Ich. Will. Gefallen - Elise Loehnen - E-Book

Ich. Will. Gefallen E-Book

Elise Loehnen

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Beschreibung

»Ich strengte mich so sehr an, gut genug zu sein. Mein ganzes Leben lang hatte ich versucht, gut genug zu sein. Ich gönnte mir keine Pause, sorgte hingebungsvoll für meine Familie, für Kolleginnen und Freunde. Ich kontrollierte meinen Körper, damit er in eine bestimmte Kleidergröße passte, achtete darauf, meine Gefühle im Griff zu haben. Was würde passieren, wenn ich mit all dem einfach aufhörte? Ich wusste keine Antwort, aber ich beschloss, es herauszufinden. Ich wusste, das würde mich eine Menge kosten. Aber es würde mir auch mein Leben zurückgeben.« Podcasterin und Bestseller-Autorin Elise Loehnen schreibt ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen über Eigenschaften und Verhaltensweisen, die bei Männern auf Zustimmung stoßen, bei Frauen jedoch sozial nicht anerkannt werden. Sie nennt sie die 7 Todsünden moderner Frauen: - Faulheit - Neid - Hochmut - Völlerei - Gier - Lust - Traurigkeit Ein kluges und unverzichtbares Buch, das zeigt, wie sehr unser Verhalten kulturell vorprogrammiert ist – und wie es Frauen gelingt, diese Programmierung zu ändern. Elise Loehnen ruft ihre Leserinnen dazu auf, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und für sich zu erkennen, wann sie aus dem Wunsch heraus handeln, anderen zu gefallen. Eine Ermutigung an alle Frauen, auszubrechen aus starren sozialen Normen und ihr authentisches weibliches Selbst zu leben.

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Seitenzahl: 524

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Elise Loehnen

Ich. Will. Gefallen.

Der Preis, den Frauen zahlen, um gut genug zu sein

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Ich strengte mich so sehr an, gut genug zu sein. Mein ganzes Leben lang hatte ich versucht, gut genug zu sein. Ich gönnte mir keine Pause, sorgte hingebungsvoll für meine Familie, für Kolleginnen und Freunde. Ich kontrollierte meinen Körper, damit er in eine bestimmte Kleidergröße passte, achtete darauf, meine Gefühle im Griff zu haben. Was würde passieren, wenn ich mit all dem einfach aufhörte? Ich wusste keine Antwort, aber ich beschloss, es herauszufinden. Ich wusste, das würde mich eine Menge kosten. Aber es würde mir auch mein Leben zurückgeben.«

 

Podcasterin und Bestseller-Autorin Elise Loehnen schreibt ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen über Eigenschaften und Verhaltensweisen, die bei Männern auf Zustimmung stoßen, bei Frauen jedoch sozial nicht anerkannt werden. Sie nennt sie die 7 Todsünden moderner Frauen:

Faulheit

Neid

Hochmut

Völlerei

Gier

Lust

Traurigkeit

Ein kluges und unverzichtbares Buch, das zeigt, wie sehr unser Verhalten kulturell vorprogrammiert ist – und wie es Frauen gelingt, diese Programmierung zu ändern. Elise Loehnen ruft ihre Leserinnen dazu auf, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und für sich zu erkennen, wann sie aus dem Wunsch heraus handeln, anderen zu gefallen.

Eine Ermutigung an alle Frauen, auszubrechen aus starren sozialen Normen und ihr authentisches weibliches Selbst zu leben.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorbemerkung der Autorin

Einführung: Genesis

Die Eigenschaften der Kultur

Frauen und ihr »Gutsein«

Die tragischen Folgen

Der Lohn des Gleichgewichts

1. Faulheit: Wenn wir glauben, dass Faulheit Sünde ist, verweigern wir uns das Ausruhen.

Arbeitssucht

Die Arbeit meiner Mutter, die Erholung meines Vaters

Als Faulheit zur absoluten Sünde wurde

Die existenzielle Angst des Mutterseins

Die Last der Geschäftigkeit

Vom Mythos, dass Mütter wichtiger sind

Wie Partnerschaften funktionieren sollten

Die Vorzüge der Ruhe

Die natürliche Überlegenheit der Frau

Der Wert unserer Arbeit

Den richtigen Kampf kämpfen

2. Neid: Wenn wir glauben, dass Neid Sünde ist, verweigern wir uns unseren Wünschen.

Wieso wir Neid falsch verstehen

Die Neiddiagnose

Mädels, die es draufhaben

Was bildet die sich ein?

Schadenfreude

Wenn Frauen ihre Stimme verlieren

Warum es wichtig ist zu wissen, was man will

Begehren als Akt der Individuation

Das Boot in den Fluss stoßen

3. Stolz: Wenn wir glauben, dass Stolz Sünde ist, verweigern wir uns unsere Talente.

Das Schreckgespenst der Liebenswürdigkeit

Stolz auf uns selbst sein

Die Angst davor, herausragend zu sein

Der Wunsch, sich zu zeigen

Wie wir unsere Einzigartigkeit erkennen

Das wahre Selbst versus das illusorische Selbst

Unsere einzigartigen Begabungen erkennen und hüten

Die Wurzeln der Demut

4. Völlerei: Wenn wir glauben, dass Völlerei Sünde ist, verweigern wir uns unseren Hunger.

Was wir glauben, kontrollieren zu können

Unsere Kultur leidet unter Fettphobie

Dünnsein als kulturelles Schönheitsideal

Wie verfressen sind wir?

Die Diätkultur ist ein einziges Märchen

Das ganze Spektrum der Essstörungen

Der Körper als Mittler zwischen Seele und Welt

Wie wir unseren Hunger wiederfinden

Die Ablehnung des weiblichen Körpers

5. Habgier: Wenn wir glauben, dass Habgier Sünde ist, verweigern wir uns Sicherheit.

Der Ursprung der Askese

Wie Frauen zum Konsum angehalten werden

Das Problem mit Frauen und Geld

Die Geschichten, die wir uns übers Geld erzählen

Meine Konsumsucht

Der Unterschied zwischen Wert und Wertigkeit

Der Mythos des Mangels und die Bedrohung der Abhängigkeit

Nullsummendenken und unsere Vorstellung von »genug«

Wünsche versus Bedürfnisse

6. Lust: Wenn wir glauben, dass Lust Sünde ist, versagen wir uns das Vergnügen.

Ach, ich dissoziiere

Als die Religion anfing, die Sexualität zu verdammen

Unsere Kultur des Slutshamings

Warum wir körperlich Analphabetinnen sind

Die Intensität der Aufmerksamkeit – und welche Erfahrung zählt

Die Stufen sexueller Traumatisierung

Wer hat die Macht und die Kontrolle?

Unsere durchlässigen Grenzen in puncto Nähe und Berührung

Meine Geschichte

Wo lebt das sexuelle Verlangen in unserem Körper?

Was unsere Fantasien uns sagen

Die Bedeutung des Loslassens

7. Wut: Wenn wir glauben, dass Wut Sünde ist, verweigern wir uns unsere Bedürfnisse.

Woran ich erkenne, dass ich wütend bin

Das klebrige Kontinuum der Wut

Das Problem mit wütenden Frauen

Unsere unausgesprochenen Bedürfnisse und der verinnerlichte Protest

Unsere Angst vor dem Verlust von Beziehungen

Wie Wut sich bei Mädchen in sozialer Aggression äußert

Außenseiterstatus und Wut bei Kindern

Wie weiße Frauen unserer Wut ausweichen

Wie wir unsere Wut verarbeiten – und die Bestätigungssucht hinter uns lassen

Der Pfad zur emotionalen Befreiung

Meine eigene Wut erkennen und verstehen

Ernten, was wir gesät haben

8. Traurigkeit: Wenn wir glauben, dass Traurigkeit Sünde ist, verweigern wir uns unsere Gefühle.

Die Traurigkeit zurückerobern

Verlustangst

Die Leugnung des Todes

Peter

Vertrauen ist besser als Kontrolle

Die Trauer zulassen

Wie wir fühlen lernen – oder auch nicht

Depressionen bei Frauen und Männern

Das Trauma toxischer Männlichkeit

Zu guter Letzt: Neuordnung: Die Rückkehr zu uns selbst

Danksagung

Auswahlbibliografie

Für Peter, der an mich glaubte, lange bevor ich selbst es tat, und dessen Tod mir den Glauben an etwas vermittelte, das größer ist als ich selbst.

Vorbemerkung der Autorin

In diesem Buch geht es darum, wie wir kulturell geprägt werden. Natürlich bin auch ich ein Produkt der Kultur, in der ich aufgewachsen bin. Ich bin eine weiße, heterosexuelle, verheiratete Mutter, die in den USA zur Welt kam. Kind zweier heterosexueller Eltern, die immer noch verheiratet sind. Ich wurde in einer Familie der gehobenen Mittelschicht groß und gehöre auch heute der gehobenen Mittelschicht an. Ich identifiziere mich mit dem weiblichen Geschlecht, und andere Menschen betrachten mich – meistens jedenfalls – ebenso als Frau. Ich kann mich glücklich schätzen, dass sich diese Identitäten für mich richtig anfühlen und dass ich keine Schwierigkeiten damit habe, Worte zu finden, die meine Erfahrung beschreiben. Für viele Menschen nämlich ist die Sprache, mit der wir definieren, wer wir sind, schmerzlich unzureichend.

Auf den folgenden Seiten verwende ich häufig die Worte Frauen,Frau und wir. Aber eines möchte ich hier mit aller Deutlichkeit betonen: Diese Worte sind Kürzel für die Idee, was es heißt, Frau zu sein – eine Idee, die reduktiv und essenzialistisch sein kann. Meine Verwendung dieser Begriffe ist von meiner eigenen Sichtweise geprägt, der einer Frau, die in einem weiblichen Körper geboren wurde. Auf diesen Seiten habe ich versucht, unsere Kultur und das Leben so vieler Frauen wie möglich auf den Prüfstand zu stellen, aber es ist nicht mein Bestreben, für alle Frauen zu sprechen. Ich behaupte auch nicht, dass ich das könnte. Aber ich glaube, dass unsere Kultur alle Menschen, die sich als Frau identifizieren, durchgängig in Schubladen sperrt. Und ich hoffe, in diesem Buch die Mechanismen zeigen zu können.

Die Ereignisse aus meinem Leben habe ich nach bestem Wissen und Gewissen erzählt. Ich habe Freunde und Familie gebeten, die Fakten zu überprüfen. Manche Menschen habe ich auf eigenen Wunsch anonymisiert und entsprechend einige Details abgeändert, um ihre Identität zu schützen.

Einführung

Genesis

Ende 2019 habe ich fast einen ganzen Monat lang hyperventiliert. Ich konnte keinen einzigen tiefen Atemzug nehmen, ohne zu gähnen, weil paradoxerweise meine Lunge mit Sauerstoff übersättigt waren. Die Hyperventilation ist ein klassisches Missverständnis zwischen Körper und Gehirn, das ich immer wieder erlebe, seit ich ungefähr zwanzig war. Als das zum ersten Mal passierte, fuhr ich gleich in die Notaufnahme. Ich dachte, mein letztes Stündlein habe geschlagen und ich müsste unverzüglich intubiert werden. Der Arzt aber meinte nur, das alles spiele sich bloß in meinem Kopf ab, klopfte mir auf die Schulter und schickte mich mit einem Alprazolam-Rezept nach Hause. Doch diese jüngste Attacke war anders. Sie hörte auch nicht auf, wenn ich mich mal ausschlief. Auf Koffein zu verzichten half kein bisschen. Ich kämpfte und litt, gähnte mich durch Meetings, Interviews und Mahlzeiten. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, äußerlich total ruhig, ja fast schläfrig zu wirken, während sich innerlich die Angst aufbäumt. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Ente, die unter der Wasseroberfläche verzweifelt mit den Füßen strampelt, während sie elegant über den See zu gleiten scheint.

In jenem Monat saß ich in der Praxis meines Therapeuten und brach erschöpft in Tränen aus.

»Ich habe das Gefühl, keine Luft zu kriegen«, sagte ich.

»Ich weiß«, antwortete er.

»Als würde ich ersticken, als wäre ich lebendig begraben.«

»Wo spüren Sie das im Körper?«

»Es fühlt sich an, als säße mir etwas auf der Brust und ich kann es nicht abschütteln, egal, was ich mache.«

»Das klingt wirklich beängstigend.«

Eine Weile saßen wir schweigend da.

»Ich bin einfach so unendlich müde. Ich verstehe das auch nicht. Ich versuche ja, alles richtig zu machen, perfekt zu sein. Alles zu sein für jeden Menschen.« Ich atmete ein. »Warum reicht das nicht, um mir Raum zu verschaffen? Was kann ich denn noch tun, damit das aufhört?« Pause. Dann fragte ich: »Wissen Sie, was das ist?«

»Nein«, sagte er. »Aber ich verstehe, warum Sie das unbedingt herausfinden wollen.«

»Ist es die Last meiner unrealistischen Erwartungen?«, fragte ich. »Mache ich mir selbst zu viel Druck? Beides hört sich für mich unsinnig an, aber Sie kennen mich ja doch recht gut.«

Er sah mich an. »Ja, ich glaube, dass Sie versuchen, irgendeinem heiligen Ideal gerecht zu werden. Aber ich glaube, das geht tiefer. So als würden Sie sich geliebt und wertgeschätzt fühlen, wenn Sie nur gut genug sind.«

Diese Bemerkung traf mich mitten ins Herz.

»Was sitzt denn da auf meiner Brust?«

»Das, was Ihnen sagt, dass Sie eben nicht gut genug sind.«

Nach unserer Sitzung blieb ich im Auto sitzen. Ich spürte, wie eine urtümliche Wut in mir aufstieg, etwas Rebellisches, Verärgertes. Ich wollte ja gut sein. Ich hatte immer versucht, gut zu sein. Ich habe mich dafür abgeschuftet. Ich habe mich pflichtgemäß um Familie, Freunde und Kollegen gekümmert. Ich bestrafte meinen Körper, damit er in eine bestimmte Kleidergröße passte. Ich legte meinem Temperament Zügel an. Was würde geschehen, wenn ich all das … einfach sein ließ? Ich kannte die Antwort nicht, aber an jenem Tag in meinem Auto beschloss ich, es herauszufinden. Ich pflanzte einen winzigen Samen, einen Forschungsauftrag, der zum Keim dieses Buches werden sollte: Seine Entfaltung kostete mich viel, aber sie gab mir mein Leben zurück.

*

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Offenbarung in der therapeutischen Praxis ausgereicht hätte, um den Bann zu brechen, meine Atmung zu normalisieren und mir Erleichterung zu verschaffen. Aber mir einzugestehen, dass ich mich von irgendetwas unter Druck gesetzt fühlte, ließ das Phantom keineswegs verschwinden, so als machte ich einfach das Licht an, wenn eines meiner Kinder einen seltsamen Schatten sieht. Aber herauszufinden, wie sehr dieses Gespenst auf mir lastete, gab meinen Nachforschungen eine Richtung: Woher kam dieses Biest? Wodurch hatte es diese Macht bekommen? Und warum unterwarf ich mich ihm freiwillig? Ich begann die Geschichte zu durchforsten, weil ich wissen wollte, wann Anerkanntwerden und Bravsein für Frauen erstmals eine untrennbare Verbindung eingegangen waren. Und ich kehrte in meine Kindheit zurück, um herauszufinden, wann man mich auf diese Prägung konditioniert hatte.

Ich habe immer schon gerne Fragen gestellt. Ich war ein neugieriges, frühreifes Kind, das mit seinen leidenschaftlichen Fragen vielleicht ein wenig lästig war: Warum? Warum? Warum? Zu meinem Glück machte meine Mutter die Bücherei zu meinem Babysitter. Ich steckte die Nase immer in irgendein Buch. Ich suchte nach Antworten in Romanen, Geschichtsbüchern und naturwissenschaftlichen Lehrbüchern – wo auch immer sie möglicherweise verborgen waren. Und auf unseren täglichen Fahrten in die Stadt (wir lebten in einem waldreichen Tal außerhalb von Missoula in Montana) hörten meine Eltern immer das Programm von National Public Radio. Ich hörte also schon früh guten Journalismus von Leuten, die ebenfalls Fragen stellten, um die Welt begreiflich zu machen. Heute weiß ich, dass ich versuchte, einer Gesellschaft, die sich für mich chaotisch anfühlte, mit Logik beizukommen: Ich spürte, dass es eine grundlegende Struktur gab, einen Verhaltenskodex, eine Art zu leben, wie sie sein sollte. Ich musste die Demarkationslinien dieser Landkarte erfassen – die Grenzen der Akzeptanz, Zugehörigkeit und Güte –, damit ich den rechten Weg finden konnte. Einen Weg, der mir Schutz, Erfolg und Überleben sicherte.

Als Erwachsene hatte ich Jobs, in denen ich schreiben und Texte bearbeiten konnte. Durchweg Positionen, in denen ich bezahlt wurde, um meine Interessen zu verfolgen, nachzuhaken, wie Systeme funktionierten und warum wir tun, was wir tun. Ich habe Hunderte kluger Köpfe und Menschen, die kulturell Einfluss nehmen, interviewt: Ärzte, Wissenschaftlerinnen, Theologen, Therapeuten, Aktivistinnen, Politiker, Historikerinnen, Heiler, Schauspielerinnen, Dichter und Journalistinnen. Ich habe sie befragt, was es heißt, Mensch zu sein. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mit dem Anwalt Bryan Stevenson gesprochen, der Menschen im Todestrakt vertritt. Er sagt, wir seien besser als das Schlimmste, was wir je getan hätten, und daher verdiene es niemand, zum Henker eines anderen Menschen bestimmt zu werden. Ich habe Zeit mit Laura Lynne Jackson verbracht, einem berühmten Medium mit der Gabe, sich mit den Toten zu verbinden, und diese Gabe deutet darauf hin, dass wir alle Teil eines großen energetischen Systems zu sein scheinen. Dass wir im Tod nicht verschwinden, sondern weiterleben, dass der Aufenthalt auf der Erde uns etwas lehren soll, damit wir wachsen und gedeihen können. Und ich habe mit der legendären Historikerin Mary Beard darüber gesprochen, wie Frauen im Laufe der Menschheitsgeschichte literarisch zum Schweigen verdammt wurden. Mit dem Arzt Gabor Maté darüber, wie traumatische Erfahrungen an die folgenden Generationen vererbt werden. Ich habe mit dem Leiter des US-Gesundheitssystems Vivek Murthy ein Gespräch über die grassierende Einsamkeit geführt. Und mit der Historikerin Isabel Wilkerson über unser unsichtbares, aber ausgedehntes rassistisches Kastensystem. Mit den Paartherapeuten John und Julie Gottman darüber, warum manche Paare unweigerlich auf eine Scheidung zusteuern und andere nicht. Und mit vielen anderen Schriftstellern, Philosophinnen, Künstlern und Akademikerinnen. Wenn jemand eine Einsicht ins menschliche Dasein zu bieten hat, sammele ich sie ein und füge sie meinem eigenen Netzwerk hinzu.

Während ich über diese Gespräche nachdachte, erkannte ich, dass letztlich alle dasselbe sagten: Wir Menschen mühen uns ab, um gesehen zu werden, um unser tiefinnerstes, zartestes Selbst zeigen zu können, um unsere Gaben zum Ausdruck zu bringen. Wir fragen uns: Wer bin ich? Was will und brauche ich? Wie finde ich meinen Lebenssinn? Unsere innigsten Wünsche sind: dazuzugehören, zu lieben und geliebt zu werden. Aber das Leben kommt uns dabei in die Quere. Das hat mit einschränkenden Umständen zu tun, die wir nicht unter Kontrolle haben, wie eine traumatische Kindheit, systemische Ungerechtigkeit oder Naturkatastrophen. Häufig aber sind die Hindernisse, die unseren vollständigen Selbstausdruck verhindern, nicht greifbar. Sie äußern sich in Selbstzweifeln, in einschränkenden Glaubenssätzen oder sozialen Konstrukten von Rollen und Verantwortlichkeiten: Welche unserer Wünsche sind angemessen? Diese Spinnweben binden uns oder ziehen an uns wie die Fäden von Marionetten. Das sind die Pfauenschleppen der kulturellen Prägung, ein Erbe, das an uns hängt wie eine Klette, während wir die Welt durchmessen.

Der visionäre Anthropologe Ashley Montagu war der Ansicht, wir Menschen hätten eine »erste Natur« und eine »zweite Natur«. Unsere erste Natur ist das, was wir sind, unsere Wurzeln, unsere Ganzheit: unsere einzigartige Genetik und unsere natürlichen Instinkte. Unsere zweite Natur ist nach Montagu das, was die Gesellschaft aus diesen biologischen Grundlagen macht und prägt, was wir von uns glauben. Montagu schreibt:

Die Verhaltensweisen, die uns als menschliche Wesen charakterisieren, werden bestimmt vom Sozialisierungsprozess, den wir durchlaufen, von der kulturellen Konditionierung, die uns prägt, den Gewohnheiten, durch die wir alle geschaffen werden. Der Haken dabei ist, dass wir die lernfähigsten Kreaturen auf dieser Erde sind … Alles, was wir als Menschen sind, wissen und tun, müssen wir von anderen Menschen lernen. Tatsächlich zeichnet diese Lernfähigkeit unsere Spezies aus. Daher heißt Mensch sein, gefährdet zu sein, denn wir können viele falsche und ungesunde Dinge lernen.1

Als ich dieses Zitat zum ersten Mal las, spürte ich einen Knoten im Magen. Ich hatte mein ganzes Leben damit zugebracht, diese »spezifische Lernfähigkeit« zu beweisen. Ich hatte zu verstehen versucht, wer ich war, mit der Hilfe all derer, die mir sagten, wer ich sein sollte – und wie ein Mädchen, das dazugehören wollte, sich zu verhalten hatte.

Aber während der letzten zehn Jahre, in denen ich diese Gespräche mit all den Vordenkern unserer Kultur führte, hatte ich ein unbewusstes Ziel: Ich wollte, dass diese Denkerinnen, Heiler und Anführerinnen mir halfen, die Erziehung, die ich durchlaufen hatte, wieder aufzuheben. Ich wollte wissen, wie ich sie durch etwas Wahrhaftigeres ersetzen konnte. Viele dieser Gespräche waren hilfreich. Aber sie zeigten mir auch, dass wir alle in diesem Spinnennetz feststecken. Jeder Einzelne von uns ist konditioniert und in einem System gefangen, das wir nicht sehen können, dessen Wirkung uns aber die Luft zum Atmen nimmt. Wir sind so sehr daran gewöhnt, innerhalb dieser Strukturen zu funktionieren, dass wir erst merken, wie eng unsere Fesseln sitzen, wenn wir versuchen, uns daraus zu lösen. Mein Forschungsvorhaben war es, diese Fäden und ihre Stärke zu begreifen, ihrer Dimension und Komplexität nachzuspüren. Während ich das tat, wurde mir klar, dass nicht alles verloren ist: Sobald man das Netz und seinen perversen Charakter spürt, kann man beginnen, die Fäden, einen nach dem anderen, zu durchtrennen und all die falschen Vorstellungen über sich selbst einfach davonfliegen zu lassen.

In diesem Buch geht es um all die »falschen und ungesunden Dinge«, die man uns beigebracht hat, die wir als Überzeugung verinnerlicht, in unsere sozialen Strukturen eingebaut und an künftige Generationen weitergegeben haben, sodass wir unsere unbewusste Unterdrückung selbst fortgeschrieben haben. Ganz besonders interessiert mich, wie dieses Erbe sich im Leben der Frauen zeigt und wieso unsere Unterwerfung jahrtausendelang als normal und natürlich galt. Wie sagt Montagu doch: »Unsere Biologie schreibt nicht fest, dass ein Geschlecht über das andere herrschen soll. Diese Dinge werden von der Tradition, der Kultur bestimmt.« Nun, unsere Tradition und Kultur hat bestimmt, dass Frauen in jeder Hinsicht unterlegen sind: körperlich, spirituell und moralisch. Dieser soziale Mythos ist der Grund, warum wir verzweifelt versuchen, unser grundlegendes Gutsein und unsere Würde zu beweisen.

Sich dem Diktat des Spinnennetzes zu unterwerfen und unsere Instinkte zu unterdrücken ist erlerntes Verhalten und als solches vergleichsweise jung. Die Entwertung des Weiblichen geht einher mit dem Aufkommen des Monotheismus, mit seiner Dämonisierung der Großen Göttin und einer mütterlichen, naturverbundenen Weltsicht und natürlich mit dem Aufstieg des Christentums. Das System der Gott-Vater-Religion setzt eine Ewigkeit voraus, die über unser sterbliches Leben hinausreicht. Es bestimmt, wer würdig ist, eines Tages ins Himmelreich aufzusteigen, und wer nicht. Frauen – weil sie die Männer zum Sündenfall angestiftet haben – stehen in einer massiven Bringschuld: Wir müssen unsere Tugend, unsere moralische Vollkommenheit erst beweisen. Aber das ist unmöglich, denn die virtus – lateinisch für Tugend – stammt etymologisch vom Wort für Mann – vir – ab.

Wir alle kennen die Geschichte von der neugierigen Eva und dem Apfel, der Schlange und dem Baum der Erkenntnis. Viele von uns können die Zehn Gebote herunterbeten und einige der restlichen über 600 Vorschriften (Mitzwas) im Alten Testament. Aber es gibt noch subtilere Gebote, die sich in unserer Kultur fest verwurzelt haben und unser Leben bis heute bestimmen. Wenn es um Mythen geht, die Frauen davon abhalten, ihr wahres Sein zu leben, dann gibt es keine bessere Vorlage als jene Laster, die geradewegs in die Unmoral führen: die sieben Todsünden. Das Bestreben, diese nicht zu begehen, beschneidet das Leben von uns Frauen und hindert uns daran, unser Potenzial je ganz auszuleben. Diese Sünden prägen noch heute unsere Gesellschaft und unsere Vorstellungen vom Selbst. Sie sind die stärksten Fäden des klebrigen Netzes.

»Im Ernst?«, fragen Sie jetzt vermutlich. »Aber ich bin gar nicht religiös. Ich glaube nicht an den ganzen Unsinn.« Selbst wenn Sie sich als Atheistin, Agnostikerin oder Gegnerin jeder organisierten Religion verstehen, sind Sie von den moralischen Codes der sieben Todsünden beeinflusst. Sie spielen nämlich nicht nur in einem kirchlichen Umfeld eine Rolle, sie durchziehen unsere gesamte Kultur. Dabei stehen die sieben Todsünden noch nicht mal in der Bibel. Sie wurden im 4. Jahrhundert von einem der Wüstenväter als »acht Gedanken« postuliert, einige Jahrzehnte nach der schriftlichen Niederlegung des Neuen Testaments. Zu den acht Gedanken zählte auch Traurigkeit, die jedoch ein paar Jahrhunderte später von der Liste gestrichen wurde. Übrig blieben die sieben Todsünden, die wir heute kennen: Stolz, Faulheit, Habgier, Neid, Zorn, Völlerei und Lust. Die Kirche investierte einige Mühe, um daraus einen Leitfaden für die Beichte zu etablieren. Die Sünden wurden zur Lochkarte für Übertretungen, die Buße erforderten: Jeder, der sich ihnen überließ, musste sie sühnen.

Die Eigenschaften der Kultur

Während manche Menschen das Wort Gottes und seine Gebote sehr wörtlich nehmen, gibt es heute doch auch viele, für die Religion weniger mit Dogmen und mehr mit kollektiven Werten zu tun hat. Doch ob nun religiös oder nicht: Diese Grundvorstellungen über das »Gutsein« existieren überall, ganz egal, um welchen Glauben es sich handelt. Dieser Verhaltenskodex wurde mir eingetrichtert, obwohl ich in einer Welt aufwuchs, die weitgehend frei von Religion war. Ich musste keinen Pfarrer predigen hören, um mich zu fragen, ob ich gut und liebenswert war. Als Kind tastete ich im Dunkeln nach den Grenzen des akzeptablen Verhaltens: Ist dies in Ordnung? Und das? Wie soll ich mich benehmen? Wie sollte ich aussehen? Was sollte ich mir wünschen? Wir können Religion und Glauben ablehnen, aber deren Traditionen, diese Gebote von »gut« und »böse« sind tief ins Gewebe unserer Gesellschaft eingewoben. Und sie brauchen nicht unsere Zustimmung, um uns am Gängelband zu halten. Sie beeinflussen uns unbewusst.

Schließlich ist Kultur ansteckend. Wie ein Virus geben wir sie an andere weiter. Sie durchdringt wirklich alles. Niemand kann sich je ganz selbst erfinden. Kulturelle Normen werden uns eingetrichtert und bei nahezu jeder Begegnung auf uns übertragen. »Natur« und »Kultur« werden vermengt und heiß diskutiert – doch die Frage, ob Kultur das Verhalten bestimmt oder das Verhalten die Kultur, wird sich nie entscheiden lassen. Was allerdings klar auf der Hand liegt, ist die Tatsache, dass viele Menschen sich deswegen verbiegen müssen wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Was bin ich, und was ist das Ich, das ich glaube, sein zu müssen?

Jahrtausendelang war Kultur nämlich gleich Religion. Man hat uns darauf programmiert, dass wir Buße tun sollten für unsere grundlegenden menschlichen Neigungen, um uns des Himmels als würdig zu erweisen. Die sieben Todsünden wurden quasi zum Handbuch, wie man nicht zu sein hatte. Das konnte man sich leicht merken, und es gab ja auch unzählige eindringliche Darstellungen in Wort und Bild. Außerdem begegnen sie uns immer wieder im Alltag: Zu leben heißt, Todsünden zu begehen. Sie wurden der perfekte Mechanismus, mit dessen Hilfe die Kirche Macht und Kontrolle aufrechterhalten und die Gläubigen dazu zwingen konnte, ständig Buße zu tun und auf den Knien herumzurutschen.

Während die Zehn Gebote des Alten Testaments recht konkrete Vorgaben machen, sind die sieben Todsünden wenig greifbar und offen für Interpretationen. Möglicherweise haben sie sich deshalb so lange gehalten. Dabei geht es nicht um objektive, fassbare Fehlhandlungen. (Du hast gestohlen, getötet oder betrogen.) Sie beschreiben vielmehr Charaktereigenschaften, und das ist ein feiner, aber entscheidender Unterschied. (Du bist nuttig, gierig, faul!) Und weil sie so subjektiv sind, eignen sie sich ganz besonders zum Einpeitschen. Es ist unmöglich, den Moment einer Verfehlung genau auszumachen. Wie groß muss die Portion auf dem Teller oder im Magen sein, dass die Alarmglocke der Völlerei schrillt? Und ab wann wandelt sich die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zur Gier?

Das Verderben liegt doch im Auge des Betrachters, der jeweiligen Autoritäten und der Gesellschaft. Da diese Werte subjektiv und willkürlich sind, ist ein Urteil schnell gefällt. Es ist so leicht, jemanden anzuklagen.2 Nebenwirkung: Das Gutsein – die Tugend, die Zugehörigkeit – geht verloren. Denn es muss von einer »äußeren« Autorität festgestellt werden. »Sündhaft zu sein« ist ein Konzept, das die Selbstbestimmung unterminiert. Vor einigen Jahrhunderten waren es die Priester, die zwischen den Betenden und Gott vermittelten. In unserer weltlichen Kultur wenden wir uns an Eltern, Kritiker, Partnerinnen, Chefs, ja sogar an Fremde auf Instagram. Es ist leicht, uns zu beschämen. Wir versuchen eifrig, unseren Wert zu beweisen, und suchen Bestätigung von irgendwo außerhalb unser selbst. Und diese Neigung zeigt sich oft im Schatten der sieben Todsünden, die ein Instrument von beeindruckender Wirksamkeit waren, um über die Jahrtausende hinweg erwünschtes Verhalten sicherzustellen. Sie haben ihre Spuren überall hinterlassen, vor allem im Leben der Frauen: Wir wurden aufs Bravsein quasi trainiert, Männer hingegen auf Macht. Das hört sich vielleicht erst mal besser an – schließlich ist Macht etwas, das man uns Frauen neuerdings zu erlangen empfiehlt, damit wir es mit unserer Weiblichkeit reinigen –, aber die schädlichen Folgen dieser Zuschreibungen lassen sich allenthalben ablesen. Auch Männer geraten unter die Räder des Patriarchats. Es vergiftet jeden. Ich glaube jedenfalls – und hoffe, das zu belegen –, dass Traurigkeit und ihre logische Konsequenz, die Schwäche, eine Heimsuchung für uns alle ist. Sie wurde zwar offiziell von der Liste der sieben Todsünden gestrichen, doch müssen wir auch sie untersuchen.

Die tragischen Folgen

Wenn wir uns zu viele Grenzen setzen, tragen wir eine Mitschuld daran, dass wir uns ein erfülltes Leben verwehren. Wir zwingen uns, ein enges Leben zu führen. Wir haben Angst, eine Linie zu überschreiten, die wir nicht sehen können. Damit nur ja keiner denkt, wir wollten zu viel oder seien zu viel. Wir setzen »Selbstkontrolle« gleich mit Selbstwert.

Und mit all den Sorgen darüber, was wir nicht sein wollen, mit der Unterdrückung unserer Instinkte aus Angst oder Scham, mit all den Versuchen, »gut« zu sein, vergessen wir, wer wir sind: Denn wir sind alle etwas Besonderes, alle »göttlich« auf unsere jeweils eigene Weise. Wir leben im Unbewussten, und dadurch verlieren wir – paradoxerweise – unsere Natürlichkeit. Wir sind so beschäftigt mit dem, was wir tun oder nicht tun sollten, dass wir vergessen haben zu sein. Wir sind so fixiert auf »äußere« Autoritäten, dass wir die Wunder in uns übersehen, all die Momente, die unsere Verbindung zu etwas Größerem in uns aufzeigen. Wir geben unsere Macht aus der Hand und nehmen die Erschöpfung hin, den Groll, die Verzweiflung und die fehlende Verbundenheit. Wir verweigern uns die Freude, unser rechtmäßiges Erbe. Dabei braucht uns die Welt, so wie wir sind.

Das Traurigste daran ist, dass wir, da wir die sieben Todsünden – bewusst oder unbewusst – akzeptiert haben, gelernt haben, unsere wahre Natur (unsere erste Natur, die Essenz dessen, was wir sind) von unserem Handeln in der Welt zu trennen. Wir durchschneiden das Band zu den tiefsten Bereichen unserer Seele, zum Pulsschlag des Lebens, der uns ein wahrhaftigeres Bild vom Guten liefert. Wir koppeln uns ab von unserer Intuition, von jenem inneren Wissen, das viele Menschen als Verbindung zum Göttlichen betrachten. Man hat uns eingeredet, dass etwas so Ursprüngliches wie die Beziehung zu einer universellen Kraft – Gott, Natur, wahres Selbst, wie auch immer man das benennen möchte – durch die Linse eines Mittlers gesehen werden muss. Und so wenden wir uns an diese um Bestätigung, statt auf uns selbst zu vertrauen.

An unsere Souveränität zu glauben ist der entscheidende Punkt. Selbst jene Menschen, die nicht an ein größeres spirituelles oder religiöses Konstrukt glauben, gehen davon aus, dass die Umsetzung unserer speziellen Gaben – seinen individuellen und wahren Lebenszweck zu finden und auszudrücken – der eigentliche Sinn des Lebens ist. Aber der gerät außer Sichtweite, wenn wir unsere mentalen, emotionalen und spirituellen Energien darauf verwenden, uns zu verbiegen und uns für jene Qualitäten zu bestrafen, die uns zu Menschen machen. Statt unseren Instinkten zu folgen, haben wir gelernt, sie zu verleugnen. Das hält uns davon ab, uns wertzuschätzen (Stolz), uns Vergnügen zu erlauben (Lust), uns zu ernähren und abzusichern (Völlerei, Habgier), unsere Emotionen und Bedürfnisse zu zeigen (Zorn), uns zu entspannen (Faulheit) und überhaupt irgendetwas für uns zu wünschen (Neid). Diese Verweigerung macht es unmöglich, unseren inneren Reichtum zu feiern und unsere persönlichen Leistungen. Und für all jene, die glauben, dass da noch mehr ist (Himmel, Leben nach dem Tod, Reinkarnation, das Jenseits) und dass wir uns dessen würdig erweisen müssen: Dieses Bemühen verhindert die Erkenntnis, dass all das vielleicht schon da ist, hier, an diesem, unserem Ort. Wir müssen den Durchgang durch das Himmelstor nicht mit Askese bezahlen, weil wir ja längst da sind. Aber wir bemühen uns so sehr, die Gebote einzuhalten, dass wir das nicht einmal bemerken.

Der Lohn des Gleichgewichts

Viele Religionsgelehrte glauben, Sünde sei die Trennung von Gott. Den Begriff Sünde im Hebräischen (chatt’ah) und Griechischen (hamartia) könnte man wörtlich übersetzen mit »das Ziel verfehlen«. Eine tolle Idee, wenn sie sich auf Integrität, Ganzheitlichkeit oder das volle Potenzial des Menschseins bezieht. Wenn wir »das Ziel« im Einklang sehen mit uns selbst und – theoretisch – dem Göttlichen. Wenn Sünden als innerer Kompass gelten können, dann sollten wir selbst seine Eckpunkte bestimmen, niemand sonst. Folgen wir der Nadel, dann ist das Ziel eben nicht, uns durch übermäßigen Genuss zu betäuben oder uns von unserem Begehren zu lösen. Der Pfad zur Verbundenheit ist das Gleichgewicht, die Mitte: sich der eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu sein, sie anzuerkennen, zu regulieren und ihnen gerecht zu werden, während wir gleichzeitig die Wünsche und Bedürfnisse anderer achten. Wenn wir im Einklang mit uns selbst sind, findet auch die Welt ins Gleichgewicht. Das ist das Gefühl, nach dem ich mich sehne, die Freiheit, die ich für mich schaffen möchte.

Der Naturforscher E.O. Wilson sagte über das Problem des Menschseins: »Wir haben steinzeitliche Emotionen, mittelalterliche Institutionen und gottähnliche Technik.« Das erinnert mich daran, was Carissa Schumacher, eine meiner spirituellen Lehrerinnen, meint: »Wir hatten zu viel Fortschritt ohne Entwicklung.« Beide sind der Ansicht, dass wir eine Welt geschaffen haben, die sich mit einer Geschwindigkeit ändert, mit der wir nicht mithalten können. Wir versuchen, eine neue Epoche des Friedens und der Gerechtigkeit zu schaffen, uns von überalterten Materialien, Methoden und Energien zu befreien. Aber wir kommen nicht ans Ziel, wenn wir weiter auf die immer gleichen Ideen setzen. Wir müssen erkennen, wie alte Geschichten und überholte Wissenschaft uns Grenzen setzen. Wir müssen die Augen öffnen für die Angst und die Scham, die in unserem Unbewussten und unserem Körper gespeichert sind und uns im Würgegriff halten.

Das Leben ist hart, voller Schmerz, Tod und Verfall. Aber es ist eben auch wunderschön, magisch, sinnvoll und erfrischend. Es steckt voller Wunder und transzendenter Freude. Wir vergessen leider allzu oft, dass unser Ziel das Gleichgewicht ist – Erfüllung und Mäßigung, Essen und Ausscheiden, »licht« und »dunkel«, »gut« und »schlecht«, männlich und weiblich. Viele dieser Dichotomien sind falsch. Vollkommenes Gutsein als absoluter Zustand ist nicht erreichbar. Wenn wir leben, richten wir auch Schaden an. Wir müssen schließlich Pflanzen und Tiere töten, um uns am Leben zu halten. Wir sind keineswegs Spielfiguren in der großen Schlacht zwischen Dunkelheit und Licht. Wir sind Menschen, eine Brücke zwischen Materie und Geist. Wir können die Mitte finden und auf Kurs bleiben. Wir sitzen auf einer Wippe, über die wir die Kontrolle zu verlieren drohen. Wenn nicht jeder von uns in sein Gleichgewicht findet, werden wir Schwierigkeiten haben zu überleben.

 

Ich habe dieses Buch mitten in einer Pandemie geschrieben, in der es zur Abrechnung mit dem Rassismus kam. Das Klima ist instabil, und ein Krieg ist ausgebrochen. Die Welt da draußen ist beängstigend. Wir leben in ebenso hoffnungsvollen wie eigenartigen Zeiten. Die jüngsten Jahre der Zerrüttung haben meiner Ansicht nach das Chaos gebracht, das wir für den benötigten Wandel brauchen: Wir wurden wachgerüttelt, aufgeschreckt aus unserer Selbstgefälligkeit, und sahen, was wir nicht sehen wollten: das, was unter der Oberfläche brodelt. Nur wenn wir diese alten Wunden heilen, können wir den Teufelskreis durchbrechen und die Welt in Ordnung bringen. Wir müssen hinter die Symptome blicken und die kranke Wurzel betrachten. Und während wir immer noch mit krassen Ungerechtigkeiten, Ungleichheit und einer immer instabileren, überlasteten und zornigen Erde zu tun haben, scheint es doch, dass immer mehr Menschen endlich begreifen, dass es Zeit ist, nach vorn zu schauen und uns für eine Zukunft im Gleichgewicht einzusetzen. Hoffentlich fallen die Hürden bald, die uns am echten Fortschritt hindern.

Falls wir uns selbst überwinden können …

Ich habe erst kürzlich Loretta Ross interviewt, die sich ihr Leben lang für die Menschenrechte Benachteiligter einsetzt und gegen Machtmissbrauch kämpft. Wenn sie über politisches Engagement spricht, fragt sie ihre Studierenden: »Seid ihr geprägt? Oder selbstbestimmt?« Ich verstehe, was sie meint. Es ist an der Zeit, dass wir selbstbestimmt leben, uns aus der Falle des Bravseins befreien und diese Muster ablegen, damit wir Neues schaffen können. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, ständig weiter »falsche und ungesunde Dinge« zu tun und zu glauben. Stattdessen sollten wir den Weg der inneren Wahrheit gehen.

Wir müssen begreifen, wie das Erbe des »Guten« – als Reinheit und Entsagung definiert – uns einschränkt und quält. Wenn wir nicht lernen, uns und einander gnädig zu sein, werden wir die toxischen Mauern der Gesellschaft nie einreißen und an ihrer Stelle etwas Besseres aufbauen können. Weise Therapeuten sagen häufig, dass wir nicht heilen können, was wir nicht fühlen. Ich bin der Ansicht, dass man sich nicht für Dinge engagieren kann, die man nicht sieht. Meine Hoffnung ist es, dass dieses Buch ein System von perfiden Überzeugungen sichtbar macht, die unser Leben für viel zu lange Zeit beeinträchtigt haben. Doch sobald sie offen vor uns liegen, können wir diese schädlichen Fiktionen aus unserem Geist verbannen.

1Faulheit

Wenn wir glauben, dass Faulheit Sünde ist, verweigern wir uns dem Ausruhen.

Arbeitssucht

Den Großteil der Pandemie saß ich in einer Ecke meines Schlafzimmers, in einem provisorischen Homeoffice, das in vorpandemischen Zeiten nur ein Tisch war, auf dem mein Mann und ich unsere Bücher und Rechnungen ablegten. Heute ist das meine Einquadratmeter-Frauenhöhle/Büro. Es ist Labor Day, Tag der Arbeit, und ich sitze hier und arbeite. Mir ist durchaus bewusst, dass das paradox ist. Klickklack. Ich sollte mir vielleicht ein paar freie Stunden genehmigen, um mich mit der Geschichte dieses Tages zu beschäftigen, nachzulesen, wie er zum Feiertag wurde, nachdem die Arbeiterklasse sich aufgelehnt hatte gegen miese Arbeitsbedingungen, Unterdrückung und Löhne, von denen man nicht leben konnte. Ich schäme mich fast dafür, dass ich mich heute Morgen darüber beschwert habe, dass ich arbeiten muss. Ganz ehrlich, wenn es hieß: Arbeit oder Vergnügen, hatte die Arbeit bei mir immer Vorrang.

Meine Kinder sind bei den fast 40 Grad Celsius nicht draußen, und mein Mann Rob ersetzt die Zeit in der freien Natur, indem sie auf der Couch herumlümmeln und Unser blauer Planet gucken. Gestern hatten wir uns nach der sechsten Runde Zombies 2 verschwörerische Blicke zugeworfen, und wir waren uns einig, dass für heute etwas anderes dran war, auch wenn wir nur vom Disney Channel zu Nat Geo umschalteten. Das war zumindest der Plan. Wenn ich ehrlich bin, spielt mein Sohn Max vermutlich gerade Grand Theft Auto (Er ist acht), sein jüngerer Bruder Sam inhaliert Ryans Mystery Playdate auf dem iPad, und Rob sieht sich einen Film an. Aber ich will es gar nicht wissen, weil diese Mischung aus elterlicher Arbeitswut und Faulheit meine Kinder im Stich lässt. Ich sollte die Arbeit Arbeit sein lassen und sie irgendwohin mitnehmen, egal wohin. Aber Termine sind nun mal Termine. Und mein Ehemann hat mit seinem Hosenboden Furchen ins Sofa gegraben, seine Drinks haben den Beistelltisch mit Ringen überzogen. Er kann sich wunderbar entspannen. Ich klickklacke weiter.

Ich kann mich nicht von meinem Schreibtisch losreißen, von meinem blinkenden Cursor, von den Bücherreihen, in denen sich möglicherweise das perfekte Beispiel findet. Ich werde von einer dauerhaften Angst angetrieben: Wenn ich nicht genug tue, kann ich nicht genug sein. Anstrengung ist mein bester Selbstschutz, meine Bewältigungsstrategie. Arbeit lenkt mich von meiner Angst ab. In meiner Weltanschauung heißt »es schaffen«, dass ich verschiedene Felsen bergauf wälze wie ein multitaskender Sisyphus. Das heißt nicht, dass ich weiß, wohin ich sie rolle, sondern nur, dass sie mich überrollen, wenn ich mich nicht ins Zeug lege. Ich arbeite ständig und setze mich kaum einmal einfach nur hin. Ich glaube nicht, dass ich in den letzten zehn Jahren von einem Film je mehr als 20 Minuten am Stück mit voller Aufmerksamkeit gesehen habe.

Und damit bin ich keineswegs allein. Ich bin privilegiert, habe es also besser als die meisten Menschen: Benachteiligte Menschen leiden unter ganz anderen Belastungen.4 Doch eine jüngere Studie belegt, dass Frauen aus allen Schichten von einem höheren Stressniveau berichten als Männer, und diese Kluft wird immer größer. Natürlich leben wir in einer Burn-out-Nation, aber mir scheint, dass Frauen unter einer ganz anderen Form der Überarbeitung leiden, dass sie von einem unsichtbaren Taser vorwärtsgetrieben werden. Ich weiß, dass ich als weiße Frau den Schalthebeln der Macht näher bin, aber auch ich fühle mich getrieben, meinen Wert geradezu zwanghaft unter Beweis zu stellen. Und diese Tendenz sehe ich auch bei anderen Frauen, vor allem bei anderen Müttern. Wir sind eine Gruppe von Synchronschwimmerinnen. Unsere Füße rackern sich ab unter der Wasseroberfläche, auch wenn wir die Arme in die Höhe recken und mit zusammengebissenen Zähnen ein unverrückbares Lächeln zeigen. Meine zwei Jungs haben diesen Druck nicht. Mein Bruder Ben auch nicht. Und mein Mann schon gar nicht.

Ich habe schon als Kind gelernt, wie ich immer weiter »schaffen« kann. Ich wuchs weit ab von allem Kabelfernsehen auf, an einem von Lehmfurchen durchzogenen Feldweg, den man den ganzen Winter über planieren musste. Wir hatten nur ein paar Fernsehkanäle, kein Beverly Hills, 90210, kein MTV. Meine Eltern parkten den Fernseher in einer kalten und dunklen Ecke des Kellers, neben allerhand Turngeräten. Wir sollten unsere Zeit einfach produktiver nutzen.

Ich wuchs auf in der Ära köstlicher Vernachlässigung, was hieß, dass man mich aus dem Haus scheuchte mit den Worten, ich solle heimkommen, wenn mit der Glocke zum Abendessen geläutet wurde – was tatsächlich so geschah. Meine Mutter glaubte nicht an Langeweile. Allein nur das Wort in den Mund zu nehmen, frustrierte sie. »Das Leben ist langweilig!«, bellte sie. »Ich bin doch nicht dafür da, um dich zu unterhalten! Geh raus! Such dir ein Buch!« Und das haben mein Bruder und ich dann auch getan. Das war zu jener Zeit vielleicht nicht gerade populär, aber meiner Mutter war vielleicht bewusst, dass Langeweile der Ursprung von Kreativität ist.

Wir hatten das Privileg, in den Wäldern groß zu werden. Keine Playdates, kein Herumhängen in der Innenstadt oder im Park. Wir mussten schon selbst für unsere Unterhaltung sorgen. Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter einmal mit mir gemalt hat und ich diese Gemeinsamkeit genoss. Meistens beschäftigte sich jede für sich. Sie arbeitete – Rechnungen bezahlen, putzen, den Garten bestellen, das Abendessen machen, organisieren. Sie war immer in Bewegung. In ihrer Nähe zu sein hieß, dass man in der Küche saß und mit ihr plauderte, während sie das Gemüse klein schnitt. Wenn sie an dem Tisch in ihrem Schlafzimmer arbeitete, suchte ich mir die Sonnenflecken auf dem Teppich und rollte mich zusammen wie eine Katze, während ich ihr zusah. Wenn sie freie Zeit hatte, las sie Bücher oder die feministische Zeitschrift Ms. Diese studierte sie, aufrecht am Esstisch sitzend, mit einem Glas Wein in der Hand.

Meine Mutter wusste nicht, wie Spielen geht, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich zu entspannen oder das auch nur mal auszuprobieren. Sie hatte immer irgendetwas in der Hand. Ihre Therapie war – wie für so viele von uns – eine endlose To-do-Liste. Diese bestimmte, was sie wann tat, und verhinderte in gewisser Weise, dass sich sonst vielleicht etwas unter der Oberfläche zusammengebraut hätte. Wenn du nie zur Ruhe kommst, musst du eben auch nicht fühlen.

Mein Vater kam um 17 oder 18 Uhr nach Hause, nach einem Tag in seiner Arztpraxis oder im Krankenhaus. Wir aßen dann alle zusammen, redeten über Papas Patienten und über alles, was sich im Krankenhaus abspielte. Eine klinische Entblößung des Körpers und seiner Funktionen während des Abendessens.

Und dann teilten wir uns auf. Mein Vater sah mit mir und meinem Bruder im Keller Schwarz-Weiß-Filme. Wir arbeiteten dabei Punkt um Punkt eine Liste aus dem Time Magazine ab. Meine Mutter zog sich zu Geschirr und Radio zurück. Ich hatte als Kind ständig ein schlechtes Gewissen, dass sie hinter uns aufräumen musste, aber sie wollte gar keine Hilfe. Und heute genieße ich eine ähnlich zwanghafte Befriedigung, wenn ich die Küche sauber mache, jede Oberfläche putze und mit Pfannen und Seifenblasen allein bin. Alles an seinen richtigen Platz zu räumen ist eine eigene Art der Meditation. Wenn sie in der Küche fertig war, schloss sich meine Mutter uns an. Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl und überlegte, was alles noch erledigt werden musste. Wenn ich zu ihren Füßen saß, spielte sie mit meinem Haar.

Meine Mutter ist das älteste von sieben Kindern. Sie wuchs in einer armen katholischen Familie in Iowa auf. Ihr Vater war Subunternehmer am Bau, ihre Mutter rührte, jedenfalls soweit meine Mutter sich erinnerte, keinen Finger: »Sie war sehr faul«, erklärte meine Mutter. »Ich wollte absolut nicht so sein wie sie.« Sie war auch böse und grausam zu meiner Mutter und ihren Schwestern. So wie ich sie in Erinnerung habe, war sie eher eine Halbwüchsige, die im Körper einer alten Frau gefangen war. Sie trug Sweatshirts mit Disneyfiguren und schlief mit Lockenwicklern im dünner werdenden Haar. Meine Großmutter sammelte Puppen (mit denen wir traurigerweise nicht spielen durften), rauchte Kette und kippte literweise lauwarmen Instantkaffee in sich hinein. Und sie ging zum Bingo mit bunten Markern in der Tasche. Sie liebte es, die »Wesche« zu machen, allerdings sah ich sie nicht einmal kochen. Als ich sie kennenlernte, war sie scheinbar altersmilde geworden, aber der lange Schatten ihrer emotionalen Abwesenheit hatte sich über meine gesamte Großfamilie gelegt. Sie hatte einen roten Faden der Vernachlässigung gesponnen, für meine Mutter und all ihre Geschwister: keine regelmäßigen Mahlzeiten, viel innere Kälte und eine seelische Leere, die keiner so recht erklären kann.

Die Folgen für mich und meinen Bruder waren: Wir wurden von einer Frau bemuttert, die ihrerseits nie bemuttert worden war. Sie hatte dafür kein Handbuch, ja, sie wusste nicht einmal, wie eine Kindheit aussehen sollte. Sie lernte es in der Praxis, während gleichzeitig ewig der Groll an ihr nagte, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, das für sie zu tun. Sie vermittelte uns alles, was uns ihrer Ansicht nach in der Welt einmal nützlich sein würde: vor allem, Engagement zu zeigen für seine Arbeit, für gute Noten, und das zusammen mit einer tief verwurzelten Abneigung gegen Faulheit. Wenn wir nie nachließen, würden wir nie auf der Strecke bleiben. Wenn wir mitspielten – und wichtige Jobs hatten –, dann durften wir uns freuen, weil wir dazugehörten und sicher waren. Zu diesem Zweck durften wir mit unserem Leben anfangen, was wir wollten – solange wir nur etwas taten –, und zwar mit beharrlicher Ausdauer. Wenn wir damit aufhören würden, so befürchtete sie vermutlich, würden wir uns an den Müßiggang gewöhnen und faul werden.

Die Arbeit meiner Mutter, die Erholung meines Vaters

Mein Vater trug keineswegs die Hälfte der Verantwortung für die Kindererziehung. Er war der lustige Elternteil, die Schokomousse zum Brokkoli meiner Mutter. Trotzdem wusste er seine Worte zu wählen. Ich erinnere mich noch gut, wie er eines Sommernachmittags früher nach Hause kam und mich und meinen Bruder im Keller beim Fernsehen erwischte. »Ich bin so enttäuscht, dass ihr nicht draußen seid in der Natur«, sagte er, und sein Ton war unmissverständlich. Seine Urteile hatten die Schärfe von Peitschenhieben. Während die Sorge meiner Mutter grenzenlos und allumfassend war, vertrat mein Vater die mittlerweile überholte Vorstellung, dass Scheitern sich am besten durch Kritik verhindern lässt und gute Leistungen nur erbringt, wer dazu ermahnt wird. Kristin Neff, Professorin für Psychologie an der University of Texas, forscht zum Thema »Selbstmitgefühl«. Ihrer Ansicht nach passen die Ideen meines Vaters zu einer weitverbreiteten Weltanschauung: dass es der Faulheit Tür und Tor öffnet, wenn wir nett zu uns selbst sind, dass wir träge oder zügellos werden, wenn wir uns nicht ständig mit Hass und Verurteilung antreiben.

Kurzum: Mein Vater wollte seine Anstrengungen durch unsere eigenen gerechtfertigt sehen. Aus seiner Sicht war seine wichtigste Aufgabe die Versorgung der Familie, und diese beschränkte sich auf die Zeit in der Praxis und auf der Intensivstation im Krankenhaus. Außer dem Bereitschaftsdienst am Wochenende, um den ihn wirklich niemand beneidete, brachte er nichts mit nach Hause. Unser Heim war seine Atempause – seine Patienten waren ihm wichtig, aber er zog da beneidenswert klare Grenzen. Die Zeit, in der er sich nicht um Patientinnen kümmerte, gehörte ausschließlich ihm allein zur Erholung. Sein beruflicher Einsatz brachte ihm seiner Ansicht nach ein gut geführtes Heim und Kinder, die die Opfer zu schätzen wussten, die man ihretwegen auf sich nahm. Es war unser »Job«, ihm für seine Investition eine ordentliche Rendite zu verschaffen, indem wir unsere Zeit nicht verschwendeten, gute Leistungen brachten und ihm dankbar waren. Während mein Bruder und ich beide fleißig lernen und gute schulische Leistungen erzielen mussten, verlangte er nur von mir, dass ich mich emotional auf ihn einstellte, dass ich mich um ihn kümmerte. Für mich, nicht aber für meinen Bruder, sollten andere Menschen immer an erster Stelle stehen.5

Und in meiner Familie kam mein Vater immer an erster Stelle. Wir waren die Last meiner Mutter. Sie weckte uns um 5.30 Uhr morgens und packte uns ins Auto, damit sie vor der Schule noch Tennis spielen konnte. Auf dem Weg nach Hause von der Praxis meines Vaters oder vom Schwimmtraining parkte sie uns im Auto, während sie die Einkäufe erledigte. Wir wurden Zeugen, wie die unsichtbare Arbeit des Lebens immer ihr zufiel, die undankbare und nicht anerkannte Aufgabe, unsere unterschiedlichen Bedürfnisse zusammenzuflechten. Sie organisierte die Praxis meines Vaters, saß im Arbeitskreis von Planned Parenthood (geplante Elternschaft) sowie in der Schulaufsicht, arbeitete in der Verwaltung der alternativen Hippieschule mit, die wir besuchten, und daneben kochte, putzte, plante und buchte sie für uns Reisen und Ausflüge. Das war ganz schön viel, aber sie erledigte das ebenso eifrig wie kompetent und stand um vier Uhr morgens auf. Heute weiß ich, dass ihr das lag. Sich in die Arbeit zu stürzen zeigte, dass ihre Zeit auch außerhalb der Mutterschaft wertvoll war, denn für den Titel »Mutter« hatte sie nie besonders viel Achtung übrig – was auf unsere ganze Kultur zutrifft. Meine Mutter hätte »jemand werden« können. Vielleicht erinnerte sie unsere Präsenz daran, dass sie kein »jemand« war: Sie war nur ein weiteres unsichtbares Rädchen im Getriebe der Erziehung nachfolgender Generationen.

 

Als mein Bruder und ich Anfang zwanzig waren, fuhren meine Eltern mit uns nach Zihuatanejo in die Ferien. Sie mieteten ein zauberhaftes kleines Häuschen auf einer Klippe und standen dann gemeinsam mit Ben jeden Tag lange vor Morgengrauen auf, um mit der Hilfe örtlicher Vogelführer die Liste aller Vogelarten zu vervollständigen, die sie im Leben je gesehen hatten. Während sie mit Fernglas durch den Dschungel pirschten, schlief ich bis acht Uhr morgens und schnappte mir dann einen Stapel Bücher und mietete bei einem nahe gelegenen Hotel am Strand einen Liegestuhl. Ich verbrachte den Tag damit, Guacamole zu essen, Margaritas zu trinken und meine Energie zwischen Nickerchen und Romanen aufzuteilen. In meinen Augen war das eine großartige Idee: Ich war eine gestresste New Yorkerin, und meine Familie hatte – in diesen Tagen vor Uber – das Auto. Aber wie ich meine Zeit verbrachte, ärgerte meinen Vater, der diesen Urlaub bezahlt hatte und wollte, dass ich mit meiner freien Zeit »etwas Vernünftiges« anstellte. Was er sich darunter vorstellte, war nicht ganz klar, aber mein Müßiggang störte ihn. Vielleicht war es das nachmittägliche Dösen oder die verschwenderische Anmietung eines Möbelstücks. Erschwerend kam hinzu, dass sich dann auch noch – ojemine – meine Mutter von der Vogelbeobachtung abmeldete, um einmal länger als bis vier Uhr morgens schlafen zu können und sich mit mir an den Strand zu legen. Wir nippten gerade an unserer zweiten Runde Cocktails, vor der Mittagssonne geschützt durch einen riesigen Strandschirm, als sie mich über den salzigen Rand ihres Margaritaglases ansah.

»Das ist echt nett. Ich verstehe, warum du hierherkommst. Es ist so entspannend.« Ich sah sie lange an und wollte schon sagen: »Wow, diese Frau hat wohl noch nie Ferien gehabt.« Dann wurde mir klar, dass das stimmte.

Als Faulheit zur absoluten Sünde wurde

In ihrem Buch Do Nothing zeichnet die Journalistin Celeste Headlee die Geschichte der Arbeit in unserer Kultur nach und zeigt, wie sie zur alles verschlingenden Tretmühle wurde, die niemals stillsteht. Sie gibt größtenteils Martin Luther die Schuld und seiner protestantischen Arbeitsethik, die Arbeit als Weg zum Heil betrachtet, als Form der Buße. Headlee schreibt: »Die Kräfte in Wirtschaft und Religion haben uns eingeredet, dass unser Lebenszweck harte Arbeit ist.«6 Und diese harte Arbeit muss noch nicht mal in einem Büro stattfinden: Menschen wie meine Mutter maßen ihre Existenz, die frei von Trägheit ist, an einem makellosen Heim und tüchtigen Kindern. Meine Kolleginnen, die ebenfalls Mütter sind, wollen in beiden Bereichen glänzen und beweisen, dass wir das alles hinbekommen, ohne uns zu drücken.

Headlee weist noch auf einen zweiten entscheidenden Wendepunkt hin, an dem wir lernten, die Arbeit zu quantifizieren und sie mit Tugend in Verbindung zu bringen. Im Zuge der industriellen Revolution wurde Zeit zu Geld. Die Arbeiter wurden nicht mehr für eine Aufgabe bezahlt oder für einen Scheffel, sondern nach der Uhr. Wie Headlee schreibt: »Selbst unser Vokabular spiegelt diese Veränderung wider. Im 17. Jahrhundert war Pünktlichkeit gleichbedeutend mit Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit. Um 1777 herum fingen die Leute an, den Begriff für ›zur festgesetzten Zeit‹ zu verwenden. Jahrhundertelang bedeutete efficiency ›etwas hinbekommen‹, von lateinisch efficere, was ›hervorbringen‹ heißt. In den 1780ern dann wird es immer mehr zum Synonym für produktive Arbeit. 1858 dann wird das Wort zum ersten Mal in einem Artikel gleichbedeutend verwendet mit ›das Verhältnis von nützlicher Arbeit zur eingesetzten Energie‹. Gut genutzte Zeit hieß nun ›Zeit, in der man Geld verdient‹.«7 Ein weiterer Nebeneffekt der Reformation ist – der Religionshistorikerin Beth Allison Barr zufolge –, dass harte Arbeit für christliche Frauen zwangsläufig eine Beschäftigung im Haus ist.

Viele kulturell prägende Persönlichkeiten trugen zu der Vorstellung bei, dass unser Selbstwert nach unserer Leistung bemessen werden sollte. Während man heute die sieben Todsünden als Überbleibsel des katholischen Beichtspiegels betrachtet, trugen die Anstrengungen Martin Luthers und der Reformation, die zu einem glatten Bruch mit der römisch-katholischen Kirche und zum Aufkommen evangelischer Kirchen geführt hatten, massiv dazu bei, die Faulheit in den Mittelpunkt protestantischer Ideologie zu stellen. Die frühen Protestanten glaubten, dass Gnade und damit das Seelenheil nur dem zuteilwird, der fleißig arbeitet. Der Wirtschaftssoziologe Max Weber hält diese Idee für das Fundament des Kapitalismus.8 Die »Arbeiterklasse«, die ihre Stechkarten stempelt und von nicht nach Stunden bezahlten Managern kontrolliert wird, ist kennzeichnend für den Frühkapitalismus. Aber heutzutage sind wir alle Teil einer Ökonomie, die uns an unserer Produktivität misst. Die Computer der Angestellten werden heutzutage mit »Produktivitätssoftware« überwacht, mit der man die Aktivitäten am Gerät messen kann – auch die Momente, in denen die Maus nicht übers Mauspad huscht. Ihre Zeit gehört dem Arbeitgeber. Das anfängliche Versprechen der Technik war es ja, die Effizienz so zu steigern, dass wir von Müh’ und Plag’ befreit werden. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil eingetreten. »Muße«, kreative Zeit zum Nachdenken oder für einen Plausch mit den Kolleginnen, heißt, dass man seinen Output nicht maximiert und es Raum für »mehr« gibt.

Und man sollte mehr tun, heißt es, denn der Gnadenstrahl der Arbeit leitet uns einen Berg hinauf, bestehend aus unseren Talenten. Und oben angekommen können wir zurückblicken auf die Summe unseres Lebens, unseren Wert als Mensch. Dieser angebliche Aufstieg gründet sich auf mehreren Mythen. Da ist zum einen der Mythos von der Leistungsgesellschaft, der Macht des Individuums, der persönlichen Verantwortung, wo Einsatz immer belohnt wird. Der andere Mythos ist, dass dieser Aufstieg der wichtigste Teil der Reise ist, die beste Verwendung für unsere Zeit. Vielen Menschen ist heute klar, dass wir uns auf dumme und unfruchtbare Weise abmühen – dass wir, wenn wir »es schaffen«, überhaupt nichts schaffen. Denn der Kapitalismus bestimmt nicht nur den Wert unserer Zeit, sondern auch unsere Werte an sich. Ein Finanzchef verdient 300 Dollar pro Stunde, das Talent eines Grafikdesigners trägt ihm vielleicht noch 50 Dollar Stundenlohn ein, aber künftige Generationen über Unterricht geistig zu bereichern wirft gerade mal einen Mindestlohn ab, von dem man nicht existieren kann.9 Und wer seine Arbeit aufgibt, um sich um seine Kinder zu kümmern, dessen Beitrag ist gar nichts wert – oder geht vielleicht sogar in den Minusbereich, wenn man berechnet, wie viel Gehalt man im Laufe des Lebens deswegen verloren hat. Nichts davon ergibt Sinn.

Und natürlich haben wir bei der Gleichung »Zeit ist Geld« übersehen, dass Zeit eine nicht erneuerbare Ressource ist. Es ist verrückt, etwas derart Wertvolles bepreisen zu wollen. Wir können natürlich unsere Lebensspanne verlängern – uns gesund ernähren, Sport treiben, nicht zum Freeclimbing oder Skydiving gehen –, aber wir haben die Zeit nicht unter Kontrolle. Sie tickt gnadenlos unserem Ende entgegen. Vielleicht sind wir deshalb so wild darauf, sie mittels Produktivität zu messen, damit wir eine Spur hinterlassen, etwas Unvergängliches in einer Welt, die alles andere ist als dauerhaft.

Ich denke manchmal an meine Freundin, die einen Job als Insolvenzverwalterin hatte. Da sie als Anwältin ihr Honorar nach Stunden abrechnete, war Zeit für sie ganz klar Geld. Und das hatte den Effekt, dass sie alle Aktivitäten, für die sie kein Geld bekam, entwertete. War es wirklich 125 Dollar wert, aufs Klo zu gehen?

»Der Rhythmus war so hektisch, dass ich von einem Meeting ins andere stolperte, bis der Tag plötzlich zu Ende war und ich mich aus meinem Körper verabschiedet hatte«, erinnert sie sich. Und natürlich ging sie nicht auf die Toilette. Als sie nach zwei Jahren zum ersten Mal Ferien machte, saß sie in einem Reisebus und sah nach unten, nur um festzustellen, dass sie sich in die Hosen gemacht hatte. Sie hatte nichts davon gespürt. Nach einer ganzen Reihe von Untersuchungen – man befürchtete zunächst Blasenkrebs – eröffneten die Ärzte ihr, dass ihre Blasenwand geschwächt war. Sie hat so viel geschuftet, dass ihre Schilddrüse nicht mehr funktionierte und sie inkontinent geworden war (und das ohne Geburt!). Sie brauchte monatelang Physiotherapie – und einen anderen Job.

Während meine Freundin auf die Minute genau angeben konnte, wann sie arbeitete, hat der Rest von uns ohnehin das Gefühl, ständig zu arbeiten. Wir schätzen, dass wir 60 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten, doch Studien zeigen, dass die meisten Vollzeitbeschäftigten weit weniger »arbeiten«.10