"Und er wird es wieder tun" - Simone Schmollack - E-Book

"Und er wird es wieder tun" E-Book

Simone Schmollack

4,9
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tatort Beziehung: Jede vierte Frau erlebt Gewalt in der Partnerschaft. Gewalt in der Partnerschaft – jede vierte Frau im Alter zwischen 16 und 85 hat das in Deutschland auf unterschiedliche Weise erfahren. Das reicht von Ohrfeigen, Schlägen, über massive Bedrohung und Psychoterror bis hin zu sexueller Gewalt. Und in 99 Prozent aller Fälle sind Männer die Täter. Simone Schmollack zeichnet auf Basis umfangreicher Studien und zahlreicher Fallbeispiele ein erschreckendes Bild vom Tatort Beziehung. Ein Weckruf an alle, die Gewalt in der Partnerschaft noch immer verharmlosen und Privatangelegenheit betrachten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Simone Schmollack

»Und er wird es wieder tun«

Gewalt in der Partnerschaft

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-664-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

Vorwort So etwas kommt in den besten Familien vor
Einleitung Das passiert doch nur im Suff oder Warum häusliche Gewalt ein gesellschaftliches und kein privates Problem ist
Von Prellungen bis hin zu offenen Wunden
Jeder Fall ist anders und doch ähnlich
Gewaltmythen halten sich hartnäckig
Gewalt gegen Männer
»Solche Probleme gibt es bei uns nicht«
1 Die Luft brennt manchmal in Sekunden oder Warum die Polizei mit Blaulicht losfährt, wenn es heißt, da prügelt sich ein Paar
Der Fall Daniela
Keine Bagatelle mehr
Die Fassade der bürgerlichen Oberschicht
Eigener Lehrstoff: häusliche Gewalt
2 Ohne Spermaspuren keine Anklage oder Warum es im Strafrecht bei sexueller Gewalt heißen muss »Nein heißt Nein«
3 Belagert, belauert, belästigt oder Warum Stalking kein Kavaliersdelikt ist
4 Worte, die wie Fäuste sind oder Warum Psychoterror so vernichtend sein kann wie Schläge und Tritte
Der Fall Lydia
Es beschimpft sie als »vertrocknet«
Der Fall Leyla
5 Vernetzt und verletzt oder Wie das Internet zur digitalen Gewalt werden kann
Der Fall Charlotte
6 Mama, ich will nicht heiraten oder Von traditionellen Familienstrukturen, Zwangsehen und wie das Aufenthaltsrecht Gewalt gegen Heiratsmigrantinnen fördert
Der Fall Dilara
Der Fall Yasmin
Der Fall Malie
7 Ein bisschen Frieden oder Warum geflüchtete Frauen separate Zimmer in Notunterkünften brauchen
Geschlechtsspezifische Fluchtgründe
Kein Schutz im Flüchtlingslager
Unterkünfte nur für Frauen
Die Gewalt in den Zimmern ist unsichtbar
8 Auch wenn der mich mit seiner Krücke verdrischt, kann ich nicht einfach gehen oder Warum Partnerschaftsgewalt auch ältere Menschen trifft
Gewaltsymptome mit Altersgebrechen verwechselt
Guter Mann, böser Mann
Chronische Gewaltbeziehung
9 Alles tut weh oder Was Gewalt mit dem Körper und der Seele der Opfer macht
Folgen psychischer Gewalt werden unterschätzt
Dramatischste Folge: Mord
»Wenn ich jetzt gehe, war alles umsonst«
Der Fall Sabine
10 »Hört endlich auf« oder Warum Kinder mitleiden, wenn Erwachsene gewalttätig sind
Sie hören die Mutter wimmern
Essstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen
Ich halte es zu Hause nicht mehr aus
11 Mehr als ein Dach über dem Kopf oder Warum Frauenhäuser nötig und fast immer überfüllt sind
Ein Frauenhaus ist kein Hotel
Manche Frauen kehren zu ihrem Mann zurück
12 Sie beißt ihm ins Ohr oder Männer sind öfter Opfer von häuslicher Gewalt, als gemeinhin bekannt ist
Gewalt gegen Männer wird belächelt
Sprachlosigkeit der Männer behindert Forschung
Der Fall Jürgen
These von der Frau als häufige Täterin
Wie aus dem Opfer ein Täter wird
Störmomente im neuen Leben
13 Im Zweifel für den Angeklagten oder Wie schwer es sein kann zu beweisen, ob zwei Menschen freiwillig miteinander Sex hatten
14 Es gibt ein Leben danach oder Wie Opfer den Weg aus der Gewalt finden
Tasche packen für den Umzug ins Frauenhaus
»Männer können sich ändern«
Hilfreiche Adressen und Telefonnummern
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
Wichtige Gesetze
Gewaltschutzgesetz
Stalking
Sexualstrafrecht
Dank
Anmerkungen
Literatur

VorwortSo etwas kommt in den besten Familien vor

Mir passiert so etwas nicht. Mein Mann ist friedlich und einfühlsam, ein Feingeist. Niemals würde er die Hand gegen mich erheben. So oder ähnlich antworten viele Frauen, wenn man sie fragt, ob sie Partnerschaftsgewalt kennen.

Viele andere Frauen erleben zu Hause das Gegenteil: Sie werden von ihrem Mann angebrüllt, wenn die Kartoffeln nicht weich genug gekocht sind. Sie stecken Ohrfeigen ein, Tritte in den Bauch und Schläge auf die Oberarme, wenn er wütend von der Arbeit kommt und sich »abreagieren« muss. Sie werden von ihren Männern vergewaltigt, weil diese glauben, sie hätten jederzeit das »Recht« auf Sex mit der Gattin.

So etwas nennt man häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt. So etwas kommt öfter vor, als manche und mancher glaubt. Jede vierte Frau in Deutschland erlebt Gewalt, die Zahl der Übergriffe durch aktuelle oder frühere Partner ist hoch. Es ist auch möglich, dass jemand selbst nicht betroffen ist, vielleicht aber jemand, den man kennt, eine Freundin, eine Bekannte, eine Kollegin – ohne dass man davon weiß. Weil die Betroffenen darüber nicht reden.

Denn so etwas kommt eben nicht vorrangig in »asozialen« Familien vor, bei Trinkern, bildungsfernen Schichten und dem sozialen Prekariat, wie nicht wenige irrtümlicherweise glauben, sondern in allen gesellschaftlichen Gruppen: bei Köchinnen ebenso wie bei Uni-Professorinnen, bei Büroangestellten wie bei Künstlerinnen. Bei Arbeitslosen und Leuten mit Job, bei Kinderlosen und Eltern, bei Eheleuten und unverheirateten Paaren. Bei jungen Paaren und ebenso in langjährigen Beziehungen. Vielfach löst eine Heirat Partnerschaftsgewalt aus. Früher hatte die Frauenbewegung dafür einen Slogan: Trauschein ist Hauschein. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt häusliche Gewalt als Privatangelegenheit, heute wird sie – ausgelöst durch verschiedene Gesetze – als Menschenrechtsverletzung angesehen.

Partnerschaftsgewalt trifft in erster Linie Frauen, aber auch Männer. Sie ist vielfältig: Sie kann verbal und körperlich sein. Eines jedoch haben fast alle Taten gemeinsam: Sie finden in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, es gibt selten Zeugen. Private Orte, gewöhnlich Stätten des Rückzugs und der Geborgenheit, können zu einem Eldorado der Angst, Unsicherheit und Machtlosigkeit werden. In den wenigsten Fällen können Opfer im Vorfeld die Gewalt erkennen. Meist entwickelt sie sich schleichend: aus Liebe und Zärtlichkeit werden Machtdemonstrationen, später Brutalität. Aus dem einst liebevollen Partner wird jemand, vor dem man sich fürchtet.

Trotzdem ist es für nicht wenige Opfer ein Tabu, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Sie schämen sich für die Übergriffe zu Hause, sie streiten Schläge und verbale Verletzungen gegen sich hartnäckig ab. Bekannte Ausreden für sichtbare Zeichen der Gewalt sind Sätze wie »Ich bin die Treppe runtergefallen«, »Ich bin gegen die Tür gerannt«. Das Redetabu tragen häufig auch Nachbarn, Bekannte und Verwandte in sich: Das geht uns nichts an. Damit wollen wir nichts zu tun haben.

Für Opfer ist das eine unerträgliche Situation – und eine Katastrophe. Sie können mit niemandem über die Vorfälle reden, sie fühlen sich alleingelassen, vereinsamen und verharren in der Situation. Für Täter ist das ein Signal, dass sie ungestört weitermachen können.

Doch es gibt einen Ausweg: Reden, die Gewalt öffentlich machen, den Täter anzeigen, Verbündete und Hilfe suchen, möglicherweise in ein Frauenhaus ziehen. Darum geht es in diesem Buch. Es beleuchtet Ursachen, Strukturen, Verlauf, Ausmaß und Folgen von Gewalt. Expertinnen und Experten erklären, informieren, raten. Und: Betroffene Frauen (und zwei Männer) erzählen ihre Geschichten. Was ist ihnen widerfahren? Wie haben sie die Gewalt ihrer Partnerinnen und Partner erlebt? Was konnten sie ihr entgegensetzen? Wie den Gewaltkreislauf durchbrechen? Wer hat ihnen dabei geholfen?

Die Namen und die Altersangaben der Betroffenen wurden verändert, ihre Wohnorte bleiben ungenannt – zum Schutz der Opfer und auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Es war nicht leicht, Frauen zu finden, die über ihr Leben mit Gewalt sprechen. Ich habe sie in Frauenhäusern getroffen, über Beratungsstellen gefunden, sie wurden mir von anderen Menschen und Betroffenen »vermittelt«. Manche Frauen waren scheu und unsicher, ob so etwas überhaupt jemanden interessiert. »Wer will das schon wissen?« war ein Satz, den ich häufig gehört habe während der Recherchen. Nicht wenige Frauen sagten Interviewtermine zu, dann wieder ab, manche erschienen nicht zur Verabredung. Andere Betroffene waren euphorisch, als sie vom Buch hörten, sie drängten darauf, sich mitzuteilen. Denn so etwas, sagten sie,müsse bekannt gemacht werden.

Im Buch geht es ausschließlich um Gewalt zwischen Paaren und Expaaren. Dafür verwende ich den Begriff Partnerschaftsgewalt. Aber ebenso die Formulierung häusliche Gewalt – mit dem Wissen, dass zur häuslichen Gewalt im weiteren Sinne ebenso Gewalt gegen Kinder, Eltern und andere Personen im Haushalt zählt. Allerdings ist der Begriff häusliche Gewalt mittlerweile so etwas wie eine eingeführte Definition, eine Art »Logo« für Angriffe gegen die Partnerin oder den Partner. Die meisten Menschen wissen sofort, worum es geht, wenn der Begriff fällt.

Für das Buch habe ich – neben den Expertinnen und Experten – ausschließlich mit Opfern gesprochen. Das ist eine bewusste Entscheidung. Denn das Buch richtet sich in erster Linie an Opfer, es soll ihnen eine Stimme verleihen. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, ihr Schicksal darzulegen, ihr Schweigen zu brechen und dadurch anderen Betroffenen zu zeigen: Es kann ein Leben jenseits von Gewalt geben.

Das Buch richtet sich auch an Menschen im nahen Umfeld Betroffener: an Freunde, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen. Auch sie können etwas gegen die Gewalt »nebenan« tun: indem sie mit dem Opfer solidarisch sind und Hilfe anbieten (und holen, indem sie die Polizei rufen). Indem sie dem Täter signalisieren: »Ich weiß Bescheid.« Hergestellte Öffentlichkeit kann Teil von Prävention und Schutz sein.

Eine Frau in einem Frauenhaus sagte am Schluss unseres Gesprächs: »Als ich hierher ins Frauenhaus kam, dachte ich, ich bin allein mit meiner Geschichte, mit der Gewalt. Hier habe ich gesehen, dass es vielen anderen Frauen auch so geht wie mir. Das erleichtert mich.« Mittlerweile hat sie die Scheidung eingereicht.

Simone Schmollack, Januar 2017

EinleitungDas passiert doch nur im SuffoderWarum häusliche Gewalt ein gesellschaftliches und kein privates Problem ist

Die Frau steht unter der Dusche, als ihr Mann ins Bad kommt. Er hält einen Topf mit heißem Öl in den Händen und kippt ihn plötzlich über seiner Frau aus. Kurz vorher wollte er noch Sex mit ihr haben. Aber das hat nicht geklappt, der Mann hat eine Erektionsstörung. Im April 2016, ein Jahr nach der Tat, steht der Mann wegen gefährlicher Körperverletzung in Hamburg vor Gericht.1

In Verden liegt eine Frau wochenlang mit einer gebrochenen Hüfte auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Es ist Frühjahr 2015, der Wind fegt um die Häuserecken, die Sonne ist schwach. Die Frau kann sich nicht rühren, jede Bewegung schmerzt, sie braucht für alles Hilfe. Die bekommt sie aber nicht. Ihr Mann kümmert sich nicht um sie, er lässt sie auf der Couch liegen und allmählich verhungern und verdursten.2

Inge ist zwanzig, als sie von ihrem Exfreund Leroy im Frühjahr 2013 erstochen wird. Das Paar hat eine On-off-Beziehung, aber irgendwann will Inge nicht mehr. Sie führt ein eigenständiges Leben mit einem erfüllenden Job und vielen Freunden. Ihr engster Vertrauter ist ihr Zwillingsbruder. Leroy beneidet Inge um ihren Erfolg. An einem gewöhnlichen Vormittag in einer gewöhnlichen Woche steht Leroy vor der Wohnungstür seiner Exfreundin, er will ihr nahe sein, mit ihr reden, etwas mit ihr erleben. Die beiden fahren in einen Wald und schlafen miteinander. Dann greift Leroy zu einem Messer und sticht zu, mitten in die Lunge der jungen Frau. Inge erstickt qualvoll innerhalb weniger Minuten.3

In einer Aprilnacht 2016 wirft in Ludwigshafen der betrunkene und mit Drogen vollgepumpte Ehemann einer 26-Jährigen während eines Streits mit seiner Frau Möbel und Geschirr vom Balkon. Technobeats wummern schon stundenlang durch die Wohnung des Paares, Nachbarn rufen die Polizei. Als die Beamten kommen, beschießt der Mann sie mit einer Signalpistole. Ein paar Polizisten seilen sich über das Dach auf den Balkon des Paares ab, andere brechen die Wohnungstür auf. Die Polizei schätzt den Schaden auf 25 000 Euro.4

Als »Fall Rebecca« geht der Mord an einer 24-Jährigen in Aschaffenburg in die Polizeigeschichte ein. Rebecca ist schwanger und will gegen den Willen ihres Geliebten das Kind bekommen. Im Mai 2015 wird sie mit Kabelbinder erdrosselt. Ihr Mörder ist der Vater ihres Kindes, mit dem sie seit einiger Zeit ein Verhältnis hat. Der 32-Jährige ist verheiratet und hat gar nicht die Absicht, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Also muss die Geliebte »weggeschafft« werden.5

Eine 91-jährige ehemalige Amerika-Korrespondentin des deutschen Wirtschaftsmagazins Handelsblatt wird 2011 im Badezimmer ihres Hauses in Georgetown, einem noblen Stadtviertel in Washington, tot aufgefunden. An ihrem Hals finden sich rote Striemen, die Frau ist erwürgt worden – von ihrem Ehemann. Der 45 Jahre jüngere Kölner streitet das ab. Er sagt, seine Frau sei im Bad hingefallen. Die Obduktion wird später feststellen, dass der gesamte Körper der Frau übersät ist mit Blutergüssen, Prellungen, Druckstellen – frischen wie älteren Verletzungen. Der Mann hatte seine Frau jahrelang schwer misshandelt.6

Im November 2016 schleift ein Mann seine Frau an seinem Auto hinter sich her. Die Frau hängt mit einem Strick um den Hals an der Anhängerkupplung, der Mann fährt mit 80 Kilometern pro Stunde durch die Straßen von Hameln in Niedersachsen. Vorher hat er mehrfach mit einem Messer auf sie eingestochen. Im Auto sitzt der zweijährige Sohn der beiden und hört die Schreie seiner Mutter.7

Das sind zufällig ausgewählte – zugegeben äußerst extreme – Fälle häuslicher Gewalt, die in jüngerer Vergangenheit in Deutschland öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Unter anderem, weil sie besonders brutal und heftig sind, weil sie vielfach mit einem Mord endeten. Die meisten Opfer von Partnerschaftsgewalt sind weiblich, viele Übergriffe bleiben unbekannt. Dabei können sie nebenan in der Nachbarwohnung passieren, bei Gartenfreunden, im Kollegenkreis, beim Sportkumpel. Jeden Tag werden weltweit Millionen von Frauen geschlagen, gekniffen, geboxt, angebrüllt, eingesperrt, psychisch unter Druck gesetzt, bedroht, verfolgt, umgebracht. Meist von ihren Ehemännern, Lebensgefährten, Geliebten, Exmännern und Expartnern.

127 457 Menschen, die 2015 in Deutschland Opfer von Mord, Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, Stalking und Bedrohung geworden sind, wurden von ihren aktuellen oder früheren Partnerinnen und Partnern angegriffen, hat das Bundeskriminalamt (BKA) herausgefunden. 82 Prozent der Opfer waren Frauen. Die Dunkelziffer schätzt BKA-Präsident Holger Münch um ein Vielfaches höher. Er sagt: »Die Zahlen spiegeln das Hellfeld wider, also die Taten, die angezeigt worden sind. Es gibt aber viele Opfer, die sich nicht bei der Polizei melden.«

Jede vierte Frau in Deutschland im Alter zwischen sechzehn und 85 Jahren erfährt auf verschiedene Weise Gewalt durch aktuelle oder durch frühere Beziehungspartnerinnen und -partner.8 Das hat eine aufwändige Prävalenzstudie9 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ergeben, für die 2003 über 10 000 Frauen in Deutschland umfassend zu ihren Gewalterfahrungen befragt worden sind. Die repräsentativen Ergebnisse wurden ein Jahr später veröffentlicht und dienen bis heute – neben den Zahlen der Kriminalstatistik – als wichtiger Beleg für Gewalt gegen Frauen und Männer in der Bundesrepublik.

Danach haben 37 Prozent der Befragten mindestens einmal seit ihrem sechzehnten Lebensjahr körperliche Gewalt erfahren. Das reicht von Wegschubsen, Ohrfeigen und dem Androhen von Gewalt über Schläge mit den Fäusten oder der flachen Hand bis hin zur Bedrohung mit einem Messer oder einer Pistole. Nahezu jede siebte Frau in der Befragung gab an, sexuelle Gewalt erlebt zu haben, von Petting bis hin zu einer Vergewaltigung. Sexuell belästigt wurden 58 Prozent der Frauen, sie wurden an intimen Körperstellen berührt oder zum Schauen von Pornos gezwungen.

40 Prozent der Opfer haben körperliche oder sexuelle Übergriffe oder sogar beides erfahren. Von verschiedenen Formen erlebter psychischer Gewalt – aggressivem Anschreien, Verleumden, Demütigungen, Drohungen, Psychoterror – sprechen 42 Prozent der Frauen. In 99 Prozent aller Fälle waren Männer die Täter.10

Von Prellungen bis hin zu offenen Wunden

Die Gewaltübergriffe haben Folgen: Prellungen, blaue Flecken, Knochenbrüche, Verstauchungen, Kopf- und Gesichtsverletzungen, offene Wunden, Scheidenverletzungen, langjährige Traumatisierungen. Wobei die psychischen Folgebeschwerden in der Regel weniger sichtbar sind, häufig aber umso gravierender. »Die Befunde zeigen, dass alle erfassten Formen von Gewalt und Belästigung in hohem Maße zu psychischen Folgebeschwerden führen können, die von Schlafstörungen, erhöhten Ängsten und vermindertem Selbstwertgefühl über Niedergeschlagenheit und Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken, Selbstverletzung und Essstörungen reichen«, heißt es dazu in der Studie.11 Je nach Art der Gewalt leiden 56 bis 80 Prozent der Opfer an starken psychischen Beeinträchtigungen.

Der internationale Vergleich zeigt, dass die deutschen Werte im mittleren bis oberen Bereich liegen. Obwohl die Studien unterschiedlich gestaltet und zu verschiedenen Zeiten durchgeführt wurden und somit nicht direkt miteinander vergleichbar sind, lässt sich dennoch eine Ahnung davon bekommen, wie es in Europa aussieht. Während in Deutschland jede vierte Frau von Partnerschaftsgewalt betroffen ist, ist es Finnland und in Schweden jede dritte.12 Untersuchungen in Island und Irland Mitte der 1990er Jahre haben ergeben, dass dort jede siebte und zehnte Frau körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch den Partner oder Expartner erfahren hat.13 In der Schweiz hat jede fünfte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Partnerschaftsgewalt erlebt.14 Eine Dunkelfeldstudie in Österreich geht davon aus, dass dort jede fünfte bis zehnte Frau betroffen ist.15

Jeder Fall ist anders und doch ähnlich

Jeder Fall von häuslicher Gewalt ist individuell. Aber es gibt Muster, die sich wiederholen. Zunächst ist die Nähe zwischen den beiden Liebenden groß, kaum jemand kann sich vorstellen, dass das jemals anders sein könnte. Irgendwann aber verändert sich etwas, er wird lauter in der Stimme, wenn das Paar miteinander redet, er will Recht haben und Recht behalten. Sie gibt nach, weil sie nicht will, dass Streits eskalieren, manchmal sagt sie gar nichts mehr. Sie tut alles dafür, damit er nicht aufbraust, nicht ausrastet.

Aber das nutzt nichts, er findet immer einen Grund, sie anzubrüllen, sie zu demütigen, sie unter Druck zu setzen. Und irgendwann gibt er ihr eine Ohrfeige – aus Versehen, wie er später versichern wird: Das sei im Affekt passiert, das sei sonst nicht seine Art. Er sagt auch, dass er das nicht wollte, dass es ihm leid tue. Er bittet sie um Verzeihung.

Sie ist verstört, aber sie liebt ihn, noch immer und trotz allem. Also gibt sie nach, verzeiht ihm. Sie erinnert sich an die schönen Stunden zu Beginn ihrer Beziehung – und sucht die Schuld für seine Aggressionen bei sich selbst. Manchmal bin ich eine blöde Kuh, sagt ihre innere Stimme: Warum muss ich immer genau das machen, was er überhaupt nicht mag. Ich weiß das doch. Das nächste Mal denke ich dran.

Beim nächsten Mal denkt sie dran – aber er flippt trotzdem aus. Seine Schläge werden heftiger, die Drohungen furchterregender, der Psychoterror stärker. Sie leidet, wird krank und schiebt das auf den Stress im Alltag: Kinder, Job, kranke Eltern. Er wird schon wieder zur Vernunft kommen, beruhigt sie sich.

Aber er macht weiter. Sie wird kränker und schwächer, das fordert ihn erst recht heraus. Sie will das alles nicht mehr, sie will, dass es aufhört. Aber es hört nicht auf, das versteht sie irgendwann. Sie denkt über Trennung nach, doch sie traut sich diesen Schritt nicht zu. Wie soll sie leben? Wovon die Miete bezahlen? Und da sind ja auch noch die Kinder. Sie sollen keine Trennungskinder sein. Also bleibt sie, leidet und begibt sich in die innere Emigration. Bis es irgendwann wirklich nicht mehr geht und sie ankündigt, ihn zu verlassen. Das reizt ihn noch mehr, er droht: Du bleibst bei mir, oder es passiert was Schlimmes.

Als er kurze Zeit später erneut zuschlägt, diesmal so heftig, dass sie enorme Schmerzen hat und einen Arzt braucht, verlässt sie ihn. Aber bald bereut sie diesen Schritt und kehrt zu ihm zurück. Sie gehört doch zu ihm, erklärt sie ihren Freundinnen.

So geht das immer weiter. Manche Frauen kommen nie aus der Gewaltbeziehung heraus, andere erst nach Jahren. Diejenigen, die es schaffen, sich zu trennen, beginnen ein neues Leben.

Nicht wenige Gewaltopfer suchen Schutz in einem Frauenhaus. 2014 lebten 7 331 und 7 194 Kinder in bundesweit 186 Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen,16 wie eine Auswertung des Vereins Frauenhauskoordinierung in Berlin ergab. »Auch 2014 setzen sich wesentliche Trends der Vorjahre fort«, heißt es auf dessen Website. Oder anders ausgedrückt: Die häusliche Gewalt ist so groß wie in den Vorjahren.

Gewaltmythen halten sich hartnäckig

Seit 2002 gilt das Gewaltschutzgesetz. Seitdem ist Partnerschaftsgewalt kein Kavaliersdelikt mehr, kein Streit unter Eheleuten, der vorübergeht. Häusliche Gewalt wird von nun an verfolgt und strafrechtlich geahndet. Ein wesentlicher Bestandteil des Gesetzes ist die sogenannte Wegweisung: Der Täter muss die Wohnung für einige Zeit verlassen, das Opfer kann bleiben und muss sich nicht um eine Zuflucht kümmern. Die Polizei hat das Recht, den prügelnden Mann sofort aus der Wohnung zu weisen, dafür braucht sie keinen richterlichen Beschluss.

Seit das Gewaltschutzgesetz gilt, hat sich vieles getan. Mittlerweile ist es gesellschaftlicher Konsens, dass häusliche Gewalt nicht erlaubt ist und bestraft werden muss. Dennoch halten sich hartnäckig sogenannte Gewaltmythen, die körperliche, sexuelle und seelische Übergriffe rechtfertigen, verharmlosen, entschuldigen. Die Mythen reichen von »das passiert nur im Suff« und »unter sozial Schwachen und in bildungsfernen Kreisen« bis hin zu »sie ist doch selbst schuld, warum provoziert ihn auch so« und »wie soll er sich denn sonst wehren, sie ist ihm verbal und intellektuell doch überlegen«.

Andrea Buskotte, Gewaltexpertin und Referentin der Landesstelle Jugendschutz in Niedersachsen, benennt verschiedene Gewaltmythen. Sie widerspricht der These, dass nur sozial Schwache und sogenannte Problemfamilien Gewalt kennen, ebenso wie dem Glauben, dass er nur schlägt, wenn er »etwas getrunken hat«. »Natürlich ist Gewalt auffälliger, wenn sie in einer Etagenwohnung verübt wird und die Nachbarn einiges mitbekommen, als wenn Opfer und Täter in einem Haus mit Garten wohnen und die Nachbarn Streit und Schreie nicht hören.«17 Alkohol sei nicht die Ursache für die Übergriffe, sondern senke lediglich die Hemmschwelle und vermindere die Selbstkontrolle: »Aus diesem Grunde trinken manche Männer, bevor sie zuschlagen.«18

Vielfach wird behauptet, dass eine Frau selbst schuld daran sei, wenn ihr Mann sie gewaltsam zurechtweist – er wird schon seine Gründe haben, heißt es dann. Sie wird ihn provoziert haben. Da kann es schon mal passieren, dass ihm die Hand ausrutscht. Krach gibt es schließlich in jeder Beziehung mal. Ein Mann könne sich ja auch nicht alles gefallen lassen.

All das weist Buskotte zurück. »Es gibt kein ›Fehl‹-Verhalten, mit dem sich Gewalt rechtfertigen ließe.«19 Ebenso widerspricht sie dem Mythos, dass die Frau ja gewusst hätte, wen sie sich da ausgesucht habe, dass sie ihn verlassen könne, wenn sie das wirklich wolle. Solche Unterstellungen nennt Buskotte »zynisch und irreführend«. Weil sie suggerierten, dass Frauen die ihnen widerfahrene Gewalt billigend in Kauf nehmen. Doch niemand kann in andere Menschen hineinschauen und wissen, wie es darin aussieht. Niemand kann vorausahnen, was in der Zukunft passieren wird. Und ebenso wenig zeigen sich Gewalttäter von Beginn an aggressiv und übergriffig.

Solche Vorurteile erklären Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu einem privaten Problem, sie reduzieren massenhafte körperliche, sexuelle und seelische Übergriffe zu Einzelschicksalen, für die jede einzelne Betroffene selbst die Verantwortung zu übernehmen hat. Denn schließlich ist sie nicht ganz unschuldig daran, dass er sich nicht im Griff hat. Warum widerspricht sie ihm auch? Warum fügt sie sich nicht? Warum verweigert sie sich ihm? Warum muss sie ihm zeigen, dass sie klüger und weitsichtiger ist als er?

Häusliche Gewalt ist aber kein privates, es ist ein gesellschaftliches Problem. Wer Gewalt ausübt, will Macht demonstrieren, will die andere oder den anderen unterdrücken, unterwerfen, unterordnen, seinen Willen durchsetzen. Er will, dass die oder der andere genau das tut, was der Gewalttätige vorgibt. Es geht um Besitzansprüche des Mannes, Dominanz, Kontrolle und Eifersucht, sexuelle Ansprüche. Um Verletzen und Beherrschen, um das Festhalten an patriarchalen Strukturen, in denen Frauen den Männern »gehörten« und in denen sie bestraft werden müssen, wenn sie sich widersetzen.

»Die Vorstellung, dass Gewalt ein Ausrutscher ist, verharmlost Gewalt in Beziehungen auf vollkommen unzulässige Weise«, sagt Andrea Buskotte: »Wie kann es sein, dass Männer in beruflichen Situationen immer die Beherrschung wahren und im familiären Raum dagegen ihrem Stress und Ärger freien Lauf lassen?«20 Die meisten gewalttätigen Männer täten das weder zufällig noch einmalig. Sie hätten sich dafür entschieden, ihre Aggressionen im privaten Bereich auszuleben, dort, »wo sie am wenigsten entdeckt und bestraft werden können«, und bei Menschen, die sich am schlechtesten dagegen wehren können: an ihren Frauen und oft auch an ihren Kindern.

Gewalt gegen Männer

Es gibt auch Gewalt gegen Männer. Jungen und Männer werden insgesamt sogar häufiger als Frauen Opfer von Raub, Erpressung, Hausfriedensbruch, Menschenraub, Geiselnahme. Der Polizeilichen Kriminalstatistik21 zufolge werden sie auch häufiger als Frauen verprügelt, bedroht, gestalkt, unter Druck gesetzt, verleumdet, seelisch belastet und/oder ermordet. Die Täter sind in den meisten Fällen Männer.

Eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums belegt, dass Männer hauptsächlich von ihren Geschlechtsgenossen Gewalt erfahren, an öffentlichen Orten wie Freizeitplätzen, Parks, Restaurants, Kneipen, am Arbeitsplatz. Der Untersuchung zufolge sind 80 bis 90 Prozent der Täter Männer, in zwei Drittel der Fälle kannten sich Opfer und Täter nicht.22 Häusliche Gewalt spielt eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Von den rund 130 000 Partnerschafsdelikten 2015 waren laut Bundeskriminalamt 18 Prozent der Opfer männlich.

Dennoch behaupten manche Männerrechtler, Frauen würden genauso oft zuschlagen wie Männer, mitunter gebe es sogar mehr Täterinnen als Täter. So hat der Bremer Soziologe Gerhard Amendt in einer Untersuchung zu Trennungsvätern erfahren, dass es bei einem Drittel der von ihm befragten Männer in der Trennungsphase zu Handgreiflichkeiten zwischen den Männern und ihren Partnerinnen beziehungsweise Expartnerinnen kam. In zwei Drittel der Fälle sei die Gewalt von den Frauen ausgegangen, in 45 Prozent soll sie über einen längeren Zeitraum angehalten haben.23

Auch der Politikwissenschaftler Peter Döge arbeitet mit ähnlichen Zahlen. Die Ergebnisse sind seit der Veröffentlichung umstritten. Nicht nur, weil Amendt und Döge einen sehr weiten Gewaltbegriff haben, wie die Journalistin Heide Oestreich in der taz schreibt: »In den sogenannten Conflict Tactic Scales24 sind verbale Gewalt, Kontrolle und Zwang, leichte und schwere Gewalttaten und auch sexualisierte Gewalt enthalten. Zwischen den Geschlechtern sind diese Gewaltakte ungleich verteilt: Frauen tendieren vermehrt zum Anschreien und zur Kontrolle, Männer üben stärker schwere Gewalt und sexualisierte Gewalt aus.«25 Erfahrungen der Polizei besagen zudem, dass sich Frauen häufig gegen einen prügelnden Mann wehren, der dann Anzeige erstattet26 – wegen häuslicher Gewalt durch seine Frau.

Zusammengefasst und zugespitzt lässt sich sagen: »Gewalt gegen Frauen ist Männergewalt. Gewalt gegen Männer auch.«27

Ungeachtet dessen ist Gewalt gegen Männer nicht so ausführlich untersucht wie Gewalt gegen Frauen. Forscherinnen und Forscher wissen nur vage, wie Männer Gewalt erleben. Wovor fürchten sich Männer? Warum rasten sie aus und schlagen dann zu? Welche Strategien haben sie, um Gewalt zu vermeiden?

Gewalt ist zudem ein wirtschaftliches Problem. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes und die Weltgesundheitsorganisation beziffern die Kosten, die durch häusliche Gewalt entstehen, mit bis zu 13 Milliarden Dollar jedes Jahr – für die Arbeit von Polizei, Justiz, für Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen, für die Beratungsstellen, Therapieeinrichtungen, Krankenkassen.

»Solche Probleme gibt es bei uns nicht«

Gewalt ist kein Phänomen, dem Staat und Gesellschaft hilflos gegenüberstehen. Vor vierzig Jahren, im Herbst 1976, gründeten Frauen in Köln das erste Frauenhaus und machten Gewalt gegen Frauen und Kinder öffentlich. Selten traf der gern zitierte Satz »Das Private ist politisch« auf ein Thema so zu wie hier. Die Kölnerinnen bekamen zunächst Gegenwind, unter anderem vom damaligen Kölner Sozialdezernenten Hans Erich Körner. Ihm wird der Satz nachgesagt: »Solche Probleme gibt es bei uns nicht, machen Sie erst mal eine ordentliche Statistik.«28 Die wenigen gewalttätigen Männer könne man in einer Schubkarre wegfahren.

Doch die Frauen machten keine Statistik, sie machten eine Aktion. Sie verteilten in der Kölner Innenstadt Flugblätter und sammelten Unterschriften von Leuten, die Frauen kennen, die von ihren Männern geschlagen und gedemütigt werden. Innerhalb eines Nachmittags kamen über 2 000 Unterschriften zusammen.29

Seitdem sind überall in Deutschland Frauenhäuser, Zufluchtswohnungen, Beratungsstellen und verschiedene Hilfsorganisationen entstanden. Heute gibt es bundesweit 353 Frauenhäuser und etwa vierzig Zufluchtswohnungen mit insgesamt rund 6 000 Plätzen.30 Seit 2002 das Gewaltschutzgesetz gilt, sind in der Polizeiausbildung häusliche und Partnerschaftsgewalt sowie sexueller Kindesmissbrauch längst selbstverständlich.

Im Juli 2016 wurde das Sexualstrafrecht verschärft: Wer eine verbale Ablehnung auf ein sexuelles Angebot ignoriert, soll jetzt strafrechtlich belangt werden können. Damit wurde das von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen lang geforderte »Nein heißt Nein« im Strafrecht implementiert.

Kein Thema hat in den vergangenen Jahren eine solche Karriere erfahren wie häusliche Gewalt,31 sagt Heike Lütgert, frühere Kriminalhauptkommissarin in Bielefeld. Mittlerweile gibt es Beratungsstellen für Männer – sowohl als Opfer als auch als Täter. Es »gibt kein Gewaltgen, gegen das man machtlos ist«, sagt Heike Lütgert. Neben Gesetzen, die Gewalt eindämmen und bestrafen, ist Prävention nötig, die Frauen und Mädchen stark macht und die Männer erkennen lässt, dass Schlagen und Psychoterror keine zulässigen Mittel sind, eigene Forderungen und Bedürfnisse durchzusetzen.

Gewalt zu verhindern ist eine gesellschaftliche Aufgabe, sagt Andrea Buskotte: »Je mehr Menschen sich heute dieser Forderung stellen, desto größer ist die Chance, dass es ab morgen weniger Gewalt, weniger Opfer und Täter gibt.«32

1Die Luft brennt manchmal in SekundenoderWarum die Polizei mit Blaulicht losfährt, wenn es heißt, da prügelt sich ein Paar

Wenn Nadine Wenzke an Feiertagen wie Ostern, Weihnachten oder Pfingsten Dienst hat, rüstet sie sich. Sie bereitet sich innerlich darauf vor, dass der Polizeinotruf 110 häufiger gewählt wird als sonst. Dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen öfter ausrücken müssen. »Feiertage können Krisentage sein«, sagt Nadine Wenzke. Familien hocken tagelang aufeinander, sie langweilen sich, sie gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Trinken mehr Alkohol als sonst. Bier, Wein, Schnaps lösen Emotionen aus, die die Frauen und Männer nicht mehr im Griff haben. Der Aggressionspegel steigt. Erst ein paar Wortgefechte, dann Vorwürfe, Anklagen, Drohungen: Du bist schuld an meinen Kopfschmerzen. Geh’ endlich arbeiten. Wenn du mir das Geld nicht gibst, bin ich weg.

»Die Luft brennt manchmal in Sekunden«, sagt Nadine Wenzke. »Dann rutscht die Hand schon mal aus und oft schneller, als man glaubt.«

Nadine Wenzke ist eine zierliche Frau mit langen, blonden Haaren, mit einem weichen Gesicht und einer sanften Stimme. Nordisch nobel. Die Jacke ihrer blauen Polizeiuniform schlackert um ihren Körper. Sie ist noch keine vierzig, und man kann sich schwer vorstellen, wie diese zurückhaltende Frau es schafft, unter Strom stehende Männer zu besänftigen und wütende, schreiende Frauen zum Schweigen zu bringen. Aber Nadine Wenzke ist Profi, sie weiß, wie man Eskalationen beendet und Gefühlsausbrüche wieder einfängt.

Sie ist Polizeioberkommissarin, Opferschutzbeauftragte für die Polizeidirektion 4 im Südwesten Berlins und zuständig für Fälle mit häuslicher Gewalt. Rund 16 000-mal im Jahr rückt die Polizei in Berlin aus, um Partnerschaftsstreits und Gewaltausbrüche in Wohnungen zu beenden.

Die Beamten in Wenzkes Revier werden jeden Tag wegen Beziehungsattacken in eines der unscheinbaren Häuser in dem Stadtrandviertel gerufen. Im Kofferraum der Einsatzwagen liegen Schutzausrüstungen, die Fahrzeuge düsen mit Blaulicht los. »Damit es nicht zum Äußersten kommt«, sagt Wenzke.

Damit nicht wieder ein Mann so lange auf seine Frau eindrischt, bis sie leblos am Boden liegt, so wie vor einem Jahr in einem anderen Viertel der Stadt. Damit ein anderer seine Freundin nicht so lange würgt, bis sie keine Luft mehr kriegt. Damit nicht die nächste Frau versucht, ihren Mann, der sie seit Jahren grün und blau prügelt, mit dem Hammer zu erschlagen. Aus Notwehr, wie sie später sagen wird.

Die Kaffeemaschine auf dem Sideboard in Wenzkes Büro surrt, daneben Milch im Tetra Pak und eine Packung Kekse. Das Büro ist ein praktisch eingerichteter Raum, zwei Schreibtische, zwei Stühle, Aktenschränke. Nadine Wenzke teilt sich das Büro mit einer Kollegin. Die Gegend, für die sie zuständig sind, ist unauffällig. Altneubauten zwischen Pappeln und Kastanien, Bushaltestellen in kurzen Abständen, Radwege, viele Rentner. Am Vormittag sind die Straßen wie leergefegt.

»Die Auslöser für die Wutausbrüche der Männer sind mitunter banal«, berichtet Wenzke: Das Essen ist versalzen. Das Bier steht nicht rechtzeitig auf dem Tisch. Der Dreckwäschekorb quillt über. Die Kinder sind zu laut.

»Keine Gründe, die einen Übergriff rechtfertigen würden«, sagt die Kommissarin. »Häufig sind die Gründe an den Haaren herbeigezogen.«

Besonders gefährlich werden kann es für Frauen, wenn sie sich von ihrem Mann oder Lebensgefährten trennen wollen.

»Manche Männer verkraften es nicht, wenn die Frau ihren eigenen Weg gehen will«, hat Nadine Wenzke erlebt. »Sie sind es gewohnt, dass die Frau macht, was der Mann will, dass er die Oberhand hat. Wenn die Frau androht oder ankündigt zu gehen, fühlen sich die Männer ihrer Machtposition und ihrer Stärke beraubt. Um dieses Gefühl zu kompensieren, schlagen manche zu.«

Der Fall Daniela

Eineinhalb Jahre lang hat Daniela Torstens Wutausbrüche ertragen, seine Eifersuchtsszenen, die vollkommen unbegründet waren. Seine Raserei, wenn er getrunken hatte. Dann flogen schon mal Gabeln und Messer durchs Wohnzimmer, Teller und Porzellankannen krachten auf den Küchenboden. Drei Jahre hielt sie es aus. Weil sie nach jedem Streit hoffte, dass es das letzte Mal gewesen war, dass er so ausrastete. So wie er immer wieder versprochen hatte. Dass er sich das nächste Mal zusammenreiße. Dass wieder alles gut werde.

Es hatte so schön angefangen mit den beiden, romantisch, harmonisch. Daniela erinnert sich gern, wie es mal war zwischen ihnen. Das ist mein Märchenprinz, hatte sie geglaubt, als sie ihn kennenlernte. Den will ich heiraten, schoss es ihr in den Kopf. Mit dem will ich Kinder haben.

Sie trafen sich bei einem Musikfestival. Eine seidige Sommernacht mit einem viel versprechenden Sternenhimmel, die Luft ein wenig feucht, aber angenehm warm. Die Musik hämmerte von der Bühne bis an den Wiesenrand, wo Daniela und ein paar ihrer Freundinnen tanzten. Daniela war 28 zu jener Zeit, sie hatte ein paar Freunde gehabt und etliche Liebhaber. Aber die große Liebe war nicht dabei. Daniela sehnte sich nach jemandem, mit dem sie »eins werden« konnte. Keine vollständige Symbiose, das nicht, das wollte sie nicht. Aber es sollte jemand sein, mit dem sie ein wortloses Verständnis verband. Mit dem sie eng zusammen sein, aber doch sie selbst bleiben konnte. Dem man einen Zettel auf den Küchentisch legen durfte: »Komme heute später, bin mit Marlies im Kino.« Und der ihr keine Vorhaltungen machte, weil er den Abend mit ihr verbringen wollte.

Sie tanzte mit nackten Füßen, sie spürte das spitze Gras unter ihren Fußsohlen. Und sie spürte, wie sie jemand beobachtete. Sie schaute hoch und sah Torsten. Er lehnte an einem Baum, ein großer Typ, vielleicht dreißig, vielleicht ein wenig älter. Dunkelblond, aufgeräumtes Gesicht. Sympathisch, dachte Daniela. Dann kam der Mann auf sie zu und fragte, ob er mittanzen dürfe. Klar, warum nicht, das hier ist doch keine Tanzschule, bei der nur Paare »zusammen tanzen« dürften.

Sie kamen ins Gespräch, sie lachten, sie tranken Bier und rauchten einen Joint. Alles ganz normal. Alles sehr schön. Sie tauschten Handynummern und E-Mail-Adressen. Am nächsten Morgen fand Daniela Rosengrüße in ihrer Mailbox. Sie war entzückt: Da weiß einer Bescheid, der kann mit Frauen umgehen. Daniela war aufgeregt, glücklich, jetzt oder nie, sagte sie sich. Und stürzte sich in diese Beziehung.

»Die ersten Wochen waren ein Traum«, sagt Daniela. »Er trug mich auf Händen. Er las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Ich weiß, das klingt kitschig, aber so war es.«

Nach vier Monaten zog sie bei ihm ein. Sie fuhren ans Meer, in die Berge, in ein Wellnesshotel mit Sauna, Fitness, Massage, das ganze Programm. Sie fühlte sich schön, sie fühlte sich begehrt. Sie strahlte Glück und Zufriedenheit aus. Das sahen auch andere, auch andere Männer. Manche starrten sie ungeniert an.

»Was glotzt der da drüben so blöd«, fragte Torsten eines Abends, als sie in einem Restaurant saßen und ein Mann zwei Tische weiter sich nicht mehr auf seine eigene Begleiterin konzentrieren konnte, sondern nur zu Daniela und Torsten schaute.

»Was weiß ich«, antwortete Daniela, »lass den doch glotzen.«

Sie sagte wohl auch noch etwas wie: »Der findet mich offenbar schön. Ist doch super!«

Draußen auf der Straße fing Torsten erneut an, über den »Glotzer« zu reden. Dass der wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Aber sie, Daniela, nicht ganz unschuldig daran sei, dass der »sich gar nicht mehr einkriegte«. Sie habe sich nämlich ganz schön geräkelt und gesonnt in dem Gefühl, dass die Männer sie »am liebsten verschlingen« würden.

»Was ist daran so schlimm?«, fragte Daniela.

»Alles«, sagte Torsten.

»Nun spiel mal nicht den Eifersüchtigen.«

»Ich bin doch nicht eifersüchtig.«

»Doch.«

»Bin ich nicht.«

»Bist du doch.«

»Spinnst du.«

Ein Wort gab das andere. Und dann schlug er zu. Mit der flachen Hand mitten in ihr Gesicht. Es klatschte laut. Wie versteinert stand sie da. Er auch.

»Tut mir leid«, stotterte er nach einer Schrecksekunde, »tut mir so leid, das wollte ich nicht.«

Sie konnte nichts sagen, war nur erschrocken über seine Überreaktion. Was hatte er getan?

Daniela ist eine große, üppige Frau, mit naturroten Locken und Sommersprossen, die bis auf ihre Handrücken kriechen. Sie hat eine tiefe Stimme und kräftige Oberarme. Selbstbewusst, eigensinnig, stark. Sie arbeitet als freiberufliche Hebamme, mit Krisensituationen weiß sie umzugehen. So eine Frau lässt sich von einem Mann schlagen?

»Ich konnte es selbst nicht fassen, als er das erste Mal zuhaute«, erzählt sie. »Ich war darauf auch nicht vorbereitet. Bei den Geburtsvorbereitungskursen und im Kreissaal erlebe ich viele Männer, unsichere, fordernde, die alles besser wissen und so tun, als bekämen sie die Kinder. Typen, die versuchen, mich herumzukommandieren. Aber mit jemandem, der seine Kräfte nicht unter Kontrolle hat, hatte ich überhaupt keine Erfahrung.«

Nach dem ersten Mal, als Torsten auf der Straße vor Eifersucht platzte und sie ohrfeigte, sich aber augenblicklich dafür entschuldigte, tat er ihr fast wieder leid. Sie fand es »rührend«, wie er sie anflehte, das eben bitte schnell zu vergessen. Weil es nie, nie, nie wieder vorkommen werde. Sie glaubte ihm. Warum auch nicht?

»Er hatte Tränen in den Augen, er umarmte mich und hielt mich ganz fest«, sagt sie. »Wie sollte ich da nicht weich werden?«

Sie gingen nach Hause und sprachen einige Tage wenig miteinander. Beide waren benommen von dem Erlebnis. Irgendwann kehrten der Alltag und die Sprache zurück in die Zweizimmerwohnung in der Großstadt. Daniela erzählte von den Schwangeren, die sie betreute, Torsten von seinen »Kunden«, er arbeitete in einem Wettbüro für Pferdetoto.

Der Job machte ihm Spaß, die Wetten brachten viel Geld. Aber die Arbeit raubte auch viel Zeit. Immer öfter kam Torsten später nach Hause, und immer öfter umwehte ihn Alkoholdunst. Wenn Daniela fragte, ob er getrunken habe, stritt er es ab. Aber sie roch es. Und es gefiel ihr nicht. Sie fragte sich, ob sie sich auf ihn verlassen könne, wenn sie gemeinsame Kinder hätten. Sie wollte nicht immer nur mit den Kindern anderer Frauen zu tun haben, sie wollte ihr eigenes Baby wickeln, stillen, im Tuch durch die Straßen tragen. Am liebsten hätte sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ganz klassisch.

Sie fragte sich: Würde sie mit Torsten eine Familie sein? Würde er sich ändern, wenn sie schwanger wäre?

Sie war sich unsicher. Er schaffte es ja nicht einmal jetzt, ohne Kinder, einzukaufen, wenn sie spontan zu einer Geburt ins Krankenhaus gerufen wurde.

Sie zankten immer öfter, sie verlangte von ihm, abends nicht mehr mit seinen Kollegen in die Kneipe zu gehen. Er zeigte ihr einen Vogel: »Seit wann lasse ich mir vorschreiben, was ich zu tun habe.«