Ich wünsch' dir nur das Beste - Mason Deaver - E-Book

Ich wünsch' dir nur das Beste E-Book

Mason Deaver

5,0

Beschreibung

Als Ben De Backer sich gegenüber den Eltern als nicht-binär outet, wird Ben aus dem Haus geworfen und hat keine andere Wahl, als bei der entfremdeten älteren Schwester einzuziehen. Ben kämpft mit einer Angststörung, die durch die Ablehnung der Eltern noch verstärkt wird, und offenbart sich nur einer Handvoll von Menschen. Aber Bens Versuche, unbemerkt die letzte Hälfte des Abschlussjahres zu überstehen, werden vereitelt, als Nathan Allan, ein lustiger und charismatischer Student, beschließt, Ben unter seine Fittiche zu nehmen. Während die Freundschaft von Ben und Nathan wächst, entwickeln sie Gefühle füreinander, und was als Katastrophe begann, sieht so aus, als könnte es nun eine Chance sein, ein glücklicheres neues Leben zu beginnen. "Ich wünsch' dir nur das Beste" ist ein Roman, der abwechselnd herzzerreißend und fröhlich ist. Es ist ein kraftvolles Buch über Freundschaft und Liebe und ein leuchtendes Zeichen der Hoffnung für alle, die manchmal am Leben verzweifeln könnten.

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Inhalt

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Eins

Zwei

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Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Epilog

Danksagungen

[Informationen zum Buch]

[Informationen über die Autor*in]

Guide

Cover

Titelseite

Inhalt

Für Robin, du warst von Anfang an da

CONTENT NOTE

Die Charaktere in „Ich wünsch dir nur das Beste“ sind mit vielen Situationen konfrontiert, die Leser*innen als belastend und stressig empfinden können. Die Geschichte umfasst unter anderem Angststörungen, Depression, Einsamkeit, Geschlechtsdysphorie, Misgendering, Misogynie, Panikatacken, psychische Gewalt, queerfeindliche Eltern, Queerfeindlichkeit, Suizidgedanken, ein traumatisches Coming-out Erlebnis. Wenn Du auf eines der oben genannten Themen besonders empfindlich reagierst und dieses Buch trotzdem lesen möchtest, stelle sicher, dass du die Unterstützung deines Umfelds hast.

Mason Deaver

I WISH YOU ALL THE BEST

Text copyright © Mason Deaver, 2019

© 2023 Katalyst Verlag für die deutschsprachige Ausgabe

Alle Rechte, auch die der Bearbeitung oder auszugsweisen Vervielfältigung, gleich durch welche Medien, vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwas Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-949-315-50-3 | Katalyst #004

Katalyst Verlag ist eine Marke der Luna Ventures GmbH, Prenzlauer Allee 186, D-10405 Berlin

www.katalystverlag.de

Übersetzung: Luca Mael Milsch

Lektorat: Franca Bohnenstengel

Sensitivity Reading: Marius Schaefers

Korrektorat: Sophie Niemann

Satz und E-Book-Umsetzung: Arnold & Domnick, Leipzig

Verleger*innen: Anna & Lukas Kampfmann

Hinweis: Die Webseiten, die in diesem Buch aufgeführt sind, sind das Eigentum der jeweiligen Besitzer*innen. Der Katalyst Verlag hat keinen Einfluss auf die Webseiten, die in diesem Buch genannt werden, und trägt keine Verantwortung für die Inhalte, Genauigkeit oder die Produkte und Dienstleistungen, die auf diesen Webseiten angeboten werden. Eine Inanspruchnahme der Dienstleistungen, die auf diesen Webseiten angeboten werden, erfolgt auf eigene Gefahr. Daher empfehlen wir, die allgemeinen Geschäftsbedingungen, Datenschutz- erklärung und sonstige Hinweise der Webseiten zu lesen, bevor diese benutzt werden. Dieses Buch ist eine Veröffentlichung des Katalyst Verlags und wurde von keiner anderen Person oder Körperschaft genehmigt, empfohlen oder lizenziert.

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Epilog

Danksagungen

Übersetzer*innen-Hinweis:

Bei dieser Übersetzung war es uns (Übersetzer*in, Lektor*in und Verlag) wichtig, das Spektrum nichtbinärer Lebensrealitäten auch sprachlich abzubilden. Für die beiden Figuren Ben und Mariam haben wir uns deswegen für unterschiedliche Pronomen entschieden, die zwei gebräuchliche Varianten zahlreicher Möglichkeiten im deutschsprachigen Raum sind. Mariam benutzt die Neopronomen dey/demm, Ben verwendet keine Pronomen für sich:

Das ist Mariam. Dey verwendet die Pronomen dey/demm für sich. Demm ist es wichtig, dass deren richtigen Pronomen verwendet werden. Wenn du über demm sprechen willst, benutzt du also einfach diese Pronomen.

Ben verwendet keine Pronomen. Ben ist es wichtig, dass statt Pronomen Bens Name genannt wird. Wenn du über Ben sprechen willst, sagst du also einfach Bens Namen statt Pronomen.

EINS

„Ben, Schatz, geht es dir gut?“

Mom räumt meinen Teller ab, auf dem der größte Teil meines Abendessens immer noch unberührt liegt. Ich habe gerade mal ein oder zwei Bissen davon gegessen, die mir aber wie Steine in den Magen geplumpst sind, sodass das bisschen Appetit, das ich hatte, sofort verschwunden war.

„Ja, mir geht’s gut“, erzähle ich ihr. Es ist einfacher, ihr nur das zu sagen. Immer noch besser, als dass sie das Fieberthermometer oder irgendwelche Medikamente aus dem Schrank holt. „Hab bloß viel im Kopf.“

Das ist nicht komplett gelogen, nicht wirklich.

„Die Schule?“, fragt Dad.

Ich nicke.

„Du fällst aber nicht hinter den anderen zurück, oder?“

„Nein, es ist nur viel los.“ Und wieder nicht komplett gelogen. Wenn ich nur ein paar Details für mich behalte, ist es dann überhaupt eine Lüge?

„Also“, sagt Mom, „Hauptsache deine Noten bleiben gut. Wann bekommt ihr eure Zeugnisse?“

„Nächste Woche.“ Ich werde nur Einsen haben, außer in Englisch, womit ich mir vermutlich ein Wir sind nicht sauer, nur enttäuscht einfangen werde.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Diese Wetterumschwünge machen dir doch immer zu schaffen.“ Mom kommt zu mir und streicht mir die Haare aus der Stirn. „Du fühlst dich tatsächlich etwas warm an.“

„Mir geht es gut.“ Ich schüttele ihre Hand ab. „Ich bin nur müde, wirklich.“

Und ich glaube, das reicht ihr als Erklärung, denn sie schenkt mir dieses kleine Lächeln.

„Na gut.“ Sie behält mich weiter im Blick, während sie weggeht. „Wir sollten dir einen Termin beim Friseur machen, im Nacken sind deine Haare schon wieder viel zu lang.“

„Okay.“ Ich trinke einen Schluck Wasser, um etwas zu tun zu haben. „Habe ich euch erzählt, dass Gabby Daniels als Vorsitzende des Kunstclubs zurücktreten musste?“

„Nein. Ist etwas passiert?“, fragt Mom.

„Ich denke, es wurde ihr einfach zu viel, sie ist in so ziemlich jeder Gruppe, die es an der Schule gibt. Aber das bedeutet, dass ich jetzt diese Aufgabe übernehme!“

„Ach, mein Schatz, das ist ja toll!“, sagt Mom, während sie die Teller abspült, bevor sie sie in die Spülmaschine gleiten lässt. „Kommen denn dann noch zusätzliche Aufgaben auf dich zu?“

„Hauptsächlich Veranstaltungen und Ausflüge planen. Ich bin eh schon bei den meisten Sitzungen für sie eingesprungen, also wird sich nicht viel ändern.“

„Bist du sicher, dass dir das nicht Zeit raubt, die du zum Lernen brauchst?“, wirft Dad ein und verzieht dabei sein Gesicht. „Erinnere dich an unsere Vereinbarung: Wenn deine Noten schlechter werden, musst du aufhören.“ Er richtet sich in seinem Stuhl auf.

„Ja, Sir.“ Ich kann den leichten Druck in meinem Gehirn spüren, als ob sich von innen etwas gegen meinen Schädel drängt. Ich schaue zu Mom, in der Hoffnung, dass sie etwas sagt, doch das tut sie nicht. Sie starrt nur auf den Boden, wie sie es normalerweise tut, wenn Dad so wird. „Ich weiß.“

Dad seufzt und geht ins Wohnzimmer, und ich nehme das restliche Geschirr vom Tisch und stelle es auf den Küchentresen, hole die Tupperware hervor und verpacke das übrig gebliebene Essen.

„Danke, mein Schatz.“ Mom schaut beim Geschirrspülen nicht auf.

„Kein Problem“, sage ich ihr. „Wie war die Arbeit?“

„Ach, du weißt ja.“ Sie zuckt mit den Schultern.

„Dr. Jameson gibt seinen Papierkram immer an mich ab, anstatt ihn selbst zu erledigen.“

„Seinen eigenen Papierkram erledigen?“, necke ich sie. „Auf was für Ideen du kommst!“

„Oder?“ Mom kichert und schaut mich mit großen Augen an. „Ich schwöre dir, eines Tages werde ich ihn zur Rede stellen.“

„Sagst du mir nicht immer, niemals mit Menschen komplett zu brechen?“

„Ja, das ist wohl wahr. Aber ich bin hier die Erwachsene, und ich kann machen, was ich will.“ Mom lacht in sich hinein und stellt das Geschirr beiseite. „Was hast du heute eigentlich gemacht?“

„Ach, nichts. Ein bisschen gezeichnet, an ein paar Projekten gearbeitet, die nach den Ferien fällig sind, nichts allzu Aufregendes.“ Und wieder halte ich nur Informationen zurück.

Die meiste Zeit meines Tages bestand darin, mir vorzustellen, was ich heute vorhabe, und dabei total die Nerven zu verlieren, mir noch einmal YouTube-Videos anzuschauen, wie andere Leute so was gemacht haben, noch einmal alte Nachrichten von Mariam zu lesen. Und bei all dem wäre mir beinahe das Erdnussbutter-Sandwich hochgekommen, das ich mir zum Mittagessen gemacht hatte.

Naja, so ganz typischer, alltäglicher Kram halt.

Mom stellt den letzten Topf auf die Abtropfhalterung, während ich die Tupperware im Kühlschrank übereinanderstapele. „Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Du hast nichts Komisches gegessen, oder?“ Moms Hand regt sich, als wolle sie wieder meine Stirn fühlen, aber ich schaffe es, ihr zu entkommen.

„Es geht mir wirklich gut, versprochen.“

Lüge.

„Wenn du es sagst.“ Sorgfältig legt Mom neben der Spüle die Geschirrtücher zusammen. „Hast du immer noch Lust, einen Film zu schauen?“

„Ja, klar. Ich bin in einer Minute bei euch.“

„Vielleicht zwingt er uns nicht, zum zwanzigsten Mal Kevin allein zu Haus zu schauen“, murmelt Mom, eher zu sich selbst, denke ich.

„Das ist ein Klassiker“, ärgere ich sie und sie lächelt mich an, nimmt die Pfefferminzstangen, die sie vor ein paar Tagen gemacht hat, und verschwindet im Wohnzimmer.

Als sie draußen ist, beuge ich mich über die Spüle und wappne mich für den Fall, dass mir mein Abendessen gleich wieder hochkommen sollte. Ich schaffe das. Das wird schon. Alles wird gut und es ist definitiv das Richtige, das zu tun.

Ich kenne meine Eltern, sie kennen mich und sie verdienen es, auch diese Sache über mich zu wissen.

Und ich möchte es ihnen auch sagen, das möchte ich wirklich, von ganzem Herzen.

Also werde ich genau das jetzt tun.

„Ben, bring mir das Popcorn mit“, ruft Dad aus dem Wohnzimmer und in mir verkrampft sich alles. Ich nehme den großen Eimer vom Küchentresen, den mit den vier verschiedenen Geschmacksrichtungen, den Dad immer zu Weihnachten kauft, und ziehe ins Wohnzimmer um, nur dass meine Füße in Zement festzustecken scheinen.

Im Haus herrscht immer noch Weihnachtsstimmung. Mom und ich sind uns darüber einig, dass die Menschen Feiertage nicht mal annähernd genug wertschätzen, also lässt sie den Baum üblicherweise bis zum ersten Tag des neuen Jahres stehen, und auch die Dekoration bleibt hängen. Ich bin mir nicht sicher, ob andere Familien es genauso machen, aber das ist einer meiner liebsten Mutter-ismen von ihr.

Sie hat schon entschieden, heute Abend Buddy – Der Weihnachtself anzuschauen, nur dass wir ihn nicht auf DVD haben und sie deswegen durch die Kanäle schaltet, um ihn zu finden. Was schwerer ist als gedacht, denn sobald die Feiertage vorbei sind, hören die meisten Sender auf, Weihnachtsfilme zu zeigen. Ich schlage vor, dass wir ihn auch online leihen können, aber sie wirken beide nicht interessiert.

„Als Nächstes kommt sowieso Lampoon.“ Dad kaut auf seinem Popcorn herum.

Es läuft die Szene, in der Will Ferrells Figur und Zooey Deschanel gemeinsam singen, während sie unter der Dusche steht. Und ich verstehe natürlich, dass die Figur naiv sein soll oder so was in der Art, aber ich finde es trotzdem ein bisschen komisch.

„Na, also das ist doch mal eine Frau.“ Dad lacht auf und stopft sich weiter schokoladenüberzogenes Popcorn in den Mund. „Oder, Ben?“

„Klar.“ Ich gebe mein Bestes, so zu tun, als würde ich seinen Witz lustig finden, obwohl das nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Ich frage mich, ob sie jemals meine Tarnung durchschaut haben, ob sie jemals auch nur darüber nachgedacht haben, dass ich jemand anderes sein könnte als ihr perfekter Sohn.

Ich mag es nicht, Dad anzulügen.

Oder Mom.

Im Grunde lebe ich die ganze Zeit eine Lüge. Sie wissen längst nicht alles über mich.

Und genau darauf habe ich diesen Abend hingearbeitet, oder vielmehr die ganzen letzten Wochen. Es ist der Grund dafür, warum ich keinen Appetit hatte, der Grund, warum ich mich die letzten Tage kaum auf etwas konzentrieren konnte. Die Weihnachtsferien vergingen im Schneckentempo, weil ich mir hoch und heilig versprochen hatte, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt während der Feiertage passieren würde. Heute Abend fühlt sich wie der richtige Moment an, auch wenn ich nicht wirklich erklären kann, wieso. Vielleicht befinde ich mich in einem magischen Weihnachtsrausch.

Es ist die richtige Zeit dafür, oder?

Der Werbespot einer Automarke zeigt Sonderangebote zu den „Ho-Ho-Holidays“ und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein Vater den Kopf schüttelt.

„Nicht in Ordnung so was“, höre ich ihn in sich hinein murmeln.

Mariam hat das Ganze mit mir über ein halbes Dutzend Mal durchgespielt; ich muss bloß auf den richtigen Moment warten, einen Augenblick der nächtlichen Ruhe und Entspannung, in dem wir uns alle ziemlich gut fühlen.

Es wird gut werden. Mariam hat das immer wieder zu mir gesagt.

Alles wird gut werden und mir wird endlich dieser riesengroße Stein vom Herzen fallen und es wird ohne Probleme verlaufen und sie werden respektieren, was ich ihnen sagen werde.

Und am Ende wird alles gut sein.

Ich sage mir selbst, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt ist. Ich sage es mir, während der Film läuft und dann eine Werbeunterbrechung nach der nächsten. Doch jedes Mal, wenn ich meinen Mund öffne, um zu sprechen, bekomme ich keinen Ton heraus. Ich kann die Worte nicht zwingen herauszukommen.

Ich sollte keine Angst haben müssen.

Doch aus irgendeinem Grund habe ich Angst, egal wie sehr ich mich zwinge, keine zu haben. Ich werde dieses Gefühl nicht los. Vielleicht ein Omen oder so was in der Art. Ein Zeichen, dass ich es nicht tun sollte. Nur, dass ich es tun muss.

Ich kann es nicht erklären; ich fühle es einfach. Und irgendwie denke ich trotz allem, dass es gut laufen wird.

Es ist kitschig, aber ich warte bis zum Ende des Films, wenn alle beieinander und glücklich sind und ich ein Lächeln auf Moms Gesicht sehe.

Dad sieht teilnahmslos aus, also eigentlich wie immer.

Jetzt muss einfach der richtige Zeitpunkt sein. Ich kann es fühlen.

„Hey, ich wollte mit euch beiden noch über etwas sprechen“, sage ich und spüre meine trockene Kehle.

„Okay.“ Mom lehnt sich auf der Couch zurück, zieht die Beine neben sich heran und legt ihren Kopf in die Hand.

„Was ist los?“

Dad nimmt die Fernbedienung und macht den Ton leiser.

„Ich …“ Ich kann das. Immer schön weiteratmen.

Mein Magen hat sich verkrampft, als ob er verdreht würde, immer und immer weiter, bis ich es hinter mich gebracht habe. Und dann wird sich der Knoten auflösen und ich werde mich befreit fühlen.

„Ich wollte euch etwas sagen.“

Dad schaut mir jetzt direkt in die Augen.

Es ist so weit.

Eigentlich schon fast ein Witz. Ich hatte mir extra in Word alles aufgeschrieben, eine Liste von Dingen, die ich sagen wollte, damit ich nichts vergesse. All das ist jetzt komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht. Wie weggeblasen.

Vielleicht ist es so das Beste, vielleicht werde ich jetzt am ehrlichsten mit ihnen sein können.

Wenn es einfach aus mir herauskommt und ich keine einstudierte Version meiner selbst abspiele, vielleicht hilft das ja; vielleicht wird es sogar besser?

Ich sage es ihnen. Langsam.

Erst überkommt mich eine Welle der Erleichterung. Ich meine zu spüren, wie ich mich tatsächlich entspanne.

Ich wünschte nur, dieses Gefühl hätte ein bisschen länger anhalten können.

ZWEI

„Bitte geh ran. Bitte geh ran“, flüstere ich in den Hörer. Ich versuche, mich in der Telefonzelle gegen die schneidende Kälte dieser Nacht zu wappnen, und schaue auf die helle Weihnachtsbeleuchtung in den Geschäften, die selbst heute am Silvesterabend noch hängt.

Eine Stunde. Mehr brauchte es nicht, damit mein komplettes Leben in Stücke zerbricht. Und jetzt bin ich hier, laufe ohne Schuhe durch die Stadt und versuche über ein R-Gespräch, eine Schwester zu erreichen, die ich seit knapp zehn Jahren weder gesehen noch gesprochen habe.

„Hallo?“ Hannahs Stimme klingt müde, obwohl es noch gar nicht so spät ist. Zumindest vermute ich das; ich habe keine Uhr. Und mein Handy liegt zu Hause auf meinem Nachttisch und hängt am Ladekabel, weil der Akku totaler Mist ist.

„Hannah, ich bin’s.“

„Wer spricht da?“

„Ich bin’s“, flüstere ich. Klar erkennt sie meine Stimme nicht, nicht mehr. Verdammt, bestimmt erkennt sie nicht einmal mehr mich. „Ben.“

Irgendwas ist am anderen Ende der Leitung, ein Störgeräusch, ein Knacken oder so was. „Ben? Was ist …“

Ich unterbreche sie. „Kannst du mich abholen kommen?“

„Was? Warum? Was ist passiert?“

„Hannah.“ Ich schaue mich um. Der Gehsteig ist komplett leer, vermutlich wegen der Kälte. Alle sind drinnen, wo es warm und gemütlich ist. Und ich stehe hier und verliere so langsam das Gefühl in meinen Zehen und versuche mein absolut Bestes, um wegen des eisigen Windes nicht zu zittern.

„Ben, bist du noch da? Wo steckst du?“

„Vor Twin Hill Pizza.“ Ich verstecke meine Hände unter meinen Achseln und balanciere dabei den Hörer zwischen Wange und Schulter. Wieder ertönt ein Knacken am anderen Ende der Leitung und eine weitere Stimme ist zu hören.

„Was zur Hölle tust du da? Es sind Minusgrade draußen.“

„Mom und Dad haben mich rausgeworfen.“

In der Leitung ist es still und für eine Sekunde denke ich, dass der Anruf ohne Vorwarnung abgebrochen wurde. O mein Gott, keine Ahnung, ob so ein Anruf ein zweites Mal klappt.

„Was?“ Ihre Stimme klingt fast emotionslos, so wie früher, wenn sie völlig grundlos wütend wurde. Üblicherweise wegen Dad oder irgendwas, das die Aufregung nicht wert war. „Warum sollten sie das tun?“

„Kannst du bitte einfach herkommen und mich abholen?“ Ich versuche, warme Luft in meine Hände zu pusten. „Ich kann dir … ich kann dir das alles später erklären.“

„Ja, na klar, warte einfach auf mich. Okay?“

„Ich gehe die Straße runter zu Walgreens.“ Ich kann von hier aus das hell erleuchtete rote Schild sehen, nicht mal einen Häuserblock entfernt. Ich gebe Hannah die Adresse und versuche, aufmerksam auf die Hintergrundgeräusche zu achten.

„Okay, ich komme so schnell wie möglich.“

Hannah lebt in Raleigh, eine Stunde Fahrt mindestens, vielleicht fünfundvierzig Minuten, wenn sie sich beeilt. Also werde ich wohl eine Weile warten müssen.

Immerhin scheint sich bei Walgreens niemand daran zu stören, dass ich einer ihrer beiden grundlegenden Regeln nicht befolge: keine Schuhe, kein Einlass. Nicht einmal die Person hinter der Kasse schaut auf, als ich mich in die hinterste Ecke des Ladens begebe und mich auf einen Stuhl in der Nähe des Wartebereichs der Apotheke setze.

Meine Beine tun weh und ich habe schon ein Loch in eine meiner Socken gelaufen. Ich versuche, das dreckige, nasse Ding von meinem Fuß zu bekommen, und fange an, meine taube Haut zu reiben. Vielleicht bekomme ich so ein kleines bisschen Gefühl zurück. Keiner meiner Zehen ist blau, ein gutes Zeichen, glaube ich.

Zuerst bemerke ich nicht, dass ich weine. Vielleicht, weil sich mein Gesicht vom Wind draußen eh ganz steif anfühlt. Vielleicht aber auch, weil ich schon vor dem Anruf bei meiner Schwester, seit bestimmt zwei Stunden, durchgehend geweint habe. Ich sehe nur noch verschwommen, als ich auf meine Füße starre und mir wieder die Tränen kommen. Ich gebe mein Bestes, sie wegzuwischen, aber die Haut unter meinen Augen brennt so sehr.

Herrgott. Ich bin so eine verdammte Katastrophe.

Auf dem Weg hierher, während ich versucht habe, dorthin zu gelangen, wo es meines Wissens eine Telefonzelle geben musste, fühlte ich mich wie betäubt. In der Schule machen alle darüber Witze, es sei wohl die letzte Telefonzelle des Landes. Denn wer braucht die heutzutage noch, oder?

Ich ziehe meine Knie zu mir heran und versuche, leise zu sein. Sollten die Angestellten von mir Notiz nehmen oder zu mir herübersehen, lassen sie es sich zumindest nicht anmerken.

„Raus aus diesem Haus.“

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Dad mich ansehen kann, wie er es getan hat …

Beängstigend.

Zunächst war es ruhig. Fast so, als wollten sie noch hören, was ich zu sagen hatte. Sie ließen mich sprechen, bis ich fertig war. Mom nahm kein einziges Mal die Hände von dem Kreuz an ihrer Halskette, die sie im Alter von sieben Jahren von Grandma bekommen hat.

Dad ergriff als Erster das Wort. „Guter Witz, mein Sohn.“

An der Art und Weise, wie er das sagte, wurde mir klar, dass er es nicht für einen Witz hielt. Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos, als hätten seine Worte kein Gewicht.

„Dad …“

„Du solltest das auf der Stelle zurücknehmen“, fügte er hinzu – um so zu tun, als hätte diese Unterhaltung nie stattgefunden, wie Staub, den man nur wegzuwischen braucht.

Doch so einfach geht das nicht.

Und selbst, wenn es möglich wäre, würde ich es nicht wollen.

Zumindest denke ich das.

„Mom.“ Ich sah zu ihr und sie schaute abwechselnd zu Dad und zu mir, ohne dabei ein Wort zu verlieren. „Bitte?“

Doch sie schwieg weiter. Und Dad wurde immer wütender. Er hat mich kein einziges Mal angeschrien. Seine Stimme war auf beängstigende Weise ruhig. Alle drei saßen wir einfach so da. „Du bist unser Sohn, Ben. Was du sagst, ergibt keinen Sinn.“

„Dad, ich kann …“

„Raus aus meinem Haus, verschwinde einfach.“

„Was?“

„Du hast mich schon gehört.“

„Bitte“, flehte ich sie beide an, „bitte tut das nicht.“

Dad drängte mich zur Tür und Mom folgte ihm auf den Fersen. Ich flehte die beiden weiter an, aber sie taten einfach nichts.

„Mom! Bitte!“

„Das hat Gott nicht für dich vorgesehen, Ben.“

Ich flehte sie an, so etwas nicht zu sagen, und dann begann ich zu weinen. Doch das war noch nicht alles. Die Tür wurde geschlossen und ich wollte sie wieder öffnen. Ich hatte gehofft, das alles wäre irgendein gemeiner Scherz von ihnen, den ich ihnen später würde vergeben können. Ich drückte die Türklinke herunter, aber es war abgeschlossen. Selbst der Ersatzschlüssel, den sie unter einem falschen Stein versteckt hielten, funktionierte nicht, weil sie die Tür zusätzlich von innen verriegelt hatten.

Ich halte mich davon ab, auf dem Stuhl vor und zurück zu wippen, betend in der Hoffnung, dass Hannah mich hier schon finden wird.

Was kann ich jetzt überhaupt tun? Sie werden mich nicht wieder bei sich aufnehmen, oder? Würde ich überhaupt zurückgehen wollen? Wird Hannah Antworten darauf haben? Ich weiß eh nicht, was zur Hölle ich ihr bloß erzählen soll und ob sie überhaupt in der Lage ist, mir zu helfen. O Gott, was mache ich, wenn sie genauso schlimm ist wie Mom und Dad? Das ist unmöglich, oder?

Wenn ich doch nur meine verdammte Klappe gehalten hätte.

Ich kann es selbst nicht glauben, aber es ist jetzt zehn Jahre her. Seit sie ihren Abschluss gemacht hat, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, seit sie mich mit ihnen allein gelassen hat. Sie könnte mittlerweile eine vollkommen andere Person sein. Eine, die Menschen wie mich hasst. Aber ich hatte ja auch gedacht, dass Mom und Dad nicht so sein könnten.

„Ben?“

Als ich die Stimme höre, zucke ich zusammen, traue mich aber nicht aufzuschauen.

„Benji?“ Seit einer Ewigkeit wurde ich nicht mehr so genannt. „Hey.“

Unmöglich, dass Hannah schon hier sein kann, aber wer weiß.

„Hannah?“, murmele ich. Etwas steckt mir im Hals, etwas Raues, Stachliges.

„Das sind deine Socken, oder?“ Sie hebt sie vorsichtig vom Boden auf. Der Ekel in ihrem Gesicht ist so demütigend.

Ich nicke. „Sie haben Löcher.“

„Und nass sind sie auch.“ Sie rollt sie zusammen und steckt sie in ihre Tasche. „Lass uns nach Hause fahren.“

Ich schüttele den Kopf. „Nein, ich will nicht.“ Ich fühle mich wie ein Kind, aber der Gedanke, dorthin zurückzukehren – ich kann nicht zurückgehen.

„Ich meinte zu mir. Komm schon.“ Hannah legt ihre Hand auf meine Schulter, greift mir unter die Achsel und hilft mir aufzustehen. Vermutlich sitze ich hier seit gut einer Stunde, denn jetzt fließt das ganze Blut mit einem Mal wieder in meine Beine; dieses statisch aufgeladene Gefühl, das ich so hasse, wie bei einem Fernseher. Langsam gehen wir hinaus, jeder Schritt erzeugt einen scharfen Stich in meiner Wirbelsäule. Still bete ich vor mich hin, die Mitarbeitenden mögen mit etwas anderem beschäftigt sein, sodass sie uns nicht bemerken.

Glücklicherweise läuft Hannahs Wagen noch. Nachdem sie mich auf den Sitz neben sich verfrachtet und mir damit geholfen hat, mich anzuschnallen, geht sie rüber zur Lenkradseite. „Ich hätte die Sitzheizung wärmer stellen sollen, tut mir leid.“

Wenigstens ist das Auto warm.

„Alles okay?“ Sie legt den Rückwärtsgang ein, setzt zurück, und schaut zwischen mir und der Heckscheibe hin und her.

„Ja“, sage ich, auch wenn ich von „okay“ wohl nicht weiter entfernt sein könnte. Was zur Hölle soll ich jetzt bloß tun? Alles ist … kaputt.

„Hast du Hunger?“

Ich antworte nicht. Ich bin auch nicht hungrig. Mom hatte für das Abendessen Hühnchen zubereitet, aber weil ich dieses Gespräch wochenlang, oder sogar monatelang, geplant hatte, schlug mein Magen den ganzen Tag Purzelbäume. Es war so heftig, ich wusste genau, egal was ich aß, es würde nicht drinbleiben. Selbst jetzt mit leerem Magen habe ich keinen Appetit und schon beim Gedanken an Essen wird mir übel.

„Ben?“, wiederholt Hannah meinen Namen, doch diesmal fühlt es sich an, als wäre sie kilometerweit entfernt.

Dann höre ich sie murmeln: „Ich bring dich jetzt ins Krankenhaus.“

„Nein.“ Ich packe sie am Arm, als könnte sie das davon abhalten, einen U-Turn zu machen. „Mir geht’s gut, versprochen.“

„Benji.“

„Können wir bitte einfach zu dir fahren? Bitte?“

Sie sieht mich mit denselben braunen Augen an, die ich auch habe und die wir beide von Dad geerbt haben.

„Okay.“ Sie wechselt auf die Abbiegespur und das Klicken des Blinkers hallt in der Totenstille des Autos nach. „Du willst nicht drüber reden, oder?“

Ich schüttele den Kopf. „Im Augenblick nicht.“

„Okay. Versuch, dich ein bisschen auszuruhen oder so. Ich wecke dich, wenn wir da sind.“

Schweigend sitzen wir im Auto und fahren die Straße entlang. Die einzigen wirklichen Geräusche kommen aus dem leise gestellten Radio, das Top-40-Lieder spielt. Ich versuche, zu schlafen oder mich zu beruhigen, zu entspannen, nicht darüber nachzudenken, was ich getan habe. Aber das ist unmöglich. Denn ich habe diese drei kleinen Worte gesagt.

Ich bin nichtbinär.

Mom und Dad saßen für ein paar Sekunden sprachlos da. Dad kam zuerst wieder zu sich und forderte eine Erklärung. Verständlich, und vielleicht ein gutes Zeichen. Ich war zwar unsicher, aber zu dem Zeitpunkt noch fest entschlossen, alles zu bewältigen, was mir jetzt entgegengestellt würde.

Dad benutzte das T-Wort und das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich habe ihn noch nie dieses Wort benutzen hören. In dem Moment zog sich mein Magen zusammen. Ich versuchte, ihm die Unterschiede zu erklären, was es bedeutete, nichtbinär zu sein. Doch je mehr ich versuchte zu sprechen, desto mehr wollte ich weinen. Dann ging das Geschrei los und alles passierte ganz schnell. Was sie mir sagten, ergab für mich keinen Sinn.

„Du musst gehen.“ Dad zeigte auf mich.

„Ben?“

Ich muss zu irgendeinem Zeitpunkt eingeschlafen sein, denn meine Augen sind ganz schwer, mein Mund erschöpft und eklig, meine Arme und Beine ganz verkrampft.

„Wir sind da.“ Sie stellt den Wagen ab, aber lässt den Motor an, und aus der Lüftung kommt weiter warme Luft.

Ich starre auf das Haus. Die braunen Backsteine und die grüne Fassade, die ich noch nie bei Nacht gesehen habe, sondern nur von Fotos und Posts bei Facebook kenne. Der einzige Weg, wie ich etwas über Hannahs Leben erfahren konnte.

„Du kannst im Gästezimmer schlafen, in Ordnung?“

Ich nicke und folge ihr durch die Garage. Sofort werden meine nackten Füße, die den Boden berühren, wieder kalt. Schnell öffnet Hannah die Tür, lässt mich die Stufen hinaufgehen und macht im Gästezimmer das Licht an. „Das Badezimmer ist auf der anderen Seite des Flurs, falls du duschen willst oder so.“

Ich starre in das Schlafzimmer: ein großes Queensize-Bett und eine Menge Kissen. Definitiv schöner als mein Zimmer zu Hause, aber auch leerer. Es gibt keine Bilder an den Wänden oder kleine Spielsachen auf der Kommode.

„Hier.“ Hannah öffnet die Spiegeltüren des Schranks und holt einen Stapel Decken hervor. „Versuch zu schlafen. Um den Rest kümmern wir uns morgen, okay?“

Wieder nicke ich und starre auf das Bett. Hannah sieht aus, als wolle sie noch etwas sagen oder mich umarmen oder mir erzählen, dass alles gut werden wird. Aber sie macht nichts davon.

Vielleicht weiß sie selbst, dass nicht alles wieder gut wird.

„Ich lasse dich jetzt mal in Ruhe.“ Sie schließt die Tür hinter sich und der Raum ist nun noch leerer als zuvor.

Ich ziehe mich bis auf die Boxershorts aus, schlage die Decke zur Seite und lege mich in das weiche, unbenutzte Bett. Ich wälze mich hin und her, aber nach ein paar Minuten ist mir völlig klar, dass ich heute Nacht nicht schlafen werde. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich ihre Gesichter. Ich sehe sie deutlich vor mir, wie sie mich anschreien. Und wenn ich die Augen öffne, ist da nichts als die dunkle Einsamkeit des Schlafzimmers. Ich nehme die Fernbedienung vom Nachttisch, schalte mich durch ein paar Sender und bleibe bei einer Wiederholung von Golden Girls hängen.

Denn ich kann jetzt einfach nicht allein sein. Nicht heute Nacht.

Danke, dass du mir eine Freundin bist, Betty White.

DREI

Die Sache gestern ist also wirklich passiert.

Ich brauche mehr als ein paar Minuten, um zu kapieren, dass das kein extrem realistischer Albtraum war oder ich Fieber hatte oder so. Es war wirklich so.

Ich habe mich vor meinen Eltern geoutet und sie haben mich rausgeworfen.

Wie ahnungslos ich gewesen sein muss, zu glauben, dass es gut gehen würde. Das habe ich tatsächlich geglaubt. Ich habe gedacht, wir könnten weiterhin diese glückliche Familie sein, in der wir offen miteinander reden können. Dass ich wirklich ich selbst sein könnte. Aber ich hätte es besser wissen müssen.

Und jetzt ist alles aus.

Alles.

Ich weiß nicht, ob ich weinen soll oder schreien oder beides. Es fühlt sich so an, als hätte ich beides mehr als genug getan. Und gleichzeitig fühlt es sich an, als hätte ich es nicht mal annähernd genug gemacht.

Ich weiß, dass ich mich zu irgendeinem Zeitpunkt aus diesem Bett quälen und meine Einzelteile wieder zusammenfügen muss, aber jetzt bleibe ich erst mal mit mir allein. Nur ich, die vier Wände und dieses Bett.

Die Welt draußen, außerhalb dieses Schlafzimmers, muss gerade nicht existieren und das ist auch vollkommen okay so.

„Ich kann immer noch nicht fassen, was sie getan haben.“ Ich höre Hannahs Stimme durch das Haus hallen, während ich die Stufen hinuntergehe. Denn ich kann mich ja nicht ewig in meinem eigenen kleinen Universum verstecken.

„Er hat dich von einer Telefonzelle aus angerufen?“ Die Stimme, die mir nicht bekannt vorkommt, ist tief und schroff. Ich vermute, das ist ihr Ehemann. Thomas?

Was sich über eine Person auf Facebook rausfinden lässt, ohne tatsächlich eine Freundschaftsanfrage zu schicken, ist schließlich begrenzt. Es klingt vielleicht etwas gruselig, aber ich konnte einfach nicht riskieren, dass Mom oder Dad auf mein Profil gehen und „Hannah Waller“ auf meiner Freund*innenliste sehen.

„Während draußen Minusgrade sind!“ Hannah lässt etwas mit so einer Wucht in die Spüle fallen, dass ich davon ausgehe, dass es zerbrochen ist – was auch immer es sein mag. Ich reibe mir die Augen, unsicher darüber, wie viel Uhr es ist, während ich versuche zu erraten, wo die Küche sein könnte.

„Hannah?“, rufe ich und schaue im Flur umher, in dem überall Bilder hängen. Manche kenne ich schon von Facebook. Einige scheinen von ihrer Hochzeit zu sein, andere von einer gemeinsamen Bootstour. Sie sehen glücklich aus.

Die Tür am anderen Ende des Flurs geht auf und Hannah lehnt im Rahmen. Sie hat einen übergroßen Pullover und dunkle Jeans an. „Guten Morgen.“ Sie lächelt und verschränkt ihre Arme.

„Morgen.“ Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare und versuche so, die Locken an meinem Hinterkopf zurechtzulegen.

„Wir haben Frühstück gemacht.“ Sie führt mich durch die Schwingtür Richtung Küche. Der weiße Typ von den Fotos sitzt am Tisch, der leere Teller ist zur Seite gestellt. Er trägt einen Bart und ein Trikot mit einem Logo, das ich nicht kenne.

„Guten Morgen. Gut geschlafen?“, ist alles, was er mich fragt.

„Ja“, lüge ich. Mein Körper muss irgendwann endlich aufgegeben haben, denn ich erinnere mich noch, wie ich versucht habe, wegen etwas zu lachen, das im Fernsehen lief, und im nächsten Moment schien die Sonne durch die dünnen Vorhänge in das Schlafzimmer. So muss es sich anfühlen, von einem Laster überfahren zu werden.

„Ben, das ist mein Ehemann Thomas.“ Hannah nickt rüber zu dem Typen am Tisch. Komischer Gedanke, dass es da nun einen Schwager in meinem Leben gibt, von dem ich bisher allerdings nur Fotos gesehen habe.

Thomas hebt zum Gruß seinen Kaffeebecher. „Schön, dich endlich kennenzulernen. Hannah hat mir eine Menge Geschichten erzählt.“

Es besteht kein Zweifel daran, dass ich in allen davon noch ein Kind gewesen sein muss. Hannah bietet mir einen Sitzplatz an ihrem superhohen Bistrotisch an, der sich in der Ecke der Küche befindet. Die Fenster lassen für die frühe Uhrzeit viel zu viel Licht hinein. Obwohl mir ein Blick auf die Mikrowelle verrät, dass es fast Mittag sein muss.

„Ben.“ Hannah setzt sich auf den Platz neben Thomas und faltet ihre Hände. „Würdest du uns erzählen, was passiert ist?“

Ich kann es wohl eh nicht wirklich vermeiden und irgendwie schulde ich ihnen auch zumindest irgendeine Erklärung. Das Problem ist nur, dass ich absolut keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll. Also klar weiß ich, wo die Geschichte anfängt, aber es ist fast so, als wolle mein Mund nicht funktionieren, als wäre er mit Watte vollgestopft oder so etwas, und ich weiß, egal was ich sage, es wird vermutlich nicht viel Sinn ergeben.

„Ich verabschiede mich mal nach oben. Vielleicht solltet ihr beide allein miteinander sprechen.“

Thomas nimmt seinen Becher und schiebt seinen Stuhl wieder unter den Tisch. Ich sehe zu, wie die Küchentür ausschwingt, nachdem er den Raum verlassen hat, hin und her, hin und her, bis sie immer langsamer wird und in ihrem natürlichen Zustand zum Stehen kommt.

„Benji, bitte sprich mit mir.“

Okay. Ich schaffe das. Letzte Nacht habe ich es auch geschafft. Drei Worte und die ganze Sache ist endlich vorbei. Aber kenne ich meine Schwester eigentlich wirklich? Kann sie mir überhaupt helfen? Vielleicht war das alles ein riesengroßer Fehler.

Auf der anderen Seite könnte sie die einzige Möglichkeit auf so etwas wie Normalität sein, zumindest fürs Erste.

„Ich bin nicht … binär.“ Ich habe es sogar geschafft, daraus vier Worte zu machen, obwohl es eigentlich drei sind.

Hannah lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schafft es, mich gleichzeitig sowohl anzustarren als auch nicht anzustarren. Das war ein Fehler. Ich hatte endlich einen Ort gefunden, an dem ich bleiben konnte, und jetzt habe ich wieder alles verbockt. Herrgott, wo soll ich jetzt nur hin? Mom hat ganz bestimmt Grandma angerufen und vermutlich auch meine Tante Susan. Und bei irgendwem aus meiner Klasse kann ich ja wohl auch schlecht aufkreuzen. Wie soll ich es außerdem zurück nach Hause schaffen, ohne für ein Taxi oder so was bezahlen zu können? Ich schiebe den Stuhl zurück, stehe auf und bereite mich darauf vor, nach oben zu gehen und meine Sachen zu packen, bis mir einfällt, dass ich eh nichts dabeihabe.

Zumindest bedeutet das kurzen Prozess. Raus aus der Tür. Keine Ahnung, wie ich wieder nach Hause kommen soll, also muss ich wahrscheinlich zu einer Tankstelle oder so und nach dem Weg fragen. Wie soll ich bloß den ganzen Weg ohne Schuhe oder Strümpfe schaffen?

„Nein, Ben, warte.“ Hannah greift nach meinem Handgelenk und beinahe schaffe ich es, meine Hand wegzuziehen. Aber ihr Griff ist zu fest. „Tut mir leid, das habe ich einfach nicht erwartet.“ Sie sieht mich an. Erst in mein Gesicht, dann wandert ihr Blick meinen Körper hinunter, als hätte ich mich direkt hier vor ihr verwandelt. „Also haben dich Mom und Dad deswegen rausgeworfen?“

Ich nicke.

„Typisch.“

„Ich dachte, sie würden es verstehen.“ Das habe ich wirklich. Ich bin doch immerhin ihr Kind. Irgendwie hatte ich gehofft, das würde für sie etwas zählen.

„Es tut mir leid, Ben.“ Sie deutet mit einem Kopfnicken zum Stuhl. „Setz dich wieder. Bitte.“

Ich betrachte sie, bevor ich mich wieder hinsetze, und versuche, meine schwitzigen Handflächen an meiner Jeans trocken zu reiben. Ich habe noch nicht geduscht, weshalb ich mich noch ekliger fühle. Als läge über mir ein komischer Film von etwas, dem ich nicht entfliehen kann.

„Du bist achtzehn Jahre alt, oder?“

Ich nicke.

„Und hast du denn schon deinen Abschluss gemacht?“, fragt sie.

Ich denke eigentlich, dass die Antwort auf diese Frage offensichtlich sein müsste, aber dann erinnere ich mich wieder, dass sie zehn Jahre von der Bildfläche verschwunden war. „Nein.“

„Okay. Auf die nächste Frage kenne ich die Antwort eigentlich schon, aber möchtest du zu ihnen zurück?“

Allein bei dem Gedanken daran zieht sich mein Magen zusammen, als würde sich eine Faust langsam darum schließen. „Nein. Bitte nicht.“

„In Ordnung, okay. Es ist alles okay. Wir müssen über ein paar Sachen reden, einverstanden? Über die Schule, neue Anziehsachen und alles, was du sonst noch so brauchst. Ich habe darüber schon mit Thomas gesprochen und wir haben nichts dagegen, wenn du hier bei uns lebst.“

„Seid ihr sicher?“

„Ja, klar.“ Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare, die vermutlich gefärbt sind, denn bei niemanden sonst in unserer Familie sind sie rot. Und dass ihre Haare mit einem Mal auf natürliche Weise rot geworden sind, scheint mir eher unwahrscheinlich. Ansonsten hat sie sich nicht sonderlich verändert, seit sie gegangen ist. Dieselben Augen, dieselbe spitze Nase, dieselbe blassrosa Haut, ihre Frisur ist immer noch ein völliges Durcheinander. Ich frage mich, wie verändert ich für sie aussehen mag. „Tschuldige, ich versuche nachzudenken. Irgendwie bin ich unsicher, was jetzt zu tun ist.“

Ich kann sie nicht einmal ansehen. „Tut mir leid.“

„Hey, du musst dich nicht entschuldigen, okay? Das ist nicht deine Schuld.“

Ich weiß das eigentlich. Irgendwo tief in mir weiß ich das. Aber gerade ist es schwer auszuhalten. Oder zu akzeptieren.

„Und welche Pronomen benutzt du?“, fragt sie.

Die Frage trifft mich unvermittelt. Nicht auf eine schlechte Weise, es ist bloß komisch. Hannah ist die erste Person, die mich das fragt. Die erste Person, die es kümmert. „Keine Pronomen, sag einfach meinen Namen“, sage ich und versuche, dabei selbstbewusst zu klingen, aber das kaufe ich mir selbst nicht ab.

„Gut. Also, vielleicht brauche ich ein bisschen Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Es wäre toll, wenn du mir sagst, sollte ich mich versprechen und es nicht merken, in Ordnung? Möchtest du, dass ich Thomas alles erkläre?“

Ich nicke.

So muss ich es wenigstens nicht selbst machen.

Hannah gibt mir ein paar Sachen von Thomas, die ich nach dem Duschen anziehen kann. „Er hat zwei Kleidergrößen mehr als du, aber ich muss deine Sachen erst mal waschen, bevor du die wieder anziehen kannst.“ Sie hält meine Klamotten wie ein Bündel im Arm. Ich versinke in Thomas T-Shirt, aber immerhin hat die Jogginghose einen Gummizug. „Wir können später shoppen gehen, okay? Dann hast du erst mal das Nötigste.“

„Danke.“

„Thomas und ich haben über deine Schulsituation gesprochen. Er unterrichtet an der North Wake Highschool, auf die könntest du gehen. Er hat seine Schulleiterin angerufen, um zu erfahren, was nötig wäre, damit du wechseln kannst. Wir, ähm …“ Hannah seufzt. „Wir haben uns auch nach Therapieplätzen in der Gegend umgeschaut, damit du mit jemandem sprechen kannst.“

Auf der Liste der Dinge, die ich gerade gerne tun würde, steht das wirklich an letzter Stelle. Irgendwo zwischen dem Kampf mit einem Alligator und dem Sprung aus einem Flugzeug. „Muss ich das denn?“

„Nicht wirklich. Technisch gesehen bist du erwachsen. Aber ich glaube, es könnte dir helfen. Meine Freundin Ginger und ihr Sohn sind bei einer Ärztin gewesen, nachdem er sein Coming-out hatte. Dr. Bridgette Taylor. Vielleicht kann sie dir helfen, sie ist Psychotherapeutin und Psychiaterin und spezialisiert auf Jugendliche wie … dich.“

„Du meinst Jugendliche, die queer sind?“, sage ich.

Hannah sieht aus, als würde sie tatsächlich auf eine Antwort warten – eine Bestätigung von mir. Aber als ich nichts weiter sage, seufzt sie bloß wieder. „Denk drüber nach, okay?“ Und dann geht sie raus.

Ich sitze in der Stille des Raums und bin unsicher, was ich jetzt tun soll. Was machst du, wenn deine eigenen Eltern dich rauswerfen? Wenn dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird, und all das nur, weil du dich vor deinen Eltern outen wolltest, weil du von ihnen respektiert und gesehen werden wolltest, und mit den richtigen Pronomen angesprochen? Ich möchte meinen Skizzenblock holen, bis mir auffällt, dass er in meinem Rucksack ist, zu Hause. Ich kann nicht mal diese eine Sache tun, die mich auffangen könnte.

Also mache ich stattdessen mein Bett und hoffe, dass es mich ein bisschen ablenkt und zumindest für ein paar Minuten meine Gedanken abschweifen lässt. Aber es hilft nicht wirklich, also gehe ich, als ich damit fertig bin, wieder zurück nach unten.

„Wie sieht’s aus bei dir?“ Hannah steht vor der Waschmaschine, versteckt hinter einer faltbaren Tür in der Küche, und hält frisch getrocknete Klamotten in den Händen.

Ich biete ihr meine Hilfe an, aber sie schüttelt den Kopf. „Ich mach das schon. Ist irgendwas los?“

„Nein. Du hast nicht zufällig einen Computer, den ich mal benutzen könnte?“

„Klar.“ Hannah lässt alles stehen und liegen, geht zurück in die Küche und durch eine andere Tür. Ich bin unsicher, ob ich ihr folgen soll, und mache es trotzdem.

Ihr Wohnzimmer ist kleiner als das bei uns zu Hause, aber es sieht wohnlich aus, gemütlich. Hannah war schon immer eher unordentlich, aber es scheint, als hätte sich das ganz gut eingependelt. Oder es ist Thomas’ Werk.

„Mach dir ruhig einen eigenen Account, dann kannst du deine eigenen Dateien und anderen Kram da speichern.“ Hannah nimmt den Laptop, der zwischen Kommode und Couch liegt, und stöpselt ihn aus. „Wenn du irgendwelche Fragen hast, stell sie einfach, aber ich bin mir eigentlich sicher, dass du dich damit besser auskennst als ich.“

„Danke.“ Ich setze mich auf die riesengroße Couch. Der Laptop ist genau wie der, den ich früher hatte, also fühlt er sich fast wie mein eigener an. Ich gebe meine E-Mail-Adresse und mein Passwort ein, damit ich nach neuen Nachrichten schauen und sie beantworten kann. Es gibt keine. Bestimmt schläft Mariam noch.

Ich habe immer noch keinen Plan, wie genau ich Mariam davon erzählen soll. Fast hätte ich mich bei Facebook eingeloggt, aber ich halte mich davon ab. Oder eigentlich hält mich Thomas davon ab.

„Ben?“, ruft er.

„Ja?“

Thomas hat sich mittlerweile herausgeputzt, im Vergleich zum Frühstück. Er trägt ein Poloshirt, darüber einen grauen Pullover und dazu passende graue Hosen. „Ich habe mit meiner Schulleiterin gesprochen. Sie würde dich gerne kennenlernen, wegen deiner Aufnahme.“

„Heute?“, frage ich.

„Wenn das in Ordnung für dich ist. Ich bin nicht sicher, ob wir noch mal zu deiner alten Schule müssen. Eigentlich müssten sie deine Zwischennoten ohne Probleme rüberschicken können.“

„Oh.“

„Wir müssen das nicht jetzt machen, aber je früher wir es tun, desto weniger verpasst du.“

„Nein, also, das ist schon okay.“ Ich schaue an mir und meiner Jogginghose herunter. „Es ist nur … Hast du noch etwas anderes, das ich anziehen kann? Ich glaube, Hannah ist mit der Wäsche noch nicht fertig.“

Thomas lacht kurz auf und nickt in Richtung Treppe. „Komm mit.“

Fünfzehn Minuten später sitze ich in Thomas’ Auto. Ich trage ein immer noch viel zu großes T-Shirt und eine Hose, die so lang ist, dass ich sie dreimal umkrempeln musste, während die Socken mir längst die Fesseln herunterrutschen.

Besser als nichts. In dem Kapuzenpulli, den ich von Thomas bekommen habe, kann ich den größten Teil meines Unwohlseins verbergen. Und die Schuhe passen mir, was fast an ein Wunder grenzt. Aber vielleicht hat Thomas auch einfach nur echt kleine Füße? Er meinte sogar, ich könne sie behalten.

„Ich kann dir nicht sagen, wann ich die zum letzten Mal getragen habe.“

„Danke.“ Wir rollen vom Hof und fahren die Straße entlang, und die ganze Situation ist so unangenehm. Was soll ich diesem Typen bloß sagen? Worüber sollen wir überhaupt sprechen? Wäre es sehr komisch, ihm ein paar Fragen zu stellen? Irgendwann kommt es einfach aus mir heraus: „Warum bist du heute eigentlich nicht bei der Arbeit?“

Denn so was fragt man einfach. Hast du echt gut gemacht, Volltreffer, Ben.

„Nachdem mich Hannah gestern Abend aufgeweckt hat, habe ich mich für heute abgemeldet. Ich dachte, das hier wäre wichtiger.“

„Oh.“ Ich spiele mit dem ausgefransten Saum seines Kapuzenpullis. „Was unterrichtest du denn?“

„Chemie.“

„Das ist cool.“ Die Pause ist etwas länger, als sie sein sollte. „Ich mag Chemie.“

„Ohne übertreiben zu wollen, wohl eines der spannendsten Fächer, die es gibt.“ Thomas setzt den Blinker. „Es ist etwas komisch, dass wir uns noch nie getroffen haben.“

„Ja.“ Ich starre auf meine Schuhe.

„Haben deine Eltern viel über deine Schwester gesprochen? Nachdem sie gegangen ist?“

Ich schüttele den Kopf. „Sie hatten so etwas wie eine Nicht-über-Hannah-sprechen-Regel.“ Ich ziehe einen losen Faden aus dem Kapuzenpulli und wickle ihn um meinen Finger. „Wie lange seid ihr zwei schon verheiratet?“

„Seit letztem September vier Jahre.“

„Oh, schön.“

„Ja.“ Thomas seufzt. „Hannah hat viel von dir gesprochen. Sie hat dich wirklich vermisst.“

Thomas Worte hängen schwer in der Luft und für einen kurzen Moment gibt es zwischen uns nichts zu sagen. „Ich habe sie auch vermisst“, sage ich leise.

Ich vermute, Thomas hat keine Ahnung, was er da gerade gesagt hat, und vermutlich gibt es auch keinen Grund, warum er das sollte.

Die North Wake High ist definitiv schöner als die Wayne.

Die Wayne High wurde in den Sechzigern gebaut und nur ab und an, wenn es unbedingt nötig war, wurden Ausbesserungsarbeiten gemacht. An der North Wake ist alles neu und aus Chrom, mit schrägen Dächern und Fenstern, die vom Boden bis zu den Decken reichen. Selbst der Parkplatz ist voller glänzend polierter und teuer scheinender Autos.

Alles sieht so leuchtend und neu und geordnet aus. Als hätte alles hier einen Platz und stünde genau dort, wo es hingehört. Und ich bin dieses eine Puzzleteil, das nirgends hineinpasst. Thomas parkt den Wagen nahe dem Eingang. „Da wären wir.“

Ich starre auf die Schultore. Regungslos.

„Du weißt, dass wir das nicht unbedingt heute machen müssen, oder?“

„Dann haben wir es wenigstens hinter uns“, sage ich leise.

„Bist du sicher? Du siehst nicht sonderlich begeistert aus. Wir können uns auch noch andere Schulen anschauen, ich dachte nur, so wäre es am einfachsten.“

„Ich möchte es ihnen nicht sagen“, schießt es aus mir heraus. „Dass ich nichtbinär bin.“

Thomas nimmt die Hände vom Lenkrad. „Bist du dir sicher? Du weißt, dass dich dann alle mit den falschen Pronomen ansprechen werden?“

Als ob das nicht offensichtlich wäre. „Ist mir egal.“ Ich bin es mittlerweile gewöhnt.

„Und da bist du dir sicher?“

„Einhundert Prozent.“ Und das bin ich wirklich. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, vor allen geoutet zu sein. Nicht, wenn ich nicht unbedingt muss.

„Okay. Dann müssen wir sagen, dass es wegen etwas anderem war. Es klingt vielleicht ein bisschen harsch, aber wenn die Schulleiterin weiß, dass du zu Hause rausgeworfen wurdest, wird das helfen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Wie du meinst.“

„In Ordnung.“

Thomas führt mich durch die großen Glastüren am Eingang der Schule, wo ein paar Jugendliche herumstehen, die alle zu Thomas herüberwinken, als wir vorbeigehen. Vermutlich sind hier die Weihnachtsferien schon vorbei. Zu Hause hätten wir noch eine Woche gehabt.

„Ich dachte, Sie sind heute krank, Mr. Waller?“, sagt eine Person aus der Gruppe.

Thomas winkt zurück. „Nope, ich musste nur ein bisschen was erledigen.“

Ich versuche, mich ein wenig hinter Thomas zurückfallen zu lassen, damit die anderen keine Verbindung zwischen uns herstellen, aber so wie ihre Blicke zwischen ihm und mir hin und her wechseln, ist es dafür wohl schon zu spät. Er führt mich durch eine weitere Glastür ins Sekretariat und winkt der Bürokraft hinter ihrem Schreibtisch zu. „Hey, Kev.“

„Hey, Thomas. Schulleiterin Smith wartet schon auf euch“, sagt er.

„Danke.“ Thomas dreht sich zu mir um. „Du wartest hier. Ich erkläre ihr kurz die Situation.“

„Okay.“ Ich setze mich auf einen der gepolsterten Sessel, die an der Glaswand stehen. „Erzähl es ihr bitte nicht, okay?“, flüstere ich vor mich hin.

„Versprochen“, versichert er mir und etwas an der Art, wie er es sagt, gibt mir die Gewissheit, dass ich ihm glauben kann.

Ich sehe zu, wie Thomas um die Ecke verschwindet, und greife automatisch in meine Hosentasche, um mein Handy rauszuholen, bis mir klar wird, dass es nichts zu holen gibt. Ich werde mit Hannah über einen Ersatz sprechen müssen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das bezahlen soll. Vielleicht bekomme ich ja irgendwo einen Job und kann anfangen zu sparen. Ich weiß nicht genau, was Hannah geplant hat. Ob sie mich nur bis zu meinem Abschluss bei sich behalten will oder ob ich so lange bleiben kann, wie ich möchte.

Und dann sind da ja auch noch die Rückmeldungen von den Colleges, die über meine gesamte Zukunft entscheiden werden. Briefe, die an Mom und Dad geschickt werden, weil das die Adresse war, die ich bei meinen Bewerbungen angegeben habe. Ich frage mich, ob es möglich ist, einen zweiten Brief an eine andere Adresse geschickt zu bekommen. Oder vielleicht muss ich mich noch einmal komplett neu bewerben.

Gott, ich will mir lieber gar nicht erst vorstellen, selbst für die Gebühren aufkommen zu müssen. Hannah kann ich deswegen nicht fragen; ich will nicht, dass sie das für mich tut. Vielleicht ist es echt Glück im Unglück, denn Mom und Dad war es viel wichtiger als mir, dass ich auf ein College gehe.

Vielleicht muss ich mir darüber jetzt keine Gedanken mehr machen.

Vermutlich hätten wir eine Menge zu besprechen, doch wie soll ich mit meiner Schwester ein Gespräch darüber anfangen, wenn sie eigentlich vorhat, mich rauszuwerfen?

Ich werde nervös. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, über so etwas nachzudenken, aber ich schaffe es auch nicht, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Jedes Mal, wenn ich auf die Uhr über der Tür schaue, kommt es mir vor, als würde die Zeit langsamer voranschreiten, was meine Qualen nur noch verschlimmert.

Und dann geht die Tür auf und ein Junge kommt herein.

Er ist groß – viel größer als ich, so groß, dass seine Beine das Erste sind, was ich von ihm wahrnehme – er hat eine dünne Statur und dunkelbraune Haut, seine Haare sind an den Seiten kürzer rasiert, sodass die obere Partie etwas mehr heraussticht.

„Hi, Kev“, sagt er mit einem Lächeln.

„Hey, Nathan.“ Die Bürokraft hinter ihrem Schreibtisch lächelt zurück. „Wir stecken doch wohl nicht in Schwierigkeiten, oder?“

„War ja klar, dass die illegalen Straßenrennen mich früher oder später einholen würden.“ Dieser Nathan lacht, als wäre es das, was er auf der Welt am liebsten täte. „Mrs. Smith hat nach mir rufen lassen.“

„Explizit nach dir?“ Kev zieht seine Augenbrauen hoch. „Dann muss ja etwas ganz Besonderes los sein.“

„Vielleicht werde ich endlich als der Musterschüler geehrt, der ich bin.“

„Zum Totlachen.“ Kev lacht nicht. „Nun, sie hat gerade eine Besprechung, also setz dich erst mal hin. Lange dürfte es nicht mehr dauern.“

„Cool.“ Nathan setzt sich direkt neben mich, schlägt ein Bein über das andere und legt seine Hände in den Schoß. Schon nach kurzer Zeit bricht er das Schweigen. „Bist du neu hier? Ich wüsste nicht, dass ich dich hier schon mal gesehen hätte.“ Er dreht sich auf seinem Stuhl so hin, dass er mich zumindest ansatzweise ansehen kann.

„Ja, ich, ähm … bin gerade hergezogen.“ Ich wippe mit den Füßen, wodurch die Socken noch weiter nach unten rutschen.

„Schön. Ich bin Nathan.“ Er streckt seine Hand aus.

Langsam bewege ich meine Hand auf seine zu, nehme sie, aber schüttele sie nicht. Ich weiß selbst nicht genau, warum. Es ist, als würde mein Gehirn hinter meinem Körper zurückfallen. „Ben.“

„Und wo kommst du her, Ben?“

„Von hier.“ Erst, als ich bereits geantwortet habe, fällt mir auf, was ich da eigentlich gesagt habe. „Also nicht von hier, aber aus North Carolina“, stottere ich. Verdammt, nicht einmal das kriege ich richtig hin. „Goldsboro. Ich bin aus Goldsboro“, sage ich endlich.

„Oh.“ Zu seiner Verteidigung: Er lacht mich nicht dafür aus, was für ein immenses Desaster auf zwei Beinen ich bin. „Also ganz aus der Nähe?“

„Ja.“

„Ben.“ Thomas eilt zur Rettung, um mich vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren. „Mrs. Smith wäre jetzt so weit.“

„Hey, Mr. W.!“ Nathan richtet sich auf seinem Sessel auf. „Ich dachte, Sie sind heute nicht da?“

„Hey, Nathan. Ich helfe nur Ben bei etwas.“ Thomas steckt seine Hände in die Hosentaschen. „Und was machst du hier?“

„Mrs. Smith hat mich herbestellt.“

„Oh“, sagt Thomas und sieht dabei etwas verwirrt aus, dann schaut er wieder in meine Richtung. „Komm rein, Ben, sie wartet schon.“

„Viel Glück, Ben. Vielleicht sieht man sich ja mal, würde mich freuen.“ Nathan grinst mir zu.

„Danke“, sage ich und lächele verhalten zurück. Dann folge ich Thomas den Gang entlang.

VIER

Ich bin echt froh, dass die Schulleiterin alles ganz langsam erklärt, denn bei all den neuen Informationen ist es fast so, als gehe es ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.

Knapp zwei Dutzend Formulare müssen gelesen und ausgefüllt werden: damit ich die gleichen Kurse besuchen kann, damit ich einen Schulausweis bekomme und in der Cafeteria mein Essen bezahlen und neue Kurse wählen kann.

Ziemlich verwirrend.

„Wird Ben den Abschluss wie geplant schaffen?“ Mir fällt auf, dass Thomas versucht, keine Pronomen für mich zu verwenden, was ich mehr zu schätzen weiß, als es ihm vermutlich bewusst ist.

„Das wissen wir erst, wenn wir seine Zeugnisse und Zwischennoten bekommen, aber ich denke, das dürfte er hinkriegen. An unserer Schule funktioniert es ähnlich wie an seiner früheren.“

Seiner. Seine. Er.

Stopp. Ich habe keinen Grund, deshalb sauer oder verletzt zu sein. Ich wollte es so und deswegen muss das momentan okay sein, zumindest fürs Erste.

„Wann könnte ich denn anfangen?“, frage ich.

„Gleich morgen, wenn du magst. Vorausgesetzt, die betreffenden Dokumente werden uns rechtzeitig zugefaxt. Glücklicherweise stehen wir direkt am Semesterbeginn, sodass du nicht allzu viel Unterrichtsstoff aufholen musst.“

„Ben ist klug.“ Thomas tätschelt mir die Schulter. Ich würde das Kompliment gerne annehmen, aber alles in allem kennen wir uns gerade mal zwei Stunden.

„Was denkst du, Ben? Wäre das für dich so in Ordnung?“, fragt mich Schulleiterin Smith.

Ich nicke. „Ja.“

„Sehr gut.“

Sie holt einen Schnellhefter hervor und legt alle Blätter, die sie vor mir ausgebreitet hat, hinein. „Wenn ihr beide jetzt ganz kurz durch die einzelnen Formulare gehen würdet, könntet ihr sie gleich ausgefüllt und unterschrieben einreichen.“

„Komm, wir gehen ins Lehrerzimmer, da sollten wir ungestört sein.“ Thomas nimmt den Hefter.

„Ach, und Thomas? Könntest du Nathan bitte hereinschicken?“, fragt Mrs. Smith.

„Na klar.“ Thomas hält mir die Tür auf. „Nathan, Mrs. Smith hat jetzt Zeit für dich.“ Nathan tippt gerade auf seinem Handy herum, als Thomas ihn ruft.

Er springt von seinem Stuhl auf und salutiert zum Spaß, lächelt mich an und zwinkert mir im Vorbeigehen zu. Jep. Er ist definitiv größer als ich, mindestens einen Kopf, vielleicht sogar mehr. Ich versuche zurückzulächeln, aber ich bin mir sicher, dass es eher seltsam rüberkommt. Ich folge Thomas den Gang entlang zu einer Tür, die in eine Art leere Cafeteria führt. Er gibt einen Code in das Tastenfeld ein und es macht Klick, dann drückt er die Tür auf.

Es ist hier verdammt noch mal viel schicker als an der Wayne.

Dokumente ausfüllen ist echt mühsamer, als es klingt. Es gibt Fragen, auf die ich keine Antworten weiß, manche geben mir das Gefühl, komplett nutzlos zu sein, einige Fragen sind so kompliziert formuliert, dass ich Sorge habe, sie falsch zu beantworten. Wenn Thomas nicht hier wäre, um mir zu helfen, wäre ich aufgeschmissen. Nach fünfundvierzig Minuten sind wir endlich fertig und gehen zurück ins Büro der Schulleiterin.

„Wunderbar.“ Mrs. Smith nimmt den Hefter entgegen. „Und ich habe mittlerweile deine alte Schule kontaktiert. Sie werden im Laufe des Tages alle restlichen Papiere rüberfaxen. Sollten noch irgendwelche Probleme aufkommen, rufe ich heute Abend noch einmal an. Aber so, wie es aussieht, ist Ben jetzt der neueste Schüler der North Wake.“ Mrs. Smith klingt darüber sehr viel begeisterter als unbedingt nötig, aber vermutlich sollte ich dankbar sein, dass sie mich nicht, ohne mit der Wimper zu zucken, abgewiesen hat.

Thomas legt eine Hand auf meine Schulter.

„Danke“, sage ich.

„Ach, und ich habe jemanden beauftragt, dir hier alles zu zeigen. Nathan Allan. Er meinte, dass ihr beide euch schon vorne im Sekretariat begegnet seid?“

„Ja, irgendwie schon.“

„Ihr trefft euch morgen vor dem Unterricht hier im Büro, also komm bitte etwas früher als sonst.“

„Verstanden. Wir werden in aller Frühe hier sein.“ Thomas geht zur Tür. „Ich danke dir, Diane.“

„Kein Problem. Und Ben, willkommen an der North Wake.“

Auf der Fahrt nach Hause spreche ich kein Wort. Thomas würde sich offensichtlich gerne mit mir unterhalten, aber er kapiert es dann doch recht schnell.

„Du kannst den Bus nehmen oder mit mir fahren, wenn du willst.“

Nichts.

Er kichert unbeholfen. „Allerdings müsstest du dann eine ganze Stunde früher aufstehen.“

Ich antworte ihm nicht. Mir wäre ehrlich gesagt beides recht, aber ein bisschen lieber fahre ich mit Thomas. Busfahren ist schrecklich.

Trotzdem. Ich habe einfach keine Lust, mich zu unterhalten. Nicht jetzt. Thomas denkt wahrscheinlich, dass ich mich wie ein Arschloch verhalte. Er nimmt mich bei sich auf, verschafft mir einen Tag, nachdem meine Eltern mich rausgeworfen haben, einen Platz an seiner Schule, und ich sitze nur da und ignoriere ihn.