Ich will Leidenschaft - Simone Schmollack - E-Book

Ich will Leidenschaft E-Book

Simone Schmollack

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Beschreibung

Alle wollen ihn haben. Manche bekommen ihn regelmäßig, andere selten, einige heimlich, nicht wenige bezahlen dafür: Sex. Für die einen ist er Droge, für andere ein Spiel, für die nächsten Entspannung. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen immer wieder, dass die meisten Menschen eine sexuell aktive Phase schon im Alter zwischen 18 und 30 Jahren erleben. Ein intensiveres Gefühl in der Liebe und beim Sex stellt sich jedoch erst jenseits dieser Grenze ein. Je erfahrener Frauen und Männer sind, desto mehr können sie ihre Sinnlichkeit genießen - und viele haben mit 30 plus X nicht nur besseren, sondern auch mehr Sex als in ihren Zwanzigern. Denn genau die Jahre in den Dreißigern stellen bei vielen Menschen einen Wendepunkt in der Lebens- und Karriereplanung dar. Es trennen sich in dieser Zeit überdurchschnittlich viele Paare. Für das Selbstwertgefühl, die Seele und den Freiheitsdrang wirken sich 'beziehungstechnische' Neuanfänge meist positiv aus, soweit der Partnerschaftsbruch als Chance begriffen wird. Schwieriger hingegen gestaltet sich ohne festen Partner bzw. feste Partnerin das Ausleben der Sexualität. Aber auch in festen Beziehungen genügt ein Partner oft nicht. Und 'Not' produziert bekanntlich Einfallsreichtum. In diesem Buch erzählen Frauen und Männer aus der Generation der 'Thirtysomethings', wie sie es schaffen, das zu bekommen, was sie wollen. Das Buch bietet einen Reigen sexueller Möglichkeiten und erzählt Geschichten, die sonst wohl niemand erfährt.

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Simone Schmollack

ICH WILL LEIDENSCHAFT

Geschichten von Dreißigjährigen über Lust und Liebe

Schwarzkopf & Schwarzkopf

für m.e.

Lebe lieber leidenschaftlich

Vorwort von Simone Schmollack

Schenkt man Schriftstellern wie Bret Easton Ellis, Michel Houellebecq oder Helmut Krausser Glauben, dann ist die emotionale und intime Begegnung zweier Menschen heute kein sinnliches Vergnügen, keine seelische und körperliche Entspannung mehr, dann sind glückliche Liebesbeziehungen und beständige Ehen so selten wie ein Sechser im Lotto. Die Dichter zeichnen das Gesellschaftsbild einer gefühlskalten Welt in der Geißel sexuellen Leistungswahns. Vor allem beeinflusst durch die Faktoren Geld, Zeit, Attraktivität, Status. Frauen und Männer haben verlernt, wahrhaft zu lieben und einander zu genießen. Drei Jahre, 167 Tage und zwei Stunden beträgt die Lebenserwartung einer heutigen Beziehung, sagt Peter Schneider in seinem Roman »Paarungen«. Liebe und Sex im 21. Jahrhundert – Fälle für Psychiatrie und Pathologie?

Ellis, Houellebecq und Krausser beschreiben eine Gesellschaft, die an den politischen, ökonomischen und feministischen Folgen und Errungenschaften sowie an sich selbst krankt. Kaum jemand hat mehr Muße, alle sind auf der Flucht. Fast jeder bangt irgendwann in seiner beruflichen Laufbahn um seinen Job und verliert über der Existenzsicherung die Sinnlichkeit seines Lebens. Viele wurden unfähig für das ganz große Gefühl und die dauerhafte Liebe, manche haben vielleicht nicht mal eine Ahnung davon, was es heißt, zu lieben und dafür eine Menge zu riskieren. Ohne sich vorher auszurechnen, was sich aus welchem Verhältnis wie entwickeln könnte.

Doch wie immer ist das nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte liegt außerhalb von Ellis, Houellebecq und Krausser. Während deren Protagonisten sich selbst aufgegeben und sich dem Lauf der Dinge mehr oder weniger kampflos überlassen haben und unfähig wurden, in sich selbst das Glück zu suchen, schreibt das »richtige« Leben im falschen andere Geschichten. Geschichten, die vielleicht nicht so perfekt und nicht so formvollendet sind wie die Kunsterzählungen der Schriftsteller, deren Aufgabe und Luxus es schließlich ist, Gesellschaft in überspitzter Form abzubilden. Geschichten, in denen Verrat, Hass und Lügen ebenso vorkommen wie das ganz edle Gefühl. Aber eben Geschichten, die wirklich gelebt wurden. Vom hoffnungsvollen Anfang bis zum bitteren Ende.

Um dieses Leben geht es in dem vorliegenden Buch. Es lässt Frauen, Männer und Paare der Generation zwischen 30 und 40 darüber sprechen, warum sie so leben, wie sie leben, freiwillig oder gezwungenermaßen, wie wohl sie sich in ihren Beziehungskonstellationen fühlen, wonach sie suchen, nach wem sie sich sehnen. Es sind Menschen, die ihr Leben nicht aus der Hand gegeben haben und meist genau wissen, was sie tun. Mit allen Konsequenzen. Und es sollten Frauen und Männer in genau diesem Alter sein, die erzählen, jene, die sich bereits die ersten privaten und beruflichen Schrammen geholt haben, denen Brüche und Trennungen nicht fremd sind, aber die immer noch mit der Hoffnung leben, dass etwas nicht so bleiben muss, wie es ist, wenn es nicht gut tut.

Wenn sie Geldsorgen bekommen, schlittern die meisten Ehen und Beziehungen in heftige Krisen. Ein Indiz dafür, dass Geld die Liebe maßgeblich mitbestimmt. Aber nicht weniger ausschlaggebend für den partnerschaftlichen Bestand beziehungsweise Bruch sind Kinder und Liebhaber. Nicht umsonst verbuchen Paartherapieeinrichtungen in Deutschland Hochkonjunktur. Einige Eheberatungsstellen bieten inzwischen Frauen und Männern, die heiraten oder ohne Trauschein längere Zeit zusammenbleiben wollen, einen »Ehe-TÜV« an. Die Preparetests, die der amerikanische Familiensoziologe David H. Olsen zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelte, prüfen nicht die Liebesfähigkeit der Klienten, sondern ihre Fähigkeit, miteinander reden und Konflikte austragen zu können. Je besser die Kommunikation eines Paares ist, desto größer sind seine Chancen auf eine dauerhafte Beziehung.

Am Beispiel der Eherettungsinstitute lassen sich allzu deutlich familiäre, emanzipatorische, religiöse und ökonomische Veränderungen in der modernen Industriegesellschaft beobachten: War es früher normal zu heiraten, zwei Kinder zu bekommen, morgens zur Arbeit das Haus zu verlassen und abends wieder heimzukehren, sind diese Strukturen heute weitgehend aufgebrochen. Die herkömmliche Ehe ist ein Lebensentwurf unter vielen. Die Moderne kennt neben dem Leben mit Trauschein eine Vielzahl bunter Lebens- und Liebesmodelle, die ebenso ihre Berechtigung haben. Unabhängig von den politischen und verfassungsrechtlichen Vorgaben, die nach wie vor die Ehe in den Mittelpunkt rücken und unter einen besonderen Schutz stellen, werden andere Formen wie die so genannte wilde Ehe inzwischen selbstverständlich gelebt. Wiederum andere Modelle wie getrennt zu leben, allein erziehend zu sein, Verhältnisse mit Liebhaberinnen und Liebhabern, bisexuelle Partnerschaftsversuche, das Singledasein, Wohngemeinschaften, Zweckbeziehungen, Partnerkonstellationen mit erheblichem Altersunterschied, Promiskuität oder multikulturelle Beziehungen ringen um ihre öffentliche Anerkennung. Mit unterschiedlichem Erfolg.

Die Ursache der zahlreichen Versuche, Liebe und Sex, Familie und Kinder, Glück und Erfüllung zu realisieren, liegen – neben der weiblichen Emanzipation, einer Verschiebung in den Geschlechterverhältnissen und der Aufgabe einer verklemmten und falsch verstandenen Moralhaltung – auch in den veränderten Arbeitsformen. Da gibt es neben der Vollarbeitszeit die Viertagewoche, die Freiberuflichkeit, Nachtdienst- und Mehrschichtsysteme, Teilzeitmodelle, Sabbaticals, 630 Mark- und auswärtige Jobs. Karrieren sind heute nicht mehr planbar, immer mehr Biographien weisen berufliche Einschnitte und Auszeiten auf.

Das vorliegende Buch erzählt von eben jenen gesellschaftlichen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf das Partnerschaftsleben: Wenn anders gearbeitet wird als früher, muss zwangsläufig auch das Privatleben anders eingerichtet werden. Wer übermäßig viel im Büro sitzt, fragt sich vielleicht, ob eine Beziehung unter diesen Umständen überhaupt Bestand hat. Wer ständig pendelt, lehnt möglicherweise Kinder ab. Wer mit seiner Ehe nicht zufrieden ist, lässt sich entweder scheiden oder greift nach einem Liebhaber. Eine allein erziehende Mutter will trotz täglicher Überlastung nicht auf Sexualität und Nähe verzichten, eine Frau darf heute einen jüngeren Mann lieben, ein Künstler sucht nach einer Beziehung, die einem Kunstwerk gleicht. Nicht, dass es all diese Liebesvarianten früher auch gegeben hat. Aber im Gegensatz zu heute nur vereinzelt und als Notlösung. Menschen, die anders lebten als die Masse, galten als Randgruppe. Heute werden verschiedene Lebensentwürfe zum großen Teil offensiv und selbstverständlich gelebt.

Obgleich der Titel auf den ersten Blick etwas anderes vermittelt, ist »Ich will Leidenschaft« ein politisches Buch. Auch wenn in den Geschichten das Wort Politik nur am Rande fällt. Beim Lesen wird sich so mancher fragen, was Liebe, Lust und Leidenschaft mit Politik zu tun haben. Denn die Protagonisten erzählen persönliche, intime Geschichten, berichten von sinnlichen Erlebnissen, die mehr oder weniger prägend für ihre partnerschaftliche und sexuelle Biographie waren. Sie betrachten ihr Leben nicht mit einem politischen Auge. Es sind private Dinge, die da preisgegeben werden. Doch auch hier oder vielleicht vor allem hier gilt: Das Private ist politisch. Die Frauen, Männer und Paare bewegen sich in einem gesellschaftlichen Kontext, der ihre Handlungsspielräume mehr oder weniger stark bestimmt. Niemand kann sich den Vorgaben des Heute und seinen Bedingungen entziehen.

Die Protagonisten im Buch genießen ihr Dasein, haben Spaß am Leben und Freude an ihrem Körper. In diesem Punkt unterscheiden sie sich von den Helden bei Ellis und Houellebecq, die am Leben leiden und keinen Sinn mehr darin sehen. In Houellebecqs »Ausweitung der Kampfzone« sieht ein Mann, der nichts anderes tut als zu arbeiten, keinen anderen Ausweg als sich zu erschießen, als er erkennt, allein nicht mal ein Bett kaufen zu können.

Manchmal ist es egal, mit welchem Ziel ein Lebensentwurf bewusst ausgelebt oder stillschweigend ertragen wird, da ist die Haltung zu den Dingen, zu einem Menschen wichtiger als alles andere. Dann erscheint mitunter eine Lebenslüge als vertretbar, weil die »Lügner« mit beiden Händen nach dem greifen, wonach sie lange suchten: Glück, Erfüllung, Obszessionen. Hierin sind Frauen wahre Meisterinnen. 80 Prozent aller Trennungen und Scheidungen gehen von Frauen aus, weil sie erwiesenermaßen einen höheren Glücksanspruch haben als Männer. Während die meisten Männer in einer unerträglichen Situation ausharren und darauf hoffen, das Problem löse sich von selbst, packen Frauen es an. Sie sind inzwischen ökonomisch unabhängig, gebildet und selbstbewusst genug, um sich nicht in einem Beziehungsgefängnis einsperren zu lassen. Doch sie gehen nie leichtfertig aus einer Partnerschaft heraus oder geben sie leichtsinnig auf. »Früher gaben die Frauen die Hoffnung auf und hielten an der Ehe fest, heute halten sie an der Hoffnung fest und geben die Ehe auf«, sagt der Familientherapeut Norbert Wilbertz. Manchmal kann ein heimlicher Liebhaber Ehen oder langjährige Beziehungen retten, weil er einen Part übernimmt, den der Gatte längst nicht mehr ausüben will.

Ich danke allen Frauen, Männern und Paaren, die mir in unzähligen Stunden ihre Lebensgeschichten überließen, die sich öffneten und keine Scheu zeigten, auch intime Details preiszugeben und dadurch der Öffentlichkeit etwas zur Verfügung zu stellen, das sonst nur die beste Freundin beziehungsweise der beste Freund erfährt. Manche Namen der Protagonisten wurden auf Wunsch geändert.

Wenngleich die beschriebene Beziehungspalette sehr bunt ist, eine Lebensform fehlt: die offene Beziehung. Ein Paar zu finden, das über seine Erfahrungen mit geduldeten »Nebenbuhlern« berichtet, das Liebhaber zulässt, obwohl es selbst ein gemeinsames erfülltes Sexualleben hat, ist mir trotz intensiver Suche nicht gelungen. Manche Paare, die ich im Zuge der Recherchen kennen lernte, probierten sich darin aus, weil sie es als modern empfanden. »Wie schafft man es, nach sieben Jahren Beziehung diese immer noch erotisch frisch zu halten«, fragte eine Frau, die sich regelmäßige Seitensprünge bei ihrem Freund einforderte. Sie gestand ihm dasselbe zu. Doch der Mann litt unter dieser Offenheit, die Beziehung ging in die Brüche.

Die »Nichtbesetzung« der offenen Beziehung kann ein Indiz dafür sein, dass diese Beziehungsform von einigen zwar als ein machbares Modell gepriesen wird, aber für die meisten nicht lebbar ist. Eifersucht, Verletzungen und Verlustängste scheinen doch größer zu sein, als von vielen angenommen.

So unterschiedlich die Frauen und Männer und ihre Geschichten sind, eines ist ihnen gemein: Sie lassen sich die Lust am Leben, an der Liebe und an der Leidenschaft nicht nehmen. Und wenn sich Beziehungen und eine erfüllte Sexualität nicht auf dem Tablett darbieten – und das tun sie meistens nicht –, dann werden sie organisiert. Ob spontan übers Telefonbuch oder per Absprache für »feste Termine«, ob durch Liebhaber, die nur für den Sex da sind, oder durch einen Reigen verschiedener Frauen für einen Mann, ob durch One-Night-Stands oder heimliche Dauerverhältnisse. Bei der Realisierung aller möglichen Verhältnisse wird es den Betroffenen vermutlich nie an Phantasie fehlen. Denn egal, wie die Gesellschaftsverhältnisse aussehen mögen, nach Liebe und Sex werden Menschen immer suchen. Und eine Menge daran setzen, sie zu bekommen. Es gibt keinen Mangel an Möglichkeiten, es gibt nur ungenutzte Chancen.

Wer ficken will, muss freundlich sein

Sven, 31, Schauspieler in Berlin, tobt sich in einer Männer-WG aus

Müsste ich meinem derzeitigen Leben einen Filmtitel geben, würde dieser lauten: »Auf der Überholspur«. Untertitel: »Leben in Anarchie und Gesetzlosigkeit«. Ob Job oder Privatleben, alles läuft chaotisch und hektisch ab. Momentan passiert so unendlich viel, dass ich kaum zum Luftholen komme. Nicht mal mein Bett, gewöhnlich ein Ort, an dem Menschen Ruhe und Erholung finden, bietet mir Schutz vor turbulenter Wirrnis. Es liegen zu viele Frauen darin. Im Grunde habe ich nichts dagegen. Aber manchmal sehnen sich mein erschöpfter Körper und mein ausgewrungener Geist nach friedlicher und entspannender Einsamkeit.

Ich bin Schauspieler. Bislang mittelmäßig erfolgreich, aber seit kurzem auf dem aufsteigenden Ast. Ich stehe auf Theaterbrettern, vor Kameras, auf Moderationsbühnen. Es gibt fast nichts, das ich nicht schon ausprobiert habe. Ich bin Mitglied einer Off-Theatergruppe, die durch die Lande tingelt, spiele feste Rollen an einem kleinen Landestheater sowie in Fernsehfilmen und -serien. In der Szene kennt man meinen Namen, inzwischen fragen Regisseure bei mir nach, um mich in TV-Hauptrollen zu besetzen. Das ist mein Aufstieg aus der C- in die B-Liga. Die Schauspieler-Garde teile ich in die Gruppen A, B und C. Zur Kategorie A, gewissermaßen der Bundesliga, gehören Namen wie Moritz Bleibtreu, Christiane Paul, Til Schweiger, Franka Potente – Gesichter, die in keiner deutschen Kinokomödie fehlen. In der 2. Bundesliga spielen Leute wie Edgar Selge, Julia Jäger, Steffen Wink. Sie sieht man vor allem in Fernsehhauptrollen. Sie sind sehr gut, aber in der Regel nicht so bekannt wie die Stars aus A. Nur einige wie beispielsweise Edgar Selge rutschen hin und wieder ins Kino. Die C-Riege, sozusagen die Regionalliga, bestückt vor allem die Episodenhauptrollen in Fernsehfilmen und Serien wie »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Episodenhauptrollen sind Figuren unmittelbar an der Seite der Hauptrolle, aber eben nur unmittelbar und damit immer etwas ins Abseits gerückt. Zum Beispiel die Assistenten der Kommissare. Für den Verlauf der Handlung, für die Zeichnung der wichtigsten Akteure sind Episodenhauptrollen von ungeheurer Bedeutung. Oft stellen sie einen Gegenpol zu ihrem Chef dar, bringen durch ihre Unbedarftheit und ihr Ungeschicktsein Lebendigkeit in die szenische Abfolge. Im Gedächtnis haften bleibt aber der Hauptkommissar, der seinen Fall löst. Um ihn rankt sich das Drehbuch und drehen sich seine Untergebenen.

Die regionale C-Riege ist keineswegs die schlechteste. Immerhin kann man auch richtig absteigen und in der Oberliga spielen: »Marienhof« oder »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Es knistern zwar schnell dicke Scheine im Portemonnaie, aber man wird weder gefordert noch gefördert. Eher verschleißt man in diesem Metier. Binnen kürzester Zeit. Bereits während meines Studiums habe ich mir geschworen, dass ich eines nie drehen werde: plumpe, plakative und profane Seifenopern.

Seit Jahren stürme ich im Mittelfeld. Jetzt ist es an der Zeit, nach oben zu stoßen. Ich will Karriere machen und arbeite hart daran. Durch den Sprung in die nächst höhere Liga schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits wächst der Bekanntheitsgrad, andererseits erleichtert sich durch den »Starruhm« das Schauspielerdasein erheblich. Man verdient mehr Geld und bekommt damit mehr Zeit für andere Dinge. Darüber hinaus steht man am Set in der ersten Reihe, Regisseure kümmern sich intensiver, die Kamera wird sensibler eingesetzt, man kann mehr wagen und entscheiden und sich Rollen aussuchen. Man wird ernster genommen.

Ruhm zeitigt zudem einen weiteren, nicht zu vernachlässigenden Effekt: Man kann sich vor Liebhaberinnen nicht mehr retten. Es ist kurios: Auch der hässlichste, fetteste, unsympathischste Typ, der aus dem Mund riecht und im Bett furzt, kriegt alle Frauen, die er will. Sobald er nur ein Fernseh- oder Kinogesicht mit sich herumträgt. Da haben wir es wieder: Erfolg macht sexy. Und sicher gibt es jede Menge Frauen, die sich einreden, jemanden sexy zu finden, der es nicht ist, aber durch seine Berühmtheit zum Sexsymbol stilisiert wird.

An Frauen hatte ich allerdings nie einen Mangel. Das mag an meinem Äußeren liegen. Viele Frauen fühlen sich von mir angezogen, weil ich keine typisch männlich-harten Merkmale besitze. Ich habe ein weiches, zartes, reines Gesicht. Ich trage keine Rasierklingen unter den Achselhöhlen und keine Machosprüche auf meinen Lippen. Ich gebe den Sonnyboy und bin Everybodys Darling. Gute Laune und ständiges Lächeln gehören zu meinen Lebensmaximen. Nicht, dass ich nicht ebenso tiefgründig und ernsthaft sein kann, aber die Welt gehört den Leichtlebigen. Schwerenöter schleppen mitunter das gesamte Leid der Menschheit mit sich herum. Und wissen oft selbst nicht, warum.

Mein Part am Set sind der Witz, die Flirtrunde vor der Klappe, das Küsschen hinter der Kamera. Dadurch entspannt sich die Atmosphäre, schnell entsteht eine Vertrautheit, die für die Schauspielerei unabdingbar ist. Man muss sich nicht bis ins kleinste Detail kennen, um vor der Kamera zu einem gemeinsamen Spiel zu kommen, aber man muss sich nah sein und hemmungslos miteinander umgehen können. Ich kann nicht drehen, wenn ich merke, die andere Seite ist verspannt, weil sie nicht weiß, wie sie auf mich reagieren darf oder soll. Umgekehrt genauso: Mir fällt es schwer, den richtigen Ton zu treffen, wenn ich keine Ahnung habe, wie mein Gegenüber ihn aufschnappt. Das ist wie beim Sex: Je lockerer man tändelt, desto besser wird der Fick.

Schauspieler sind ja sowieso dafür bekannt, dass sie immer und überall können und es auch immer und überall machen. Einmal habe ich mit einer Nebendarstellerin in einer Filmtoilette gevögelt. Eine mittelkurze, aber flammende Nummer. Die Toilettenkabine war ein Filmutensil am Drehort und wurde für wenige Minuten nicht benötigt. Da sie nicht für den menschlichen Entleerungsprozess gedacht war, besaß sie keinen Riegel und kein Dach. Mein erstes Mal, bei dem ich im Stehen mit meiner linken Hand an dem Mädchen herumfummelte und mit der rechten die Klotür festhielt. Auf dem Boden schlenkerte meine Hose. Jeden Augenblick hätte ein Kameramann oder ein Bühnenbildarbeiter diesen verdammten blauen Plastikverschlag aufreißen können. Mit einem unserer Ohren rieben wir aneinander, das andere hatten wir an die Außenwand geheftet. Immer vorbereitet auf den Schlachtruf von draußen: »Wir bauen um.« Die Unmöglichkeit der Situation bescherte mir meinen ersten lautlosen Orgasmus.

Sex am Spielort oder auf Tourneen, das gehört zusammen wie Latsch und Bommel oder Dick und Doof. Egal, ob ich mit meiner Theatergruppe auf Tournee bin oder ob ich vor der Kamera an einem festen Drehort stehe, es läuft stets ähnlich ab. Meist wird bis 22 oder 23 Uhr gearbeitet. Die Arbeit putscht auf, alle sind überdreht und energiegeladen. Niemand verschwindet in einem solchen Zustand im Bett. Meist glucken wir in einer Kneipe oder in einer Hotelbar zusammen und bahnen uns mit Wein und Bier den Weg zurück auf den Boden der Realität. Laut, lustig und lamentierend. Unsere Art der Entspannung, der verspätete Feierabend freier Künstler. Dann wird sondiert und die Witterung aufgenommen. Nach spätestens einer Stunde sind die Kopulationsfronten geklärt.

Am Set bleibt es in der Regel bei einem One-Night-Stand. Im besseren Falle ergibt sich eine Wiederholung. Das Filmgeschäft ist schnelllebig, die Mimen kommen und gehen. Die Drehs dürfen nicht zu teuer werden, Zeit wird komprimiert. Längere Aufenthalte an einem Ort mit denselben Leuten sind selten. Anders jedoch, wenn ich mit meiner Theatergruppe unterwegs bin. Mitunter spielen wir bis zu sechs Wochen an einem Ort. Am ersten Abend fallen die Würfel: Wer teilt mit wem das Zimmer. Da wird schon mal ein Koffer eingeräumt und woanders wieder ausgepackt. Alle akzeptieren das Spiel, niemand gibt die Rolle des Eifersüchtigen, auch wenn er leer ausgegangen ist.

In der Regel wird an den ungeschriebenen Verträgen nicht mehr gerüttelt. Während solcher Tourneen ist man so etwas wie ein Paar. Man fühlt sich füreinander verantwortlich, es entsteht eine große Nähe, man entwickelt Emotionen. Aber allen ist klar, dass es sich um Verhältnisse auf Zeit handelt. Mit diesem Wissen entstehen Amouren mit meist feurigen Leidenschaften in der Qualität eines Kurschattens: Eigentlich tun wir etwas »Verbotenes«, halten es geheim, aber alle wissen davon. Es herrschen kein Zwang und keine Verpflichtung. Nichts weiter wird bleiben als die seligen Momente der Erinnerung. Wieder zu Hause, verflüchtigt sich der Zauber so schnell, wie das Täubchen aus dem Hut flattert.

Die Zeit der Tourneen sind die Monate der sexuellen Expansion. Was vor die Flinte kommt, wird geschossen. Das mag sich nach Jagen und Sammeln, nach Gewalt und Geschlechterkrieg anhören, ist aber mehr ein irrationales Spiel mit den Möglichkeiten. Jedem gehören die gleichen Chancen, er muss sie nur zu nutzen wissen. Es gibt keine Ausreden für nicht gelebtes Leben.

Zu Hause läuft es anders. Ganz anders. In meinem Kiez bin ich bekannt, da grüßen mich die Frau vom Zeitungskiosk und der Verkäufer im türkischen Gemüseladen. Hier wohnen einige meiner Freunde, hier fühle ich mich zu Hause. Hier ist es kuschlig und warm. Meine Wildereien haben im Heim nichts zu suchen. Im Kiez bin ich Privatperson, am Set Schauspieler. Der Schauspieler sorgt stets für gute Laune, zeigt die Sonnenseiten seines Gemüts, ihm sitzt der Schalk im Nacken. Er ist charmant und bringt andere zum Lachen. Die Privatperson kann den Spaßmacher vernachlässigen, manchmal sogar vergessen. Sie zeigt melancholische Züge und hockt oft mit einem Weinglas und einem flauen Gefühl im Magen stundenlang am Fenster: Das Leben ist eines der schwersten. Dennoch: Die Privatperson spiegelt noch immer den Optimisten, birgt aber weitaus mehr Facetten als der Mime. Die Tiefgründigkeit des Schauspielers kennt ihre Grenzen, die der Privatperson kann endlos sein. Sie kommt unter anderem zum Tragen, wenn sich die Privatperson in eine Beziehung verstrickt. Und die gibt es nur zu Hause. Tourneen und feste Amouren vor Ort – das schließt sich aus.

Bislang habe ich Job und Privatleben strikt getrennt. Zu Hause wurde nicht gespielt, am Drehort nicht melancholisiert. Doch vor einiger Zeit wendete sich das Blatt. Schlagartig. Schuld daran ist Kristof, ein Freund und Kollege. Seit knapp einem Jahr lebe ich mit ihm in einer Männer-WG. Wir teilen uns eine Dreizimmerwohnung in einem studentischen Kiez in Friedrichshain, einem Bezirk, in dem früher eher das Proletariat angesiedelt war. Jetzt zeichnet sich der Bezirk durch bunte Vielfalt, internationale Küche und soziale Vermischung aus. Ein Reiz für jeden, der Durcheinander mag.

Kristof und ich besitzen jeder ein eigenes Zimmer, ein großes dient als Gemeinschafts- und Aufenthaltsraum. Ich komme aus Berlin, Kristof ist aus München hierher gezogen. Und mit ihm seine zahlreichen abgelegten Liebhaberinnen und Freundinnen. Sie kommen ihn regelmäßig an den Wochenenden und freien Tagen besuchen. Kristof ist ein Mann, den meine Oma als »Frauenschwarm« bezeichnen würde. Kaum setzt er einen Schritt vor die Tür, hat er ein Mädchen an der Angel. Wir sitzen beispielsweise mit zwei wunderschönen Frauen in einem Sommercafégarten, vorbei schlendern zwei andere Kronen der Schöpfung. Kristof lächelt sie an. Allein das Verschieben seiner Mundwinkel genügt, dass sich die beiden im Vorbeigehen nach ihm umdrehen und einen Blick hinterlassen, in dem die kokette Aufforderung liegt, sich zu nehmen, was er möchte.

Über meine Chancen kann ich mich nicht beklagen, aber gegen meinen Freund bin ich ein Waisenknabe. In München rannten ihm die Frauen die Bude ein. Sein Adress- und Telefonbuch ist ein unerschöpflicher Pool sexueller Avancen. Kurioserweise kann er mit den Frauen umgehen, wie er will – sie kommen immer wieder. Ob er mit einer Lady einen One-Night-Stand genoss, mit einer anderen einen Wochenflirt anzettelte oder mit der nächsten eine Halbjahresbeziehung führte: Keine ist beleidigt oder hat sich nach einer Absage zurückgezogen. Es gibt Menschen, die umgibt eine Aura, die ihnen alles erlaubt. Fast jede Frau macht er in sich verliebt. Er ist schlau und rhetorisch gewandt, charmant und witzig, vielseitig und inspirierend. Vielleicht ist es das, was Frauen mögen. Kristofs Erfolgsgeheimnis: Jeder das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein. Bei vielen meiner Freundinnen und Bekannten prangt in der Küche, meist über dem Herd, eine gelbe Postkarte mit schwarzer Schrift: »Wer ficken will, muss freundlich sein.«

Ein Jahr Männer-WG, das heißt, ständig Party, Trubel, Frauenbesuch. Das Wochenende beginnt für uns am Donnerstag. Am späten Nachmittag holt Kristof seine Freundinnen und Bekannten vom Bahnhof ab. Manche kommen allein, manche zu zweit. Anfangs kannte ich keine von ihnen. Langsam prägen sich mir Gesichter ein, manchmal verwechsle ich immer noch die Namen. Abends ziehen wir los, in Klubs oder Diskotheken. Oder wir versacken in irgendwelchen Bars. Graut der Morgen, landen wir in unserer WG, hotten und trinken weiter. Bis ausgehandelt wird: Wer bekommt welche. Wir treffen keine verbalen Absprachen, eher erhalten unsere arrivierenden Recherchen der vergangenen Stunden den letzten Schliff. Bei welcher Frau Sympathien liegen, welche zu wem unter die Bettdecke kriechen will, deutet sich ja schon vorher an. Um Gewissheit zu bekommen, wird ein bisschen geknutscht. Und beobachtet, was das andere Paar macht. Nicht anders als auf einer Schuldisko in der 8. Klasse. Ist alles klar, wird in unseren Zimmern weitergeführt, was auf der Gemeinschaftscouch begann.

Gottlob kamen Kristof und ich noch nicht in die peinliche Verlegenheit, tauschen zu müssen. Keine Ahnung, was passiert wäre. Da es zwischen Kristof und mir keine Absprachen gibt, thematisieren wir unsere Geschäfte nicht. Genauso wenig werten wir nach einem Wochenende aus. Kristof schiebt mir auch keine seiner Damen zu. Nur einmal, da hat er mir eine Exbeischläferin empfohlen. »Mit der glaubst du im Himmel zu sein«, machte er mir Jacqueline schmackhaft.

Jacqueline war eine sinnlich-provozierende Schmutzigkeit, mit einem Verve in der Stimme, die an die drogenschwangere Anstößigkeit einer Janis Joplin erinnert. Jacqueline war eine Offerte für alle Sinne, Sehnen und Samenstränge. Mit einer gewagten Offensivhaltung griff sie nach mir, ohne zu fragen. Für sie schien es selbstverständlich, dass ich ihr gehöre. Wir redeten kaum, außer wenn wir mit den anderen zusammen waren. Wir dachten und strebten nur das eine an: das Laken zerwühlen, nach einem hastigen Käsebrot und einem halben Kaffee. Um die Geselligkeit nicht gänzlich zu zerstören. Ihre Dreckigkeit spiegelte sich in ihrem Sexverhalten wider. Sie forderte und grub tief in meinem Körper, sie schrie und drängte mich, ebenfalls zu brüllen wie ein Tier. Sie war hart und verlangte es hart. Am Ende war nicht mehr klar, wer mit wem spielte, wer an welchen Strippen zog.

Am Sonntagabend, als sie in den Zug stieg, schien mein Körper eine einzige offene Wunde zu sein, aber auch ein Ausdruck fleischlicher Freuden. Es war gut, dass Jacqueline wegfuhr. Eine solche Frau wäre mein Untergang. Mit ihr an meiner Seite könnte ich nicht mehr arbeiten. Sie würde mich schlauchen, mir das Blut aus den Adern trinken und mein Hirn absaugen.

Es ist jedes Mal gut, dass die Frauen nach einem langen, überreizten Wochenende ihre Sachen schnappen und die WG wieder verlassen. Rauschende Tage und Nächte fordern in ihrer Folge Ruhe, die ich mit mir allein in der Badewanne oder vor dem Fernseher beziehungsweise im Kino verbringe. Außerdem strebe ich mit keiner dieser Frauen ein längerfristiges Verhältnis an. Die Frau, die ich lieben könnte, müsste mir mehr bieten als ein oberflächliches Gefühl. Vielleicht suche ich nach einer heiligen Hure für meine heilige Pfeife.

Die Wochenenden bergen einen erheblichen Vorteil: Sie erfüllen mein Sexpensum auf leichte Weise. Ich muss mich nicht anstrengen, die Angebote klopfen an die Tür und sind bereit. Ein schlechtes Gewissen plagt mich nicht, die Frauen wissen, was sie tun. Und beabsichtigen nichts anderes als wir in unserer Männerpension. Die WG-Sexverhältnisse beruhen auf bilateralen Abkommen. Ich muss nicht fürchten, mich in Verpflichtungen zu verstricken, die ich nicht erfüllen kann. Daher gerate ich mit meinem Grundsatz, zu Hause keine Verhältnisse zu pflegen, nicht in Konflikt.

Ich bekomme säckeweise Fanpost. Gewöhnlich sind die Absenderinnen zwischen 20 und 45 Jahre alt und wollen mich heiraten. Viele möchten sich mit mir gleich am folgenden Wochenende treffen. Gewöhnlich verschicke ich Autogrammpostkarten. Eine Frau schickte mir als Antwort ihre Unterschrift, versehen mit den Zeilen: »Natürlich suche ich einen Mann. Ich hap ihn schon gefunden. Das bist du. Du kannst zu mir kommen. Ich wohne in … Wenn du mit dem Auto kommst, bist du schnell wie der Plitz. Aber wenn du mit dem Flugzeug kommst bist du noch schneller.«

Mir tun die Frauen leid. Ihre Zeilen verraten eine große Einsamkeit und tiefe Sehnsucht nach Liebe. Die sie vermutlich nie bekommen werden.

Einmal wurde ich von einer Frau verfolgt. Cindy okkupierte mich wie erobertes Terrain. Über Wochen wurde ich sie nicht los, sie klammerte sich an mich wie die Saugarme eines riesigen Tintenfischs. Ich lernte sie auf unspektakuläre Weise kennen. Mit einer befreundeten Kollegin fuhr ich zu einem Auftrittsort nach Süddeutschland. Unser Off-Theater tourte mit einem Shakespeare-Stück. Die Tage der Spielpause verbrachten die Freundin und ich am liebsten zu Hause. Hinten im Auto kauerte Cindy. Wir haben sie als Tramperin an einer Autobahnauffahrt aufgegabelt. Sie schwieg die ganze Zeit über. Ein verhuschtes Mädchen mit ängstlichem Gesicht. Ein graues Mäuschen, das selbst eine junge Katze nicht ertragen konnte.

Die Kollegin und ich plapperten während der gesamten Fahrtzeit. Für uns gab es nur ein Thema: Sex. Immer, wenn wir zusammen fahren, plaudern wir über unsere letzten Liebesabenteuer. Wir haben keine Geheimnisse voreinander und verraten uns selbst die peinlichsten Erlebnisse. Im Auto kann es brennen wie Feuer. Aber wir sind noch nie auf die Idee gekommen, zwischendurch für eine Parkplatznummer anzuhalten. Dazu sind wir uns zu nah und haben ein Verhältnis, das eine Mischung aus Bruder und Schwester und glücklich gealtertem Ehepaar ergibt. Wir erzählen uns alles, fragen nach Tipps und erotischen Delikatessen. An den Tourneeorten schlafen wir oft in einem Doppelbett – soweit sich keine andere Gelegenheit ergibt. Dann kuscheln wir uns aneinander und ergeben uns der Illusion einer aphrodisiakischen Nacht. Unser Verhältnis lässt nur die platonische Ebene zu. Dazu bieten wir uns auch körperlich zu wenig: Sie bevorzugt kräftige Männer vom Typ Fleischermeister. Das bin ich ganz und gar nicht. Und ich berausche mich an schlanken Grazien, die sich biegen und zurechtlegen lassen. Die Freundin ähnelt einem Kugelblitz.

Cindy schwieg und ließ mit keiner Regung erkennen, ob unsere Geschichten sie erschreckten. Für uns war sie nicht mehr als eine Tramperin, zu unwichtig, als dass wir unsere Worte abschwächten oder pikante Details verschwiegen. Es flogen deftige Vokabeln durchs Auto, nach denen wir vermutlich als Sexmonster eingestuft würden. So erzählte die Freundin, wie sie an einem tristen Abend in der anonymen Großstadt in einer Bikerkneipe zwei Kerle aufriss und mit zu sich nahm. Eine wahre Orgie mit krachenden Reißverschlüssen, knackendem Leder und tiefem, brünstigem Männergestöhn. Am nächsten Morgen haben sich die drei – fürchterlich verkatert – das erste Mal richtig angeschaut und heftig gelacht. Auch wir klopften uns vor Lachen auf die Schenkel.

Mitten in der Nacht trafen wir in unserer Pension ein. Cindy tat uns leid, sie hätte weitergemusst. Es war stockfinster. Wir konnten sie nicht allein loslaufen lassen und nahmen sie mit hinein. Im Gastraum saßen einige Ensemblemitglieder. Wir schlossen uns an und bestellten Rotwein. Nach einem Glas erhob ich mich und stiefelte die Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Cindy schlich hinter her. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, stand sie hinter mir und flüsterte: »Kann ich bei dir schlafen?« Etwas verwirrt, willigte ich ein. Noch verwirrter war ich, als sie sich ungeniert die Sachen vom Leib riss und nackt ins Bett stieg. Kaum, dass ich darin lag, knabberte sie an mir herum. Bevor ich die Chance bekam, zu begreifen, was passierte, hatte sie mich vollkommen ausgezogen und murmelte: »Ihr macht es richtig, ihr benutzt für den Sex nur eure Körper und nicht den Kopf.«

Sie blieb zwei weitere Nächte. Ich beging den Fehler, ihr meine Nummer in Berlin zu geben. Kaum von der Tournee zurück, bimmelte das Telefon: Sie wolle mich sehen und würde gleich vorbeikommen. Ihr Vorhaben konnte ich gerade noch abwenden, beging aber den zweiten Fehler, indem ich ihr vorschlug, sie am Abend mit auf eine Party zu nehmen. Heimlich hatte ich gehofft, sie würde absagen. Eine Feier mit lauter Unbekannten, wer will da schon hin? Aber ich kannte Cindy schlecht. Es war ein üppiges Fest: Wir tanzten zwischen Tellern und Grillwürstchen, wir soffen und kifften. Cindy wich nicht von meiner Seite. Ich war zu betrunken, um irgendetwas steuern zu können. Es war einer jener Momente, in denen man erst wieder Zugang zu sich bekommt, wenn der Alkoholpegel das erträgliche Maß überschritten hat. Kurz bevor ich absackte, packte sie mich unter den Achseln und machte Anstalten mich nach Hause zu bugsieren. Lallend versuchte ich ihr zu verdeutlichen, dass es keinen Zweck hätte mitzukommen, ich wäre zu nichts mehr in der Lage. Das sähe sie schließlich selbst. Aber Cindy blieb stur: »Du brauchst dich ja nur hinzulegen, alles andere erledige ich dann schon.« Der Rest der Nacht glich einer endlosen Fahrt in einem Schleuderkarussell. Ich wechselte häufig die Stellung, aber nicht aus Spaß und Gier, sondern um nicht kotzen zu müssen.

Jede andere Frau hätte nach einem solchen Erlebnis vermutlich schreiend Reißaus genommen. Nicht aber Cindy. Am nächsten Tag stand sie wieder vor der Tür: »Ich dachte, ich schau mal, wie es dir geht.« Es ging mir scheußlich. Jedoch vor allem, weil eine Ahnung in mir hochstieg, dass das der Beginn einer never ending Story werden würde. Täglich rief sie an und drohte: »Ich bin gleich da.« Zehn Minuten später stand sie vor der Tür. Was will die von dir? fragte ich mich. Eine Beziehung war es nicht, dazu verlangte sie zu wenig. Sie ging nicht mit mir ins Kino, nicht ins Theater, erfragte nicht meine Vergangenheit. Als Samariterin eignete sie sich ebenso wenig. Dazu war sie zu taub um zu hören, dass ich ihre »Hilfe« nicht benötigte. Sex? Ja, Sex wollte sie. Und nicht zu knapp. Aber wer sucht sich einen Mann aus und wandelt ihn zu seinem Objekt, der sich mit jedem Mal heftiger dagegen sträubt? Die Anstrengungen zur Gründung einer solchen SSHG, einer sexuellen Selbsthilfegruppe, waren schlichtweg zu mühsam. Was trieb diese Frau? Bis ich begriff, dass Cindy nymphomanisch veranlagt war. Sexgeil wäre die falsche Bezeichnung für das armselige Geschöpf, das gehetzt wird von einem Bedürfnis, einer Sucht, die nicht befriedigt wird. Nymphomaninnen, habe ich später gelesen, bekommen nie einen Orgasmus. Sie stehen ständig unter Strom und können nur eines denken: Ich will mehr, mehr, mehr. Ich brauche es, ich hol’s mir. Nymphomaninnen werden von ihrem eigenen Trieb gequält, der sie foltert bis zur Selbstaufgabe. Sie erregen sich leicht und häufig, erleben aber nie den erlösenden Moment. Cindy war chronisch erregt und dauerhaft unbefriedigt. Jeder Akt eine Bündelung aus Nervosität, Verzweiflung und unersättlicher Gier.

Von Anfang an hatte ich das Gefühl, sie nicht zum Höhepunkt führen zu können. Das kriegst du nie hin, schwante es in mir, als sie ruhig dalag und fast stumm vor sich hin wimmerte. Sie gab sich nicht mal Mühe, mir einen Orgasmus vorzuspielen. Ich bin doch kein Sexual- und Psychotherapeut, hätte ich ihr am liebsten ins Gesicht geschrien. Mensch, such dir einen Psychiater, ich kann dir, verdammt noch mal, nicht helfen. Ich fühlte mich zum Dildo, zu einer Orgasmussuchmaschine umfunktioniert.

Die Sache wühlte mich auf und ließ mich lange nicht los. Unabhängig davon, dass mich Cindy psychisch terrorisierte, verhinderte sie durch ihre Inbesitznahme andere, beglückende, leichte Unternehmungen. Kurzzeitig fürchtete ich um meine Immunität. Bis eines Tages ihr Klingeln verstummte.

Das Leben auf der Überholspur ist nicht ewig durchzuhalten. Auf Dauer raubt es Energie, künstlerische wie sexuelle. Außerdem strebe ich nicht an, bis ins hohe Alter beziehungslos zu bleiben. Doch für die gegenwärtigen Jahre ist es das Lebensmodell, das mir am stärksten zusagt. Es lässt mir die Freiräume, die ich brauche, und bietet Abwechslung in jeder Form. Irgendwann möchte ich eine Familie gründen, aber keine im herkömmlich bürgerlichen Sinne. Eine solche zu leben, bin ich nicht imstande. Dazu fordert mich mein Beruf viel zu sehr heraus, eine Kleinfamilie nach bourgeoisen Maßstäben lässt er nicht zu. Wenn ich für einen Film mehrere Wochen an einem entfernten Ort drehe, kann ich nicht den Familienpapi spielen. Ich kann weder die Kinder aus der Kita abholen, noch die Spülmaschine ausräumen. In dieser Zeit muss die Frau allein zurechtkommen. Für manche mag das logisch und aufschlussreich klingen, für andere arrogant und machohaft. Aber es ist, wie es ist, es entspricht meinen Realitäten. Andererseits bin ich rund um die Uhr zu Hause, wenn ich nicht drehe oder mit dem Theater toure. Dann kann ich alle Aufgaben übernehmen, die der Frau aufgebürdet sind, wenn sie allein ist.

Ich hatte mal eine Freundin, die wollte mir ein Leben in geregelten Bahnen aufzwingen und mich durch familiäre Opulenz vereinnahmen. Rein verbal akzeptierte sie zwar meinen Drang nach einem unsteten Dasein, nach Unregelmäßigkeit und Unabhängigkeit im weitesten Sinne. Unabhängigkeit definiere ich nicht als ein Recht, mich sexuell wie auf der freien Wildbahn zu bewegen, wenn ich in einer Beziehung lebe. Ich gehe nicht fremd, wenn ich eine feste Freundin habe. Auch in dieser Beziehung habe ich es nicht getan. Aber mich plagte stets ein ungutes Gefühl, wenn ich wegfuhr. Ich glaube, sie traute mir nicht.

Eine Partnerschaft mit mir funktioniert nur, wenn mich die Frau mit all meinen Bedürfnissen und Eigenheiten, mit meinem Job nimmt. Wenn ich weg bin, darf ich kein schlechtes Gewissen haben, weil ich weg bin. Ansonsten teile ich mich: Am Set tauche ich dann nur halb auf, der Rest hängt zu Hause. Zu Hause bin ich aber auch grantig, weil ich glaube, nicht richtig gearbeitet zu haben.

Wäre ich konsequent gewesen, hätte ich die Beziehung zu jener Frau nach einem halben Jahr beenden müssen. Ich fühlte mich unwohl, ich spürte, dass diese Frau zur Diebin meines Lebens mutierte. Dieses Empfinden schleppte ich mit mir herum wie eine alte, stinkende Jacke. Aber ich konnte sie nicht einfach nur ausziehen, dazu wärmte sie noch zu stark. Außerdem erinnerte ich mich immer an die glückliche Anfangszeit. Waren wir fünf Minuten getrennt, brannte die Sehnsucht Löcher in unsere Herzen. Dachte ich an ihre Haut, kam es mir fast von selbst. Nach zwei Wochen zogen wir zusammen.

Als die Starre in unserer Liebe fester wurde, versuchte ich, meiner Freundin begreiflich zu machen, dass ich ihreIdee einer Beziehung nicht teilte und in ihrem Drehbuch keine Rolle für mich fände. Sie schaute mich mit großen Augen an. Sie wollte klare Aussagen, eindeutige Sätze. Die jedoch konnte ich ihr nicht liefern, weil ich selbst nicht so bin und nicht so lebe. Schließlich ist das Dasein ein Chaos unverbundener Fragmente. Nur selten sind sie zu ordnen. Fortan herrschte zwischen uns ein großes Misstrauen.

Heute sage ich, meine Freundin dachte nicht ganzheitlich. Sie sah und nahm sich nur den Teil von mir, der ihr am liebsten war. Wenn sie mich in meiner Vollständigkeit begriffen hätte, hätte sie die Trennung, die für sie nach einem Jahr überraschend kam, vorausahnen können.

Hinzu kam, dass sie sich selbst nicht so akzeptiert, wie sie ist. Sie ist eine starke Frau. Aber irgendwann zeigt auch der stärkste Mensch Schwäche und Anfälligkeiten. Doch diese lässt die Frau nicht zu. Sie überspielt Hilflosigkeit und Ermattung mit Härte und Omnipotenz. Sie ummantelt sich mit einem Panzer aus Eisen und Stein. Vermutlich weiß sie selbst nicht, dass sie sich mit diesem Panzer umhüllt. Innere Offenheit blockt sie ab, sie muss zwangsläufig Offenheit anderen gegenüber ablehnen. Ich habe diese Frau geliebt, die Trennung hinterließ eine Wunde. Als ich ihr offenbarte, dass ich mich trennen werde, hat sie mich ohne ein Wort zur Tür hinausgeschoben.

Seit dieser Zeit ging ich keine feste Bindung mehr ein. Die Enge der Beziehung verdeutlichte mir, dass ich momentan keine Partnerschaft leben kann. Zumindest nicht in der üblichen Form. In der Zeit nach der Trennung ging es mir schlecht. Ich flüchtete von einem Unterschlupf zum nächsten. Überall dort, wo ich unterkommen konnte, blieb ich für wenige Wochen oder einige Monate. Als der Winter Einzug hielt und sich graue, dunkle Nachmittage ankündigten, gab ich mir einen Ruck und wühlte mich durch die Wohnungsanzeigen. Ich musste nicht lange suchen, die sonnendurchflutete Wohnung schien wie geschaffen für mich und eine Männer-WG. Der Plan, in Berlin zusammenzuziehen und damit das Praktische mit dem Nützlichen zu verbinden, hatten Kristof und ich schon länger im Kopf. Erstaunlich, wie lichte Räume die Stimmung aufhellen. Und mit Kristof und seinen Frauen kehrte das Leben zu mir zurück. Noch nie habe ich so unkomplizierten und ausgiebigen Sex genossen. Ungeniert kann ich mich der Seligkeit der Fleischeslust hingeben. Ich muss mich nicht rechtfertigen und trage keine Verantwortung, außer für mich selbst.

Glücklicherweise gab es zwischen Kristof und mir noch nie Auseinandersetzungen um Frauen. Keiner von uns beiden erhebt den Anspruch auf diese oder jene oder genießt ein Vorrecht. Ohnehin bin ich bei jeder von Kristofs Frauen der Nachfolger. Wir behandeln die Sache männlich-kollegial. Wie überhaupt alle Frauenangelegenheiten. Wenn wir auf eine Frau treffen, die uns beiden gefällt, versucht nicht etwa einer, den anderen auszustechen. Das ist eher weibliches Verhalten. Bei Männern und Sex hören Frauenfreundschaften auf. Wie in einem aufgescheuchter Hühnerhaufen führen sich die Frauen auf, wenn ein Gockel in ihr Nest hüpft. Die Hühnchen schlagen aufgeregt mit den Flügeln, verdrehen die Augen und poussieren, was das Zeug hält. Jede will gewinnen, jede will den Hahn bekommen. Da steigt schon mal eine über die Leiche ihrer besten Freundin. Und später liegen sie sich heulend in den Armen und bedauern, dass »so etwas« passieren konnte.

Unter Männern läuft das anders. Die packen sich beim Anblick einer Aphrodite eher bei den Händen und flüstern sich zu: »Alter, halt mich fest. Meine Fresse, was kommt denn da angewackelt?!« Stets mit einem Anflug von Ironie, aber nie in der Absicht, das Revier für sich zu markieren und sich später die Frau einzuverleiben. Die Jagd nach Frauen birgt einen enormen Spaßfaktor. Der würde verloren gehen, wenn sich Männer wie Frauen verhielten.

Nur ein einziges Mal war sich Kristof sauer. In seinen Augen übertrat ich eine Grenze. Später gab er zu, überreagiert zu haben. Seine Exfreundin, mit der er mehrere Jahre zusammen war, kündigte überraschend ihren Besuch an. Seit drei Jahren waren die beiden getrennt. Aber für Kristof schien klar zu sein, dass sie in sein Bett gehört. Doch so, wie er es geplant hatte, lief es nicht. Die beiden stritten sich und sie sollte auf der Couch im Gemeinschaftszimmer schlafen. Dort fühlte sie sich wohl verloren und klopfte an meine Tür. Wir wechselten kaum drei Worte, dann war die Sache klar. Obwohl sie den ganzen Abend mit Kristof geschwatzt und mich kaum wahrgenommen hatte. Beim Sex begannen wir erstmalig miteinander zu reden.

Doch wir schoben uns keine sinnlichen Sätze zu, steigerten nicht unsere Lust, indem wir aus uns schmutzige Dinge emporholten. Wir entfächerten auf unseren Körpern unsere Biographien. In heftigem Staccato stöhnte sie mir ihren curriculum vitae entgegen. Ihre Atempausen füllte ich mit Details aus meinem Personalbogen. Wir versuchten erst gar nicht, unser Keuchen zwischen den Zähnen zu verbeißen, und überließen uns dem Ungeheuer in unseren Unterleibern. Ich hatte das Gefühl, als schlafe ich nicht mit ihr allein, sondern als lägen ihre und meine geheimsten Gespenster mit im Bett.

Bis vor kurzem glaubten Kristof und ich, unsere Beischläferinnen zeitgebunden korrekt aufgeteilt zu haben: Erst der eine, dann der andere. Niemals eine zur gleichen Zeit. Aber vermutlich gibt es mehr gemeinsame Verhältnisse, als wir annehmen. Kürzlich hockten Kristof und ich vor unserem WG-Fernseher, um einen Film mit einer befreundeten Kollegin zu sehen. Wir machten es uns gemütlich, mit Chips auf dem Bauch und einer Bierflasche in der Hand. Herrenabend pur, garniert mit einer Prise »Kunst« aus den eigenen Reihen. Der Film war kein intellektuelles Meisterwerk, das Drehbuch ungeeignet für einen Kinostoff. Doch es reichte, um jungen, aufstrebenden Schauspielern eine Chance zu geben. Die weibliche Rolle spielte eine Kommilitonin.

Kristof und ich haben ein Spiel: Wir raten, wie die nächste Szene aussehen könnte, welche Dialoge uns erwarten. Natürlich fieberten wir den obligatorischen Nackt- und Bettszenen entgegen. Ich war dran mit einem Vorschlag zum bevorstehenden Dialog. Aber mich nahm die Szene derart gefangen, dass ich kaum etwas sagen konnte. Es war weniger die Situation, sondern das Bild, das sich mir bot: Ich hatte das Gefühl, dass der Rücken, der uns da vorgesetzt wurde, nicht der Rücken unserer Kommilitonin war. Ich kenne ihren Rücken. Wenige Wochen zuvor durfte ich ihn ertasten.

»Ob sie ein Körperdouble hat?«, fragte ich verdutzt.

»Das habe ich auch gerade überlegt«, konterte Kristof.

»Woher willst du das denn wissen?«, fragte ich.

»Weil das nicht ihr Rücken sein kann.«

»Stimmt. Und ihr Bauch ist das auch nicht. Der ist in Wirklichkeit nicht so flach.«

»Außerdem hat sie eine Blinddarmnarbe.«

»Ja.«

»Genau.«

»Sag mal, woher weißt du das denn alles so genau?«

»Woher weißt dudenn das?«

»Und wann hast du mit ihr …?«

»Vor drei Wochen etwa. Und du?«

»Na, vor drei Wochen.«

Manchmal wünsche ich mir, dass sie fremdgeht

Lasse, 36, Tontechniker in Bremen, liebt seine Frau Edda seit 19 Jahren

In meinem Leben geht es chaotisch zu wie in einem Western. Ich hetze und werde gehetzt. Ein Termin stürmt den nächsten, ruhige Minuten habe ich kaum. Ich bin Tontechniker und betreibe ein eigenes Studio. Außerdem organisiere ich mit befreundeten Musikern Konzerte im Studio. Ein Leben zwischen Handwerk und Kunst. Reizvoll, aber finanziell unstetig. In manchen Monaten bewege ich mich am fiskalischen Ruin, wenig später staune ich über die Möglichkeiten, die sich plötzlich auftun. Dann frage ich mich, warum ich mich kurz zuvor dem Untergang nahe glaubte. Mein Leben schwingt wie eine Hängebrücke über einem tiefen Flussdelta. Es gibt nur eine Konstante: Edda, meine Frau. Und unsere beiden Kinder: Istvan ist jetzt sieben und Elisabeth vier.

Edda und ich kennen uns seit 19 Jahren. Seit dieser Zeit lieben wir uns. Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Unsere Beziehung heute ist geprägt durch Harmonie und Innigkeit, obwohl ebenso gut die Fetzen fliegen können. Wir sind beide sehr temperamentvoll.

Normalerweise tobt man sich zwischen 20 und 30 sexuell aus und begibt sich dann bewusst auf die Suche nach einer Partnerin, mit der man Kinder zeugen möchte. Mit Edda konnte ich mir von Anfang an vorstellen, Kinder zu haben.

Als wir uns kennen lernten, empfand ich diesen Gedanken als Belastung: Damals glaubte ich nicht daran, dass unsere Beziehung so lange halten würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit Edda alt zu werden. Edda ist meine Traumfrau. Sie war es damals schon und ist es bis heute geblieben. In unserer schnelllebigen Zeit, in der sich die meisten Menschen lediglich auf der Durchreise befinden, mag sich die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Edda und mir anhören wie ein Märchen aus vergangenen Tagen.

Doch auch ein Prinzessinnenschloss möchte gebaut, jeder einzelne Stein auf den anderen gesetzt werden. Dazu braucht man viel Liebe, reichlich Toleranz, eine gehörige Portion Gelassenheit, genügend Kraft und jede Menge Ausdauer. Eine kurze Liebelei, das kriegt jeder hin. Hinter einer ausdauernden Beziehung, die selbst die tiefsten Tiefen übersteht, steckt harte Arbeit. Insbesondere, wenn zwei Menschen mit einem hohen Glücks- und Individualitätsanspruch aufeinander treffen.

Wir begegneten uns auf einem Workshop für bildnerisches Gestalten. Edda und ich waren blutjung, wir hatten gerade die Schule beendet und befanden uns auf der Suche nach uns selbst und dem Leben. Wir waren so unfertig, wie Menschen am Rande zum Erwachsenendasein nur sein können. Ich hatte keine Ahnung von Frauen, schon gar nicht, wie ich es anstelle, wenn plötzlich eine vor mir steht, eine wie Edda, eine, von der ich immer geträumt hatte. Eddas fröhliches Lachen steckte an, sie hatte ein Gespür für meinen Humor, den nicht alle Leute mögen. Gleichzeitig wirkte sie so zerbrechlich, so zart, dass jeder, der sie sah, meinte, er müsse sie beschützen. Bis heute hat sie von ihrer Grazilität, von ihrer Sanftmut nichts verloren.

Während ich noch darüber grübelte, wie ich wohl an die Frau herankomme, die ich auf einen unerreichbaren Sockel gestellt hatte, hatte sie es längst auf mich abgesehen. Sie jagte mich – und ich ließ mich jagen. Was hätte ich anderes tun sollen, unbedarft, unerfahren und schüchtern, wie ich war? Ich ließ mich überraschen. Ein durchaus reizvolles Spiel, bei dem am Ende die glänzende Zuversicht auf eine zappelnde Beute stand. Auch wenn ich es gern anders herum gehabt hätte, die Beute war ich. Edda entjungferte mich. Dieses Wesen wie von einem anderen Planeten führte mir vor, was das irdische Dasein bieten kann. Wie bei jedem Knaben sprühte meine Phantasie vor Sex. Ich malte mir Szenen und Situationen aus, in denen ich Frauen von allen Seiten nehme und sie bis zum Orgasmus beglücke. Wie unschuldig und naiv meine Träume waren, bekam ich zu spüren, als Edda sich das erste Mal auf mich setzte. Ihre Weichheit und ihre Lust stellten alle meine Fiktionen in Frage. Dass Sex mehr ist als ein einfaches Auf und Ab, ein leidiges Rein und Raus, dass Einfallsreichtum, Phantasie und Überraschungen ebenso dazugehören wie die Selbstverständlichkeit der eigenen Persönlichkeit, das begriff ich erst später.

Meine Vermannung durch Edda prägte unser Verhältnis. Ich war verknallt, dass es den Teufel holt. Ich dachte und wollte immer nur eines: vögeln, vögeln, vögeln. Und wir machten es, dass die Wände wackelten. Heute würde ich sagen, wir waren nicht mehr ganz normal. An manchen Tagen schafften wir es gar nicht aus dem Bett, an denen, die uns befahlen, etwas Nützliches zu leisten, bewältigten wir mit Müh und Not Dinge, die unsere Existenz sicherten. Wir boten jenes Bild von Liebenden, die in ihrer Lust und Leidenschaft nicht ernst zu nehmen sind.

Es war Sommer, als wir uns begegneten. Sonnenlicht wirkt bei Edda anregend wie Rosmarinöl im Badewasser. Dringen die ersten Frühlingssonnenstrahlen durch die winterliche Wolkendecke, wird sie ganz wuselig und wirr. Einmal fuhren wir im Frühsommer an die Nordsee. Sie stellte sich auf die Dünen, sog die Sonnenstrahlen in sich auf wie Bergmoos das Schmelzwasser, ließ den Wind durch ihr Haar streifen und hätte vermutlich nicht mal eine Pinkelpause benötigt. Es war wie ein Rausch, als würden Meer und Watt uns gleichermaßen verschlingen. Edda fraß mich auf, sie nagte mir das Fleisch von den Knochen und legte meine Nervenstränge frei. Erschöpft gab ich mich geschlagen. Am liebsten hätte ich ihr vorgeschlagen, einen Ersatzmann zu suchen, der es ihr bis zur Ohnmacht besorgt. Mein Gemächt brannte. Edda hatte geschafft, was bis dahin noch niemandem gelungen war: Sie hatte mich körperlich überwältigt.

Es ergab sich zufällig, dass wir zusammenzogen. Damals bewohnte ich mit einigen Freunden auf dem Land in der Nähe von Bremen ein altes Bauernhaus. Um das Gehöft erstreckten sich fünftausend Quadratmeter Land. Dazu gehörte ein Garten, in dem wilde Obstbäume wuchsen. Ich besaß ein Auto und viel Geld. Für ein Jahr hatte ich mich in dem Haus eingemietet. Edda und mir erschien es unter diesen Umständen richtig zusammenzuziehen.

Die Zeit bekam uns nicht. Unser soziales Umfeld rekrutierte sich vor allem aus meinen Freunden. Edda begab sich in diesen Kreis hinein, jedoch ohne eigene Bekannte »beizusteuern«. Sie lebte einfach mit uns, sie gehörte dazu. Aber besonders wohl hat sie sich nicht gefühlt. Wahrscheinlich kam sie sich wie ein gelittener Dauergast vor, den man nicht wagt fortzuschicken. Wir »Alteingesessenen« waren eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder machte, was er für richtig hielt. Ohne nach links oder rechts zu schauen. Dort als »vollwertiges« Mitglied aufgenommen zu werden, ist in jedem Fall schwer, wenn nicht gar unmöglich.

Edda zog nach wenigen Monaten wieder nach Bremen und begann ein Kunststudium. Als meine Zeit auf dem Land abgelaufen war, ging ich auch zurück in die Stadt. Ich wollte unsere Beziehung so weiterführen, wie ich es gewohnt war: Ich verfolge meine Pläne und Edda ist immer für mich da. Meine Rechnung ging aber nicht auf.

Meine Freundin wollte mich plötzlich nicht mehr. Sie hatte sich in einen anderen Mann verliebt. Von einer Stunde zur anderen brach mein so schön errichtetes Kartenhäuschen zusammen. Eddas Verlässlichkeiten waren aufgebraucht. Eine bittere Zeit. Und die erste große Zäsur in der Beziehung zu Edda. Der wichtigste Einschnitt in all unseren gemeinsamen Jahren und die Grundsteinlegung für unsere dauerhafte Partnerschaft.

Ich sei ihr zu langweilig geworden, sagte Edda. Sie könne sich nicht mehr an mir reiben, ich sei glatt und glanzlos, sie rutsche an mir ab wie ein gefangener Delphin an der Wand eines Schwimmbeckens. Und sie hatte Recht, musste ich mir schließlich selbst eingestehen. Was hatte ich noch zu bieten? Ich arbeitete in einem Tonstudio, ruhte mich auf meinem dicken Gehalt aus, musste um nichts kämpfen, und wie ich glaubte, nicht einmal um die Frau. Sie schien mir sicher. Ich verkörperte einen fetten, bourgeoisen Lebensstil, der ihr als Kunststudentin fremd und zuwider war. Ich stellte nichts mehr in Frage und schwamm genügsam mit dem Strom. Mein Leben plätscherte dahin, zäh und gemächlich wie ein abgestorbener, stinkender Flussarm. Der Typ, in den sich Edda verliebt hatte, studierte ebenfalls Kunst.

Hochdramatisch trennten wir uns. Ich flehte sie an, bei mir zu bleiben. Doch sie erhörte mich nicht. Wenn ich nicht Klavier, sondern Laute spielen könnte, hätte ich mich unter ihr Fenster gestellt und ihr meine Liebe in den ersten Stock geklimpert. So ohne weiteres konnte ich mich nicht geschlagen geben, ich wollte den wahren Grund der Trennung wissen. Die »Langeweile« nahm ich ihr ab, aber da musste doch noch etwas anderes sein. Immer wieder drängte ich sie zu Gesprächen. Stundenlang liefen wir durch die Straßen. Wir redeten und redeten. Irgendwann fragte ich: »Willst du dich sexuell austoben?« Ohne den Anschein kurzen Zweifelns zu erheben, bejahte sie. Das wollte ich hören, das wollte ich wissen. Diese Antwort beruhigte mich: Die Trennung hatte nichts mit mir allein zu tun, sondern mit ihr und der Angst, etwas zu verpassen. Das konnte ich nachvollziehen. Ihr Fortgehen schmerzte deshalb nicht weniger, es erschien mir aber erträglicher.

Damals haben wir gelernt, miteinander zu reden. Nicht Dinge vorzugeben, um Ruhe zu haben, sondern zu sagen, was wir meinen. Ohne Scheu, den anderen verletzen zu können oder etwas zu verbergen.

Je öfter wir ein Problem aufgriffen, je intensiver wir es von allen Seiten beleuchteten, desto klarer wurde uns, was uns trieb und was mit uns passierte. Diese Erfahrung band uns enger aneinander, als uns in jenen Wochen bewusst war. Damals habe ich nicht danach gefragt, ob Edda die Frau meines Lebens ist. Heute, nach 19 Jahren, stelle ich mir die Frage noch immer nicht. Ich kenne die Antwort, wüsste aber nicht, wie ich sie ausdrücken sollte. Versicherungen abzugeben, bin ich nicht imstande. Ich mag keine allgemeinen Plattitüden und Versprechungen. Aber ich weiß: Die Liebe zwischen uns ist groß. Mit der Zeit hat sie sich verändert. Ob intensiver oder heftiger oder tiefgründiger oder ehrlicher – wieder finde ich keine Worte dafür. Liebe passt sich den Umständen und Pfaden an, auf denen ein Mensch wandelt.

Jemanden richtig lieben zu lernen ist ein langer Prozess. Meine Jahre mit Edda haben mich gelehrt, dass sich ein Mensch verändert, dass er sich verändern muss, um sich selbst treu zu bleiben. Und um für den anderen immer neu und dadurch attraktiv und interessant zu bleiben.

In dem Film »Bin ich schön« von Doris Dörrie beerdigt ein alter spanischer Mann seine Frau in einem deutschen Birkenwäldchen. Die Frau kam aus Deutschland und hat ihr Leben an der Seite eines Mannes im trockenen, erdigen Andalusien verbracht. Ihr Wunsch war es immer, in einem satten, grünen Wald begraben zu sein. Der alte Mann nimmt die Urne mit der Asche seiner Frau und macht sich auf nach Deutschland. Unterwegs bleibt er in einer Kneipe hängen und trifft auf einen jungen Mann der Fun-Generation. Als ihm der alte Mann von seiner lebenslangen Ehe und der tiefen Liebe zu seiner Frau erzählt, fragt der Junge verdutzt: »Immer mit der gleichen? War das denn nicht langweilig?« Der alte Mann lächelt und sagt: »Ich hatte jeden Tag eine neue Frau.«

Als ich Edda kennen lernte und sie so liebte, wie sie war, machte es mir Angst, wenn sie sich anders verhielt, als ich es gewohnt war. Veränderungen gefährden eine Beziehung. Ich strebte einen Status quo an. Ich selbst war der Status quo. Und damit für Edda monoton und trostlos. Durchschaubarkeit ödet Edda an.

Später trennten wir uns noch zwei weitere Male. Diese Trennungen verliefen nicht mehr so existenziell, wie uns die erste erwischte. Die folgenden Brüche in unserer Beziehung sahen wir als Pausen an, um wieder zueinander zu finden, um uns gegenseitig Entwicklungen zuzugestehen und realisieren zu können. Wenn wir uns nach einem halben Jahr wieder trafen, stürzten wir aufeinander zu, als ob es die Zeit dazwischen nicht gegeben hätte. Aber es gab sie, nur mit dem Unterschied, dass wir uns auf einer höheren Ebene trafen. Wenn Edda die Frau geblieben wäre, die sie damals war, wären wir heute kein Paar mehr. Umgekehrt genauso: Hätte ich mich nicht verändert, hätte mich Edda längst vergessen.

Zu einem hohen Maße wurden unsere Trennungen von Unsicherheiten ausgelöst, die das künstlerische Terrain berühren, auf dem wir uns bewegen. Feiert einer von uns Erfolge, freut sich der andere zwar, aber er schaut stets ein wenig neidisch und eifersüchtig zu. Erfolg verschafft Selbstsicherheit und Souveränität. Dadurch fühlt sich die andere Seite angegriffen und beginnt in ihrem Selbstverständnis zu wackeln. Die Trennungsphasen boten uns die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, die wir als Paar nicht hätten zusammentragen können, insbesondere künstlerische. Es ist doch so: In jungen Jahren lässt man sich schneller vom Urteil des Partners beeinflussen und erkennt oft seine eigene Strategie und seinen Stil nicht wieder. Wenn man nicht Acht gibt oder den Zeitpunkt der Abgrenzung verpasst, verliert man sich. Solche Phasen bewältigten wir, indem wir uns streng voneinander lösten. So könnte man auch behaupten, wir sind nicht 19 Jahre, sondern das dritte Mal zusammen.

Seit wir auf dem Land zusammengelebt haben, sind wir nie wieder richtig zusammengezogen. Auch als die Kinder kamen, taten wir es nicht. Die Erfahrung der unmittelbaren Nähe, die praktisch, aber einengend sein kann, verbot uns eine gemeinsame Wohnung. Dennoch verläuft unser Leben gemeinsam und eng verzahnt. Wir existieren nicht nebeneinander her, sondern leben miteinander. Edda und die Kinder bewohnen eine Zweizimmerwohnung, in meinem Studio habe ich meinen Raum. Wohnung und Studio liegen nur einige hundert Meter voneinander entfernt. Wir sehen uns täglich, nicht anders als Paare und Familien, die unter einem Dach leben. Aber wir genießen den Vorteil, dass jeder seine eigenen vier Wände besitzt und die Tür zumachen kann, wenn ihm danach zumute ist. Anders noch als in einer großen Wohnung, in der jeder ein eigenes Zimmer bewohnt, spielt unsere Wohnvariante mit dem Trumpf der mittelbaren Nähe: Der andere ist tatsächlich nicht greifbar, im sprichwörtlichen Sinne, dass man ihn durch wenige Schritte erreicht. Es ist ein Unterschied, ob man jemanden im Nebenzimmer hantieren und telefonieren hört, oder ob man tatsächlich allein mit sich ist. Letzteres entspannt und lässt größere Freiräume zu. Man muss sich zwangsläufig mehr auf sich konzentrieren. Weder Edda noch ich können bei minimalen Dingen, die uns auf dem Herzen liegen, an die Tür des anderen klopfen. Das schützt vor Absonderungen eigener Banalitäten ebenso wie davor, die des anderen ertragen zu müssen. Und: Wir machen uns nicht voneinander abhängig. Brauchen wir uns aber plötzlich wirklich dringend, gibt es das Telefon. In wenigen Minuten bin ich bei Edda und sie bei mir. Solche Situationen treten aber selten auf, weil wir uns täglich und dann auch lange sehen. Sind die Kinder im Bett, gehört der Rest des Abends uns. Entweder bei Edda in der Wohnung oder im Studio bei mir. An beiden Orten steht ein großes Bett, in dem wir alle schlafen. Ohnehin liegen wir gern alle zusammen in einem Bett. Auch wenn die Kinder bei Edda in ihrer Koje eingeschlafen sind, krabbeln sie nachts zu uns und kuscheln sich an unsere Schultern und Bäuche.

Für die Kinder entsteht durch dieses vermeintliche Hin und Her zwischen Studio und Wohnung keine Unruhe. Das Switchen zwischen beiden Anlaufpunkten empfinden sie nicht als Durcheinander. Sie kennen ihr Leben nicht anders. Vermutlich würden sie es inzwischen sogar komisch finden, wenn ein Teil ihres bekannten Umfeldes zugunsten eines anderen aufgegeben würde. Ich glaube, sie vermissen nichts, da sie Mutter und Vater täglich sehen und erleben. Edda und ich sind immer für die Kinder da. Andere Mädchen und Jungen, deren Eltern übermäßig viel arbeiten oder denen nur ein Elternteil regelmäßig zur Verfügung steht, müssen weitaus mehr entbehren.

Edda arbeitet in einer Theaterwerkstatt. Ihr Dienst beginnt morgens um acht Uhr. Also bringe ich die Kinder in die Schule und in den Kinderladen, Edda holt sie nachmittags ab. Danach trudeln die drei im Studio ein. In den Sommermonaten können wir uns nichts anderes vorstellen. Im Hof, in dem sich außer meinem Studio noch Ateliers einer Malerin, eines Fotografen und eines Bildhauers befinden, haben wir ein Plantschbecken aufgestellt und einen Buddelkasten gebaut. Die anderen Hofbewohner haben auch Kinder. Die kennen sich und spielen gern miteinander. Für sie ist der Hof ein kleines Paradies. Wenn ein Kind mal nicht da ist, wird das Fehlen als Verlust angesehen. Viele unserer Freundinnen und Freunde mit Kindern tauchen mitunter täglich hier auf, um sich dazuzusetzen, Kaffee zu trinken und zu schwatzen. Dann gleicht der Hof einem bunten, quirligen Zigeunerlager. Manchmal grillen wir oder zünden ein Lagerfeuer an. Oder kramen in unseren Taschen und meinem Kühlschrank nach brauchbaren Lebensmitteln, wenn wir spontan beschlossen haben, zusammen zu essen. Ergeben die Brotreste, Käsestückchen und Äpfel nicht mehr als eine Henkersmahlzeit, holen wir aus dem Spätverkauf an der Ecke das Nötigste dazu. In solchen Momenten möchte ich die Zeit festhalten. Das ist das Leben, das ich mir immer gewünscht habe: harmonisch und unkompliziert, lustig und direkt, anregend und lebendig.

Manchmal stehen Edda und ich in der offenen Tür des Studios und schauen auf das Treiben vor uns. Wir umarmen uns und glauben zu wissen, was der andere denkt: Ich bin glücklich. Edda ist einen halben Kopf größer als ich, sie legt ihren Arm um meine Schultern, ich meinen um ihre Hüfte.

An Heirat haben Edda und ich nie gedacht, auch dann nicht, als die Kinder kamen. Unsere Liebe braucht keine Versicherung durch einen Schein, auch nicht die Absicherung des Staates. Unser Ehepapier sind die Kinder, sie binden uns enger und fester aneinander, als es je eine Urkunde könnte. Ohnehin leidet die heutige Gesellschaft an Archaismen wie der Ehe. Vor Jahrhunderten hatte sie als Versorgungsmodell ihre Berechtigung. Heute braucht kein Mensch mehr diese Idee von Leben und Zusammensein. Doch die meisten Menschen leiden an der Historizität der Ehe, weil sie gedanklich noch immer auf sie festgelegt sind.

Freunde fragen Edda und mich oft, wie es uns gelingt, seit so vielen Jahren zusammen sein und uns immer wieder neu erfinden zu können. Ich habe kein Rezept. Vielleicht liegt es daran, dass wir Ausschließlichkeiten vermeiden. Nichts ist für uns endgültig, nichts steht für die Ewigkeit fest: unsere Beziehung nicht, wir als Personen nicht, das Leben nicht. Wir leben zwei Existenzen, die an bestimmten Punkten zu einer Essenz verschmelzen.