Ich will nicht weg von hier - Veronika Weydt - E-Book

Ich will nicht weg von hier E-Book

Veronika Weydt

5,0

Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Leise schloß sich die Tür hinter der imposanten Gestalt von Erika Fritzmann, ihres Zeichens Leiterin des Kinderheims »Haus Waldeck«. Michael Wenzel ließ langsam Luft aus seinen aufgeblähten Wangen entweichen. Seine Freundin Tanja drehte dramatisch die Augen zur Zimmerdecke und setzte gerade an, um eine, wie sie meinte, passende Bemerkung über Frau Fritzmann loszuwerden, als sich die Küchentür erneut öffnete. »Und absolute Ruhe!« flüsterte Erika Fritzmann mit erhobenem Zeigefinger. Ohne eine Reaktion auf die Warnung abzuwarten, verschwand sie wieder. »Absolute Ruhe!« äffte Tanja sie nach, sobald die Gefahr vorüber war und auch die Haustür ins Schloß gefallen war. Der fünfjährige Michael kicherte. Er stand auf, lief zur Küchentür und legte die Hand auf die Klinke. »Dies ist ein besonders wichtiger Tag«, begann er mit verstellter Stimme. »Wichtig ist er für mich, weil ich große Hoffnungen in…« Er stoppte, um sich nicht zu verheddern. Mit den Zähnen zupfte er an seiner Oberlippe und überlegte. Tanja war zweifellos die bessere Schauspielerin. Und wenn es darum ging, die Heimleiterin zu imitieren, war sie eindeutig unschlagbar. Die ebenfalls Fünfjährige nahm Michaels Platz ein, nicht, ohne vorher den Freund unsanft zur Seite geschubst zu haben. Der Junge nahm grinsend Platz und legte den Kopf in die Hände. »Du bist jetzt die Tante Erika«

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Leseprobe: Jerry wünscht sich einen großen Bruder

Dr. Lutz Brachmann blickte den blassen stillen Jungen, der neben ihm im Wagen saß, besorgt an. »Wir sind in Sophienlust, Christoph«, sagte er behutsam. »Es wird dir hier gefallen. Alle werden dich liebhaben, und du wirst sie auch liebgewinnen.« »Ich werde nie mehr jemanden liebhaben«, erwiderte der Junge trotzig. »Mir werden ja doch alle weggenommen, die ich liebhabe.« Aller Schmerz um ein unbegreifliches Geschick lag in diesen Worten, so dass Lutz Brachmann tröstend über den dichten Haarschopf strich. Doch Christoph Wendland zuckte zurück. »Nun steigt aber endlich aus«, sagte da eine frische Jungenstimme. »Wir warten schon lange.« »Das ist Dominik, Christoph. Ich habe dir von ihm erzählt«, äußerte Dr. Brachmann eindringlich. »Er wird dein Freund sein.« »Ich will keinen Freund«

Mami Classic – 19 –

Ich will nicht weg von hier

Veronika Weydt

Leise schloß sich die Tür hinter der imposanten Gestalt von Erika Fritzmann, ihres Zeichens Leiterin des Kinderheims »Haus Waldeck«.

Michael Wenzel ließ langsam Luft aus seinen aufgeblähten Wangen entweichen. Seine Freundin Tanja drehte dramatisch die Augen zur Zimmerdecke und setzte gerade an, um eine, wie sie meinte, passende Bemerkung über Frau Fritzmann loszuwerden, als sich die Küchentür erneut öffnete.

»Und absolute Ruhe!« flüsterte Erika Fritzmann mit erhobenem Zeigefinger. Ohne eine Reaktion auf die Warnung abzuwarten, verschwand sie wieder.

»Absolute Ruhe!« äffte Tanja sie nach, sobald die Gefahr vorüber war und auch die Haustür ins Schloß gefallen war.

Der fünfjährige Michael kicherte. Er stand auf, lief zur Küchentür und legte die Hand auf die Klinke. »Dies ist ein besonders wichtiger Tag«, begann er mit verstellter Stimme. »Wichtig ist er für mich, weil ich große Hoffnungen in…« Er stoppte, um sich nicht zu verheddern. Mit den Zähnen zupfte er an seiner Oberlippe und überlegte.

Tanja war zweifellos die bessere Schauspielerin. Und wenn es darum ging, die Heimleiterin zu imitieren, war sie eindeutig unschlagbar. Die ebenfalls Fünfjährige nahm Michaels Platz ein, nicht, ohne vorher den Freund unsanft zur Seite geschubst zu haben.

Der Junge nahm grinsend Platz und legte den Kopf in die Hände. »Du bist jetzt die Tante Erika«, verlangte er überflüssigerweise und trat vergnügt gegen das Tischbein – immer wieder, mit jedem Fuß abwechselnd, so daß das Wasser in den Pinselbechern für die Wasserfarben gefährlich hin und her schwappte.

»Dies ist ein besonders wichtiger Tag«, wiederholte Tanja mit in die Höhe gerecktem Näschen Michaels Part. »Wichtig ist er für mich, weil ich mir die Suche nach einer neuen Erzieherin nicht leicht gemacht habe.«

Sie hielt inne und fuhr mit den Fingern durch die dichte blonde Mähne. In der Tat erinnerte diese Handbewegung an Erika Fritzmann. Wenn sie, was selten vorkam, nervös war, zupfte sie ständig an ihrer makellosen Frisur.

»Wichtig ist er für euch«, fuhr Tanja fort, »weil ihr eine gute Erzieherin verdient habt. Ihr seid die jüngsten in ›Haus Waldeck‹ und ihr seid die, die Liebe und Fürsorge so besonders dringend brauchen.«

Michael hielt sich beide Hände vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.

Tanja hatte ein Stück Küchenkrepp von der Rolle gerissen und tupfte sich unsichtbare Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich glaube, meine Suche war erfolgreich«, setzte sie ihre Rede fort. Doch dann war es auch um ihre Beherrschung geschehen. Sie flitzte auf die Küchenbank zu dem Jungen, und nun lachten sie gemeinsam so, wie Kinder nur eben lachen können – ungehemmt, glucksend und vor allem laut.

Ihr Gelächter war überall zu hören, und es dauerte keine Minute, ehe die anderen Bewohner des kleinen Häuschens durch Gebrüll kundtaten, daß auch sie gehört hatten und unsanft aus ihrem Mittagsschläfchen geweckt worden waren.

»Haus Waldeck« war keins der Kinderheime, wie sie in unserer Vorstellung existieren. Es war vielmehr ein Dorf, richtiger ein Mini-Dorf am Waldrand.

Eine breite Allee aus hundertjährigen Platanen führte auf das Haupthaus des ehemaligen Guts Waldeck. Das schmiedeeiserne Tor war heute nicht mehr dunkelgrün, sondern in einem leuchtenden Blau gestrichen.

Das gleiche Blau fand sich in Außentüren und Fensterläden des großen Hauses wieder. Die breite Veranda, die das Gutshaus umgab, war Tummelplatz für etwa sechzig Kinder, die in »Haus Waldeck« eine neue Heimat gefunden hatten.

Die Kinder wohnten in umgebauten Stallungen, Dienstbotenunterkünften, dem Forst- und Verwalterhäuschen und dem ehemaligen Heim des Gärtners.

Erika Fritzmann hatte vor genau zehn Jahren die Idee, ein Kinderheim als Dorfgemeinschaft zu gestalten. Was sie liebevoll geplant und realisiert hatte, war ihr gelungen. Die bis zu acht Kinder, die in einer Gemeinschaft zusammenwohnten, waren einander zugetan, wie es echte Geschwister in einer funktionierenden Familie sind – mit dem Unterschied, daß richtige Geschwister unterschiedlich alt sind. Jede Gruppe bewohnte ein eigenes »Haus« mit Garten. Gemeinschaftsräume, Musikzimmer, Turnhallen und mehr befanden sich im ehemaligen Gutshaus. Hier lebte auch Erika Fritzmann selbst, hatte dort die Büros für zwei Sekretärinnen untergebracht und empfing hier die Paare, die sich ein Kind wünschen, aber keines bekommen können.

Denn in »Haus Waldeck« lebten Kinder, deren Eltern tot oder nicht mehr für die Erziehung ihrer Kinder zuständig waren.

Viele größere Kinder wohnten schon seit Jahren in einem der Häuser. Sie gingen »außerhalb« zur Schule, nahmen an Jugendgruppen teil und trafen durchaus Verabredungen mit Kindern, die nicht in »Haus Waldeck« lebten. Sie würden mit ihrer Volljährigkeit ausziehen, sofern sie es wünschten, um ein eigenes Leben zu beginnen. Da ihnen immer der Kontakt nach außen gewährt war, gab es keine Schwierigkeiten.

Die kleinsten Kinder waren im alten Forsthaus und in einem Teil der ehemaligen Scheune untergebracht. Dies waren die Kinder, die für eine Adoption in Frage kamen. Sie waren noch so jung, daß sie sich später nicht mehr an ihren Aufenthalt im Kinderheim erinnern würden. In ihrer Vorstellung würden die Adoptiveltern immer die rechtmäßigen Eltern gewesen sein.

Jede Wohngemeinschaft hatte einen Namen. Das Forsthaus hieß nicht mehr Forsthaus, sondern nannte sich »Haus Haselmaus«. Die Babys und Kleinkinder waren folglich die »Haselmäuschen«.

In der ehemaligen Scheune lebten die »Eichhörnchen«. Das waren die beiden Zweijährigen, Reimund und Norbert, Zwillinge, die ihre sechzehnjährige Mutter gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte, und die Babys Gerlinde und Ulrike. Gerlinde lebte ebenfalls seit ihrer Geburt im Haus der »Eichhörnchen«, während die neun Monate alte Ulrike erst vor ein paar Wochen dort eingezogen war. Außerdem lebten hier Michael und Tanja. Sie genossen so etwas wie eine Sonderstellung und nannten sich selbst stolz die »Obereichhörnchen«. Eigentlich gehörten sie gar nicht mehr in das Haus, das ausschließlich Babys und Kleinkinder aufnehmen sollte. Aber die beiden Unzertrennlichen hatten derart heftig protestiert, als sie zu den

Kindergartenkindern umziehen sollten, daß Erika Fritzmann ein Auge zugedrückt hatte. »Wo bliebt meine Idee von der Familiengemeinschaft«, sagte sie, »wenn ich diese beiden entwurzele, nur damit sie unter Gleichaltrigen aufwachsen?«

Michael und Tanja hatten nichts dagegen, wenn die anderen Bewohner wechselten, es also ständig neue »Eichhörnchen« gab. Hauptsache, sie blieben in ihrer Scheune. Vormittags verließen sie ihr Heim ohnehin, um in den Kindergarten zu gehen, und nachmittags beschäftigten sie sich sogar schrecklich gerne mit den wesentlich jüngeren Hausgenossen. Meistens jedenfalls. Klar, daß der nahe Wald, die Kinder und die anderen Häuser und die zahllosen Spielmöglichkeiten in und um »Waldeck« ein breites Beschäftigungsfeld für zwei aktive Fünfjährige bot.

Vor einiger Zeit hatte es allerdings Veränderungen gegeben, auf die Michael und Tanja

keinen Einfluß hatten. Ihre langjährige Erzieherin und »Ersatz-Mami« hatte gekündigt, da ihre Mutter ein Pflegefall geworden war und die Tochter sie im eigenen Heim pflegen wollte. Gundula Bauer hatte sie abgelöst – und es ganze zwei Wochen bei den »Eichhörnchen« ausgehalten. Ihr Wunsch, noch vor dem Ende der Probezeit auszuscheiden und Erika Fritzmanns Entschluß, ihr fristlos zu kündigen, ergänzten sich.

Erika hatte es sich nicht leicht gemacht und viele Erzieherinnen zu sich gebeten. Sie hatte sie ausgefragt, geprüft, beurteilt. Das Glück ihrer »Eichhörnchen« lag ihr sehr am Herzen, waren sie doch so jung und so empfänglich für Fehler, die erwachsene Menschen an ihnen begehen konnten. Schließlich war ihre Wahl auf die fünfundzwanzigjährige Verena van Hoven gefallen.

Und diese Verena van Hoven sollte an diesem Tag den »Eichhörnchen« vorgestellt werden. Erika selbst hatte die Wochen, da die Kinder ohne Erzieherin waren, deren Platz eingenommen. Sie hatte die Nacht in der Scheune verbracht und sich tagsüber die Aufsicht mit den anderen Erzieherinnen geteilt.

Da der ganze Tagesablauf nach einem Stundenplan zurechtgeschnitten war – geschnitten sein mußte, denn sonst würde in kürzester Zeit das Chaos regieren – konnte sie sich planmäßig um dreizehn Uhr zurückziehen, um Verena van Hoven zu empfangen. Um diese Zeit hatten die Kinder gegessen, und die vier Kleinen lagen in ihren Bettchen und schliefen. Den großen, Michael und Tanja, mußte man allerdings immer wieder sagen, daß sie sich still beschäftigen sollten, damit die kleinen nicht geweckt wurden.

Nichts ist einfacher, als ihnen eine Aufgabe über die Mittagszeit zu geben, hatte Erika gedacht. Sie schrieb in großen Blockbuchstaben dann auf eine weißen Tapetenbahn einen Willkommensgruß für Verena van Hoven. Die Kinder sollten die einzelnen Lettern bunt gestalten, Papierschnipsel aufkleben, Wasserfarben benutzen und Wollreste einfügen.

Das Problem war, Michael und Tanja hatten keine Lust,

den Willkommensgruß für »die Neue« zu basteln. Sie hatten mit der letzten eine Bauchlandung erlitten und hatten beschlossen, diese Neue von vornherein abzulehnen.

Natürlich sagten sie Erika Fritzmann nichts von ihren düsteren Absichten. Eigentlich mochten sie nämlich die Tante Erika herzlich gerne. Man konnte nicht so doll rumalbern mit ihr, okay. Dafür war sie ja auch eine Respektsperson, die selbst die Erzieherinnen höllisch ausschimpfen konnte. Aber Tante Erika konnte wundervolle Geschichten erzählen. Sie las sie nicht aus einem Buch vor, sondern hatte sie alle im Kopf. Super! fand Tanja, für die Ideenreichtum, Phantasie und Schauspielerei das Höchste waren. Außerdem konnte Tante Erika herrlich trösten. Sie gab einem das Gefühl, daß das Leben auch noch weiterhin lebenswert war – auch wenn man nach einem Sturz mit den neuen Rollschuhen sicher nie wieder würde laufen können…

Wenn Tanja die Heimleiterin imitierte und Michael damit zum Lachen brachte, meinte sie es nicht böse. Und trotzdem sollte Tante Erika von Tanjas schauspielerischen Fähigkeiten lieber nichts bemerken. Als das Gebrüll der Kleinkinder einsetzte, sahen sich die Kinder betroffen an.

»Du sagst nichts!« zischte Tanja und sprang auf.

»Denkste, ich bin blöd«, verteidigte Michael sich. »Ich sag’ doch nicht, warum sie wach geworden sind. Obwohl – du warst klasse, Tanja.«

Die Sommersprossen auf Tanjas Näschen tanzten, als sie noch einmal begann, diesmal allerdings wesentlich leiser: »Dies ist ein besonderer Tag…«

Sie kam nicht weit, denn Erika Fritzmann hielt sich nicht weit von der Scheune auf. Sie war mit dem Gefühl, die neue Erzieherin verpaßt zu haben, wieder auf dem Weg zu den »Eichhörnchen«. Vielleicht hatte Verena van Hoven sie, Erika, ja mißverstanden und war gleich zu den Kindern gegangen, obwohl sich Erika nicht erinnern konnte, derartiges mit ihr ausgemacht zu haben.

Der kleine Norbert weinte wie immer am lautesten. Reimunds Wimmern klang herzzerreißend, und das Geschrei der Babys war nicht eindeutig zuzuordnen. Erikas Schritt beschleunigte sich, und sie riß die Scheunentür auf.

»Warum habt ihr sie geweckt?« rief Erika, als sie zur Küche hereinstürzte. Aber sie würdigte die Übeltäter kaum eines Blickes, sonders eilte an ihnen vorbei zu den Kinderzimmern.

Michael bekam einen hochroten Kopf und begann sofort, kleine Papierstückchen auszuschneiden. »He, kleb die mal auf die Buchstaben, so, wie sie es haben will«, bat er das Mädchen.

»Was ist mit dir los?« wollte Tanja wissen. »Hatten wir nicht gesagt, daß wir so ’nen Blödsinn nicht mitmachen?«

»Sie ist doch schon ärgerlich genug...«

»Na und?«

»Ich meine sie wird ziemlich schimpfen.«

Tanja sah ihn verächtlich an. »Natürlich wird sie schimpfen«, wisperte sie, damit Erika sie nicht hören konnte, »aber deswegen brauchen wir der Neuen noch lange keinen Willkommensgruß zu basteln.« Demonstrativ malte sie mit dem Klebestift einen Kreis neben das Papier, mitten auf den Tisch. Auf die Leimspur pappte sie einige von Michaels Schnipseln.

Michael nagte wieder mal an der Unterlippe und überlegte angestrengt. Sollte er Tante Erikas Zorn auf sich ziehen oder sollte er seiner Freundin in den Rücken fallen? Wenn er anfing zu basteln, sah es so aus, als hätte auch Tanja mitgeholfen. Aber Tanja wollte unter allen Umständen streiken, wie sie es nannte. Was sollte er also tun...? Die Entscheidung wurde dem kleinem Jungen abgenommen, noch ehe er seiner Herzdame gerecht werden konnte. Denn unmittelbar nach einem leisen Klopfen öffnete sich die Tür, und »die Neue« trat ein.

*

»Hallo, Tanja«, begrüßte die junge Frau das Mädchen, das sie mit unverhohlener Neugierde anstarrte. »Hallo, Michael«, sagte sie auch in seine Richtung. Sie ließ eine riesige Reisetasche auf den Boden gleiten und schälte sich aus einem violetten Trackingrucksack. Sie öffnete die Jeansjacke und atmete aus.

»Der Rucksack hat mir schier die Luft abgedrückt«, erklärte sie lachend, zog die Jacke kurzerhand ganz aus, warf sie über die Reisetasche. Ein blaues Halstuch mit weißen Punkten sollte auf demselben Haufen landen, rutschte aber zu Boden. Verena schien es nicht zu stören. Die Blicke der verstummten Kinder schien sie genausowenig zu stören. Ungerührt nestelte sie an ihren Schnürschuhen herum, bis sie den festen Doppelknoten gelöst hatte. Sie schlüpfte aus den Schuhen, streckte die Beine aus, wie man es gerne nach einer langen Reise tut, und spielte mit den wollbesockten Zehen.

»Dreckschuhe gehören nach draußen«, informierte Tanja die junge Frau.