Sommernächte - Nora Theresa Saller - E-Book

Sommernächte E-Book

Nora Theresa Saller

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Beschreibung

Die 22-jährige Melissa, eine ehrgeizige Studentin der Tiermedizin, reist zu ihrer Familie aufs idyllische Land der Lüneburger Heide. Dort steht ihr ein arbeitsintensives Praxissemester auf dem Milchhof ihrer Tante bevor. Doch noch nicht einmal richtig angekommen, stellt Mann ihre Welt gehörig auf den Kopf. Chris, der nicht nur unglaublich attraktiv, sondern unnahbar zu sein scheint, gewährt Melissa Einblicke in die dunkle Seite ihrer Familie. Im richtigen Moment erweist sich Chris` Zwillingsbruder Tom als ihr Rettungsanker. Bald findet sich die junge Studentin in einem sinnlichen Abenteuer zwischen den zwei Männern wieder. Aber tief verwurzelte Geheimnisse lassen Melissa nicht zur Ruhe kommen, sodass sie droht, an dem Chaos zu zerbrechen.

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Die 22-jährige Melissa, eine ehrgeizige Studentin der Tiermedizin, reist zu ihrer Familie aufs idyllische Land der Lüneburger Heide. Wie sie glaubt, steht ihr ein arbeitsintensives Praxissemester auf dem Milchhof ihrer Tante bevor. Doch noch nicht einmal richtig angekommen, stellt Mann ihre Welt gehörig auf den Kopf. Chris, der nicht nur unglaublich attraktiv, sondern unnahbar zu sein scheint, gewährt Melissa Einblicke in die dunkle Seite ihrer Familie. Im richtigen Moment erweist sich Chris` Zwillingsbruder Tom als ihr Rettungsanker. Bald findet sich die junge Studentin in einem sinnlichen Abenteuer zwischen den zwei Männern wieder. Aber tief verwurzelte Geheimnisse lassen Melissa nicht zur Ruhe kommen, sodass sie droht, an dem Chaos zu zerbrechen.

Über die Geschichte:

Viele der wunderschönen Schauplätze sowie sämtliche Protagonisten und deren Namen sind frei erfunden und etwaige Parallelen zur realen Welt rein zufällig. Dies ist ein erotischer Liebesroman.

Nora Theresa Saller lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hannover und arbeitet freiberuflich als Schriftstellerin. Seit früher Kindheit ist sie fasziniert von Texten und deren Wirkungsweisen. Die Lust am Schreiben und Lesen weckte ihre Großmutter, die sich in der Nachkriegszeit den Traum einer eigenen Buchhandlung erfüllte. Ihre Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht sie unter Pseudonym.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 1

Es war ein ungewöhnlich heißer und stickiger Junitag. Laut Wetterbericht lag der heißeste Sommer seit 35 Jahren vor uns, denn eigentlich waren diese hochsommerlichen Temperaturen nicht vor Ende Juli zu erwarten. Doch die vielen gelblich verdorrten Wiesen, die vor meinen Augen vorbeizogen, waren der Beweis einer gnadenlosen Hitzeperiode, die uns dieses Jahr bereits zu Sommerbeginn überall in Deutschland heimsuchte.

Der Zug, in den ich vier Stunden zuvor gestiegen war, ratterte monoton vor sich hin. Mir klebte der Schweiß sämtliche Haarsträhnen an die Stirn und hinterließ wachsende Flecken auf meiner Kleidung. Es mussten an die 38°C in diesem Abteil sein. Kinder quengelten und der Geduldsfaden so mancher Eltern riss vermutlich eher als sonst. Unangenehme Gerüche machten sich breit. Der ungepflegte Mann neben mir schnarchte mit offenem Mund und sein Kopf fiel immer wieder auf meine Schulter. Sein Schweiß mischte sich mit meinem und brannte sich auf ekelerregende Weise in meine Haut. Eng ans Fenster gelehnt, blieb mir nichts anderes übrig, als seinen fettigen Rotschopf mit spitzen Fingern von mir zu schieben. Meine anfangs noch freundlichen und später forscheren Bitten prallten einfach an ihm ab.

Was für ein Albtraum!

Ich mochte weder Züge noch das Gefühl des Eingeengtseins. Doch diese furchtbare Reisebegleitung neben mir setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Wie lange sollte das denn hier noch dauern? Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich lange noch nicht am Ziel war. Stöhnend stöpselte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und beschloss, mich von meinen Lieblingssongs hinfort tragen zu lassen. Diese Fluchtmöglichkeit blieb mir zumindest.

Vor mir lagen drei Monate Semesterferien, die ich bei meiner Tante Eni und meinem Onkel Jo, auf deren Milchhof in der Lüneburger Heide verbringen durfte. Ich hatte das Grundstudium zur Tierärztin gerade hinter mich gebracht. Nun war es an der Zeit, die erlernte Theorie in die Praxis umzusetzen. In letzter Zeit hing ich nur über den Büchern und paukte für die Prüfungen. Dafür hatte ich mich mit meiner Freundin und Mitbewohnerin Amy, eigentlich Amelie Schneider, zwei Wochen lang in unserer kleinen Studentenwohnung in Stuttgart verschanzt, um die vielen Themengebiete in den Kopf zu bekommen. Wir hatten uns während der Immatrikulation kennengelernt und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – also im freundschaftlichen Sinne. Auf Anhieb verstanden wir uns so gut, dass wir beschlossen, uns gemeinsam nach einer Unterkunft auf dem Unigelände umzusehen. Die Verwaltung bot mir aufgrund meines Vollstipendiums ein Zimmer in einem 3-Raum-Apartment im Wohnheim an. Amy und ich zögerten nicht lang und sagten zu. Meine Freundin nahm das kleinere der zwei Schlafzimmer, da sie sich die Wohnung ohne meinen Anteil nicht hätte leisten können. Sie meinte, lieber so, als die Zwei-Bett-Zellen und Gemeinschaftsdusche zwei Stockwerke tiefer. Die Wohnung war ausgestattet mit einer Mini-Küche und besaß ein eigenes kleines fensterloses Bad. Nichts Hübsches, aber ein Traum für jeden Studenten.

Amy hatte sich den Kleintieren verschrieben und war Tierschützerin mit Leib und Seele. Das volle Programm! Vegetarische Ernährung und soweit ihr Geld ausreichte auch vegane Klamotten, zumindest jedoch von biologischer Herkunft. Oft war nur der Flohmarkt oder der Secondhandladen drin. Das war ihrer Meinung nach noch immer nachhaltiger, als die ethisch fragwürdigen Marken neu zu kaufen. Sie war loyal, aber auch chaotisch oder wie sie es nannte kreativ. Ihr kleines Zimmer bestand zu einer Hälfte aus einem Schreibtisch sowie zwei verwaisten Kleintierkäfigen und zur anderen Hälfte aus einem Klamottenhaufen, unter dem sich ihr Bett versteckte. Dann noch die vielen Bücher und Flugblätter der letzten und kommenden Demos, zu denen ich sie ab und an begleiten musste. Ich fand sie süß. Rote Locken, Sommersprossen und grüne Augen, dazu noch dieses bezaubernde Grinsen, wenn sie etwas ausheckte. Wir waren fast gleich groß, hatten eine ähnlichen Figur und somit ungefähr die gleiche Kleidergröße, so dass meine Freundin praktischerweise gern auf meine Klamotten auswich, wenn sie es mal wieder nicht geschafft hatte, ihre zu waschen, oder der Flohmarkt-Look gerade nicht passend erschien. Aber eigentlich passte mein eher unauffälliger Kleidungsstil gar nicht zu ihr. Jeans kombiniert mit den wahrscheinlich langweiligsten Oberteilen dieser Welt und jede Menge einfacher Kleider, waren mein Erkennungsmerkmal. Ich stach mittlerweile aus der Masse heraus, weil mir kaum jemand in Sachen Farblosigkeit das Wasser reichen konnte. Königin Grau, ja das traf es gut. Meine dunkelblonden und gewellten Haare reichten mir bis zum Po, da ich zu geizig und zu faul war, zum Frisör zu gehen. Ich trug der Einfachheit halber fast immer einen unordentlichen Dutt. Aber meine Augen fand ich schön! Blau und groß und die Wimpern so dunkel, dass ich in der Regel auf Mascara verzichten konnte. Da ich ab und zu mit Amy laufen ging und auf dem Campus gelegentlich den Fitnessbereich besuchte, war ich einigermaßen fit, aber als sportlich hätte ich mich nicht bezeichnet. Und weil mich selten ein Mann ansprach, war davon auszugehen, dass ich eher nicht zu dem attraktivsten Teil der Gesellschaft gehörte. Amy schimpfte immer mit mir, wenn ich das sagte. Sie fand mich schön. Meine verrückte Amy! Ich schüttelte vergnügt den Kopf und schmunzelte, als ich an unseren Abschied am Morgen dachte. Nachdem ich die Tür meines Zimmers mit der taubenblauen Tapete und dem weißen Metallbett hinter mir schloss, breitete sich ein seltsames Gefühl in mir aus. Aufgeregte Vorfreude hinterließ ein Kribbeln im Bauch. Nur gut, dass Amy mich noch zum Zug begleitete, so hatten wir noch etwas mehr Zeit, uns zu verabschieden.

Auch sie hatte den Sommer für sich komplett verplant und somit würden wir uns erst in drei Monaten wiedersehen. Nachdem wir zwei Jahre wie siamesische Zwillinge gelebt hatten, war diese Vorstellung fast unerträglich. Gemeinsam mit unserem Kommilitonen Steve plante sie eine Tour durch Australien. Dort wollten sie sich einer Tierschutzorganisation anschließen und sich um Artenschutz und Tierzählungen kümmern - hörte sich eher nach Spaß als nach harter Arbeit an.

Nur zu gern hätte ich sie begleitet, aber mein Budget für große Reisen reichte leider nicht aus. Somit war der Hof meiner Tante eine kostengünstige und zudem sehr erfahrungsreiche Alternative. Mein Traum war es ohnehin nach dem Studium aufs Land zu ziehen, um mich dort den Kühen, Schafen und Pferden zu widmen. Mit Nagern, Vögeln und anderem Kleingetier hatte ich es nicht so. Außerdem vermisste ich es, meine Familie um mich zu haben.

So hing ich meinen Gedanken nach, als endlich, nach den wohl längsten sechs Stunden meines Lebens, ein Rauschen durch die Lautsprecher tönte und ein genervter Schaffner meinen Zielbahnhof ankündigte.

Lüneburg.

Beim Aussteigen hielt ich Ausschau nach meinem Onkel Jo. Er war es schon immer gewesen, der mich, und früher auch meine Mutter, vom Bahnhof abgeholt hatte. Nach zehn Minuten hatte ich seinen dunkelbraunen Haarschopf in der Bahnhofshalle immer noch nicht ausmachen können. Der Versuch, ihn oder meine Tante telefonisch zu erreichen, mündete jeweils auf der Mailbox. Frustriert legte ich auf. Das sah ihnen gar nicht ähnlich! Hatten sie mich vergessen? Ich beschloss, ihnen noch etwas Zeit zu geben und zu warten. Somit ließ ich mich, mittlerweile zu allem bereit, im hiesigen Coffee Shop auf einen dieser teuren eisgekühlten Milchkaffees ein. Da ich ohnehin Hunger hatte, kam ein leckerer Himbeer-Cheesecake-Muffin noch obendrauf. Am Fenster hatte man einen guten Blick auf Eingang und Bahnhofshalle und so setzte ich mich dort auf eine der mit braunem Leder überzogenen Bänke zu einer älteren Dame, die mir zuvor mit einem freundlichen Lächeln bedeutet hatte Platz zu nehmen. Als ich meine schwere Reisetasche verstaut hatte, kostete ich meine süßen Errungenschaften und spürte, wie mein Körper mit jedem Bissen an Energie gewann. Angenehmerweise war der Raum des Cafés klimatisiert und meine schweißnasse Haut trocknete langsam ab. Immer wieder wanderte mein Blick über die vielen verschiedenen Gesichter auf der anderen Seite der Fensterscheibe. An einem blieb ich schließlich hängen. Die quirlige Menge teilte sich und ließ einen auffallend schönen Mann sichtbar werden. Ein seltsames Gefühl der Verbundenheit flackerte in mir auf. Wie ich schien auch er nicht zum Rest der Masse zu passen. Dennoch hatten wir nichts gemein. Er trug ein rotes Karohemd, enganliegende gutsitzende Jeans mit einem breiten braunen Gürtel und äh … Gummistiefel der Marke Kuhstall. Scheinbar nach jemandem suchend, drehte er sich um die eigene Achse.

Dann fiel mein Blick auf das Schild in seiner Hand. Ein Pappschild, auf dem MEIN Name stand - Melissa Weyl.

Oh Gott, ich verschluckte mich fast an meinem Kaffee und merkte, wie mir die Hitze unweigerlich in den Kopf schoss. Kurz überlegte ich, diesen Mann zu ignorieren und die Flucht per Taxi anzutreten. Doch das war doch zu kindisch. Schließlich war ich 21 Jahre und sah heute auch gar nicht mal schlecht aus. Also nicht der übliche Studentinnen-Sofa-Look. Meine Mähne war gezähmt und wie gewohnt zum Dutt hochgebunden. Die enge Röhrenjeans und ein hellblaues Top gehörten auf jeden Fall zu den besseren Teilen aus meinem Kleiderschrank.

Na schön. Melissa, reiß dich zusammen, sag freundlich Guten Tag zu Adonis. Keine fünf Meter, bevor ich ihn erreichte, schlug mir mein Herz bis zum Hals. Was war das denn? Seit wann machte mich das andere Geschlecht so nervös? Ich hatte schon mehr als einen Freund, mit dem ich intim gewesen war, und prüde war ich auch nicht, auch wenn ich mir leider eingestehen musste, dass seit Studienbeginn bei mir in Sachen Männer eine ungewollte Abstinenz herrschte. Meine Prioritäten lagen seither ganz klar beim Studium.

Ich straffte die Schultern und gab mir einen Ruck.

»Hi, ich bin die auf dem Schild«.

Große blaue Augen strahlten mich an und begannen mich abzuchecken. Hey, ein bisschen mehr Respekt mein Lieber, dachte ich.

»… äh, hallo ich bin Chris. Ich habe nach einem Teenager Ausschau gehalten, nachdem der Boss mir sagte, ich müsse einspringen, und die kleine Nichte vom Zug abholen«, erwiderte er sichtlich überrascht.

Ich war wirklich schon lange nicht mehr hier gewesen, aber die kleine Nichte ging dann wohl auf das Scherzkonto meiner Familie.

Ich musste lächeln und freute mich auf die kommende Zeit, die neben der harten Stallarbeit plötzlich jede Menge Spaß versprach.

»Hi Chris«, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln, »lass uns fahren, ich bin total erledigt von der furchtbaren Zugfahrt.«

»Ja klar, und ich muss zurück in den Stall. Ella wartet hoffentlich auf mich, aber ich sollte mich beeilen!«, antwortete er ein wenig gehetzt und griff nach meiner Tasche, die ich ihm nur allzu gern überließ, und folgte ihm zum Parkplatz.

Meiner Vermutung nach war Ella eine Kuh, die gerade kalbte.

Ich konnte mein Glück in vielerlei Hinsicht kaum fassen. Endlich war ich aus diesem Zug raus, in unerwarteter und zugleich gutaussehender Begleitung und zu guter Letzt würde ich meine erste praktische Erfahrung fürs Studium machen. Fantastischer Auftakt!

Aber wie Chris in die ganze Sache hier passte? Boss? War er bei meiner Familie angestellt? Der Stallbursche? Hoffentlich nicht!

Aus der Nähe betrachtet, musste ich meine Meinung über ihn eindeutig revidieren. Dieser Mann neben mir war nicht nur schön, sondern atemberaubend sexy. Dunkelblonde kurze Haare, das Deckhaar etwas länger und wild zur Seite gestrichen, was aber nicht beabsichtigt schien und vielleicht der Aufregung um Ella geschuldet war. Dann diese braungebrannte Haut, die das strahlende Blau seiner Augen noch unterstrich. Volle Lippen, Dreitagebart und die markante Gesichtsform ließen mein Herz wild schlagen. Als er sich zu mir umdrehte und sah, wie ich ihn anstarrte, wurde es mir plötzlich bewusst, dass ich es nun war, die ihn abcheckte. Augenblicklich schoss mir wieder die Hitze ins Gesicht und ich senkte meinen Blick auf meine Hände, die nervös zitterten.

Oh mein Gott, Boden tu dich auf! Ich hörte ein leises Lachen neben mir, bevor er den Jeep startete und wir endlich losfuhren. Die Fahrt dauerte lange dreißig Minuten, in denen ich unentwegt aus dem Fenster starrte, weil mir die Situation zuvor unendlich peinlich war. Was war das überhaupt? Chris war ein gestandener Mann, ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, und ich war nichts als ein junges, langweiliges Hühnchen. Egal, welche Bilder mir da gerade durch den Kopf schossen. DAS würde ohnehin NIE passieren!

Mit meiner Zustimmung hielt Chris direkt vor dem Kuhstall meiner Familie und wir stürmten zum abgetrennten Stallbereich, in dem Ella lag und unruhig atmete. Die Kontraktionen waren heftig und man sah bereits die Fruchtblase unter ihrem Schwanz hervortreten. Chris sah mit prüfendem Blick kurz zu mir herüber. Ich wusste nicht, ob er meinte, prüfen zu müssen, wie weit ich noch von einer nahenden Ohnmacht entfernt sei oder ob er mich kurzerhand um Hilfe bitten könnte. Ich entschied mich dafür, die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen, und griff mir den grauen Zinkeimer, um das alte Schmutzwasser darin durch neues, heißes Wasser zu ersetzen. Auf dem Weg zur Waschküche rekapitulierte ich noch einmal, was ich in den letzten Semestern über tierische Geburtshilfe gelernt hatte. Bislang war während der Praktika meistens alles gutgegangen, bis auf das eine Mal, als ich es nicht geschafft hatte, die Augenhaken anzulegen, und der Tierarzt wieder übernehmen musste, um das ohnehin feststeckende Kalb nicht noch mehr zu gefährden.

Als der Eimer gefüllt war, schnappte ich mir noch einen der hellgrauen abgetragenen Kittel, die an der Hakenleiste in der Waschküche hingen, und ging in Enis grünen Gummistiefeln zurück zu Chris. Er sah mich mit seinen großen Augen verwundert über mein angepasstes Äußeres an und schüttelte den Kopf.

»Wie die Tante, so die Nichte«, meinte er schließlich schief grinsend.

»Naja, von meiner Mutter habe ich die Liebe zum Stallgeruch jedenfalls nicht geerbt. Sie konnte nicht schnell genug von hier fortkommen«, antwortete ich ein wenig frustriert. »Viel lieber wäre ich hier auf dem Land als in der Großstadt aufgewachsen.«

»Du stehst also auf Kuhscheiße und Silage-Duft?«, fragte er mich und zog dabei zur Untermalung seiner Skepsis eine Augenbraue hoch.

»Nichts gibt mir mehr das Gefühl zu Hause zu sein als das hier«, nickte ich in Richtung Ella. »Das ist es, was ich immer wollte. Irgendwann werde ich meine eigene Tierarztpraxis haben!«, sagte ich mehr zu mir als zu ihm.

»Du studierst Tiermedizin?«, kam es angestrengt von ihm, da er bereits mit halbem Arm in Ella steckte, um das Kalb etwas zu drehen.

»Ja und die nächsten drei Monate werde ich hier aushelfen und hoffentlich neben der anstehenden Stallarbeit auch in Sachen Tiermedizin Erfahrungen sammeln können.«

Kurze Zeit später war das kleine Kälbchen geboren und ich rieb es kräftig mit Stroh ab, um den Kreislauf anzuregen. Chris strich ihm über die kleine rosa Schnauze, um den Schleim und das Fruchtwasser aus den Nasenlöchern zu entfernen, damit das Kalb besser atmen konnte. Den Rest übernahm Ella, die zwar erschöpft war, doch ihr Junges weiter ableckte. Damit überließen wir der Natur ihren Lauf.

Nachdem ich mich gewaschen hatte, verabschiedete ich mich von Chris und dankte ihm für dieses schöne Begrüßungsgeschenk. Erschöpft machte ich mich auf den Weg zum Haupthaus, als die Dämmerung langsam einsetzte und den Horizont orange färbte. Ich lauschte dem Vogelgesang, der mir in der Großstadt oft verwehrt blieb. Es waren nur ein paar hundert Meter, die über einen sandfarbenen Schotterweg führten, der von prachtvollen Lindenbäumen der Länge nach eingefasst war. Hier und da rankte wilder Efeu über den Boden. Weiße und blaue Hortensien und Rosen in den schönsten Farben säumten den Weg. Ein Paradies! Ich konnte die Entscheidung meiner Mutter, von hier wegzugehen, immer weniger verstehen. Als ich die letzte Linde erreichte, fiel mein Blick auf das Haus meiner Familie. Das große Bauernhaus aus dunkelrotem Backstein und bemoostem Dach sah so einladend aus und ließ mein Herz einen Satz machen. Dieses warme Gefühl des Heimkehrens breitete sich in mir aus, welches ich schon zu lange nicht mehr gespürt hatte. Dunkelgrüner Efeu wuchs an den Hauswänden rund um den Eingang empor und ich verharrte einen Moment, um diesen wundervollen Anblick aufzusaugen. Ich roch an den Rosen im Beet, die herrlich nach süßem Honig dufteten, und beobachtete eine dicke Hummel beim Nektarsammeln. Hätte nicht plötzlich mein Magen laut geknurrt und meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, wäre ich wahrscheinlich noch lange dort verweilt. So trat ich vor die große dunkelbraune Holztür, die beim Öffnen einen quietschenden Laut von sich gab.

Kaum, dass ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, ertönte auch schon die Stimme meiner Tante.

»Komm rein Liebes, es gibt dein Lieblingsessen.« Freudestrahlend betrat ich die Küche. Eni stand mir mit dem Rücken zugewandt im Jogginganzug und Schürze vor dem Herd. Ihre schönen kastanienbraunen Locken schienen flüchtig zum Zopf gebunden und einzelne Strähnen standen ihr wild vom Kopf ab. Sie legte sonst immer viel Wert auf ihr Äußeres, ging es mir durch den Kopf. Sicher ist sie, aufgrund der vielen Arbeit hier auf dem Hof, einfach nicht dazugekommen, sich zurechtzumachen. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und umarmte sie herzlich.

»Hi Tante Eni, schön wieder hier zu sein.«

Sie drehte sich zu mir und lächelte mich an. Doch ihr Blick wirkte müde.

»Dein Besuch war mehr als überfällig, Liebes. Lass dich mal anschauen. Meine Güte, aus dir ist eine bildhübsche junge Frau geworden. Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.« Ihr Lächeln erstarb kurz und in ihren Augen zeichnete sich Traurigkeit ab. Sie vermisste meine Mutter. Ich auch. Doch bevor die Situation unangenehm wurde, atmete sie schon wieder ein und gab mir einen Kuss auf die Wange und Anweisung den Tisch zu decken.

»Für drei bitte, Liebes.«

Klar für drei, dachte ich. Onkel Jo musste auch gleich da sein.

Ich hatte meine erste Portion fast aufgegessen, da ertönte das Quietschen der Eingangstür erneut und kündigte weiteren Besuch an. Ich rechnete fest mit dem Erscheinen meines Onkels. So grinste ich breit in Richtung Küchentür, doch zu meiner Überraschung war es Chris, der um die Ecke bog und nicht mein Onkel. Meine Mundwinkel sanken wieder ab. Aha, dachte ich. Für drei also?

Eni sah die Fragezeichen in meinem Gesicht und wollte gerade etwas sagen, als Chris sich ganz selbstverständlich an den Tisch setzte.

»Sorry Eni, ich musste nur schnell duschen, um den Stallgeruch loszuwerden«, versuchte er, seine Verspätung zu entschuldigen, und nahm sich nebenbei von der Lasagne. Immer noch überfordert von der Situation, blickte ich von einem zum anderen und versuchte, die Puzzleteile zu einem großen Ganzen zusammenzufügen.

»Ach, halb so wild. Wie geht’s Ella? Alles gut soweit?«, fragte meine Tante und ich erkannte Resignation in ihrer Stimme. Chris blickte zu mir und sah mir für meine Begriffe etwas zu lang in die Augen. Dann begann er zu lächeln.

»Konnte nicht besser laufen. Ich hatte doch fachmedizinische Unterstützung!«

Nun lächelte auch Eni und schaute zu mir rüber.

»Ach Lissy, du hast ja gar nichts davon erzählt. Das ist ja großartig! Und ich habe schon gedacht, der Zug hätte Verspätung gehabt oder dein Onkel hätte vergessen, dich abzuholen, weil er anderes im Kopf hat.«

Sie stockte und sah Chris mit unergründlicher Miene an. Ich bemerkte sehr wohl, dass hier etwas nicht stimmte.

»Chris hat mich abgeholt«, sagte ich deshalb so neutral wie möglich. Daraufhin hörte ich Besteck auf Porzellan knallen und sah meine Tante ungehalten aus der Küche stürmen. Chris stand ebenfalls abrupt auf, um Eni hinterherzulaufen, und ließ dabei den Stuhl laut über den Boden schnarren. Da saß ich nun vor meiner zweiten Portion Lasagne und verstand gar nichts mehr. Mehrere Minuten verharrte ich dort, hörte aber niemanden. Den beiden nachgehen wollte ich aber auch nicht.

Die Müdigkeit hatte vollends Einzug gehalten und lähmte meine schweren Glieder. Da mir zudem der Appetit vergangen war, entschied ich, die halbfertig gegessenen Teller abzuräumen und die Küche schnell in Ordnung zu bringen.

Mit einer Flasche Wasser ging hoch in das Gästezimmer, welches früher das Jugendzimmer meiner Mutter gewesen war. Die Reisetasche viel raschelnd von meiner Schulter und schlug dumpf neben meinen Füßen auf. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett sinken und schaute aus dem Fenster. Die alte knorrige Trauerweide im Garten hinter dem Haus wiegte im lauen Sommerwind und zwei kleine Spatzen flatterten von Ast zu Ast. In der Ferne erkannte ich die schwarzen Schatten weidender Pferde. Die Sonne war längst hinter dem Hügel mit dem kleinen Wäldchen untergegangen und ich beschloss, nicht weiter zu grübeln, was meine Tante verärgert hatte, sondern sie morgen früh einfach zu fragen. Meinen Wecker stellte ich auf 4:30 Uhr. Nachdem ich kurz im angrenzenden kleinen Bad war und mich bettfertig gemacht hatte, zog ich mir das Laken über die Schultern, um ausgelaugt von der Reise sofort einzuschlafen.

Kapitel 2

Es war 5 Uhr morgens, als ich in die Küche einbog. Der berauschende Kaffeeduft, der das Haus erfüllte, verriet, dass bereits jemand wach sein musste.

Mein Blick fiel auf Chris, der nachdenklich mit einer Tasse in der Hand angelehnt an der Spüle stand und mit leerem, melancholischem Blick durch das Küchenfenster starrte. Ich hielt inne, als ich sah, dass er mich nicht bemerkte, und erlaubte mir kurz, diesen schönen Mann zu betrachten. Eine Sekunde dachte ich daran, mich wieder leise zurückzuziehen, doch schon drehte er den Kopf langsam zu mir und sah mich kurz verwirrt an, als hätte er nicht mit mir gerechnet.

»Guten Morgen Melissa, nimm dir bitte Kaffee. Wir sind spät dran«, sagte er etwas zu forsch für meine Begriffe.

Entweder hing seine schlechte Laune mit dem Vorfall von gestern Abend zusammen oder er war ein Morgenmuffel. Ich ging auf ihn zu und sein undurchdringlicher Blick wich nicht von mir.

»Was ist mit Frühstück?«, fragte ich ihn, als ich mir Kaffee einschenkte.

»Du bist hier auf dem Land. Da wird sich erst ums Vieh gekümmert, Melissa!«, antwortete er barsch und stieß sich dabei vom Spülbecken ab. Er stellte, scheinbar äußerst genervt von meiner Frage, seine halbleere Tasse lauttönend in das Becken und verschwand mit den Worten: »Ich sehe nach dem Kalb«, was dem Knurren eines tollwütigen Hundes erschreckend ähnelte.

Ich versuchte erst gar nicht, sein Verhalten zu verstehen, und nahm schulterzuckend einen Schluck. Irgendwie hatte ich meinen Empfang hier etwas anders vorgestellt und kam mir in diesem Moment völlig deplatziert vor. Meine Tante hätte mir doch sagen können, wenn mein Besuch gerade unpassend war. Ich stellte die Tasse ab und beschloss, Eni sofort darauf anzusprechen. Die Treppe nach oben nahm ich mit wenigen Schritten, ging an meinem Zimmer vorbei in den Südflügel des Hauses.

Die Wände des schmalen Korridors waren bis zur Hälfte mit hellgrauen Paneelen getäfelt. Darüber hatte man vor vielen Jahren eine weiße Tapete mit kleinen bunten Blümchen geklebt. Das Weiß hatte mittlerweile an Strahlkraft verloren und war einer typischen Vergilbung gewichen. Früher musste dieses Design einmal sehr schön ausgesehen haben - lebendig. Heute wirkte der schmale, lange Raum einsam und vergessen. Am Ende des Korridors stand die Tür zu Enis und Jos Schlafzimmer einen Spalt breit offen. Ich klopfte an die weiße Facettentür, bevor ich eintrat, doch das Zimmer war leer. Von meiner Tante keine Spur. Das Bett schien ebenfalls unbenutzt. Meine Fragen blieben wohl vorerst ungeklärt und so machte ich mich auf den Weg in den Kuhstall. Noch brannte das Neonlicht kalt und ungemütlich und vermischte sich mit dem unrhythmischen Tuckern des Traktors und dem Muhen vieler Kühe. Als ich das Tor durchschritt, sah ich Moni und Henk in der Nähe der Melkanlage und beschloss, sie erst einmal zu begrüßen.

»Guten Morgen ihr zwei, lange nicht gesehen«, grinste ich ihnen freundlich entgegen.

Henk sah mich zuerst, stieg vom Traktor ab und drückte mich fest. Er war ein Bär von einem Mann. Groß, kräftig und herzensgut. Moni war seine Frau. Beide sollten bald in Rente gehen. Seit ich denken kann, arbeiteten die zwei hier. Moni war kugelrund und klein. Sie lachte viel und sah mit Kopftuch und dem blauen Kittel noch am ehesten aus, als gehörte sie hierhin. Ich umarmte beide herzlich. Endlich zwei Menschen, die hier noch was zu lachen hatten. Meine Frage nach Enis Aufenthalt konnten sie mir leider nicht beantworten. Und da ich keine Lust auf den schlechtgelaunten Chris hatte, entschied ich mich dafür, im Stall zu helfen. Moni nahm mich mit, um ihr beim Melken zu helfen, während Henk die gemolkenen Tiere durch die altersschwache Stalltür auf die Weide entließ und anschließend mithilfe des kleinen grünen Traktors den Stallboden reinigte. Zwei Tiere mussten per Hand gemolken werden, da diese entzündeten Euter hatten. Moni und ich teilten uns diese Arbeit. Vor vielen Jahren hatte sie mir das Melken beigebracht. Und letztendlich verhielt es sich wie mit dem Fahrradfahren. Kaum hatte ich begonnen die samtigen festen Zitzen zu bearbeiten, merkte ich bereits das Ziehen in den Händen und Unterarmen. Ich musste mir doch noch einiges an Muskelmasse zulegen und zukünftig den Fitnessbereich auf dem Campus häufiger besuchen!

Nachdem das Melken erledigt war und wir die zwei Viecher auf die Weide geführt hatten, dachte ich bei mir, dass ich mehr Kühe in Erinnerung hatte.

»Wie viele Tiere sind das denn momentan?«, fragte ich Moni.

»Wir haben jetzt noch fünfzig Milchkühe, drei Kälber und die Ziege. Hermann ist alt und blind, der macht’s nicht mehr lang.«

Hermann war der zottelige alte Hund, der hier Haus und Hof bewachen sollte. Eine typische Dorfmischung, aber eine treue Seele. Die Ziege fand ihre Daseinsberechtigung darin, dass sie das Vieh vor Unheil schützen sollte.

»Waren es früher nicht mehr Tiere?«, fragte ich in meiner Annahme bestätigt, dass sich hier etwas verändert hatte.

Sie nickte.

»Vor zwei Jahren waren es fast 200 Milchkühe! Deine Tante überlegte sogar, zu modernisieren und auf Bio umzustellen. Aber die Preise für Milch gingen immer weiter in den Keller und Eni wollte auf Nummer sicher gehen und erst einmal abwarten, ob der Abnahmepreis politisch gesichert wird. War aber nix. Tja, von der Politik kann man nichts erwarten. Die machen mit der Industrie gemeinsame Sache«, winkte sie resigniert ab.

Ich war baff. In den monatlichen Telefonaten mit meiner Tante war bei ihr immer alles gut gewesen, aber sie war auch immer wissbegierig, wie es in meinem Studentenleben lief. Wollte sie einfach immer von sich ablenken? Ich bekam ein denkbar schlechtes Gewissen, weil ich nie gefragt hatte, wie es bei Eni und Jo lief. Die letzten Monate mussten schrecklich für sie gewesen sein. Warum hatten sie mir nur nie etwas gesagt?

»Hast du Lust auf ein Glas frische Milch?«, riss mich Moni aus meinen Gedanken. Mittlerweile war es weit nach 7 Uhr und als ich drüber nachdachte, knurrte mir plötzlich der Magen.

»Sehr gerne, Moni. Ich habe einen Bärenhunger«, gab ich zu. Da lachte sie. Dieses herzliche Moni-Lachen, wie nur sie es hatte.

Ich folgte ihren Tippelschritten in die Waschküche des Stalls. Im hinteren Teil befand sich eine kleine Küche. Jo hatte hier vor vielen Jahren die ehemalige Küche des Wohnhauses eingebaut.

»Was hältst du von Omelett mit Speck mein Mädchen? Harte Arbeit braucht eine gute Grundlage!«, meinte sie und holte Speck und Eier aus dem Kühlschrank.

»Ich würde gerade alles verspeisen, solch einen Hunger habe ich«, antwortete ich ehrlich und trank den Rest der Milch aus, die sie mir in dem alten Emaillebecher gereicht hatte.

»Nimm dir ein Brett und das scharfe Messer mit dem Holzgriff und schneide den Speck. Henk kommt auch gleich. Also schneide so viel, dass es für fünf reicht!«, lachte sie erneut. Wie hatte ich sie vermisst!

Als alles zusammen in dieser riesigen Pfanne zusammengerührt war und Moni den Deckel daraufsetzte, kam Henk auch dazu. Von Chris jedoch keine Spur. Wir aßen zusammen das leckerste Omelett, was ich jemals verspeisen durfte und klönten von alten Zeiten, als ich noch ein Kind war und mit meiner Mutter oft hier zu Besuch war. Moni, schon damals mit geblümtem Kopftuch und Kittelschürze, packte uns immer den geflochtenen Picknickkorb zurecht, den meine Mutter und ich dann im Bollerwagen auf den kleinen Hügel zum Wäldchen zogen. Dort auf der Decke unter den rauschenden Baumwipfeln lagen und aßen wir solange, bis am Himmel die Sterne zu sehen waren und die Grillen um uns herum ihre bezaubernden Liedchen zirpten. Ich erinnere mich noch genau an das goldene Haar meiner Mutter. Bilder von Strähnen, die sich aus ihrem Bauernzopf lösten und im Wind wehten und das karierte Sommerkleid, dass ihr so gutstand, kamen mir wieder in den Sinn. Sogar jetzt konnte ich ihr glockenklares Lachen noch hören und ihren Maiglöckchenduft riechen. Viele Lieder sangen wir an diesen Tagen und erzählten uns Geschichten. Heimwärts durfte ich dann immer in den Bollerwagen, wenn ich zu müde war, den drei Kilometer langen Weg zu laufen. Meinen zwölften Geburtstag feierten wir auch so. Das war leider auch der letzte Tag, den wir auf diese Weise verbrachten. Danach war ich häufig ohne meine Mutter hier, da sie viel arbeiten musste und mich in den Ferien aber nicht allein lassen wollte.

Doch bevor ich wehmütig werden konnte, verabschiedeten sich Henk und Moni und machten sich wieder an die Arbeit. Ich blieb noch eine Weile in der Küche zurück und mit den Bildern meiner Kindheit vor Augen räumte ich gedankenversunken das Geschirr und die Pfannen zusammen.

Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg durch den Stall, um Chris zu suchen. Vielleicht war er noch immer beim Kälbchen? Welchem Chris würde ich wohl jetzt wieder gegenübertreten? Dem heißen Mann von gestern oder dem mürrischen Typen von heute Morgen?

Das Kälbchen stand bereits sicher auf den eigenen Beinen und hing am Euter von Ella. Ich lehnte mich an die Stalltür und betrachtete Mutterkuh und Kalb. Ein friedliches Bild. Der Nabel des Kälbchens war bereits eingesprüht, so dass bestimmt der Tierarzt da gewesen sein musste. Schade, dass ich das verpasst habe, dachte ich bei mir, als Chris plötzlich aus dem Schatten der Stalltür hervortrat. Himmelherrgott, hatte der mich erschreckt! Meine Hand flog an meine Brust und mein Atem hatte sich merklich beschleunigt. Er muss mich die ganze Zeit beobachtet haben, schoss es mir durch den Kopf. Er stand da und sah mich einfach nur an. Ich konnte keine Gemütsregungen ausmachen. Was ging in ihm vor? Was machte er hier? Wer war er überhaupt?

»Wie passt du hierher, Chris?«, hörte ich mich sagen und war ebenso verblüfft über meinen Mut zu dieser direkten Frage, wie er, was mir sein überraschter Gesichtsausdruck nur allzu deutlich zeigte.

»Gar nicht, Melissa. Ich passe gar nicht hierher«, antwortete er mit zusammengepressten Zähnen und geballten Händen. Als er dabei einen Schritt auf mich zuging, wich ich zurück, ohne es überhaupt beeinflussen zu können. Er entschuldigte sich augenblicklich, als er meine Reaktion bemerkte.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht anfahren. So bin ich gar nicht und du kannst am Allerwenigsten dafür!«

Dann drehte er sich um und setzte an, den Stall zu verlassen, schnappte seinen Kittel und ging schnellen Schrittes über den Hof zu seinem Jeep.

Wütend rannte ich ihm nach.

»Wofür kann ich nichts, Chris? Bleib stehen verdammt noch mal! Was ist hier eigentlich los? Wer bist du? Und wo ist meine Tante?«

Ich hielt ihn am Arm fest, als ich ihn endlich eingeholt hatte. Er drehte sich zu mir und war mir körperlich auf einmal sehr nahe. Seinen Kopf hatte er soweit gesenkt, dass sich unsere Nasen fast berührten.

»Du willst also wissen, was hier los ist?«, fragte er leise mit zusammengepresstem Kiefer. Doch er wartete meine Antwort gar nicht erst ab und fuhr sogleich fort. »Dann schwing deinen hübschen Hintern in den Jeep.«

Chris öffnete die Wagentür und stieg ein. Bevor ich darüber groß nachdenken konnte, fand ich mich neben ihm auf dem Beifahrersitz wieder.

»Schnall dich an!«, befahl er mir und gab so stark Gas, dass die Reifen durchdrehten und ich in den Sitz gedrückt wurde. Okay, nicht anschnallen stand definitiv nicht zur Debatte!

Drei Dörfer weiter und zwei Kilometer Wald- und Wiesenweg später hielt er an und stieg aus. Ich folgte ihm und blieb neben ihm stehen. Er sah zur angrenzenden Lichtung hinauf, auf der ein kleines Haus stand. Idyllisch. Es war ein schönes Häuschen am Waldrand, eingefasst von mehreren hohen Tannen.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich, da er nichts sagte.

»Das da«, nickte er in die Richtung seines Blickes, »ist mein Haus. Hier sollten meine Kinder aufwachsen und ein glückliches Leben führen. Nur, dass meine Frau das anders gesehen hat.«

Er machte eine kurze Pause, in der er scharf die Luft einsog. Diese Geste signalisierte mir, wie nah ihm dieses Problem, oder was auch immer sich hier abspielte, gehen musste.

»Bestimmt vögeln sie gerade auf dem Küchentisch, den ich ihr zum Einzug geschenkt habe. Nur zwei Jahre hat sie es ausgehalten mit mir allein. Du willst wissen, was hier los ist? Dann gehe hoch und klopf mal an die Tür. Dann wirst du deine Antworten bekommen. Ich muss hier weg, sonst geht das noch übel für alle Beteiligten aus.«

Er sah mich mit einem wütenden Blick an, doch ich merkte, dass seine Wut nicht mir galt, sondern seiner Frau. Ich war hin- und hergerissen. Was erwartete mich dort oben? Schließlich kannte ich Chris doch gar nicht! Warum sollte ich darauf vertrauen, dass das hier nicht auch für mich übel ausging?

Wenn ich Antworten wollte, dann musste ich wohl hinter die Tür da oben blicken. Vielleicht fand ich meine Tante sogar hier und konnte sie endlich zur Rede stellen. Ich folgte dem Waldweg Richtung Haus und hörte einen startenden Motor. Doch bevor ich mein Veto einlegen konnte, war Chris davongefahren. So hatte ich mir das nicht vorgestellt und hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt. Denk nach, Melissa, ermahnte ich mich. Eni kannte Chris scheinbar gut, der zudem regelmäßig im Haus meiner Tante ein und auszugehen schien.

Kein Grund zur Panik!

Ich entschied mich dafür, meinen Gang fortzusetzen, und fand zu meiner Erleichterung allerlei Kitsch in den Rabatten, die die Einfahrt säumten. Niemand, der mir gefährlich werden konnte, hatte Gartendeko in seinen Beeten. Das redete ich mir in diesem Moment jedenfalls ein. Dennoch schlug mein Herz wild vor Anspannung, als ich vor der Tür stand und am Türschild Willkommen bei Familie Noack las. Der Name sagte mir nichts.

Ich klopfte mutig an die hell gebeizte Holztür. Aber es tat sich nichts. Da entdeckte ich die Klingel seitlich der Haustür und drückte diese. Aber ein Läuten war nicht zu hören. Wahrscheinlich war sie abgestellt oder defekt. Kurz setzte ich mich auf die kleine blaue Bank neben der Tür und überlegte, ob ich nicht zurückgehen sollte. Mein Handy hatte ich nicht dabei. Mist! Aber vielleicht gibt es ja einen Hintereingang, dachte ich und ging um das Haus unter den hohen Tannen entlang, als mich plötzlich ein Geräusch ablenkte. Es kam durch die offene Terrassentür. Ein monotones Klatschen. Ich schlich hinter die Zweige der Tanne nahe der offenen Glastür und sah sie. Eine Blondine. Nackt und mir mit dem Rücken zugewandt, die gerade mit einem Mann Sex hatte. Sie saß rittlings auf ihm und ihr langes Haar wippte dabei im Takt ihrer Auf- und Abwärtsbewegungen. Das war dann wohl Chris’ Frau. Klar, dass die zwei mich bei dieser Geräuschkulisse nicht gehört hatten. Seine Prophezeiung hatte sich hiermit bestätigt. Nur, dass sie es auf dem Sofa trieben und nicht auf dem Küchentisch.

Ich war gefangen von dem Bild, welches die zwei mir boten. Noch nie hatte ich jemandem beim Sex beobachtet. Es fesselte mich geradewegs. Mein Puls raste und meine Atmung beschleunigte sich merklich. Ich drehte mich hinter den Stamm der Tanne und rang nach Atem. Oh Gott, das war zu viel. Es machte sich durchaus bemerkbar, dass ich schon monatelang nicht mehr mit einem Mann zusammen war. Ich wagte noch einen Blick in ihre Richtung. Sie hatten ihre Position gewechselt und er stand seitlich zu mir gedreht, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Sie kniete vor ihm und verwöhnte ihn mit dem Mund. Ich fragte mich langsam, was ich Chris’ Meinung nach hierfür Antworten finden sollte? Der Mann stöhnte indessen und hielt ihren Kopf fest, um seine letzten Stöße in ihrem Mund zu präzisieren, und kam schließlich mit einem lauten Stöhnen.

»Oh Theresa, das war unglaublich«, sprach dann eine mir durchaus bekannte Stimme. Ich erstarrte. Er drehte sich, sein Gesicht ein wenig mehr zu mir gewandt und mein Herz blieb vor Entsetzen kurzzeitig stehen.

Es war Jo!

Mein Onkel.

Kapitel 3

Ich rannte. So schnell mich meine brennenden Beine trugen, rannte ich. Weg von diesem unglückseligen Ort! Heiße Tränen strömten über meine Wangen und nahmen mir die Sicht, so dass ich mehrmals schmerzhaft mit den Füßen umknickte oder ungelenk über die Unebenheiten des Waldbodens stolperte. Ich kam erst wieder zum Stehen, als ich die Hauptstraße erreichte. Mein Herz schlug so stark, dass ich die Druckwellen an den Zähnen spürte. Mit den Händen oberhalb der Knie gestützt, hielt ich mich gebeugt, um wieder zu Atem zu kommen, und verharrte einen Moment in dieser Position.

Als das Rauschen in meinen Ohren zurückwich und ich langsam wieder die Geräusche um mich herum wahrnehmen konnte, ging ich zurück in die Richtung, aus der Chris und ich zuvorgekommen waren. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich wollte doch nur meine Tante finden. Und Antworten! Was war nur aus Eni und Jo geworden? Diese große Liebe, die meine Mutter gelegentlich auf ein Podest als Beispiel einer perfekten Beziehung gehoben hatte. Solch eine Liebe könnte nichts erschüttern, waren ihre Worte. Aber das schien ganz und gar nicht mehr zutreffend zu sein. Ich keuchte enttäuscht, als mich meine Gedanken wie ein Blitz trafen.

Die Tränen schränkten meine Sicht derart ein, dass ich den Mann, der auf mich zukam, erst wenige Meter vor mir bemerkte. Ich wischte mir mit dem Handrücken wiederholt über die Augen und war mehr als überrascht, als er mich ansprach.

»Hey, ich schätze, du bist Melissa. Mein Bruder Chris, das Arschloch, hat mal wieder ganze Arbeit geleistet, wenn ich dich ansehe. Fährt dich einfach zu seinem Haus, obwohl er sich denken kann, dass seine Frau und dein Onkel dort gemeinsam …«

Er verstummte und sein Blick war mitfühlend auf die Tränen gerichtet, die mir unentwegt über die Wangen rollten. Dann wurde er ernst.

»Es reicht ihm wohl nicht, dass es ihm und Eni dreckig geht. Jetzt zieht er dich da auch noch mit rein. Komm, ich bring dich nach Hause.«

Seine Worte unterstrich er, indem er mir eine Hand reichte, die ich nicht nahm. Stattdessen legte ich den Kopf schief und betrachtete diesen völlig fremden Mann, der mir auf seltsame Weise doch bekannt vorkam. Er ließ seine Hand wieder sinken und lächelte mich an. Dieser Mann vor mir sah aus wie Chris und irgendwie auch wieder nicht. Sein Haar war kürzer und frecher und sein lässiger Kleidungsstil das Gegenteil von Chris’, dennoch war die Ähnlichkeit zu ihm unverkennbar. Noch so einer, dachte ich sarkastisch.

»Verrätst du mir auch, wie du heißt? Oder ist hier alles ein großes Rätselraten?«, fragte ich schnippischer als gewollt.

»Wow wow wow, Prinzessin. Ich habe mit dem ganzen Scheiß hier nichts zu tun«, wehrte er ab und hob dabei beide Hände in die Höhe.

»Ich bin Tom, der nettere und besser aussehende Zwilling!« Ein Augenzwinkern konnte er sich dabei nicht verkneifen.

»Zwilling«, wiederholte ich erstaunt.

»Jepp, eineiig, falls das nicht offensichtlich ist. Und nun bringt dich der nette Zwilling nach Hause. Na komm schon. Ich beiße nicht.«

Da war ich mir nicht so sicher. Eineiige Zwillinge hatten bestimmt nicht nur das Äußerliche gemein. Ich zog die Augenbraue skeptisch in die Höhe.

»Ich kann mich nur für meinen Bruder entschuldigen«, sprach er, als hätte er in meinen Kopf schauen können. Dabei schob er sich seine Hände in die enganliegende Jeans und wippte auf den Füßen vor und zurück.

»Er macht gerade eine schwere Zeit durch. Eigentlich ist er ein Pfundskerl. Kaum hatte er dich hier abgesetzt, hatte er mich auch schon angerufen und mich gebeten dich abzuholen. Ihm ist bereits klar gewesen, dass er einen Fehler gemacht hat. Bitte steige ins Auto, damit ich dich nach Hause bringen kann.«

Mein Körper kam meinem Verstand zuvor und nahm mir meine Entscheidung ab, denn meine Knöchel schmerzten immer noch. Den Weg zurück hätte ich mit Sicherheit nicht zu Fuß geschafft. Ich ergab mich und stieg ein. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, als ich bei Chris eingestiegen war? Was war ich nur für ein naiver Trottel! Antworten wollte ich finden, dabei hatte ich mehr Fragen denn je im Kopf! Amy rief mir am Bahnsteig am Tag zuvor noch zu, dass ich mich nicht langweilen sollte. Rückblickend trieb mir die ungewollt eingesetzte Ironie ihres Wunsches erneut die Tränen in die Augen.

Tom kannte sich erstaunlich gut in Enis Küche aus und schien ebenfalls nicht zum ersten Mal hier zu sein. Zumindest wusste er, wo Großvaters Selbstgebrannter und die Schnapsgläser zu finden waren. Er schenkte uns ein und gab das Kommando zum Runterkippen. Ja, das brannte. Aber es war ein tröstliches Gefühl. Dann gab es gleich noch einen und noch einen.

»Aller guten Dinge sind drei«, grinste er wieder. Wie sein Bruder sah auch Tom unheimlich gut aus. Doch schaffte er mit seiner offenen Art sofort ein vertrautes Verhältnis zwischen uns - im Gegensatz zu seinem mürrischen Bruder. Tom schien ein netter Mensch zu sein.

»Geht’s wieder, Prinzessin?«, fragte er nach einem kurzen Moment der Stille.

Ich nickte schwach.

»Danke Tom, das hat jetzt gutgetan. Aber ich muss mit dem, was ich da heute gesehen habe, erst einmal klarkommen. Meine heile Welt ist gerade zusammengebrochen. Verstehst du?«, erklärte ich mit bebender Stimme. Tom nahm meine Hand und schaute mich an.

»Menschen machen Fehler, Melissa. Und man bekommt nicht immer das, was man will. Chris hätte dich einfach nicht dort hinbringen dürfen! Du hast jetzt für immer ein Bild von deinem Onkel im Kopf, was ihn auf etwas reduziert, was ihm sicher nicht gerecht wird und nicht der Wirklichkeit entspricht.«

»Wie bitte? Nicht der Wirklichkeit entspricht? Was er dort mit dieser Frau getrieben hat, war sehr real«, schrie ich ihn fassungslos an und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Händen.

»Melissa, das meinte ich nicht. Bevor du ungerecht wirst, rede mit Jo«, sprach er ruhig und strich mir sanft über den Arm.

Heute war mir alles egal. Es war einfach zu viel. Tom zog mich zu sich und nahm mich in den Arm, wie es gute Freunde tun, wenn das Leben mal zu schwer wurde. Ich ließ diese intime Geste zu, weil ich einerseits keine Kraft zur Gegenwehr übrighatte und weil es sich einfach gut anfühlte. So saßen Tom und ich eine halbe Ewigkeit da und sagten nichts. Als es allmählich dämmerte, war Eni immer noch verschollen und Tom rief seinen Bruder an, um ihn darüber zu informieren.

»Er wird sich drum kümmern«, wandte Tom sich an mich, als er auflegte, was mich erstaunlicherweise beruhigte. Jemand hielt Ausschau nach Eni. Das war mehr, als ich gerade konnte. Dann öffnete er mit einer Selbstverständlichkeit den Küchenschrank, holte eine Salami raus, nahm noch etwas Baguette aus dem Brotkasten und zwei Bier aus dem Kasten neben der Spüle und zog mich gemeinsam mit seiner Beute raus auf die Veranda. Dort setzten wir uns auf die Hollywoodschaukel und er erzählte mir ein bisschen von sich und ich erzählte ihm ein wenig von mir. Tom versorgte mich mit kleinen Häppchen und das Bier ließ mit jedem Schluck die Spannung aus meinem Körper weichen. Ich genoss die seltsame Vertrautheit zunehmend. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter dem kleinen Hügel verabschiedet und machte einem großen weißen Mond und unzähligen Funkelsternen Platz. Fast schon romantisch, wenn man die Umstände, die uns hierhergeführt haben, mal außer Acht ließ. Wir kuschelten uns aneinander und irgendwann schlief ich ein. Erst als Tom sich regte, weil sein Fuß eingeschlafen war, wurde ich wach.

»Komm meine Schöne. Ich begleite dich noch hinein und verschwinde dann«, lächelte er mich mit seinen schönen blauen Augen an. Doch dann nahm er mich auf den Arm, was ich mit einem überraschten Quieken kommentierte, und trug mich bis vor mein Zimmer.

Behutsam ließ mich heruntergleiten und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.