Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung -  - E-Book

Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung E-Book

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Beschreibung

Was genau ist das "Evangelische" bzw. das "Katholische" an kirchlichen Einrichtungen? Diese früher kaum diskutierte Frage erlangt, gerade durch das europäische Diskriminierungsrecht, immer mehr an Bedeutung. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Egenberger und Chefarzt. Sie werfen die Frage auf, wer unter welchen Anforderungen in kirchlichen Einrichtungen tätig werden darf. Das Buch enthält vor allem Vorträge einer wissenschaftlichen und zugleich praxisbezogenen öffentlichen Fachtagung, die das Institut für Kirchliches Arbeitsrecht gemeinsam mit der Evangelisch-Theologischen, der Katholisch-Theologischen sowie der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt hat. Erstmals konnten so theologische und juristische Gedanken zusammengebracht werden. Zentral ging es darum, was die Identität kirchlicher Einrichtungen ausmacht, mit welchem Profil sie sich in der Gesellschaft behaupten wollen und wie sie den Herausforderungen der neueren Judikatur begegnen können.

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Jacob Joussen (Hg.)

Identität und Profilkirchlicher Einrichtungenim Licht europäischer Rechtsprechung

Schriftenreihe zum kirchlichen Arbeitsrecht

Herausgegeben vonProf. Dr. Jacob Joussen undProf. Dr. Gregor Thüsing

Band 6

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten© 2019 Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgauwww.lambertus.deUmschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, BollschweilHerstellung: Franz X. Stückle, Druck und Verlag EttenheimISBN 978-3-7841-3176-4ebook ISBN 978-3-7841-3422-2

INHALT

VORWORT

Prof. Dr. Jacob Joussen

I. BEGRÜSSUNG / EINFÜHRUNG

Prof. Dr. Jacob Joussen

II. DAS KIRCHLICHE SELBSTBESTIMMUNGSRECHT ZWISCHEN GRUNDGESETZ, EMRK UND DEM RECHT DER EUROPÄISCHEN UNION

Prof. Dr. Christian Walter

III. KIRCHLICHKEIT GESTALTEN

Prof. Dr. Judith Hahn

IV. ÖFFENTLICHE THEOLOGIE UND KIRCHLICHE IDENTITÄT IN DER ARBEITSWELT

Prof. Dr. Rebekka A. Klein

V. EVANGELISCHES PROFIL – HERAUSFORDERUNGEN FÜR KIRCHE UND DIAKONIE DURCH RECHTSPRECHUNG UND PRAXIS

Prof. Dr. Jacob Joussen

VI. KIRCHE MIT PROFIL

Prof. Dr. Thomas Söding

VII. MODERIERTE DISKUSSION

Prof. Dr. Burkhard Kämper,Prof. Dr. Arno Schilberg (Moderation)

1. Prof. Dr. Jens M. Schubert: Die Auswirkungen in der und für die Praxis – aus gewerkschaftlicher Sicht

2. Prof. Dr. Isolde Karle: Was macht die Diakonizität der Diakonie aus?

3. Norbert Beyer: Vom personen- zum institutionenorientierten Ansatz

4. Annegret Utsch: Verfassungswidrigkeit der Egenberger-Entscheidung?

5. Dr. Martin Fuhrmann: Verfassungsbeschwerde auch im Düsseldorfer Chefarztfall?

6. Detlev Fey: Ist die Loyalitätsrichtlinie der EKD zu überarbeiten?

7. Generalvikar Dr. Peter Beer: Loyalität ja – hörig nein: Loyalitätsobliegenheiten neu denken – ein Diskussionsbeitrag

ANLAGE

VORWORT

Dieser Band der Schriftenreihe entstand aus einer öffentlichen Fachtagung des Instituts für Kirchliches Arbeitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Diese fand am 10. April 2019 statt, gewidmet war sie dem Thema „Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung“. Die Veranstaltung, zu der über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Deutschland angereist waren, stellte eine bis dahin einmalige Kooperation zwischen dem an der Juristischen Fakultät angesiedelten Institut und den beiden theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität dar. Ermöglicht wurde sie zudem durch die Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem Verband der Diözesen Deutschlands, der Diakonie Deutschland sowie dem Deutschen Caritasverband e.V. Auf diese Weise konnte, mit Hilfe der hochkarätigen Referentinnen und Referenten, ein wichtiger Impuls für die Debatte um die Konsequenzen der europäischen Urteile in der Sache Egenberger und Chefarzt gegeben werden.

Dankenswerter Weise hat der Lambertus-Verlag es ermöglicht, die Beiträge dieser Tagung in einem Band der von Gregor Thüsing und mir herausgegebenen Schriftenreihe zusammenzufassen und so der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als Herausgeber habe ich mich entschieden, einen sehr gut zur Thematik passenden Beitrag meines Bochumer Kollegen Thomas Söding zusätzlich aufzunehmen, ebenso einen Beitrag, der auf einem eigenen Vortrag beruht, der zwei Tage vor der öffentlichen Fachtagung zu derselben Thematik gehalten wurde. Aufgenommen wurden zudem die Impulsreferate, die zu Beginn der Abschlussdiskussion gegeben wurden.

Allen Referentinnen und Referenten sei ganz herzlich für die zügige Erstellung und unkomplizierte Bereitstellung ihres Manuskripts gedankt. Ein ganz besonderer Dank gilt aber Herrn Ludger Kämper, der an meinem Lehrstuhl als wissenschaftlicher Mitarbeiter nicht nur die Organisation der ganzen Tagung, sondern auch die redaktionelle Betreuung dieses Tagungsbandes souverän in der Hand hielt und begleitet hat. Unterstützt wurde er dabei sehr zuverlässig auch von meinen studentischen Hilfskräften Frau Canan Schneider und Herrn Lennard Dute.

Bochum, im August 2019

Prof. Dr. Jacob Joussen

I. BEGRÜSSUNG / EINFÜHRUNG

Öffentliche Fachtagung „Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung“, 10. April 2019, Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. Jacob Joussen

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, Sie heute hier im Veranstaltungszentrum der Ruhr-Universität Bochum zu dieser öffentlichen Fachtagung begrüßen zu dürfen. Als im Sommer vergangenen Jahres (am 10.6.) unser jetziger Honorarprofessor Prof. Dr. Burkhard Kämper im Anschluss an eine interne Vorabstimmung mit seinem Kollegen, ebenfalls neuer Honorarprofessor unserer Fakultät, Prof. Dr. Arno Schilberg, auf mich zukam und mich auf die Idee einer solchen Fachtagung ansprach, schien es mir, als hätten beide nahezu prophetische Gaben in sich aktiviert. Nun gut, dass dieses Thema angesichts der so bekannten Fälle Egenberger und Chefarzt ein spannendes sein würde, das konnte man ahnen. Die Urteile des BAG waren in beiden Fällen noch nicht gesprochen, das des EuGH zum Chefarzt stand aus. Eine Verfassungsbeschwerde war noch nicht in Sicht – insofern war schon deutlich, dass die europäische Rechtsprechung die Identität und das Profil kirchlicher Einrichtungen deutlich tangieren würde.

Doch es war noch mehr – als wir überlegten, welchen Raum wir anmieten sollten, welche Raumgröße, war Herr Kämper es, der sich von Anfang an sicher war, wir sollten den größtmöglichen unseres Veranstaltungszentrums buchen. Wie Recht er hatte! Angesichts der Warteliste zum heutigen Tag hätten wir sogar noch erweitern können. Und so freue ich mich ganz besonders, Sie alle heute hier in Bochum, an unserer Ruhr-Universität zu sehen. Herzlich willkommen!

Die Idee zu der Fachtagung haben Herr Kämper, Herr Schilberg und ich aber nicht für uns behalten können, und so freue ich mich auch darüber, dass es gelungen ist, diese Kooperation zwischen dem Institut für Kirchliches Arbeitsrecht, der juristischen Fakultät und den beiden theologischen Fakultäten auf den Weg zu bringen. Und ich darf sagen, die Zusammenarbeit mit den beiden Dekanen der evangelisch-theologischen und der katholisch-theologischen Fakultät, den Kollegen von Bendemann und Söding, war von Anfang an derart beeindruckend, dass ich sehr schnell davon überzeugt war, dass wir hier etwas für die Diskussion ganz Besonderes auf den Weg bringen würden. Wenn dann auch noch VDD, EKD, der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland als Kooperationspartner mit an Bord sind – meine Damen und Herren, eine bessere Zusammensetzung, um über die Identität und das Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung nachzudenken, ist kaum vorstellbar.

Und so erwartet Sie ein Tag mit drei Schwerpunkten: Ich freue mich sehr, dass mein Münchener Kollege Christian Walter heute hier ist und den rechtlichen Aufschlag macht: Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zwischen Grundgesetz, EMRK und dem Recht der Europäischen Union – genau eine Einordnung in dieser Hinsicht benötigen wir, um den Rahmen zu kennen, in dem sich Kirche als Arbeitgeber künftig bewegen wird. Und wir benötigen seine Expertise, um auf dieser Basis dann, nach der Mittagspause hier im Vorraum in der häufig zu stark von Juristinnen und Juristen determinierten Diskussion die Erkenntnisse der Theologie zu Wort kommen zu lassen. Es ist insofern aus meiner Sicht ein besonderer Glücksfall, dass beide theologischen Fakultäten unserer Universität ihren Beitrag leisten: Frau Kollegin Judith Hahn von der katholisch-theologischen Fakultät wird den Blick über den Tellerrand geben, der uns so häufig fehlt und der Frage nachgehen: „Wie Kirchlichkeit gestalten? Strategien kirchlicher Profilbildung in anderen Ländern“. Und unsere evangelisch-theologische Kollegin Rebekka Klein wird diese Gedanken fortsetzen und aus der Sicht der „öffentlichen Theologie“ die „kirchliche Identität in der Arbeitswelt“ aufzeigen. Es ist ein besonderes Zeichen unserer ökumenischen Tradition an der Ruhr-Universität, dass die beiden Dekane diesen Teil kollegial moderieren werden.

Und schließlich, nach der Kaffeepause, wird eine von unseren Honorarprofessoren der juristischen Fakultät moderierte Diskussionsrunde mit Vertretern unserer vier Kooperationspartner sowie der profilierten praktischen Theologin, der Kollegin Isolde Karle und Jens Schubert, der nicht nur Hochschullehrer in Lüneburg ist, sondern hier auch als Vertreter von ver.di seine Sicht der Dinge einbringen wird, stattfinden.

Meine Damen und Herren, wir haben bewusst zu einer „öffentlichen“ Fachtagung eingeladen. Öffentlich – das sind Sie. Nehmen Sie teil, beteiligen Sie sich, wir sind alle auf der Suche nach der christlichen Identität kirchlicher Einrichtungen. Und so sind alle drei Blöcke so angelegt, dass ausreichend Zeit zur Diskussion bleibt, gerade auch im dritten Teil ist hierfür explizit Raum vorgesehen.

Eine organisatorische Vorbemerkung abschließend noch: Eine solche Tagung wäre ausgeschlossen, wenn nicht Menschen vorhanden wären, die in einer mich begeisternden Art und Weise die Organisation in ihren Händen halten und auf ihren Schultern tragen. Neben der finanziellen Unterstützung des Dekanats der juristischen Fakultät, für die ich dem Kollegen Huster sehr dankbar bin, waren dies in meinem Sekretariat Frau Barbara Werner, die in ihrer gewohnt souveränen Art so zuverlässig alles in der Hand hielt, was mit Abrechnungen, Organisation und Durchführung dieser Tagung zusammenhing. Es war aber besonders auch mein Mitarbeiter Herr Ludger Kämper, unterstützt durch Frau Katharina Troska, der einfach alles immer im Blick hatte. Flyer, Catering, Raumplanung – was hätte ich nur ohne dieses Team gemacht? Nichts, vermutlich. Und das gilt schließlich für das gesamte Lehrstuhl- bzw. Institutsteam, das Sie hier im Einsatz sehen. An solchen Tagen weiß ich noch besser als sonst schon immer, warum es richtig war, Potsdam sein zu lassen und an der Ruhr-Universität zu bleiben, die mir dieses Institut für Kirchliches Arbeitsrecht ermöglicht hat.

Ein Institut für Kirchliches Arbeitsrecht, dass sich nun, zusammen mit den theologischen Fakultäten, Gedanken über „Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung“ macht. So etwas hätte es früher nicht gegeben, meine Damen und Herren – nicht geben müssen. Als ich mit der Arbeit im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts begonnen habe, vor knapp fünfzehn Jahren etwa, hätte doch niemand auch im Traum daran gedacht, dass wir uns hierüber Gedanken machen müssten. Warum auch? Die Kirchen waren meist beliebte Arbeitgeber, Schwierigkeiten gab es sicher, aber die betrafen eher Verfahrensfragen. Zu meiner Anfangszeit war gerade das System der Refinanzierung umgestellt worden – und so war, im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, der Dritte Weg das, was allen Kummer machte. Hält er? Wie soll er weitergehen? Ist er verfassungsgemäß? Aber das Katholische am Krankenhaus? Das Evangelische an der Kita? Das wusste man, was das ist.

Oder besser gesagt: Man hinterfragte es nicht. Diese Frage spielte im Diskurs schlicht keine Rolle. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Aber der Grund, warum es nun notwendig ist, sich darüber Rechenschaft abzulegen, ist sehr klar erkennbar: Europa. Die alte, lange Zeit gültige und nicht bestrittene These Reinhard Richardis: „Das kirchliche Arbeitsrecht ist europafest“, ist überholt. Nein, es ist es nicht. Nicht mehr. Dank der jüngsten Entscheidungen des EuGH und des BAG müssen wir konstatieren: Europa ist im kirchlichen Arbeitsrecht angekommen.

Und dies auf eine für viele sehr überraschende Weise. Denn Art. 17 AEUV war unser aller Leitstern: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Damit war doch alles gesagt. Die WRV und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bleiben, was und wie sie sind. Auch in Europa, das insofern keine Kompetenz für derartige „Kirchenfragen“ erhalten hatte. Doch so einfach ist die Welt heute nicht mehr. Die Union brauchte gar keine Kompetenz in Kirchenfragen – wenn und weil sie eine in Diskriminierungsfragen hat. Und schon war der Weg geebnet für die Richter aus Luxemburg (und Straßburg), Recht zu sprechen, das nicht nur unmittelbar Rechtsfragen kirchlicher Anstellungsverhältnisse betraf, sondern viel tiefer reichte: Die Richterinnen und Richter haben einen Weg gefunden, das Kirchliche in kirchlichen Einrichtungen selbst anzusprechen. Wann ist denn eine Einrichtung noch kirchlich, wenn die Kirche nicht nach ihren eigenen Überzeugungen verlangen und darüber entscheiden darf, wer bei ihr arbeitet und wer nach welchen Maßstäben welche Form von Loyalität beachten muss?

Was macht denn dann noch die Identität aus? Das Profil? Europa stellt Hausaufgaben, die früher so einfach erledigt waren. Das Kirchliche einer Einrichtung ergab sich primär daraus, dass dort Christinnen und Christen arbeiten. Dass der bischöfliche Gesetzgeber vorgeben konnte, welche Loyalitäten gelten. So ist es aber nun nicht mehr. Offensichtlich haben die Luxemburger Richterinnen und Richter mit ihrer ausschließlich diskriminierungsrechtlichen Sichtweise die ebenso wichtige Vorgabe des Art. 17 AEUV zu stark ausgeblendet. Das wird jetzt das Bundesverfassungsgericht klären. Aber unabhängig davon werden die Kirchen daran arbeiten müssen, deutlich werden zu lassen, was ihre Einrichtungen ausmacht.

Wenn es nicht primär die Mitarbeitenden und die Anforderungen sind, die an sie gestellt werden, was aber prägt Profil und Kirchlichkeit einer Einrichtung dann? Und was ist zu tun? Ist es theologisch richtig gedacht, nach einem Profil zu suchen? Und was die rechtliche Seite angeht: Ich habe es bereits mehrfach deutlich gemacht, dass ich der Ansicht bin, dass im evangelischen Raum der bisherige Grundsatz, dass alle Mitarbeitenden evangelisch sein oder zumindest einer Kirche angehören müssen, mit der eine Kirchengemeinschaft besteht, unhaltbar ist und aufgegeben werden muss. Daran scheint mir kein Weg vorbei zu führen, und das ist auch gut so. Ob die bereits erfolgte Änderung der katholischen Grundordnung in Bezug auf die Loyalitätsanforderungen ausreichen wird, ist derzeit unklar.

Doch wäre es viel zu kurz gedacht, sich nur auf derartige Rechtsfragen zu konzentrieren. Es ist Zeit, dass sich die Diskussion um das Evangelische und das Katholische einer Einrichtung aus der juristischen Umklammerung löst. Dafür ist jetzt ein geeigneter Anlass da. Und daher wollen wir diesen Fragen heute nachgehen. Jenseits der juristischen Vorgaben zu den Anforderungen an die Mitarbeit könnten es beispielsweise theologische Konzepte sein für Einrichtungen, die die Identität prägen. Eine Antwort könnte darin liegen, dass Mitarbeitenden Zeiten für Gottesdienstbesuch als Arbeitszeit angerechnet wird. Sie könnte in kleinen, über nur einzelne Stunden gehende religiöse Angebote bestehen. Oder darin, dass man im Sinne der Idee der Gemeinwohlökonomie besonderen Wert auf Nachhaltigkeit legt, zugunsten der Schöpfung, ein urchristliches Thema. In Düsseldorf hat eine Kindertagesstätte der Diakonie jüngst Aufsehen erregt, weil sie einen Imam eingeladen hat, über den muslimischen Glauben zu berichten und ihn zu erklären. Geht das? Verrät man damit nicht die eigene christliche Identität? Die sofort in den Social Media rollende Welle war sich da ganz sicher. Ein merkwürdiger Gedanke, wenn man bereits 30 oder auch 50 Prozent muslimische Kinder in die Kindertagesstätte aufgenommen hat. Der Düsseldorfer Superintendent, Heinrich Fucks, meinte demgegenüber zu der Berechtigung, auch andere religiöse Inhalte in der Kindertagesstätte vorkommen zu lassen, völlig zu Recht: „Das ist unsere evangelische Identität“.

Meine Damen und Herren – ich denke, wir haben genug vor uns. Ich wünsche uns eine ertragreiche Tagung.

II. DAS KIRCHLICHE SELBSTBESTIMMUNGSRECHT ZWISCHEN GRUNDGESETZ, EMRK UND DEM RECHT DER EUROPÄISCHEN UNION

Prof. Dr. Christian Walter

1. Einleitung

Ende März 2019 hat das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtssache Egenberger eingelegt.1 Der Fall betrifft die Frage der konfessionellen Bindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in kirchlichen Einrichtungen. Zusammen mit der sog. Chefarzt-Entscheidung,2 bei der über die Kündigung eines in einem katholischen Krankenhaus beschäftigten Chefarztes wegen dessen Wiederheirat nach einer Scheidung gestritten wird, liefert der Fall Egenberger den Stoff für grundsätzliche Auseinandersetzungen auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen. Zum einen geht es um die Ausgestaltung des kirchlichen Individualarbeitsrechts. Welche besonderen Anforderungen darf ein kirchlicher Arbeitgeber legitimerweise wegen seines religiösen Selbstverständisses an seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen? Angesichts der großen Zahl von Beschäftigten im kirchlichen Bereich ist diese Frage von ganz erheblicher praktischer Bedeutung. Sie steht deshalb zu Recht im Mittelpunkt der heutigen Tagung. Daneben gibt es aber die zweite Ebene des anwendbaren Rechts. Das kirchliche Arbeitsrecht steht an einer in vielerlei Hinsicht sensiblen Schnittstelle: Es geht um Umfang und Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften und damit um verfassungsrechtliche Garantien des Grundgesetzes. Es geht um Grund- und Menschenrechte der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und um die korporative Religionsfreiheit der Kirchen und damit neben dem Verfassungsrecht auch um internationale Menschenrechtsgarantien, namentlich der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und schließlich geht es um eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der religiösen Zugehörigkeit, was wiederum das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union auf den Plan ruft. Die Sache wird dadurch besonders heikel, dass jede dieser Rechtsschichten über ein eigenes Gericht verfügt: Über das Grundgesetz wacht das Bundesverfassungsgericht, über die Europäische Menschenrechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und über das Recht der Europäischen Union der Europäische Gerichtshof.

„Diakonie braucht Rechtssicherheit“, so lautet der Titel eines Blogeintrags, den der Präsident der EWDE, Ulrich Lilie, aus Anlass der Erhebung der Verfassungsbeschwerde verfasst hat.3 Auf die Forderung nach Rechtssicherheit wird man sich recht schnell einigen können, wenn man unterstellt, dass Rechtssicherheit auch ein Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen ist. Aber Rechtssicherheit ist nicht leicht zu erlangen in einem Bereich, in dem so unterschiedliche rechtliche Vorgaben aufeinander abzustimmen und gegebenenfalls in Ausgleich zu bringen sind. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen die Probleme zu strukturieren und abzuschichten, indem zunächst die Prägung und institutionelle Eigenlogik von EGMR, Bundesverfassungsgericht und EuGH als den zentralen gerichtlichen Akteuren analysiert wird (2.). Im nächsten Schritt wird vor diesem Hintergrund die neuere Rechtsprechung des EuGH einer kritischen Würdigung unterzogen (3.). Abschließend wird – knapp – die Frage nach den verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Beurteilung der bereits erhobenen Verfassungsbeschwerde in der Rechtssache Egenberger gestellt und ein Überschreiten des verfassungsrechtlichen Rahmens verneint (4.).

2. Unterschiedliche Rollen und Eigenlogiken von EGMR, Bundesverfassungsgericht und EuGH

2.1 Selbstverständnis des EGMR als Hüter einer pan-europäischen Grundrechtsordnung

Der EGMR ist das gerichtliche Überwachungsorgan einer derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden europäischen Grundrechtsordnung.4 Diese Grundrechtsordnung reicht vom Atlantik bis hinter den Ural. Sie umfasst Staaten mit höchst unterschiedlichen Verfassungs- und Grundrechtstraditionen, die in Bezug auf das Thema „Religion“ ein laizistisches Modell wie das französische ebenso abbilden wie die Church of England oder Staatskirchen und staatskirchenähnliche Strukturen in Skandinavien, Polen, Griechenland oder Irland.5 Der EGMR hat daraus den Schluss gezogen, dass er den Mitgliedstaaten beim Umgang mit Religionsfragen einen weiten Einschätzungsspielraum belässt und diesen nur auf einen gemeinsamen Minimalstandard prüft.6 Mit einem solchen Ansatz hat er das französische Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit ebenso für konventionskonform erklärt7 wie das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in staatlichen italienischen Schulen.8 Außerdem hat er in drei Entscheidungen aus dem Jahr 2010 die Grundstrukturen des kirchlichen Individualarbeitsrechts in Deutschland gebilligt, aber freilich schon damals den Akzent auf die gerichtliche Überprüfung gelegt und damit in einem Fall einen Konventionsverstoß bejaht.9 Dieser besondere Akzent auf der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist in einem spanischen Fall im Jahr 2014 nochmals bestätigt, vielleicht sogar noch verstärkt worden.10 Der Fall, in dem es um einen vom spanischen Staat beschäftigten Religionslehrer im Fach katholische Religion ging, der offen gegen das Zölibatsgebot für katholische Priester eintrat und als inzwischen verheirateter (ehemaliger) katholischer Priester auch persönlich betroffen war, wurde mit der äußerst knappen Mehrheit von 9:8 Stimmen zugunsten Spaniens entschieden, obwohl unter dem Gesichtspunkt der Verkündigungsnähe und unter Berücksichtigung der Aufgaben in der schulischen Lehre wenig Zweifel an der Rechtfertigung einer Nichtverlängerung des Beschäftigungsverhältnisses wegen der Art der konkreten Tätigkeit bestehen konnten.11 In den Gründen wird dabei ausdrücklich die Notwendigkeit der gerichtlichen Kontrolle betont, wenn der Gerichtshof zunächst das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als Grundlage für Loyalitätsobliegenheiten anerkennt, dann aber fortfährt:

„That being said [dass aus dem Selbstbestimmungsrecht Loyalitätsobliegenheiten abgeleitet werden können, C.W.], a mere allegation by a religious community that there is an actual or potential threat to its autonomy is not sufficient to render any interference with its members’ rights to respect for their private or family life compatible with Article 8 of the Convention. In addition, the religious community in question must also show, in the light of the circumstances of the individual case, that the risk alleged is probable and substantial and that the impugned interference with the right to respect for private life does not go beyond what is necessary to eliminate that risk and does not serve any other purpose unrelated to the exercise of the religious community’s autonomy. Neither should it affect the substance of the right to private and family life. The national courts must ensure that these conditions are satisfied, by conducting an in-depth examination of the circumstances of the case and a thorough balancing exercise between the competing interests at stake.“12

In der Gesamtschau ist die Rechtsprechung des EGMR zur korporativen Rechtspositionen von Religionsgemeinschaften nicht zuletzt deshalb besonders bemerkenswert, weil der EGMR – anders als alle mitgliedstaatlichen Gerichte – in Religionsfragen nicht auf eine gewachsene Struktur eines „Religionsrechts“ zurückgreifen kann.13 Solche Rechtstraditionen haben sich in den meisten innerstaatlichen Rechtsordnungen herausgebildet und geben vielfach eine Grundtendenz vor. Die französische Laizität oder auch das deutsche Modell der freundlichen Kooperation sind offensichtliche Beispiele. Der EGMR musste deshalb die kirchliche Rechtsposition in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten überhaupt erst einmal als eine grund- und menschenrechtliche entwickeln, was er in den genannten Entscheidungen (und auf der Basis früherer Rechtsprechung zu ähnlich gelagerten Problemen der korporativen Religionsfreiheit) überzeugend getan hat.14

Insgesamt stellt die EMRK so einen relativ flexiblen Rahmen bereit, in den sich das deutsche kirchliche Arbeitsrecht einfügen lässt. Bei aller Flexibilität muss man allerdings eine wichtige Grenze betonen, die im Erfordernis effektiver gerichtlicher Kontrolle liegt. Schon die Formulierung des Prüfungsmaßstabs im Zitat aus der Entscheidung Fernández Martínez mahnt eine strenge gerichtliche Überprüfung an. Nimmt man die knappe Mehrheit und die deutliche Position in den Minderheitenvoten hinzu,15 so wird deutlich, dass der EGMR den Mitgliedstaaten zwar unter Heranziehung des Konzepts der margin of appreciation durchaus Spielraum bei der Ausgestaltung der arbeitsrechtlichen Beziehungen mit und durch Religionsgemeinschaften gewährt, ihnen zugleich aber auch in Bezug auf die Gewährung von Rechtsschutz klar formulierte Grenzen setzt.

2.2 Das Bundesverfassungsgericht in der Tradition des religionsoffenen und kirchenfreundlichen Grundgesetzes

Wie bereits erwähnt, stellt sich die Ausgangslage für das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich anders dar. Es operiert in einem gewachsenen und gefestigten verfassungsrechtlichen Rahmen, der im Falle des Religionsrechts bis in das Jahr 1919 zurückreicht. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist in Art. 137 Abs. 3 WRV garantiert und steht dementsprechend im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, die bis heute maßgeblich durch eine Entscheidung aus dem Jahr 198516 geprägt wird.

Es gibt gute Gründe dafür, diese religionsoffene Tradition für die Bewältigung der gegenwärtigen Integrationsaufgaben in Deutschland fortzuschreiben.17 Es ist aber auch offensichtlich, dass dies nicht überall und ganz einhellig so gesehen wird, sondern dass vielmehr durchaus unterschiedliche Positionen über den richtigen Umgang mit dem Thema „Religion“ in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten in Deutschland bestehen. Man muss insoweit nur an die Diskussionen um muslimischen Religionsunterricht oder islamische Theologie an staatlichen Universitäten erinnern, von Kopftüchern in Schule oder Gerichtssaal ganz zu schweigen. Es war nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht selbst, das – durch seinen Zweiten Senat – in seiner ersten Kopftuchentscheidung aus dem Jahr 2004 eine auf stärkere Trennung und auf Distanz ausgerichtete Neutralitätskonzeption ins Spiel gebracht hatte,18 inzwischen aber mit der – vom Ersten Senat beschlossenen – zweiten Kopftuchentscheidung wieder den offenen und religionsfreundlichen Grundcharakter des Grundgesetzes betont.19

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen religionsverfassungsrechtlichen Entwicklungen wirkt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht aus dem Jahr 2014 merkwürdig aus der Zeit gefallen. Die spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts intensiv geführte Debatte um den richtigen Umgang mit Religion, insbesondere mit dem Islam, spiegelt sich in der Entscheidung auch nicht ansatzweise wider. Das Gericht zitiert mit großer Selbstverständlichkeit die staatskirchenrechtlichen Klassiker aus der Literatur und aus seiner Rechtsprechung aus den 1970er und 1980er Jahren. So heißt es etwa unter Berufung auf die berühmte Lumpensammler-Entscheidung aus dem 24. Band20:

„Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als korporative Ausübung von Religion und Weltanschauung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anzusehen ist, muss der zentralen Bedeutung des Begriffs der "Religionsausübung" durch eine extensive Auslegung Rechnung getragen werden.“21

Wenig vorher heißt es:

„Der Staat erkennt die Kirchen in diesem Sinne als Institutionen mit dem originären Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten.“22

Auffällig ist auch, dass die Entscheidung – wie auch an der zitierten Stelle – fast ausschließlich von den „Kirchen“ spricht. Der Begriff der Religionsgemeinschaften wird nur sehr sparsam verwendet.23 Macht man aber mit der Gleichheit aller Religionen (und Weltanschauungen, Art. 137 Abs. 7 WRV) ernst (und diese Gleichbehandlung ist ausdrücklicher Bestandteil der Weimarer Bestimmungen, die von der „Kirche“ nur im Kontext des Verbots einer Staats “kirche“ sprechen, im Übrigen aber die Begriffe Religionsgesellschaft und Weltanschauungsgesellschaft verwenden), dann müssen sich die Aussagen für alle Religionen und Weltanschauungen verallgemeinern lassen. Aber kann man das so ohne Weiteres annehmen? Hätte das Gericht wirklich die Wendungen vom „originären Recht der Selbstbestimmung“ und von der „ihrem Wesen nach vom Staat unabhängigen Gewalt“ mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch für Moscheegemeinden formuliert? Hätte es vor dem Hintergrund der Debatten um Kopftuch und Burka auch mit Blick auf den Islam eine „extensive Auslegung der Religionsfreiheit“ gefordert?

Mit dieser kritischen Betrachtung der Entscheidung aus dem Jahr 2014 soll in keiner Weise die Grundprämisse von der großen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften in Frage gestellt werden und es soll auch nicht bezweifelt werden, dass dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft eine zentrale Bedeutung zukommen muss.24 Gerade wenn der Staat seinen Charakter als „säkularer Staat“ bewahren will (und dies zu tun ist in einer religiös pluralen Gesellschaft unerlässlich)25, dann darf er sich nicht zum Interpreten von Glaubenslehren machen und darüber entscheiden, „was die wahre Religion fordert oder die Religion in Wahrheit fordert.“26 Auch insoweit liefert die Chefarzt-Entscheidung aus dem Jahr 2014 zweifelhafte Passagen. Das Gericht erweckt zumindest in den Formulierungen den Eindruck als mache es sich die Konzepte der „tätigen Nächstenliebe“27 und der christlichen Dienstgemeinschaft selbst zu eigen.28

Umgekehrt führt aber eben auch kein Weg daran vorbei, dass bei kollidierenden Grundrechtspositionen am Ende eine staatliche Stelle eine Entscheidung treffen muss. Dieser Rechtsschutzaspekt wird in der zitierten Entscheidung des EGMR deutlicher akzentuiert als es das Bundesverfassungsgericht in seiner Darstellung der Rechtsprechung des EGMR wahrhaben will,29 wenn es betont, das staatliche Gericht muss „bei der Gewichtung religiös geprägter Abwägungselemente (z.B. spezifische Nähe der Tätigkeit des Arbeitnehmers zum Verkündigungsauftrag) den Standpunkt der verfassten Kirche und Religionsgemeinschaft seiner Entscheidung zugrunde legen, sofern es hierdurch nicht in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung gelangt“.30

Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht 2014 eine Gelegenheit verpasst, der grundsätzlich begrüßenswerten offenen Haltung gegenüber dem religiösen Selbstverständnis eine moderne und verallgemeinerungsfähige Begründung zu verleihen. Gerade weil fast ausschließlich von den Kirchen (statt allgemeiner von Religionsgemeinschaften spricht) die Rede ist, liest sich die Entscheidung wie ein Sonderrecht für die christlichen Kirchen. Der Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Gericht zwar mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzt, aber das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union mit keinem einzigen Wort erwähnt, obwohl das AGG und die Richtlinie 2000/78/EG erkennbar einschlägig waren und im fachgerichtlichen Verfahren eine erhebliche Rolle gespielt hatten.31 Dass man mit solch einem „Retrotrip mit Variationen“32 vor dem EuGH kein Gehör gefunden hat, darf eigentlich niemanden überraschen.33

2.3 Der EuGH als Motor der Integration und als Hüter des europäischen Antidiskriminierungsrechts

Rolle und Perspektive des EuGH unterscheiden sich wiederum grundlegend sowohl von derjenigen des EGMR als auch von derjenigen des Bundesverfassungsgerichts. Im Grunde genommen haben Fragen der Religion für den EuGH bis vor wenigen Jahren kaum eine Rolle gespielt. Abgesehen von einem frühen dienstrechtlichen Fall,34 wurde der EuGH erst in den vergangenen Jahren intensiver mit Auswirkungen der Religionsfreiheit oder des mitgliedstaatlichen Religionsrechts konfrontiert. Dessen ungeachtet haben gerade die deutschen christlichen Kirchen potentielle Auswirkungen des Unionsrechts schon sehr früh bedacht und bei der Rechtserzeugung auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen versucht. Gerade die vorliegend umstrittenen Regelungen in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/7835 und in Art. 17 AEUV gehen auf die Aktivitäten der beiden christlichen Kirchen zurück, die maßgeblich aus Deutschland angestoßen und betrieben wurden.36

Für den EuGH waren und sind die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung und ihre Durchsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten die entscheidenden Parameter. In der Literatur ist insoweit von einer „gelegentlich kühn vorwärtsweisenden weitsichtigen Rechtsprechung“ die Rede.37 Das Selbstverständnis der früheren EWG als Wirtschaftsgemeinschaft wirkt vielfach noch in der Rechtsprechung nach, auch wenn insbesondere mit dem Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts zahlreiche Rechtsfragen von grundsätzlicher rechtsstaatlicher Bedeutung verbunden sind.38 Hinzu kommt, dass das Unionsrecht immer als eine Querschnittsmaterie verstanden wurde, die Einfluss auf die unterschiedlichsten Teilgebiete des innerstaatlichen Rechts hat. Der EuGH hat dabei durchgängig keine Rücksicht auf vermeintlich nicht von den Unionskompetenzen erfasste Rechtsbereiche genommen und insbesondere die Grundfreiheiten flächendeckend durchgesetzt. In der Gesamtschau ist diese Rechtsprechung überzeugend.39 In ihr finden sich dementsprechend zahlreiche Beispiele, in denen nicht in die Zuständigkeit der Union fallende Bereiche von Auswirkungen der Grundfreiheiten oder anderen Regelungen des Unionsrechts erfasst sind. Ein frühes Beispiel betrifft das Verwaltungsprozessrecht.40 Besonders intensiv wurden die Auswirkungen des Diskriminierungsverbots auf den Zugang von Frauen zu Streitkräften diskutiert.41 Auch das Steuerrecht ist ein Beispiel.42 Im Ergebnis ist es sicher nicht falsch, wenn dem EuGH aufgrund dieser Tradition unterstellt wird, er zeige wenig Sensibilität für die Besonderheiten religionsrechtlicher Fragestellungen.43 Die Urteile zum Kopftuch am Arbeitsplatz lassen sich jedenfalls gut in diesem Sinne deuten.44

Ein Weiteres kommt hinzu: Anders als der EGMR hat der EuGH nie eine eigene Dogmatik der Verschiedenheit und der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten entwickelt. Bei aller Unübersichtlichkeit und allen Schwierigkeiten der Konturierung im Einzelfall liefert die vom EGMR verwendete Doktrin der margin of appreciation doch zumindest einen Anhaltspunkt für die Zurücknahme der euopäischen gerichtlichen Kontrolle. Beim EuGH lassen sich zwar verstreute Ansätze für eine ähnliche Form der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten finden,45 eine entsprechende Dogmatik gibt es aber bislang nicht und der EuGH hat sich auch nicht darum bemüht, die vom EGMR gerade für religionsrechtliche Fragen angelegte Spur46 aufzunehmen und unionsrechtlich weiterzuverfolgen.47

2.4 Zwischenfazit

In einem kurzen Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Perspektiven der drei maßgeblichen Gerichte sehr unterschiedlich sind. Während der EGMR sich auf die Festlegung und Durchsetzung eines im gesamten Europa der 47 Europaratsstaaten akzeptablen Mindestmaßstabs beschränkt und dementsprechend einen beträchtlichen Ausgestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten im Rahmen der margin of appreciation akzeptiert, versteht sich der EuGH als Hüter der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung, zu der er insbesondere auch die Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts der Union rechnet. Dementsprechend ist die Kontrolldichte höher und die Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten geringer. Das Bundesverfassungsgericht wiederum judiziert auf der Basis gewachsener religionsrechtlicher Strukturen, zu denen in Deutschland eine religionsoffen verstandene Neutralität und die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften gehören. Im konkreten Fall des kirchlichen Arbeitsrechts hat es aber in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 versäumt, die Begründung für diese religionsfreundliche Herangehensweise an die geänderten Bedingungen einer religiös pluraleren und (in nicht unerheblichen) Teilen auch säkulareren Gesellschaft anzupassen.

3. Maßgebliche Weichenstellungen in der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Egenberger (C-414/16) und IR (C-68/17) und ihre Auswirkung auf die deutsche Rechtslage

Im Folgenden werden die maßgeblichen Weichenstellungen durch den EUGH beschrieben, kritisch gewürdigt und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage analysiert. Zum einen geht es um die Auslegung der Ausnahmeklausel in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (3.1), zum zweiten um den Umfang des gerichtlichen Rechtsschutzes (3.2) und zum dritten um die Bedeutung des sog. „Kirchenartikels“ in Art. 17 AEUV (3.3.).

3.1 Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (EG) und Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften

3.1.1 Die Vorgaben des EuGH

Ausgangspunkt für die Auslegung muss zunächst einmal der Wortlaut der Ausnahmeregelung sein. Wie nicht selten im Unionsrecht ist dieser umständlich und bei Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (EG) zudem auch sehr lang. Die Vorschrift lautet: