Idenlow - Nora Theresa Saller - E-Book

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Nora Theresa Saller

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Ein Ort, zwei Leben & Erinnerungen an Liebe Sommer 2017 - Emilia ist Ende dreißig, wohnt in Hannover und ist mehr oder weniger Single. Aufgrund einer Unachtsamkeit verliert sie ihren Job als Schneiderin. Als dann auch noch eine Mieterhöhung ansteht, scheint die Katastrophe perfekt. Doch ist das nicht das Einzige, was ihr Leben binnen kürzester Zeit auf den Kopf stellt. Ein Brief eines Notars führt sie an die Elbe. Dort wird sie in mehrerlei Hinsicht überrascht - vom Leben und der Liebe. Damals - Johann fühlt sich einsam und kann sich mit dem ihm vorbestimmten Lebensweg als Tuchfabrikant nicht anfreunden. Als er sich für das Literaturstudium entscheidet, ist das Band zwischen ihm und dem strengen Vater gänzlich zerrissen. Während seine Mutter schützend die Hände über ihren Sohn hält, versucht Johann nur das Eine: wahrhaftig zu lieben - ein gefährliches Unterfangen!

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Sommer 2017 • Emilia ist Ende dreißig, wohnt in Hannover und ist mehr oder weniger Single. Aufgrund einer Unachtsamkeit verliert sie ihren Job als Schneiderin. Als dann auch noch eine Mieterhöhung ansteht, scheint die Katastrophe perfekt. Doch ist das nicht das Einzige, was ihr Leben binnen kürzester Zeit auf den Kopf stellt. Ein Brief eines Notarsführt sie an die Elbe. Dort wird sie in mehrerlei Hinsicht überrascht - vom Leben und der Liebe.

Damals • Johann fühlt sich einsam und kann sich mit dem ihm vorbestimmten Lebensweg als Tuchfabrikant nicht anfreunden. Als er sich für das Literaturstudium entscheidet, ist das Band zwischen ihm und dem strengen-Vater gänzlich zerrissen. Während seine Mutter schützend die Hände über ihren Sohn hält, versucht Johann nur das Eine:wahrhaftig zu lieben - ein gefährliches Unterfangen!

Nora Theresa Saller lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hannover und arbeitet freiberuflich als Schriftstellerin. Seit früher Kindheit ist sie fasziniert von Texten und deren Wirkungsweisen. Die Lust am Schreiben und Lesen weckte ihre Großmutter, die sich in der Nachkriegszeit den Traum einer eigenen Buchhandlung erfüllte. Ihre Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht sie unter Pseudonym.

Wüs|tung, die; aufgegebene Siedlung

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

Vom nutzlosen Prinzen

KAPITEL 2

KAPITEL 3

Mein Herz

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 1

Meine Arbeitstage begannen seit einigen Wochen schon zwei Stunden, bevor ich das goldene Ladenschild der kleinen Schneiderei umdrehte und der Kundschaft die Tür öffnete. Ohne das Wissen meiner Chefin schneiderte ich an Gretas Hochzeitskleid. Als Friseurin verdiente sie gerade einmal den Mindestlohn und damit nicht mehr als ich. Umso wichtiger war es für mich, meiner besten Freundin dieses Geschenk machen zu können. An dem Tag, als sie mich gefragt hatte, ob ich ihre Trauzeugin sein möchte, hatte ich begonnen, Stoffreste beiseitezulegen, um ein Traum in Weiß für sie zu zaubern. Schon bald war das Kleid fertig und ich konnte es kaum erwarten, sie darin zu sehen.

Kurz bevor ich meine kleine Dachwohnung verließ, warf ich einen letzten prüfenden Blick in den Garderobenspiegel, strich die widerspenstige blonde Locke hinter das rechte Ohr und die Falten meines geblümten Kleids glatt. Die ersten Maitage waren sommerlich warm und an diesem Tag versprach die Wetterapp einen strahlend blauen Himmel. Mit einem Lied auf den Lippen hüpfte ich die Treppen hinab und begrüßte Frau Lindemann, meine Nachbarin, die mich in Unterwäsche im Treppenhaus erwartete.

So war es jeden Morgen und irgendwie gefiel es mir.

»Guten Morgen Fräulein Schneider, ein schönes Kleid habe Sie da an.«

Ihre Verwirrtheit ließ mich in solchen Augenblicken lächeln, in anderen Momenten sorgte mich ihr Zustand. Etwa dann, wenn ich mitten in der Nacht vom Pfeifen ihres Teekessels geweckt wurde, der minutenlang warnend vor sich hin schrillte. Dass wir hier im Altbau mit Gas kochten, machte die Situation nicht angenehmer. Des Öfteren sah ich bei ihr nach dem Rechten. Als ich meine Bedenken vor zwei Jahren ihrem Sohn mitgeteilt hatte, drückte der mir seinen Schlüssel in die Hand und verabschiedete sich. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

»Guten Morgen Frau Lindemann, Sie sind aber früh auf. Nach der Arbeit gehen wir einkaufen und zum Friseur. Ziehen Sie doch auch ein Kleid an. Das schöne Hellblaue mit den weißen Tupfen. Ich hole Sie um fünf Uhr ab.«

Ihre verblassten graublauen Augen blitzten beim Wort Friseur auf. Den Bildern in ihrer Wohnung nach, war sie früher eine wunderschöne Frau gewesen und gemäß der Anzahl der Abbildungen mit Hochzeitskleid, wusste das mehr als nur ein Mann zu schätzen. Ich hatte vier gezählt.

»Ist gut Liebes, ich werde Sie erwarten. Wir müssen mir unbedingt einen neuen Hut kaufen. Mein Harald hat mich nach Langenhagen auf die Pferderennbahn eingeladen. Am Sonntag, wissen Sie Fräulein Schneider?«

»Das ist aber nett von Herrn Richter. Wir werden einen schönen Hut für Sie finden. Tschüß, Frau Lindemann.«

Sie hob den mageren Arm, an dem die faltige Haut zu zittern begann, als sie mir mit einem verschmitzten Lächeln zum Abschied winkte.

Ich habe es aufgegeben, meinen Nachnamen zu korrigieren. Seitdem ich mich ihr damals beim Einzug vorgestellt und erzählt hatte, ich sei Schneiderin, war dies in ihrem Kopf einzementiert. Seither stand auf meiner Klingel neben Hover der Name Schneider, was mich jedes Mal zum Schmunzeln brachte. Diese kleine verrückte Elfrun Lindemann ist mir ans Herz gewachsen.

Bei den Briefkästen angekommen, fischte ich schnell die am Vortag vergessene Post aus dem alten Holzkasten und verstaute alles in meiner Umhängetasche. Vielleicht schaffte ich es, die Post in der Mittagspause zu lesen.

Das alte grüne Hollandrad mit den hellen Reifen wartete im Fahrradständer vor der Tür. Bei solch wundervoll mildem Wetter freute ich mich auf die zwanzigminütige Fahrt durch Hannover. Ich liebte das Grün der Eilenriede und das um diese Uhrzeit verschlafene Zooviertel. Die beeindruckenden Villen. Die Weitläufigkeit. Anders verhielt es sich, sobald man die Marienstraße erreicht hatte. Der laute, drängende Stadtverkehr war nichts für mich. Ich war jedes Mal froh, wenn ich den kleinen Laden von Frau Kraft in einem Stück erreichte. Meine Taschenuhr, die ich an einer langen Kette um den Hals trug, verriet, dass mir noch zwei Stunden blieben, um die letzten Arbeiten an Gretas Kleid zu verrichten.

Schnell lief ich in den Keller und schleppte die alte Stoffkiste, in der ich das Kleid versteckte, nach oben an meinen Arbeitsplatz. Es war jedes Mal mühsam, den schweren Stoff über die Schneiderpuppe zu ziehen, und ich hoffte, dass es das letzte Mal war. Mit ein wenig Abstand betrachtete ich mein Werk in voller Größe. Ein Traum in Elfenbein. Der Schnitt begann mit einem fünfzehn Zentimeter breiten Spitzenstoff mit dezent floralem Muster quer über Brust und Rücken, setzte sich bis hin zu den Handgelenken fort und ließ die Schultern frei. Enganliegend schmiegte sich der seidige Unterstoff um die Schneiderbüste, um ab den Hüften schwer und voluminös in großen Wellen auf den Boden zu fallen. Den Rücken zierten weiße, kleine Knöpfe, die wie eine Perlenschnur der Rückenmitte von Schulter bis Po folgten. Unterhalb der Knopfleiste hatte ich ein kleines Faltenwerk eingenäht, was später die Verlängerung des Schleiers bildete, den ich aus derselben Spitze genäht hatte. Mit den wenigen Metern Stoff, der mir zur Verfügung stand, hatte ich ein Meisterwerk geschaffen. Deine Lehrmeisterin wäre stolz auf dich, Emilia. Ich schoss ein letztes Foto zur Erinnerung und machte mich an die Arbeit.

Den Saum der letzten Stoffschicht hatte ich fast fertig umgenäht, als die Ladenglocke ertönte. Mist. Hatte ich vergessen, die Eingangstür hinter mir zu schließen? Lautlos verharrte ich, um zu hören, ob sich tatsächlich jemand zu uns verirrt hatte.

»Hallo? Ist jemand da?«

Auch das noch!

Diese schrille Stimme erkannte ich aus Hunderten heraus. Freifrau Constance von Bodenroda. Ich trat aus meiner Arbeitsnische hervor, die den hinteren Bereich durch einen schweren roten Samtvorhang vom Verkaufsraum trennte.

»Guten Morgen Frau von Bodenroda. Sie sind heute aber früh unterwegs. Was kann ich für Sie tun?«

»Früh? Es ist zehn nach neun! Was meinen Sie, was ich heute bereits alles erledigt habe?«

Irritiert überprüfte ich ihre Zeitangabe und musste entsetzt feststellen, dass meine Taschenuhr fünf nach acht stehengeblieben war.

»Sie haben es sicher schon gelesen. Jede Zeitung berichtet seit Tagen davon. Meine Katharina und ihr Prinz Hans-August werden heiraten. Wir haben bereits ein paar Designer für das Hochzeitskleid in die engere Auswahl genommen. Katharina wird gleich zu uns stoßen und wir gehen alles durch. Ich habe gesehen, dass Ihr Ladenschild noch geschlossen anzeigt. Am besten belassen wir es dabei. Sie werden heute keine Zeit mehr für weitere Kundschaft haben.«

»Das freut mich sehr für das Brautpaar, aber heute muss ich zwei Aufträge für die morgige Gala im Capitol abschließen. Wir müssten einen Termin machen, wenn es länger als eine halbe Stunde dauert.«

»Meine Liebe, Sie scherzen wohl? Sie können eine Adelshochzeit ausstatten und schicken mich fort? Ihnen sollte klar sein, dass diese Schneiderei nicht die einzige in Hannover ist.«

Nein, aber die Beste. Doch wenn ich sie gehen lasse und meine Chefin davon erfährt, bin ich meinen Job los.

Ich schluckte die Wut über diese Ungerechtigkeit hinunter und stellte mich auf unbezahlte Überstunden in der Nacht ein.

»Nein, schon gut Frau von Bodenroda, ich bekomme das schon geregelt.«

Siegessicher reckt sie das Kinn und bedeckt mich mit einem dieser Blicke, der unsere unterschiedliche Stellung im Leben verdeutlichte. Übelkeit überkam mich und meine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in die Handinnenflächen.

Die Türglocke ertönte erneut und eine strahlende Katharina von Bodenroda platzte in unser wenig erbauliches Gespräch. Mutter und Tochter verfielen in eine adelsgerechte, distanzgeprägte Umarmung mit Wangenküsschen, die kurz vorm Ziel durch ein Schmatzgeräusch ersetzt wurden. Nach dreimaliger Prozedur war das Schauspiel beendet und die Damen widmeten sich dem eigentlichen Grund ihres Kommens.

Nickend reichte mir Frau Tochter ihre dünnen Fingerchen. Kein Händedruck. Nur Fingerchen, die wiederum ich kurz drücken durfte.

»Meine Mutter hat sicher schon von meiner anstehenden Hochzeit berichtet. Ich benötige drei Kleider. Eines für das Standesamt, ein Kleid für die kirchliche Trauung im Dom und das dritte Kleid für den Mitternachtstanz. Meine fünf Brautjungfern bekommen nur ein Kleid in zartem Altrosa. Das Motto des Events wird Vintage Romance sein. Stellen Sie sich eine mondäne Hochzeit in den goldenen Zwanzigern vor. Stilvoll und glamourös. Und ich möchte selbstverständlich nur Unikate. Warten Sie, ich habe mein iPad mit und zeige Ihnen ein paar Bilder.«

Sie holte das riesige Tablett aus ihrer Designer-Tasche - beides wertvoller als mein Jahresgehalt. Auf ihrer digitalen Pinnwand befanden sich hunderte Bilder von Designer-Kleidern, Tischdekorationen, Blumenarrangements und Dessous. Letztes zu sehen, war mir unheimlich peinlich. Wollte ich wirklich wissen, mit welcher Unterwäsche Mylady ihren Hans-August beglückte? Ich machte mir Notizen und ließ mir einige Bilder an unsere E-Mail senden.

Drei lange Stunden später war meine Konzentration am Boden, zumal ich bis auf einen Kaffee am Morgen nichts weiter zu mir genommen hatte.

»Gut, Frau von Bodenroda, ich werde ein paar Entwürfe zeichnen und wir machen einen neuen Termin zum Maßnehmen. Die Brautjungfern müssten auch noch einmal herkommen. Wäre schön, wenn wir das gemeinsam machen könnten. Wissen Sie bereits das Datum der Hochzeit?«

»Scheinbar lesen wirklich Sie keine Zeitung, wir heiraten in zwölf Wochen! Und bevor ich es vergesse, meine Mutter braucht natürlich auch noch Kostüm und Abendkleid.«

Ich überschlug gedanklich, wie lange ich an den zehn Kleidern arbeiten würde und wusste bereits in diesem Moment, dass ich es niemals schaffen konnte, diese und all die laufenden Aufträge pünktlich fertigzustellen. In diesem Moment brachte meine Chefin das Glöckchen an der Tür abermals zum Läuten und begrüßte überschwänglich unsere Kundschaft.

»Hach, welch Glanz in meinem kleinen Laden. Frau von Bodenroda, wie geht es Ihnen und herzlichen Glückwunsch zur anstehenden Hochzeit. Ich nehme an, dieses Ereignis führt Sie zu uns?«

Man hätte meinen können, meine Chefin stammt selbst aus diesen Kreisen. Dabei hatte sie nur eine Affäre mit einem entfernten Verwandten des hannoverschen Adels gehabt. Seither nutzte sie diesen Kontakt in aller Regelmäßigkeit und ließ sich in seinen Kreisen weiterempfehlen, für ihn ein eher unfreiwilliger Dienst. Aber wen interessierte das schon. Fortan lief ihre kleine Schneiderei und die High Society ging ein und aus. Seit sie mich vor neun Jahren angestellt hatte, gönnte sie sich eine Pause und genoss das Leben, was nicht billig war. Mir zahlte sie nur das, was sie musste und schickte mir ohne schlechtes Gewissen einen Promi nach dem anderen ins Haus, dem ich dann Garderobe nach Maß im Wert eines Kleinwagens anfertigte. Mit dem Versprechen, dass ich den Laden mit all der Kundschaft übernehmen durfte, wenn sie sich zur Ruhe setzte, hielt sie mich. Leiden konnte ich sie dennoch nicht.

»Vielen Dank meine Liebe, Ihre Angestellte hat unsere Wünsche entgegengenommen. Wir würden gern am Sonntag nach dem Golf zum Maßnehmen vorbeischauen. Dabei können wir bei Champagner die Designs besprechen.«

Sonntag? Das durfte doch nicht wahr sein! Mit großen Augen sah ich zu meiner Chefin hinüber, die mich gekonnt ignorierte.

»Aber sicher können wir das einrichten. Ich hole kurz meinen Terminplaner von hinten.«

Oh nein, das Kleid.

Mein Herz sank in den Keller und ich fühlte mich der Ohnmacht ganz nahe.

»Emilia, was hast du denn hier Schönes gezaubert?«, tönte sie aus dem hinteren Bereich und ich machte mich auf einen ihrer Wutausbrüche gefasst. Doch anstatt mich zu sich zu zitieren, rollte sie die Büste zu uns in den vorderen Bereich des Ladens.

»Also, ich kann mich an keinen Auftrag für ein Hochzeitskleid erinnern? Oder ist das bereits ein Entwurf für die Hochzeit, Emilia? Ich muss sagen, das Kleid ist dir wirklich gelungen?«

Ich krallte mich am Kassentisch fest und feilte gedanklich an einer passenden Erklärung, als mich das schrille Kreischen von Katharina aus der Schockstarre befreite.

»Du liebe Güte, was für ein traumhaftes Kleid. Mutter schau doch nur. Es ist wie für mich gemacht.«

Katharina schnellte zur Schneiderbüste und fuhr mit ihren dürren Fingern über die zarte Spitze.

»Ehrlich gesagt, ist das kein Auftrag. Ich habe es entworfen. Es ist …«, für meine Freundin wollte ich noch hinzufügen. Doch da kommt mir Katharina schon zuvor.

»…wunderschön. Ich will es sofort anprobieren.«

»Aber …es wird Ihnen nicht passen …«

»Emilia! Sei nicht albern. In das Kleid passt Frau von Bodenroda zweimal hinein. Wir passen es natürlich an.«

Alle drei verfielen in schallendes Gelächter. Meine Freundin trug immerhin Kleidergröße 38 und an ihr befand sich kein Gramm zu viel. Bitterkeit stieg mir die Kehle hinauf. Am liebesten hätte ich das Kleid genommen und wäre fortgelaufen. Doch meine Chefin knöpfte bereits die Rückenpartie auf und bedeutete Katharina in die Umziehkabine zu gehen.

Ich stand fassungslos am Ladentisch und betete, dass sie das Kleid scheußlich fand. Aber mir war bereits klar, dass ihr das Kleid hervorragend stehen würde. Und als der sich öffnende Vorhang eine wunderschöne Braut zum Vorschein brachte, nahm das Elend seinen Lauf.

Niemand sagte etwas, weil es nichts zu sagen gab. Das war ihr Kleid. Sie stieg auf das kleine runde Podest vor dem großen Spiegel und drehte sich hin und her und strahlte mit dem Lüster über uns um die Wette.

Das Kleid war verloren.

Wie nur sollte ich so schnell ein neues Kleid für Greta nähen? Bereits in zwei Wochen heiratete sie und an diesem Nachmittag wollten wir die letzten Dinge besprechen, die es noch an Vorbereitungen zu tun gab, während sie Frau Lindemann im Salon die Haare eindrehte.

Nun stand ein Kleid nähen wieder ganz oben auf meiner Liste.

»Frau Kraft, was hatten Sie für dieses Kleid preislich gedacht? Meinen Sie, wir kommen mit 15.000 € zurecht? Dann hätten wir noch ein Budget von 45.000 € für die restliche neun Kleider.«

Selten bekam man meine Chefin sprachlos zu Gesicht. Dies war so ein Augenblick. Doch sie war vom Fach und sah mit Sicherheit, dass die Stoffe eher ungewöhnlich von mir zusammengestellt worden waren. Dennoch sah das Kleid hier bei heller Beleuchtung wunderschön aus. Genau so, wie es sich Katharina offenbar vorgestellt hatte. Divenhaft und filigran zugleich. Wenn ich es für sie abgenäht hatte, würde sie wie eine Elfe wirken.

Frau Kraft ging begutachtend um die Braut herum und grübelt laut über die Preisfrage nach.

»Ehrlich gesagt, würde ich das Kleid allein nicht unter 20.000 € verkaufen. Aber aufgrund unserer jahrelangen Geschäftsbeziehung und des Gesamtbudgets komme ich Ihrem Wunsch entgegen. Ich würde mich außerdem sehr über eine Einladung zur Hochzeit freuen.«

Unglaublich, was sich diese Frau erlaubte! Das Kleid brachte bei meinem Stundenlohn keine 1.000 €, davon abgesehen, dass es überhaupt nichts kostete, weil ich es aus Resten und während meiner Freizeit geschneidert hatte. Und sich dann noch selbst zu einer Hochzeit einzuladen, empfand ich als schlichtweg erbärmlich. Aber so war sie, die Frau Kraft.

Mit einem Handschlag besiegelten Mutter und Chefin das Geschäft und ich verabschiedete mich in die Pause.

Raffael servierte mir einen Milchkaffee mit einem extra Schuss Karamellsirup.

»Na meine Süße, hat die alte Krähe wieder nach dir gehackt?«

Er schenkte mir sein charmantestes Lächeln.

»Ach, wenn ich dir das erzähle, verprügelst du mich vermutlich. Ich bin einfach zu dumm für diese Welt. Die Kraft macht alles richtig, glaube mir. Sie ist ekelhaft, aber sie hat genug Geld, um sich ein schönes Leben zu machen.«

Ich nahm auf einen der Barhocker in Raffaels kleinem Café Platz und holte meine Brote hervor. Appetitlos biss ich hinein und spülte alles mit Milchkaffee hinunter.

Nachdem ich ihm von der dramatischen Wendung des Vormittages erzählt hatte, war auch er sprachlos. Schließlich war Raffael der Bruder von Gretas zukünftigem Mann und emotional genauso an der Hochzeit beteiligt wie ich.

»Was soll ich sagen, Liebes? Das ist eine Katastrophe! Das musst du irgendwie hinbekommen. Greta kann ja schlecht ohne Kleid heiraten.«

Er untermalt seine Worte mit einem schwungvollen Wurf des Geschirrtuchs über die Schulter.

»Das weiß ich doch! Selbst wenn ich ab heute nicht mehr schlafe und nur noch nähe, gibt es da noch ein Problem. Ich habe keinen Stoff mehr.«

»Scheiße ja, das ist in der Tat ein Problem.«

Er fuhr sich nervös durch sein schwarzes Haar und ließ seine Finger angespannt auf der dunklen Holztheke tanzen.

»Mir fällt schon was ein, Raffa. Bitte erzähle niemanden etwas davon, okay?«

»Ist gut. Sag Bescheid, wenn ich helfen kann.«

Er entließ mich mit einer warmen Umarmung zur Nachmittagsschicht in die Drachenhöhle. Raffael hatte zur selben Zeit sein Café eröffnet, als ich auf der anderen Straßenseite bei Elvira Kraft meinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte. Seither gaben wir uns gegenseitig Halt und schütteten gelegentlich unsere Herzen aus, wenn die Kraft mich mal wieder als ihre persönliche Sklavin missbrauchte oder ein weiterer Mann Raffaels Herz gebrochen hatte. An meiner Situation hat sich leider nichts geändert, Raffa hingegen war seit einiger Zeit mit Noah zusammen. Ein schönes Paar. Ein Paar, das offen zeigte, was es fühlte und sich gegenseitig unterstützte. Wenn ich dagegen an meine eigene Beziehung dachte, löste das keine Emotionen bei mir aus. Tobias war fast vierzig und Immobilienmakler. Er wohnte seit der Privatinsolvenz wieder bei seinen Eltern in Barsinghausen im Süden Hannovers und wir sahen uns unter der Woche kaum. Wenn er bei mir war, hatten wir Spaß. An den Tagen, an denen er sich nicht meldete, vermisste ich ihn aber nicht sonderlich. Nicht mehr. Ich hatte mich daran gewöhnt.

Frau Kraft erwartete mich bereits. Als ich die Tür aufstieß, lehnte sie über dem Ladentisch und blätterte im Auftragsbuch.

»Emilia, ich habe mir die letzten Stoffbestellungen angesehen und kann für dieses Jahr weder die Spritze noch den Unterstoff finden, den du für das Brautkleid verwendet hast. Kannst du mir das erklären?«

Sie sieht über ihren Brillenrand und presst die schmalen, rotgetuschten Lippen aufeinander. Ich hole das Auftragsbuch des vergangenen Jahres aus dem Regal und schlage die zwei Aufträge auf, deren Restmaterial ich verwendet habe.

»Ich habe für das Kleid ausschließlich die Restmaterialien genutzt und in meiner Freizeit genäht.«

»Verstehe. Und haben wir das irgendwann einmal besprochen? Ich bin zwar schon etwas älter, aber meine Erinnerung hat mich bislang nie getrügt.«

Gleich kommt die fristlose Kündigung, befürchtete ich.

»Nein, Frau Kraft, wir haben nicht darüber gesprochen.«

»Das heißt, wenn ich heute nicht zufällig in den Laden gekommen wäre, hätte ich das Kleid vermutlich nie zu sehen bekommen?«

»Vermutlich nicht, nein.«

»Weißt du, Emilia, ich dachte immer, wir haben einen guten Draht zueinander. Jetzt muss ich feststellen, dass du mich betrügst und darüber hinaus bestehlen wolltest. Was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?«

»Ich weiß es nicht, Frau Kraft, es war nicht böse gemeint. Ich wollte nur meiner Freundin einen Wunsch erfüllen und die Reste waren doch nicht mehr nutzbar. Es tut mir leid.«

Tränen der Wut, der Scham und der Enttäuschung über mein dämliches Verhalten liefen mir heiß die Wangen hinunter.

»Emilia, ich muss darüber nachdenken. Die zwei Aufträge für morgen werde ich selbst mit einer befreundeten Schneiderin abarbeiten. Du bist fürs Erste freigestellt. Geh nun bitte.«

Scheiße!

Ich schob mein Rad zurück nach Hause, da mich der Tränenschleier und die mangelnde Konzentrationsfähigkeit vom Fahren abhielten. Ein Unfall hätte diesem schrecklichen Tag zwar ein würdiges Ende verpasst, ich hingegen hatte aber genug von Katastrophen. Erneut ging ich die Worte meiner Chefin durch und suchte nach der versteckten Kündigung. Eine Freistellung ist keine Kündigung, sagte ich mir immer wieder, um mich an das letzte bisschen Hoffnung zu klammern.

Nach einer langen Dusche und einem Kaffee holte ich Frau Lindemann ab und fuhr mit ihr per Straßenbahn bis zum Bahnhof, wo wir ausstiegen und den restlichen Weg bis zur Kröpcke-Uhr zu Fuß gingen. Dort fand sie im Fachgeschäft einen schönen roten Hut, der mich zwar an die Kopfbedeckungen von Zugbegleiterinnen erinnerte, ihr jedoch ausgezeichnet stand.

Der darauffolgende Gang zu meiner Freundin verknotet mir regelrecht den Magen. Doch als wir den Salon betraten, setzte sie uns direkt wieder vor die Tür, weil ihre Kollegin ausgefallen war und sie die Termine alleine nicht schaffte.

»Tut mir wirklich leid, Milli. Ich habe dich schon dreimal angerufen, um euch abzusagen. Frau Lindemann kann gern in zwei Tagen wiederkommen. Aber heute und morgen ist hier Land unter. Ich rufe dich an, dann besprechen wir den Rest wegen der Hochzeit eben am Telefon.«

Prompt schaltete sie den Föhn wieder ein und widmet sich dem Haar ihrer Kundin.

Greta hatte sich ihre sonst roten Haare schokoladenbraun gefärbt, um auf den Hochzeitsfotos seriös auszusehen. Braun stand ihr besser als die grelle Signalfarbe. Das Kleid wäre perfekt für sie gewesen und es machte mich unendlich traurig, dass ich es dermaßen vermasselt hatte. Hoffentlich fiel mir rechtzeitig eine Lösung ein.

Beim Gemüsehändler Dogan kauften wir frische Tomaten und eine Gurke für Frau Lindemann, bevor wir endlich nach Hause zurückkehrten. Ich hatte genug von dem Tag und nur den einen Wunsch, mich in meinem Kleiderschrank zu verkriechen und nie wieder herauszukommen. Doch meine Nachbarin war nach den zwei Stunden in der Stadt so müde, dass ich ihr schnell ihren Schlaftee kochte und ein Käsebrot schmierte. Währenddessen erzählte sie mir wie so häufig von ihren verstorbenen Ehemännern, wobei sie an Mann Nummer zwei nie ein gutes Haar ließ, weil der mit ihrer Hebamme durchgebrannt war und sie mit ihrem Sohn Gunnar im Stich gelassen hatte. Mann Nummer vier war hingegen ein wahrer Gentleman gewesen. Ich hörte ihre Geschichten von damals gern, doch heute waren meine Gedanken leider woanders und es tat mir unheimlich leid, sie vor ihrem Brot und der Nachrichtensendung allein sitzen zu lassen. Als Petra Gerster ihr einen guten Abend wünschte, zog ich die Tür hinter mir zu und stapfte kraftlos hinauf zu meiner Wohnung.

Regungslos saß ich auf meinem kleinen grünen Samtsofa, das nur schön, aber zum Liegen zu kurz und überhaupt sehr unbequem war. Ich überlegte angestrengt, was ich tun konnte. Vielleicht sollte ich einfach morgen früh zu Frau Kraft fahren und mich noch einmal entschuldigen? An wen wollte sie die beiden Aufträge für morgen eigentlich vergeben? Welche Freundin meinte sie? In all den Jahren hatten wir keinen einzigen Auftrag fremdvergeben. An wen dachte sie, der für mich einspringen konnte?

Aus der Tasche neben mir blitzten die Briefe hervor, die ich am Morgen auf die Schnelle eingesteckt hatte. Auf dem Weg in die Küche, in der ich hoffentlich noch eine Flasche Wein fand, zog ich die Umschläge heraus und ließ die Tasche achtlos auf den Boden fallen. Der erste Umschlag, den ein magentafarbenes Kästchen zierte, landete ungeöffnet im Papiermüll. Der zweite Brief war von meinem Vermieter. Ohne Briefmarke. Wahrscheinlich hat der alte Böll die Post wieder einmal selbst verteilt, als er auf Patrouille unterwegs gewesen war. Hoffentlich hatte er dabei auch die überquellende gelbe Tonne vor der Tür bemerkt, welche die zwei Wochen zwischen den Abholterminen nur selten bei geschlossenem Deckel erlebte. Anstatt eine zweite Tonne zu bestellen, duldete er den stinkenden Tütenhaufen vor der bunten Tonnengarde.

Gespannt faltete ich den Brief auseinander und allein beim Wort Mieterhöhung schrillten die Alarmglocken. Ehe ich weiter lesen könnte, schmiss ich den Brief auf die kleine Küchentheke und wühlte in den Schränken nach dem Grauburgunder, den Raffa mir zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.

Erst, als das halbe Glas lauwarm in meinem Mund verschwunden war, konnte ich mich wieder dieser grauenvollen Botschaft widmen. Still las ich die wenigen Zeilen, die mir aufgrund der besorgniserregenden Situation auf Arbeit regelrecht Angst einjagten. Drei Prozent wollte der Böll haben. Ich hatte bereits Probleme, die Miete immer rechtzeitig zu zahlen. Seit neun Jahren lebe ich in dieser Dachwohnung, die seither keinerlei Aufwertung erfahren hatte. Ich lebte mit der riesigen Gastherme, die ein Drittel des Badezimmers einnahm und dazu neigte, heißes und kaltes Wasser im Wechsel auszulassen, anstatt es wohlig temperiert zu mischen. Dass man die Klospülung immer noch mit Strippe bedienen musste, war archaisch und peinlich obendrein. Den Mietvertrag hatte ich nur unterschrieben, weil Tobias und ich zuvor in der Kiste gelandet waren und ich mir damals erhofft hatte, dass mehr aus uns würde. Mittlerweile wünschte ich mir, das zwischen uns würde noch weniger werden. Oder ganz aufhören.

Für die 50 Quadratmeter sollte ich ab Herbst fast 700 Euro warm bezahlen. Mir war sofort klar, dass ich mir das nicht mehr leisten konnte. Bis auf das Kautionssparbuch hatte ich keinerlei Rücklagen und hangelte mich dank Dispo von Monat zu Monat. Einen kurzen Moment blitzten die 20.000 € auf, die die Kraft für Gretas Kleid aufgerufen hatte und schon kam der schöne Grauburgunder wieder ans Tageslicht, um spritzig und geräuschvoll in den Abfluss der Küchenspüle abzugehen.

Vom nutzlosen Prinzen

Johann von Themel (1924)

In einer stürm´schen Nacht geschah,

dass Clärchen einen Sohn gebar.

Erbe war er, hoch vom Stand,

die Lebenslinie vorbenannt.

Die Mutter ahnte mit der Zeit,

Filius sei von zarter Seit`.

Baute ein Nest gar hennenhaft,

hielt fern ihn von Vaters Knechtschaft.

Der Erbe las nun Buch um Buch,

blieb ahnungslos von Stoff und Tuch.

Sohn und Vater trennten Welten,

Gemeinsames traf sie höchst selten.

Clärchen war längst klar,

einer der Männer war sonderbar.

Nur Blicke war´n es – keine Worte,

wenn sie stickte feine Borte.

Doch Filius bereits erwachsen war,

als er verstand, was Mutter sah.

Die Sünde hatte ihn gepackt,

das suchende Herz in Stücke zerhackt.

»Keine Zeit, zum Buße tun,

reisen musst du, lieber Sohn!

Kein Erbe bist du, kein Tuchfabrikant.

Wähle Tod oder Exilant.«

KAPITEL 2

Irgendwo in der Wohnung vibrierte leise aber penetrant mein Smartphone. Als es Minuten später rumste, gab ich meine Trägheit auf und quälte mich mit stechendem Kopfschmerz aus dem Bett. Schlurfend suchte ich den Boden im Wohnzimmer und der angrenzenden Küche nach meinem Telefon ab und fand es unter dem Küchenschrank. Erfreut stellte fest, dass alles funktionierte, und erschrak fürchterlich, als das Display ansprang. Neben zwölf entgangenen Anrufen und sieben Nachrichten zeigte das digitale Ziffernblatt 12.37 Uhr an. Das war ein Desaster. Selbst wenn ich jetzt den Gang nach Canossa antrat, welches Licht hätte das auf mich geworfen? Wenigsten pünktlich hätte ich sein müssen. Guten Willen zeigen. Schnell checkte ich die Anrufliste, aber außer Raffa und Greta hatte sonst niemand angerufen. Die Nummer der Schneiderei tauchte nicht auf. Hatte Frau Kraft vielleicht auf mich gewartet? Oder hatte sie mich bereits abgeschrieben?

Es klingelte nur ein einziges Mal, bis Raffael seine Schimpftirade über mich ergoss.

»Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Kannst du mich nicht mal zurückrufen? Warum bist du heute nicht in der Mittagspause hergekommen?«

»Es tut mir leid, Raffa. Ich bin noch zu Hause. Die Kraft hat mich freigestellt, wegen des Kleides, du weißt schon …«

»Wie bitte? Die alte Krähe … ach du Scheiße, was ist denn jetzt mit dem Kleid für Greta?«

»Eigentlich wollte ich mich heute Morgen noch mal bei ihr entschuldigen, aber ich habe verschlafen. War wohl etwas viel Wein gestern. Mein Vermieter hat mir zu allem Übel noch eine Mieterhöhung reingedrückt. Ich weiß so schon nicht, wie ich alles bezahlen soll …«

»Du hast echt ´nen Lauf, Süße. Geh duschen und komm ins Café! Es gibt es heute Zitronentarte. Dann lass uns in Ruhe über alles reden und vielleicht gehst du doch noch einmal rüber zur Kraft.«

Nach einem ersten Kaffee und einer nicht beabsichtigten kalten Dusche griff ich nach dem Schreiben vom Vermieter und stopfe den Umschlag wieder in meine große Tasche. Draußen vor der Haustür strahlte mir die Sonne warm und hell ins Gesicht, sodass ich die Sonnenbrille dichter gegen die Nasenwurzel drückte. Regen hätte mir besser in den Kram gepasst. Schlechtgelaunt und mit einem flauen Gefühl im Bauch schwang ich mich aufs Rad und fuhr die gewohnte Strecke zur Marienstraße. Dieses Mal mit einem anderen Ziel.

Raffael begrüßte mich bereits am Fahrradständer vor der Tür und begleitete mich nach einer ausgiebigen Umarmung in sein Café. Die Mittagszeit war vorbei und somit nicht viel los. Ich schob die große Sonnenbrille über die Stirn in die Haare und konzentriere mich auf meinen Freund, der hinter dem Tresen an der silberglänzenden Baristamaschine einen großen Milchkaffee für mich zauberte. Als Kaffee und Tarte zwischen uns platziert waren, beugt er sich vor und hob mein Kinn. Wieder sammelten sich kleine Seen auf meinen Augenlidern, als mich sein mitfühlender Blick mitten ins Herz traf.

»Ich weiß, wie du dich fühlst, Principessa. Glaube mir, ich habe nicht nur einmal nicht mehr gewusst, wie ich den nächsten Monat schaffen soll. Bevor du gekommen bist, habe ich mit Noah gesprochen. Wir haben etwas Geld gespart, das reicht für etwas Stoff oder ein Kleid von der Stange. Je nach dem, ob du es noch schaffst, eins zu nähen.«

Das war es dann auch mit meiner Fassung. Die Dämme brachen und ich schluchzte vor Rührung, vor Scham und weil alles so schnell so entsetzlich schiefgegangen war.

»Ihr seid so lieb, Raffa. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Aber du weißt, dass ein Kleid von der Stange für Greta nicht in Frage kommt. Ich muss also eins nähen. Stoff in der Menge, selbst wenn es nur schlicht wäre kostet mindestens 400 Euro. Ich könnte den Großhändler der Kraft fragen, ob er was im Angebot hat oder Restballen. Mit meiner kleinen Nähmaschine brauche ich ungefähr 50 bis 60 Arbeitsstunden. Das könnte funktionieren, wenn ich den Stoff diese Woche noch bekomme.«

Ich sah durchs Fenster hinüber zur Schneiderei. Dass ich nicht wusste, wie es weiterging, machte mich fertig. Ich musste das klären! Außerdem brauchte die Kraft mich doch für die Aufträge, die noch zu bearbeiten waren. Allein mit dem Auftrag der Bodenrodas waren wir die kommenden drei Monate schwer beschäftigt. Entschlossen sah ich zu Raffa, dessen Gesicht ein großes Fragezeichen formte.

»Was hast du vor?«

»Ich werde zur Kraft gehen und das klären. Ich darf den Job nicht verlieren. Reicht schon, dass ich mir eine neue Wohnung suchen muss.«

»Milli, das wird nicht passieren. Lass mir mal den Brief von deinem Vermieter hier. Ich schaue mir das an während du drüben bist. Ein bisschen kenne ich mich da aus.«

Das stimmte, Raffa hatte eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsgehilfen abgeschlossen bevor er in die Gastronomie wechselte. Vielleicht gab es doch noch etwas zu retten. Ich sprang vom Barhocker und kramte in der Umhängetasche nach dem Brief vom Böll. Doch fand ich zu meiner Überraschung einen weiteren Umschlag, den ich zuvor übersehen haben musste.

»Seltsam. Hier ist noch ein Brief vom Notariat Aschenbrenner aus Hitzacker.«

»Warum seltsam?«