noch funktionierte.
Im Süden war ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen, hieß es. Das Militär hatte zahlreiche Techniker in den Atomkraftwerken exekutiert, worauf sich gleich am nächsten Tag ein schrecklicher Unfall ereignet hatte. Danach waren die Medien für einen Monat stillgelegt worden, und die noch lebenden Nuklearexperten versteckten sich seither. Mit weiteren zweiundzwanzig Atomkraftwerken im Land und niemandem, der sich um die Wartung kümmerte, war es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste in die Luft fliegen würde. Die koreanische Halbinsel war zum Katastrophengebiet erklärt worden, und andere Länder hatten entsprechende Reiseverbote verhängt.
Der Kapitän und die Crew verkündeten, dass sie schon bald zu einem anderen Sternensystem fliegen würden. Ich sagte ihnen, dass ich in fünf Jahren hierher zurückkehren müsse, um meine Verlobte in Empfang zu nehmen. Ich erwähnte auch, dass ich schon den Hochzeitssaal gebucht und Geschenke für meine Freunde vorbereitet hätte. Offenbar gab ich dabei ein bedauernswertes Bild ab, denn der Kapitän stellte mir ein winziges Beiboot zur Verfügung. Das Ding sah aus, als wäre es im 20. Jahrhundert hergestellt worden. »Einfach heißt haltbar«, sagte der Kapitän.
Das Beiboot hatte gerade mal einen Innenraum, aber eine Person konnte gut darin leben. Der Kapitän sagte, dass ich es ja nicht sehr lange darin aushalten müsse, und gab mir den Rat, mir auf der Erde einen Ort zu suchen, an dem ich mich niederlassen könne. Ich sagte, das sei schon in Ordnung, schließlich hatte ich mich, als ich arbeitslos war, einmal einige Monate lang allein in mein Zimmer zurückgezogen und Videospiele gespielt.
Der Kapitän klopfte mir auf die Schulter und zeigte mir, wie ich mich richtig ins Cockpit setzte. Dann schlug er sein Notizbuch auf, zeichnete einige Diagramme und erklärte mir gleichzeitig, was ich zu tun hatte. Er sagte mir, dass ich mit einem so kleinen Schiff kein anderes Sternensystem würde erreichen können. »Das wäre, als würde man den Pazifik mit einem Kanu überqueren wollen.« Ich erwiderte, dass ein anderes Sternensystem gar nicht mein Ziel sei, aber zu mehr als »Meine zukünftige Frau ist auf dem Weg zu mir …« kam ich nicht, denn er unterbrach mich und sagte, er würde schon verstehen.
Daraufhin erklärte er mir, dass das Schiff Solarwind und Solarzellen für den Antrieb nutzte. Auch riet er mir, in der Jupiterbahn zu bleiben, da ich die dortige Anziehungskraft gut würde nutzen können. Er berechnete, wie viel Schub ich auf diese Art und Weise erhalten würde und welche Maximalgeschwindigkeit das kleine Schiff und mein Körper aushalten würden. Alle Faktoren zusammengenommen, meinte er, entspreche diese maximale Geschwindigkeit wohl der Erdbeschleunigung.
Ich wusste nicht mehr, was »Erdbeschleunigung« genau bedeutete. Ungefähr zehn Meter pro Sekunde, sagte der Kapitän, das heiße bei Lichtgeschwindigkeit 300 000 Kilometer pro Sekunde. Als ich immer noch verwirrt war, erklärte er mir, dass ich etwa ein Jahr lang würde beschleunigen müssen, um mit dem kleinen Beiboot Lichtgeschwindigkeit zu erreichen. Dass ich also, würde ich fünf Jahre Erdzeit reisen wollen, mit zwei Jahren für Beschleunigung und Abbremsung rechnen müsse.
Das sei unmöglich, sagte er dann. Man könne nicht Proviant für zwei Jahre in ein so kleines Schiff laden. Und selbst wenn, würden die Sachen früher verderben, als ich sie aufbrauchen könnte. Abgesehen davon würde ein Schiff mit einer solchen Menge Proviant gar nicht erst starten können.
Ein Jahr und ein Monat nach Beginn der Reise – vierzehn Jahre und sechs Monate später in Erdzeit
Es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe.
Um ehrlich zu sein, hat es sehr lange gedauert, herauszufinden, wie man überhaupt noch Briefe verschicken kann. Zuerst schien es absurd, aber sobald ich das Prinzip dahinter verstanden hatte, wurde mir klar, dass es wohl selbst dann noch möglich ist, Nachrichten zu versenden, wenn die gesamte menschliche Zivilisation verschwunden ist.
Ich reiste ab, ohne mir allzu viele Gedanken zu machen. Dann, als ich die Hälfte meines Proviants verbraucht hatte, kehrte ich zurück, plünderte verlassene Läden und sammelte Konservendosen ein, ehe ich mich wieder auf den Weg machte. Das wiederholte ich einige Male. Glaub mir bitte, wenn ich dir sage, dass es das Beste war, was ich in meinem damaligen Geisteszustand erreichen konnte.
Ich versuchte auch in einem anderen Land mein Glück. Dort traf ich eine Frau, die mir sagte, ich hätte Glück gehabt, dass mein Schiff nicht sofort abgeschossen worden sei, und dass ein solches Glück nur einmal alle hundert Jahre vorkomme. Ich fragte sie, was sie damit meinte, schließlich gibt es interstellare Reisen noch keine hundert Jahre. Darauf erwiderte sie, dass man mein Schiff vermutlich einfach übersehen hatte – es sei so klein, dass man es gar nicht für ein Raumschiff gehalten habe. Was für eine Aussage!
Immerhin bescherte mir dieses Treffen einen Nahrungsreplikator, eine Technologie, die es vor rund zehn Jahren noch nicht gab. Das Prinzip ist ähnlich wie bei einem 3D-Drucker. Was immer man in den Replikator einfüllt – Schmutz, Steine oder irgendetwas anderes –, er zerlegt das Material auf molekularer Ebene und setzt es neu zusammen. Am Ende erhält man etwas, das an Hundefutter erinnert, aber es ist essbar.
Als mir die Frau den Replikator gab, sagte sie, dass ich wohl jene Art von Glückspilz sei, die nur ein- oder zweimal alle tausend Jahre auftauche. Und sie fügte hinzu, dass, wenn das doch nicht der Fall sei, ich bei meiner nächsten Reise garantiert sterben würde. Was ich mir bloß dabei denke, mit einem so kleinen Schiff durch den Weltraum zu reisen? Als ich erwiderte, dass ich mir nicht viel dabei denke, blickte sie mich an, als sei ihr das längst klar gewesen.
Als ich das dritte Mal zurückkehrte, fand ich ein funktionierendes Auto und fuhr damit zu meinem alten Arbeitsplatz. Die Straßen waren alle ruhig, trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde ich attackiert. Immer wieder tauchten tiefe, dunkle Schlaglöcher vor mir auf, und die großen Fenster der Einkaufszentren starrten mich wie leere Augenhöhlen an. Wilde Hunde, die sich zu Rudeln zusammengerottet hatten und sich verhielten, als wären sie nie domestiziert worden, trieben ihr Unwesen auf den Straßen. Sie knurrten bedrohlich und schienen beweisen zu wollen, dass sich Hunde niemals anders verhalten hatten.
Ich brauchte ein Gerät, das interstellare Materie einsammeln konnte. Im All gab es Wasserstoff, Sauerstoff, Kalzium, Natrium, Wasser und weiteres organisches Material – wenn auch nur in geringen Mengen. Würde man das alles bei Lichtgeschwindigkeit einsammeln, könnte man die Menge deutlich steigern. Man konnte es wohl mit einem großen Staubsauger vergleichen. Ich betrat die Fabrik meiner Firma, prüfte die verschiedenen Modelle und suchte nach den benötigten Teilen. Die Maschinen betrieb ich mit einem Notstromgenerator. Das Handbuch für die Fabrik war immer noch mit meinem Passwort zugänglich. Ich musste das Gerät so einfach wie möglich konstruieren, sodass ich es aus eigener Kraft würde reparieren können.
Während ich arbeitete, blickte ich aus dem Fenster und sah in der Ferne, wie sich ein Gebäude langsam zu neigen begann. Erst dachte ich, es wäre mein Körper, der sich nach vorne lehnte, doch dann wirbelte plötzlich Staub auf, und das Gebäude fiel geräuschlos in sich zusammen. Wie eine Sandburg in der näher kommenden Flut, wie ein alter Baum am Ende seines Lebens. »Wow!«, murmelte ich, als ich das sah. Damals, als diese Gebäude erbaut worden waren, hatten alle gesagt, dass sie nicht länger als zehn Jahre stehen würden.
Ich dachte an die Zeit, als wir dein Elternhaus auf dem Land besucht hatten, das deine Familie für einige Jahre hatte leer stehen lassen. Schon während dieser kurzen Zeit hatte sich das Haus in ein wahres Desaster verwandelt: Die Toiletten waren verstopft, die Wasserrohre und der Boiler waren im Winter zugefroren und gebrochen. Die Stellen, die viel Sonne abbekommen hatten, waren ausgebleicht und vertrocknet, während alle anderen Flächen modrig und von Schimmel bedeckt waren. Es schien, als wäre das Haus aufgrund von Einsamkeit alt geworden. Als wolle es fragen, welchen Sinn ein einsames Leben hatte. Als hätte es nicht nur einige wenige Jahre, sondern zwei Jahrzehnte allein verbracht.
»Wenn niemand darin lebt, verfällt ein Haus«, hast du zu mir gesagt und dabei den dunkel verfärbten Türrahmen berührt. »Ich hätte für das Haus da sein sollen.« Es fühlte sich an, als würdest du mir durchs Haar streichen und nicht etwa einen alten Türrahmen berühren. Als würdest du in diesem Moment mit meinem vergangenen Ich sprechen – mit der Version von mir, die immer allein gewesen war.
Seither sind drei Monate vergangen. Drei Monate, in denen ich zur Vernunft kam. Jetzt, da ich wieder klar denken kann, beginne ich zu verstehen, wie verrückt das alles ist, was ich getan habe.
Ich habe dir ja erzählt, dass ich einmal einige Monate in meinem Zimmer verbracht habe, ohne auch nur ein einziges Mal nach draußen zu gehen. Ich glaube, ich verstehe es jetzt. Ich habe damals gar nicht allein gelebt. Ich habe noch nie allein gelebt! Jemand transportierte meinen Müll ab, jemand entleerte die Klärgrube. Jemand betrieb die Kraftwerke, schloss Stromleitungen an, überprüfte die Gasventile, ersetzte das Wasser in den Kühlern, reinigte die Abflussrohre. Irgendwo an einem anderen Ort kochte jemand Nudeln für ein Gericht und lieferte es aus. Dann kam jemand, um die leeren Behälter einzusammeln, sie zu waschen und erneut zu verwenden. Ich habe noch nie allein gelebt, nicht ein einziges Mal. Wie sollte das überhaupt möglich sein?
Leben heißt, nicht allein zu sein.
Wann immer ich aufwache, denke ich: Das ist doch lächerlich, ich werde sterben. Wenn nicht heute, dann eben morgen. Es fällt mir schwer, das Essen aus dem Replikator in mir zu behalten. Jedes Mal, wenn ich etwas esse, würge ich es wieder heraus. Ich schlage gegen die Wände und schreie: Ich muss umkehren, wenn ich mein Leben retten will. Aber jetzt umzukehren, würde noch einmal genauso viel Zeit in Anspruch nehmen.
Es ist okay.
Es ist alles okay. Es sind nur zwei Jahre.
Nur meinetwegen – nur weil ich so dumm war – gerätst du geradewegs in diese gefährliche Zeit. Ohne zu wissen, was du vorfinden wirst. Was, wenn du ankommst und dir etwas ebenso Schreckliches widerfährt wie mir?
Drei Jahre, zwei Monate und drei Tage nach Beginn der Reise – neunzehn Jahre, zwei Monate und drei Tage später in Erdzeit
Ich fuhr rechtzeitig an dem Tag zum Raumhafen, an dem du dort landen solltest.
Mir war bewusst, dass ich sterben würde, würde ich dort auf Banditen oder zivile Militäreinheiten treffen, aber niemand tauchte auf.
In der Zwischenzeit musste es eine Flut gegeben haben, denn das ganze Areal war mit einer Schicht aus Schlamm und Erde bedeckt. Beifuß und Grießwurzel wucherten wild auf dem Boden. Es erinnerte mich an damals, als mein Viertel überflutet war und ich zum zuständigen Bezirksamt lief, um mich darüber zu beschweren, dass die Reinigungsarbeiten nur so schleppend vorangingen.
Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ein kleiner Fluss mitten durch den Raumhafen verlief. Vermutlich hatte man das Wasser mit einer Pumpe ins Meer geleitet. Jetzt war der Wartebereich von Ranken überwuchert, und sämtliche Fenster waren zersplittert. Ich musste lachen, als ich die Snackpackungen genau dort wiederfand, wo ich sie damals, vor fünf Jahren, gemeinsam mit den anderen Passagieren gegessen hatte.
Du kamst nicht.
Ich wartete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag, aber du kamst nicht.
Ich legte mich in die Wiese und beobachtete das Auf- und Untergehen der Sterne. Ich sah die Erde durch ein Sternenmeer gleiten und stellte mir vor, ich befände mich auf einem großen Schiff. Irgendwie entsprach das ja auch der Wahrheit. Es ist okay, dachte ich. Wäre es eine etwa einstündige Reise, wären zehn Minuten Verspätung nicht so ungewöhnlich. Bei einer zehnjährigen Reise kann man sich schon einmal ein Jahr verspäten …
Ich wartete kein ganzes Jahr, aber vier Monate und drei Tage. Ich schlief in dem kleinen Schiff und bereitete mir im Nahrungsreplikator meine Mahlzeiten zu.
Du kamst nicht.
Doch aus irgendeinem Grund war ich nicht traurig. Allerdings auch nicht glücklich. Eher gelassen. Es fühlte sich irgendwie natürlich an. Wärst du plötzlich zwischen den Schilfrohrbüschen aufgetaucht, hätte ich vermutlich so etwas gerufen wie: »Hä? Nein, dass du hier bist, ist komplett unwahrscheinlich. Geh bitte wieder, und komm später zurück!«
Kurz danach reiste ich ab.
Es gab keinen besonderen Grund, gerade jetzt zu verschwinden, weil es nun keinen Grund mehr gab, in die Zukunft zu reisen. Allerdings wusste ich auch nicht, was ich hier noch tun sollte. Wenn ich in die Zukunft reise, dachte ich, würde das ganze Chaos verschwinden und die Gegend würde wieder bewohnbar sein. Sehr viel weiter habe ich nicht gedacht. Ich hatte nicht mehr die Kraft, richtig nachzudenken. Überall, nur nicht hier, würde es schon in Ordnung sein. Irgendwo an einem Ort, wo mich nichts mehr an all das erinnern würde. Dich eingeschlossen.
Fünf Jahre und zwei Monate nach Beginn der Reise – vierundsiebzig Jahre später in Erdzeit (ungefähr)
Es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe, aber du weißt ja, wie schlecht es mir beim letzten Mal ging. Ich wollte nicht mehr an dich denken. Oder vielleicht ist es richtiger zu sagen, dass ich keine Kraft hatte, an dich zu denken. Manchmal, wenn ich mich meiner Fantasie hingab, fühlte ich mich so betrogen, dass ich mit den Zähnen knirschte. Andere Male weinte ich nur bitterlich.
Ich dachte, du hast womöglich gar keine Möglichkeit, einen Brief abzuschicken. Oder du schreibst immer noch Mails an meine alte Hanmail-Adresse. Oder du hast keinen einzigen meiner Briefe erhalten. Aber schon im nächsten Moment wurde ich wütend darüber, dass du mir nicht geschrieben hast. Und dann weinte ich wieder.
Ich gestehe, ich habe lange Zeit einfach nur überlebt.
Als ich meine Habseligkeiten durchging, stieß ich auf die Dokumente, die ich damals vorbereitet hatte: die Rechnungen und juristischen Unterlagen. Das löste offenbar etwas in mir aus. Ich zerriss die Papiere in tausend Stücke und weinte dabei jämmerlich. Danach verlor ich für eine Weile den Verstand.
Eines Tages pisste ich gegen die Innenwand des Schiffs. Mein Urin schwebte in winzigen Tropfen durch die Luft und suchte sich nicht nur einen Weg in meine Nase und meinen Mund, sondern auch in die Schiffsapparaturen. Ich fühlte mich völlig hilflos – wie ein Krebspatient in seinen letzten Tagen. Und dann wurde ich tatsächlich krank. Was auch immer ich zu mir nahm, kam auf die eine oder andere Art gleich wieder aus mir heraus. Es war unerträglich. Es war, als würde nun alles gebündelt aus mir herausbrechen, und danach würde ich einfach verschwinden. Bei jedem Atemzug sog ich uringetränkte Luft ein. Ich kam erst zur Besinnung, als sich die Tropfen in meiner Nase zu sammeln begannen und meine Atemwege blockierten. Hektisch tastete ich über die Steuerungselemente, bis ich den Schalter für die Beschleunigung fand. Die Schwerkraft setzte ein, und mein Urin fiel wie Regen auf mich herab. Ich wurde ohnmächtig.
Ich weiß nicht, wieso ich überlebt habe. Aber jetzt, da ich darüber nachdenke, könnte ich auch nicht sagen, wieso ich zu sterben versucht habe. Vermutlich ist es einfach so, dass Menschen sterben, wenn sie untätig sind. Es ist wie bei einer verlassenen Stadt. Man muss etwas tun, um am Leben zu bleiben, irgendetwas. Man braucht den Willen, weiterzumachen, niemals aufzugeben.
Ich bekam ein schreckliches Fieber, und erst als ich mich davon wieder erholte, wurde mir klar, dass ich mit Lichtgeschwindigkeit reiste. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Eine Stunde? Ein Tag? Ein Monat? Ein Jahr? Wie viel Zeit war dort draußen vergangen? Meine Umgebung gab mir keine Antwort auf diese Frage. Ich schüttelte die Uhr, die mir der alte Kapitän gegeben hatte, aber sie war stehengeblieben. Ich hatte keine Möglichkeit, festzustellen, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war.
Nachdem das Schiff langsamer geworden war und die Erde vor mir auftauchte, verwandelte sich meine düstere Vorahnung in Wirklichkeit: Die Erde sah aus wie der Mond. Dunkel und bergig. Als hätte es dort niemals Leben gegeben. Das Schiff kam noch näher, und ich erkannte, dass es sich bei der hügelig anmutenden Oberfläche um schwarze Wolken handelte. Die gesamte Erdkugel war davon umhüllt. Es war unmöglich, einen Landeplatz zu finden. Alles, was ich sah, war eine große schwarze Wolke, die um die Erde wirbelte.
Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich aus Leibeskräften schrie. Dann drückte ich meine Stirn gegen die Steuereinheit und schluchzte. Als Kind hatte ich einmal einen Erdrutsch miterlebt und gesehen, wie ein Nachbarhaus von den Erdmassen geradezu verschluckt worden war. Zum Glück hatte sich zu diesem Zeitpunkt niemand darin befunden, trotzdem hatte ich bei diesem Anblick laut geschrien. Meine Mutter musste mich eine Stunde lang im Arm halten, um mich zu beruhigen. Das wurde zu einem wiederkehrenden Muster: Immer wenn Dinge vor mir verschwanden, schrie ich – wenn etwas zerstört wurde, auseinanderfiel, sich zersetzte oder starb. Ich betrauerte alle Dinge, die von einem gewaltigen Streich ausgelöscht wurden und für immer verloren gingen.
Es musste einen Krieg gegeben haben, ging es mir durch den Kopf. Irgendwelche grausamen Bomben, die man längst gebaut, aber bislang nicht verwendet hatte, hatten die Asche bis in die Stratosphäre gewirbelt. Und dort hatte sie sich wie eine Decke um die Erde gelegt. Vielleicht war die Erde aber auch von einem Asteroiden oder einem anderen großen Objekt getroffen worden. Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass ein solcher Zusammenstoß denselben Effekt haben könnte. Oder vielleicht …
Warum bin ich überhaupt hier? Warum bin ich in der Lage, mir das alles anzusehen?
Ich will nach Hause. Ich stellte mir vor, dass ich mit einer Zeitmaschine hierhergekommen war, um einen Blick auf die Zukunft zu werfen. Wow, das ist also die Zukunft! Und jetzt würde ich zu meinen Freunden zurückkehren und stolz berichten: »Hey, ich habe die Zukunft gesehen!« – »Wie cool! Hast du die Lottozahlen aufgeschrieben?« – »Verdammt, das habe ich vergessen.« – »Du Idiot!«
Aber ich kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Und wenn doch, was würde ich dort tun? Ich hatte einen Hochzeitssaal gebucht und wollte dich heiraten. Wie soll uns das noch gelingen?
Ich fasste den Plan, auf dem Raumhafen zu landen. Als ich jedoch durch die dichte Wolkenschicht brach, blickte ich auf das Land unter mir – und überlegte kurz, sofort wieder zu verschwinden und gar nicht erst zu landen. Aber ich hatte mir so viele furchtbare Szenarien ausgemalt, dass es besser war, nachzusehen, was tatsächlich geschehen war.
Es war helllichter Tag, aber es schien, als wäre es tiefste Nacht. Der Raumhafen war unter Schnee vergraben, und dicke Flocken fegten wie ein weißer Sandsturm über das Land, sodass ich kaum etwas erkennen konnte. Entlang der Küstenlinie hatte sich ein Eispanzer gebildet. Ich hatte Angst, der Antrieb des Schiffs würde einfrieren, und wollte nach der Landung gleich wieder abheben.