Identität und Geschichte - Emil Angehrn - E-Book

Identität und Geschichte E-Book

Emil Angehrn

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Beschreibung

Was der Mensch ist, sagt die Geschichte. In der Geschichte gewinnt der Mensch seine bestimmte Identität, in der Besinnung auf Geschichte verständigt er sich über sich selbst. Geschichte ist ein Medium der Identitätsbildung und der Selbstvergewisserung. Dies gilt für den Einzelnen wie für Gruppen und Gesellschaften und für die Menschheit im Ganzen. Der Zusammenhang von Identität und Geschichte wird in vielen Disziplinen thematisiert. In profilierter Weise haben sich Philosophie und Psychologie mit ihm beschäftigt. Die Psychologie interessiert sich für die Art und Weise, wie die kognitiven und praktischen Fähigkeiten, die sozialen und kulturellen Lebensformen des Menschen sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausbilden. Die Philosophie fragt nach der Bedeutung, welche die Geschichte für den Menschen hat, der durch seine Vergangenheit bedingt ist, handelnd in die Geschichte eingreift und die Frage nach dem Sinn der Geschichte stellt. Der Philosoph Emil Angehrn und der Psychologe Gerd Jüttemann erörtern im interdisziplinären Gespräch das vielschichtige Verhältnis von Identität und Geschichte. Sie untersuchen, inwiefern der Mensch in Geschichte(n) verstrickt ist und über Geschichte zu dem wird, der er ist. Die Begriffe der Geschichte und der Identität stehen dabei selbst zur Diskussion.

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Philosophie und Psychologie im Dialog

Herausgegeben vonChristoph Hubig und Gerd Jüttemann

Band 17: Emil Angehrn / Gerd JüttemannIdentität und Geschichte

Emil Angehrn / Gerd Jüttemann

Identität und Geschichte

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99888-6

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Jusepe de Ribera, »Allegorie der Geschichte«, 1615, St. Peters-burg, Staatliche Ermitage/© akg-images

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Emil AngehrnDer Mensch in der Geschichte – Konstellationen historischer Identität

Gerd JüttemannPsychologische Betrachtungen zur Autogenese der Menschheit

Emil AngehrnGeschichtsdenken und Entwicklungspsychologie

Gerd JüttemannGeschichtsphilosophie und Geschichtspsychologie

Emil Angehrn

Der Mensch in der Geschichte –Konstellationen historischer Identität

Einleitung:Das Wechselverhältnis von Identität und Geschichte

Identität und Geschichte sind in mehrfacher Weise miteinander verbunden. Ihre Beziehung lässt sich im Ausgang von beiden Seiten beschreiben. Die Geschichte macht den Menschen zu dem, was er ist; sie gibt dem Einzelnen, aber auch einem Kollektiv, einer Institution oder einer Kultur ihre bestimmte Prägung, ihre Identität. Die Rekonstruktion der Geschichte, die Historie, ist ein Instrument der Vergewisserung eigener und fremder Identität. Umgekehrt weist die Frage nach der Identität, nach dem, was jemanden oder etwas in seiner Besonderheit ausmacht, auf seine Geschichte. Wir lernen jemanden kennen, indem wir nicht nur etwas über seine Eigenschaften und Tätigkeiten, sondern etwas aus seiner Geschichte erfahren. Wer oder was jemand oder etwas ist, lässt sich nicht rein synchron beschreiben.

Dieses enge Verhältnis ist in der Reflexion auf Geschichte vielfach zum Thema geworden. Eine prominente Formulierung gibt ihm Wilhelm Dilthey: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte« (1991, S. 224). Der Satz drückt die Überzeugung von einer grundlegenden Geschichtlichkeit des Menschen aus, dessen Natur nicht vorgegeben ist und unveränderlich feststeht, sondern in den Prozess der Geschichte eingelassen ist und durch sie ihre Bestimmtheit gewinnt. Er wendet sich gegen ein traditionelles metaphysisches Menschenbild ebenso wie gegen die zeitgenössische lebensphilosophische Sichtweise. Gegen die antihistoristische These Nietzsches, dass nur auf dem Boden des Lebens das Menschliche sich in seiner Eigenart entfalten kann (1980, S. 252), hält Dilthey daran fest, dass nicht das Leben als solches, sondern das Leben in seiner geschichtlichen Realisierung und in seinem wesenhaften Bezug auf den Ausdruck die Grundlage menschlicher Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis bildet. Geschichte ist nicht ein äußerer Rahmen, sondern ein konstitutives Element und ein Wesenszug der menschlichen Existenz. »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt«, lautet ein vielzitierter Satz von Wilhelm Schapp, demgemäß wir »den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben« (1976, S. 103). In der Geschichte und durch die Geschichte werden wir, was wir sind. Der objektiven Funktion der Geschichte als Prozess der Prägung und Individuierung korrespondieren Leistungen der historischen Darstellung und Erkenntnis. Eine klassische Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Historie, nach dem Wozu der – wissenschaftlichen oder lebensweltlichen, kollektiven oder individuellen – Beschäftigung mit Geschichte lautet, sie diene der historischen Identitätsbildung (vgl. Rüsen, 1994; Lübbe, 1977; Angehrn, 2004). Wir brauchen sie, um über uns Klarheit zu gewinnen und uns dessen zu vergewissern, was wir sind. Das Bemühen, die Vergangenheit zu rekonstruieren und Geschichte zu verstehen, steht wesentlich im Dienste der Identität.

Nun liegt auf der Hand, dass der so umrissene Wechselbezug zwischen Identität und Geschichte präzisierungsbedürftig ist. Beide Begriffe sind vieldeutig und bedürfen der begrifflichen Differenzierung, damit auch ihre Relation genauer gefasst werden kann. Dies soll im Folgenden geschehen, indem im Besonderen verschiedene Verwendungen des Identitätsbegriffs auseinandergehalten und von ihnen aus unterschiedliche Bestimmungen der Relation von Geschichte und Identität in den Blick genommen werden. Zuvor aber ist das Gesamtverhältnis als solches nach zwei Hinsichten genauer zu konturieren.

Zum einen ist festzuhalten, dass die Relation zwischen beiden Begriffen selbstverständlich nicht in der genannten wechselseitigen Verweisung aufgeht. Der Sinn der historischen Vergegenwärtigung liegt nicht allein in der Identitätspräsentation und -sicherung, sondern kann ebenso über andere Funktionen bestimmt werden: als Orientierung durch Geschichte, Lernen aus der Geschichte, Legitimation oder Kritik auf der Basis von Geschichte, aber auch als Bewahrung des Vergangenen und Überwindung des Vergehens, als Eigeninteresse der Erinnerung und historischen Gedächtniskultur. Umgekehrt erschöpft sich die Identifizierung nicht in der historischen Beschreibung. Wir können jemanden oder etwas auch über seine Eigenschaften, Funktionen oder Beziehungen, über natürliche Wesensbestimmungen, besondere Merkmale und allgemeine Zugehörigkeiten charakterisieren; was wir sind, sind wir nicht nur durch Geschichte. Der skizzierte Wechselbezug ist eine besondere, bestimmte Beziehung, die allerdings für den Menschen nicht kontingent und nebensächlich, sondern wesentlich und zentral ist und deren Bedeutung für das menschliche Leben in der näheren Ausformulierung dieser Relation zu verdeutlichen ist.

Zum anderen wird das Verhältnis von Identität und Geschichte in der theoretischen und wissenschaftlichen Diskussion in unterschiedlicher Perspektive zum Thema, indem beide Begriffe in variierender Weise besetzt sind. Dies betrifft die Figur der Identität, aber ebenso die ins Auge gefasste Geschichte. Die Geschichte kann die eines Individuums, aber auch die einer Gruppe, eines kulturellen Gegenstandes (Barockmusik, Eisenbahn), der menschlichen Spezies, darüber hinaus auch die des Kosmos oder einer natürlichen Formation (Evolution der Arten, Bildung der Alpen) sein. Je nach »Subjekt« der Geschichte ist deren identitätsbildende Funktion anders zu fassen. Eine Hauptunterscheidung, die auch im umgangssprachlichen Verständnis naheliegt, ist die zwischen Humangeschichte und Naturgeschichte, wobei es nicht nur um die ontologische Differenz der Gegenstandstypen geht. Grundlegender ist der Unterschied gerade in Bezug auf Geschichte so zu fassen, dass sich Geschichte im Bereich der Natur als objektiver Prozess der Entstehung und Veränderung von etwas vollzieht, während sie in der menschlichen Welt zugleich als Geschichte für das geschichtlich Seiende relevant ist, indem sie ihm gegeben ist, von ihm rekonstruiert, ausgelegt und angeeignet wird, zum Teil seines Selbstverständnisses wird. Menschen und Traditionen verstehen sich mit Bezug auf ihre Geschichte, ihre Geschichte geht in ihr Sein und Wirken ein. Sie tut dies anders als die Entstehungsgeschichte eines Naturgegenstandes sich in dessen Gestalt und Funktionieren auswirkt; sie ist beim Menschen vermittelt über einen Bezug zurGeschichte, idealiter ein Bewusstsein der Geschichte, auch wenn dieses dunkel, verfälscht oder verdrängt sein kann. Geschichte im normalen, gängigen Verständnis benennt ein reflexives Gebilde. Von Geschichte (im Gegensatz zu Evolution) sprechen wir dort, wo auch Geschichtsbewusstsein vorhanden ist. Geschichtlich lebt, wer sich seiner Geschichte bewusst ist. Geschichte in diesem Sinne ist keine gegenständlich (als Prozess, Gesamtheit vergangener Ereignisse) definierbare Größe, sondern unablösbar von den vielfachen Weisen, in denen sie für Subjekte ist, von ihnen vergegenwärtigt, kritisiert und interpretiert wird.

Innerhalb der Humangeschichte, die auch den umfassenden Horizont des in diesem Buch unternommenen interdisziplinären Gesprächs bildet, ist eine weitere Unterscheidung, gerade auch für dieses Gespräch und im Blick auf die verfolgte Fragestellung, von Belang. Die Geschichte kann die des Einzelnen oder des Ganzen sein – die Geschichte eines Individuums, einer Gruppe, einer kulturellen oder sozialen Formation, eines Volks und einer Nation, aber auch die der Menschheit, der menschlichen Spezies. Die Differenz ist nicht nur eine quantitative, sondern eine prinzipielle gerade im Blick auf die Identitätsfrage. Während die historische Identität des Individuums eine ist, die dieses je für sich prägt, indem sie es zugleich von anderen seinesgleichen – anderen Menschen, Völkern, Kulturen – abhebt, so entfällt diese zweite Perspektive im Falle der Menschheit oder der Spezies. In deren Geschichte geht es um die Ausbildung der Natur und Verhaltensform des Menschen als solchen. Die umfassende Geschichte der menschlichen Gattung kann in evolutions- und entwicklungstheoretischer, aber auch in kulturgeschichtlicher Perspektive untersucht werden; es können die Ausbildung des Organismus und seiner Fähigkeiten, aber auch die Gestaltung der menschlichen Lebensform und die Weisen des sozialen und politischen Zusammenlebens im Zentrum des Interesses stehen. Mit beiden können sich divergierende Leitideen der Betrachtung verbinden, das Absehen auf Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung einerseits, das Herausstellen der Kontingenz und Ereignishaftigkeit der Geschichte andererseits. Äußerlich kann sich die entwicklungstheoretische Perspektive auf den Menschen mit geschichtsphilosophischen Vorstellungen vom Werden und Schicksal der Menschheit überschneiden, teils in deren theoretische Konstrukte eingehen. Begrifflich verbleibt die Differenz zwischen dem objektiven Entstehungs- und Bildungsprozess und dem Bezug auf eine Geschichte, deren reflexive Aneignung für ein historisch Seiendes zum Moment und Medium seines Seins und Werdens wird.

Mit der Verschiedenartigkeit des Geschichtssubjekts kann eine unterschiedliche Thematisierung von »Geschichte« einhergehen. Diese steht einerseits als Realgeschichte, andererseits als Historie, als Geschichtserzählung und Bewusstsein der Geschichte zur Diskussion. Die Geschichte der Spezies ist als objektiver Realprozess, ihre Identität als objektives Resultat einer Entwicklung Gegenstand anthropologischer und evolutionstheoretischer Forschung. Die Geschichte einer Person hingegen interessiert sowohl als objektiv-genealogischer wie als reflexiver Prozess: Zur Diskussion steht, wie jemand durch seine Geschichte in bestimmter Weise geformt, zu einer bestimmten Person wird, und gleichzeitig, wie er sich selbst zu seiner Geschichte verhält und mittels dieses Geschichtsbezugs als derjenige existiert, der er ist; Analoges gilt für die Historizität eines Kollektivs oder einer kulturellen Tradition. Nur von Entitäten dieser Art sagen wir, dass sie in einem genuinen Sinn geschichtlich sind und geschichtlich existieren. Für ihr Sein sind die reale Genese und die reflexive Vergegenwärtigung gleichermaßen konstitutiv.

Nicht zuletzt sind Realgeschichte und Historie mit divergierenden Zeitordnungen verbunden. Die Realgeschichte ist der zeitlich progredierende Geschehensverlauf, der simultan beobachtet und in seinem Verlauf und seinen Resultaten analysiert, gegebenenfalls in seiner Ausrichtung und seinen Zukunftspotenzialen erschlossen werden kann. Die Historie ist ein retrospektives Gebilde, das im Medium der Erinnerung, der (Re-)Konstruktion, Erklärung und Deutung zustande kommt und als Teil der Lebenswelt der Menschen in seiner Funktion untersucht werden kann. Geschichtlich existierende Menschen leben in diesem Sinn nicht nur im Jetzt, sondern – auch – in der Vergangenheit, die ihnen aber kein bloß Vergangenes ist. Gerade für sie ist Geschichte gegenwärtig, kein nur Gewesenes und Entschwundenes.

Es scheint offenkundig, dass mit der Unterschiedlichkeit des Geschichtssubjekts, der anvisierten »Geschichte« und der involvierten Zeitform auch das Verhältnis zwischen Geschichte und Identität ein je anderes ist. Es bleibt in der konkreteren Analyse und im interdisziplinären Gespräch zu sehen, wieweit hier nicht nur typologische Differenzen bedeutsam sind, sondern Querbeziehungen bestehen und die einzelnen Perspektiven im Horizont der je anderen in den Blick kommen und relevant werden. Die Spannweite und interne Vielfalt der Beziehung von Identität und Geschichte zu erkunden, bildet die Herausforderung und den Gewinn dieses Gesprächs.

Identitätsdiskurse

Der Fokus der folgenden Betrachtung liegt auf der Identität eines Individuums oder eines Kollektivs, die sich im Laufe einer Geschichte herausbildet und die in der Reflexion auf Geschichte vergegenwärtigt, gestaltet und angeeignet wird. Zur Diskussion steht die historische Identität, die in ihrer Genese und Struktur aufgeklärt werden soll. Seit längerem ist im Alltagsdiskurs wie in der Wissenschaftssprache die Rede von der – persönlichen, sozialen, kulturellen, sexuellen etc. – Identität einer Person vertraut, in deren Kontext sich auch die Idee historischer Identität situiert. Die Konjunktur des Identitäts-Begriffs in soziologischen, psychologischen, psychoanalytischen, kulturtheoretischen und philosophischen Diskursen seit den 1960er Jahren ließe sich selbst als kulturgeschichtliches Phänomen analysieren. Vielfach ist die Unklarheit des in diesen Debatten verwendeten Identitätsbegriffs moniert worden. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Theorien enthalten Vorschläge zur inhaltlichen und konzeptuellen Ausformulierung des Begriffs. Sie umreißen ein Spektrum unterschiedlicher Konnotationen dessen, was das facettenreiche Problem der Identität ausmacht.

Zu deren Basisstruktur gehört das Spannungsverhältnis zwischen Allgemeinheit und Einzelheit, zwischen der Teilhabe an einer geteilten Lebensform und der Ausbildung autonomer Selbstständigkeit, zwischen Sozialisation und Individuation, Universalität und Unverwechselbarkeit. Identität steht sowohl für die Distinktheit von anderen wie für die Ungeteiltheit in sich, für die innere Ganzheit und die bestimmte Gestalt, welche sich ein Individuum erwirbt, die bestimmte Identifizierung mit jemandem oder etwas und die Identität-mit-sich-selbst, als synchrone Konsistenz ebenso wie als diachrone Identität über die Zeit. Nach anderer Hinsicht kommen die Entwicklungsstufen der individuellen Identität, von frühen Identifikationen und Trennungen bis zur reifen Integrität der Person, in den Blick. Unter variierenden Perspektiven wird der Komplex der Identität in seinem Verhältnis zur Geschichte diskutiert, sowohl im Blick auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft.1 Nicht zuletzt wird die in der philosophischen Diskussion hervortretende Ambivalenz des Begriffs zum Thema, der seit Parmenides und Platon als Merkmal des wahrhaft Seienden hochgehalten wird, während er in nachmodern-metaphysikkritischen Konzepten zum Teil als Signatur der Angleichung und Unterdrückung wahrgenommen wird und auch in sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontexten in Front zu den Gegenbegriffen der Vielfalt und Differenz zu stehen kommt.

Die im Folgenden zu entfaltende Konzeption historischer Identität, die sich zwar in den Horizont der angedeuteten sozialpsychologischen Diskussion stellt, kann ihr begriffliches Instrumentarium nicht dieser entnehmen. Statt von der unüberschaubaren, multidisziplinären Literatur zum Identitätsproblem geht sie von allgemeineren, philosophisch-begrifflichen Unterscheidungen aus, die den Identitätsbegriff als solchen betreffen. Als Grundraster dient die Differenzierung dreier Verwendungen des Identitätsbegriffs, die sich logisch unterscheiden und die alle dem normalen Sprachgebrauch bekannt sind. Von ihnen aus lassen sich grundlegende Perspektiven auf das Verhältnis von Geschichte und Identität eröffnen (dazu ausführlicher: Angehrn, 1985, S. 231–340). Sie sollen, so die Herausforderung und die leitende Hypothese, ein gehaltvolles Verständnis historischer Identität ermöglichen.

Logische Identitätsbegriffe

Die drei Verwendungen des Identitätsbegriffs, welche die Untersuchung historischer Identität strukturieren, lassen sich formal als numerische Identität, qualitative Identität und Selbigkeit bestimmen. Sie seien zuerst kurz schematisch skizziert und in ihrem Verhältnis gegeneinander bestimmt. Anschließend sind sie als Grundlage personaler Identität und in ihrem Bezug zur Geschichte, als Figuren historischer Identität zu explizieren.

Nach einer ersten Begriffsverwendung geht es darum, etwas zu »identifizieren« (wobei der Begriff ohne weitere Qualifikation verwendet wird): es als das Gemeinte oder Gesuchte herauszustellen, als den Gegenstand, auf den sich eine Aussage bezieht, als die Person, die für etwas verantwortlich ist. Es geht darum, etwas oder jemanden unter anderen hervorzuheben und zu benennen, bei Personen darum, eine Wer-Frage zu beantworten (wer das Buch geschrieben hat, wer die maskierte Person ist); allgemein können wir solche Identifizierung als Referenzsicherung umschreiben, als Klärung, worauf man sich bezieht. Die numerische Identität steht für die Unterscheidung des einen von anderen seiner Art, für die heraushebende »Identifikation« des Einzelnen unter anderen. Etwas oder jemand kommt in seiner Unterschiedenheit von anderen in Betracht. Im Spiel ist die Bedeutung von »Identität«, in welcher etwa verwaltungstechnisch von der »Feststellung der Identität einer Person« gesprochen wird oder diese in einer »Identitätskarte« festgehalten ist. Das Identifizierte kommt unter dem Gesichtspunkt seiner Individualität und Unverwechselbarkeit zur Sprache.

In der zweiten Bedeutung verlangt der Ausdruck »Identifizierung« nach einer sprachlichen Ergänzung. Es geht um die Identifizierung von etwas »als etwas«. Die qualitative Identität steht für die Gleichheit verschiedener Individuen derselben Art beziehungsweise für die Spezifizierung von etwas (als Exemplar einer Art, Träger einer sozialen Rolle). Beantwortet wird nicht mehr eine Wer-, sondern eine Was-Frage, die Frage, was etwas, was für ein Mensch jemand ist, als was oder wie sich jemand versteht. Gefragt wird nach der bestimmten Qualifizierung von etwas, dessen numerische Identität feststeht oder als bekannt vorausgesetzt ist. Im sozialen und psychologischen Kontext kennen wir ein breites Spektrum solcher Identifikationen, wenn etwa von der Berufsidentität einer Person, der nationalen Zugehörigkeit oder der Identifikation einer Person mit Idealen und Vorbildern die Rede ist. Im Falle von Personen oder Kollektiven kommt neben der qualifizierenden Zuschreibung bestimmter Eigenschaften die selbstreferenzielle Identifizierung (»sich-identifizieren-als«) ins Spiel, die sowohl als theoretisch-feststellende Beschreibung wie als praktische Stellungnahme (Aneignung, Bejahung einer bestimmten Identität) Thema sein kann.

Nach einer dritten Begriffsverwendung geht es um die Identität von etwas »mit etwas«, worin zwei zunächst Unterschiedene gleichgesetzt, als dasselbe gesetzt werden. Identität ist hier im Wortsinn (identitas, idem), entsprechend der normalen Verwendung des Prädikats »identisch«, als Identischsein beziehungsweise als Selbigkeit (Nämlichkeit) gefasst. Um sie geht es, wenn gefragt wird, ob zwei Gegenstände dieselbe Eigenschaft haben, zwei Werke von demselben Autor geschaffen sind, zwei Menschen, denen wir zu verschiedenen Zeiten (in anderer Aufmachung, verschiedenem Kontext) begegnet sind, in Wahrheit dieselbe Person waren. Eine besondere Virulenz hat diese Identität in der reflexiven Form als Identität mit sich selbst, wenn es darum geht, wieweit ein Gegenstand unter verschiedenen Erscheinungen oder über Veränderungen hinweg mit sich identisch, derselbe bleibt. Damit verbinden sich je nach Gegenstandstypus spezifische ontologische Fragen (Identität eines Kunstwerks in seinen variierenden Reproduktionen oder Aufführungen, eines Volks oder Staats in der sich ändernden Zusammensetzung und Verfassung); bei Personen und Kollektiven kommen zusätzlich praktische Implikationen ins Spiel (Identität als Voraussetzung der rechtlichen Haftung, moralischen Verantwortung, emotionalen Betroffenheit). In der Theoriegeschichte ist die Identität mit sich über die Zeit als begrifflicher Kern des Problems personaler Identität behandelt worden. Sozialpsychologisch wird der Verlust der Selbstidentität als Identitätsspaltung oder Identitätsverlust in diachroner wie synchroner Sicht zum Thema.

Wir haben damit drei verschiedene, nicht aufeinander reduzierbare, doch ersichtlich miteinander verbundene Begriffsverwendungen von »Identität« vor uns. Die schematische Unterscheidung stellt eine plausible, keine zwingende oder systematisch deduzierte Gliederung dar. Sie entspricht für die numerische und qualitative Identität einer gängigen lexikalischen Aufzählung, während die dritte Bedeutung den logischen Begriff der Identität als Ununterscheidbarkeit (identitas indiscernibilium, Satz der Identität) aufnimmt. Mit allen drei Verwendungen, so wird sich zeigen, verbinden sich prägnante Konstellationen des Geschichtlichen. Abstrakt gesehen, wirft die Diversität der Begriffe die Frage nach der Einheitlichkeit oder Heterogenität der Fragestellung auf. Es ist in der konkreteren Ausführung zu verdeutlichen, wie sie zusammenspielen und in welcher Weise sie, als Bestimmungsmomente historischer Identität, Facetten einer zusammenhängenden Problemstellung artikulieren. Bevor wir uns dieser Konkretisierung zuwenden, ist die formal umrissene Identitätsproblematik in der Anwendung auf Personen und Kollektive zu spezifizieren und der zweifache Bezug auf historische Prozesse und auf die Rekonstruktion von Geschichte zu verdeutlichen.

Personale Identität

Wie verändert sich die »Identifikation« – als individuierende Hervorhebung, qualifizierende Zuschreibung, Re-Identifizierung –, wenn sie sich nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf Personen bezieht? Nach allen drei Hinsichten findet eine Spezifizierung, in gewisser Weise eine Verstärkung des Identitätsgedankens, statt. Sie bringt im Besonderen drei Zusatzakzente ins Spiel: die innere Einheit, die Reflexivität und die praktische Wendung der Identität. Diese Aspekte treten idealtypisch in Bezug auf Einzelsubjekte hervor; viele darin auszumachende Züge lassen sich analog für die Identität von Kollektiven herausstellen.

Im Blick auf die numerische Identität bringt die Anwendung auf Personen das Komplementärmoment zum Unterschiedensein von anderen, das Nicht-Unterschiedensein-von-sich-selbst zum Tragen. Die klassische Definition des Individuums – indivisum in se et divisum ab omni alio – verklammert beide Momente, wobei in der normalen Rede vom »Identifizieren« stärker das Distinktsein-von-anderen in den Vordergrund tritt, nicht das etymologisch primäre Ungeteiltsein bzw. Einssein-mit-sich. Doch gerade für personale Identität wird dieses zum eigenen, wesentlichen Merkmal. Nur indem sie mit sich eins, gewissermaßen Individuum für sich selbst ist, ist die Person eine unter anderen und verschieden von anderen. Ihre Individuation ist weder zureichend über unverwechselbare innere Merkmale, etwa den genetischen Code, noch die raum-zeitliche Lokalisierung des Körpers zu fassen. Sie liegt in der Unterschiedenheit, die dem personalen Einzelnen an ihm selbst und aus ihm selbst heraus zukommt. Zu erinnern ist an die scholastische Lehre von den Stufen der Individuation, die sich mit der Transzendentalienlehre und der darin statuierten Konvertibilität des ens und des unum verband: Entsprechend der ontologischen Hierarchie des Seienden – vom Körper über Pflanze und Tier zum Menschen (und Engel, Gott) – sind Stufen der Individualität und inneren Einheit anzunehmen. Die Grade der Seiendheit und Individuiertheit werden durch die Wirkungskraft und Autarkie bestimmt, die einem Seienden zukommen: Die Pflanze, die sich selbst ernährt und vermehrt, ist in höherem Grade seiend und eine als der Kristall; über beiden steht der Mensch, der aus sich heraus, in freier Selbstbestimmung handelt und sich dadurch nicht nur in seinem Einssein-mit-sich, sondern auch seiner Differenz zu anderen setzt. Die Unterscheidung von außen wird durch die Unterscheidung von innen abgelöst, in der sich die Einzelnen als Einzelne konstituieren und dadurch von anderen abheben. Als Individuationsprinzip fungiert letztlich die Freiheit selbst.

Als konstitutives Strukturmerkmal personaler Identität zeigt sich darin die Selbstbezüglichkeit. Dies gilt nicht nur für das Individuum selbst, das wesentlich als ein Für-sich-Sein existiert und sich kraft seiner Selbstbezüglichkeit als Einzelnes konstituiert und von anderen unterscheidet. Es gilt auch für den äußeren Bezug auf Subjekte, der die Bezugnahme auf deren Reflexivität beinhaltet: Einen Menschen identifizieren und als So-und-so-Bestimmten verstehen heißt auch darauf Bezug nehmen, wie und als was er sich selbst versteht und identifiziert. Natürlich ist es möglich, Personen unabhängig von deren Selbstverhältnis zu identifizieren und zu qualifizieren, sie gleichsam eigenmächtig zu klassifizieren, ja, festzulegen; doch bedarf eine nicht-reduktive Beschreibung, die ein Subjekt in seinem Sein und seiner Eigenart erfassen will, des Umwegs über die Art und Weise, wie dieses für sich selbst Einzelnes ist und sich in bestimmter Weise definiert. Die Identität eines Subjekts ist kein gegenständlicher, an sich seiender Befund. Sie ist im Medium des reflexiven Vollzugs, des Sich-zu-sich-Verhaltens. Sie ist kein dem Subjekt Vorgegebenes, sondern ein Hervorgebrachtes, von ihm Vollzogenes und Geleistetes.

Ineins mit der Reflexivität kommt die praktische Natur der personalen Identität zum Tragen. Identifikation und Selbstidentifizierung enthält bei Personen die grundlegende Dichotomie des theoretischen und des praktischen Selbstverhältnisses. Sich identifizieren kann ein beschreibend-feststellender, auch erkundenderkennender Selbstbezug, aber auch ein Modus der Selbstwahl und Selbstfestlegung sein und eine wertende Stellungnahme beinhalten. Für alle genannten Aspekte der Identität, die numerische und qualitative Identität wie die Selbigkeit, ist die praktische Dimension von Belang.

Mit Bezug auf die Individualität ist mehr als die letzte numerische Distinktion im Spiel. Es geht darum, dass der Einzelne als solcher von unendlichem Wert ist, es geht um die Einmaligkeit und die unantastbare Würde der Person, um ihre Selbstständigkeit und Autonomie. Personale Individualität besteht, jenseits der vorgegebenen numerischen Verschiedenheit, darin, dass der Mensch als dieses bestimmte Individuum existiert, dass er als dieser Einzelne zu handeln hat.

Manifest wird die theoretisch-praktische Doppelung vor allem in der qualitativen (Selbst-)Identifizierung. Der Mensch kann sich als das identifizieren, was er ist, aber auch als das, was er sein will. Er kann sich um ein Selbstbild bemühen, in welchem er bisher unbekannte Regionen seiner selbst erkundet, verdeckte und vergessene Seiten seiner selbst integriert, aber er kann auch sich selbst entwerfen und sich unter einer Beschreibung identifizieren, die er sich zu eigen macht und rechtfertigt – oder kritisiert und verwirft. Selbstverständigung oszilliert zwischen Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, Selbstbeschreibung und Selbstbeurteilung. Sich in bestimmter Weise zu identifizieren bedeutet nach der praktischen Seite, sich zu sich zu verhalten, nicht zu sich als vorgegebener Person oder zu einzelnen Tätigkeiten und Eigenschaften seiner selbst, sondern zu sich im Ganzen, zum Leben, das man führt. Identität in diesem Sinne wird nicht gefunden und registriert, sondern geprägt und erzeugt; der von der Sozialpsychologie beschriebene komplexe Prozess der Identitätsbildung ist ein eminenter Modus des Selbstseins und Sich-Identifizierens.

Schließlich wird die praktische Dimension auch mit Bezug auf die Identität-mit-sich