Identitätskonzepte in der Literatur -  - E-Book

Identitätskonzepte in der Literatur E-Book

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Beschreibung

Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig ideologisch vereinnahmt und politisch instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund perspektivieren die Beiträge des Bandes den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Literatur ist seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen. Dies gilt vor allem für Literatur mit regionalem Bezug, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z. B. der Heimatliteratur, entwickelt haben. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Funktion der Konstitution und Stiftung von Identität durch die Literatur. Sie schlagen einen Bogen von den Anfängen eines Identitätsdiskurses bis in die unmittelbare Gegenwart und betrachten Texte mit der Perspektive auf bestimmte Autor*innen, Regionen, Ethnien oder Themenkomplexe.

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Hermann Gätje / Sikander Singh

Identitätskonzepte in der Literatur

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2512-8841

ISBN 978-3-7720-8722-6 (Print)

ISBN 978-3-7720-0162-8 (ePub)

Inhalt

VorwortI.Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als ParadigmaKarl Hans Strobl: Der FenriswolfSchriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er JahreIdentität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der RuhrgebietsliteraturI. AusgangsüberlegungenII. Identität (inter-)diskurstheoretisch denkenIII. Identitäten in der RuhrgebietsliteraturDas Institut „Moderne im Rheinland“ – Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer „Rhetorik der Region“Ein Blick in die Geschichte des Instituts „Moderne im Rheinland“Die Aktualität der RhetorikDie Rhetorik als „Lehre“ zur IdentitätsfindungLiteraturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien – Mit einem Fokus auf die Matrix des An-Instituts „Moderne im Rheinland“II.Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von HumanitätAufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774)I. Zur Einführung. Lenz’ Neuer Menoza: Nichts ist, wie es scheint?II. Aufklärerische Identitätsentwürfe als (trans-)nationale GründungsmythenIII. Anti-aufklärerische Identitätsentwürfe und anti-(trans-)nationale Gründungsmythen?IV. Anstelle nationaler Gründungsmythen: Familie und WeltbürgertumV. Deutsche:r – Europäer:in – Weltbürger:in? Lenz’ Neuer Menoza als „Mischmasch“ unterschiedlicher IdentitätsentwürfeDas Faustische Streben als Vermittlung von Identität und DifferenzI. Goethe und FichteII. Methode und ForschungsüberblickIII. Das erkenntnistheoretische Programm der WissenschaftslehreIV. Identität und Differenz in der Wissenschaftslehre und im FaustV. Die Vermittlung von Identität und Differenz innerhalb der limitativen DialektikVI. Mensch-Sein als aussichtslose WetteVII. Fazit und AusblickIdentität und Entität: Zu Annette von Droste–Hülshoffs Novelle Die JudenbucheI.II.III.IV.Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus bei Berthold AuerbachWechselwirkungen zwischen Individuum und DorfgemeinschaftEmanzipation des Individuums, der Dorfgemeinschaft, der religiösen Gemeinschaft, der NationErschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern: Identitätskrisen in Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik) und Stifters Der CondorSelbstkopie und Fremdspiegelung im fremden (Schrift)RaumVerkehrte Selbstporträts durch Perspektivenwechsel„Kehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde“ – Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und ScheffelHeine und die Folgen: Die gebrochene jüdische Identität im magischen Medium der SpracheI. Auftakt: Heines Stellung zwischen Judentum und ModerneII. Engführung: Fliegender Holländer und Kafkas Gracchus als jüdische RevenantsIII. Coda: Von Mauscheln, Musik und MäusenZur Problematik kulturbezogener Identität am Beispiel von Clara Viebigs Roman Die Wacht am RheinIm Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am RheinI. VielheitII. GrenzenIII. SchreibweisenIV. Schluss: Die Vielheit des EinenDeutsche, Französin, Elsässerin, Lothringerin – oder einfach nur Frau? – Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich in Antwort auf die „Kriege der Männer“I. EinleitungII. Literaturbeispiele: Zwischen Nationen/RegionenIII. Abschluss: Michel und Marianne. Ethnopluralismus oder Europäisches Ur-Paar?Identität und Identifizierung national – sozial – global: Ausweise und Pässe in Texten von Anna Seghers – Saul Friedländer – Louis BegleyPolyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘I. EinleitungII. Der Autor als ‚Figur‘III. Der Begriff der PolyphonieIV. Beispiele der sprachlichen Differenzierung des Autors als ‚Figur‘Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm GenazinosI. Individuum? Subjekt? Selbst?II. Zwei Modernen, drei Kränkungen, vier SelbstbehauptungsräumeIII. „Zerbröckelung“, „Zerfaserung“, „Ausfransung“: Depersonalisation und Dissoziation bei GenazinoIV. Kohärenz(bestreben)V. (Problematische) selbstbehauptende Verhaltensstrategien„Ich ist ein Anderer.“ – Identitäre Krisen im Kontext von MigrationsgeschichtenI. Das fremde Ich im Spiegel. Psychologische Identitätsbildungsprozesse im Kontext von MigrationsbewegungenII. Das Motiv der Ich-Spaltung in Migrationsgeschichten der GegenwartEntfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart – Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019)

Vorwort

Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig vereinnahmt und (tages)politisch instrumentalisiert. Die daraus abgeleitete „Identitätspolitik“ gilt vielen mittlerweile als Chiffre für eine gesellschaftliche Polarisierung und argumentative Kompromisslosigkeit. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat sich in zahlreichen Schriften sachlich mit den gegenwärtigen sozialen Phänomenen beschäftigt, die unter dem Zeichen der Identitätsdebatte stehen:

Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY.

Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität.1

Die Beiträge des vorliegenden Bandes perspektivieren vor diesem Hintergrund den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Fokus auf die Literatur ist hierfür in besonderer Weise geeignet, weil dieser seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen ist. Vor allem der Literatur mit regionalem Bezug kommt in diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z.B. im Hinblick auf das Genre Heimatliteratur, entwickelt haben. Die aktuelle Literaturproduktion belegt, dass die politische Debatte nicht ohne Spuren geblieben ist. Unter den Neuerscheinungen finden sich signifikant häufig Texte, die sich thematisch auf identitätsstiftende Faktoren wie Geschlecht, Generation, Ethnie, soziale Schicht oder geographische Herkunft fokussieren.

Indem die Funktion der Konstitution wie der Stiftung von Identität durch die Literatur vergleichend und epochenübergreifend betrachtet wird, werden signifikante Aspekte und Tendenzen aktueller Diskussionen hinterfragt und vertieft: Wie verhalten sich regionale Identitätskonzepte mit geschlechts-, gruppen- oder generationsbezogenen Entwürfen, die sich in der Literatur nachweisen lassen? Im Hinblick auf die regionale Referenz stellt sich weitergehend die Frage, ob sich gleichermaßen antagonische und analoge Identitätsentwürfe wie „Europäer:in“ oder „Weltbürger:in“ mit der zunehmenden Globalisierung und kulturellen Vernetzung herausgebildet haben und sich in ein literarisches Programm fassen lassen?

Weil bereits der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent ist, diskutieren die Beiträge des Bandes darüber hinaus Konzeptualisierungen und Diskursfelder von Identität im Werk einzelner Autorinnen und Autoren.

 

Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im November 2019 nach Saarbrücken eingeladen hat. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank.

Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.

 

Saarbrücken, im Sommer 2021

Hermann Gätje und Sikander Singh

I.

Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma1

Jörg Krappmann, Olomouc

Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanalytisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück.2 In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart – wie nicht anders zu erwarten – Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümierenden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“.3 Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktionsverhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist ungelesen blieben.4 In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung.

Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt,5 in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturregion ihren Ausgangspunkt nahmen,6 ist zum einen der Dichotomisierung zwischen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgrenzungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft verfügt.7

Zum anderen war diese Region von jeher von (nicht nur) kulturellen Austauschprozessen geprägt. Das liegt zum einen an der interethnischen Konstellation der Bevölkerung, die neben kleineren Minderheiten auf einem Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden beruht. Zum anderen auf einer Mittellage zwischen den lange Zeit preußisch dominierten deutschen Gebieten auf der einen und der Habsburger Monarchie auf der anderen Seite, wobei sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine kulturelle Eigenständigkeit artikulierte. Durch den Aufstieg des Nationalgedankens, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts zum hegemonialen Dispositiv des Nationalismus entwickelt hatte, wurden die soziopolitischen Verhältnisse prekär, da eindeutige nationalkulturelle Positionierungen präferiert und landespatriotische oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu.8

Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf

Karl Hans Strobl (1877–1946) ist heute – wenn überhaupt – noch aus zwei Gründen bekannt. Einerseits als früher Vertreter einer deutschsprachigen literarischen Phantastik (Die Eingebungen des Arphaxat 1904; Eleagabal Kuperus 1910), andererseits wegen seiner späteren Verstrickung in den Nationalsozialismus, dem er als auslandsdeutscher Vorzeigeautor galt.1 Der Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn sah ihn aber – für die österreichische Literatur ungewöhnlich – als engagierten Vertreter einer spezifisch deutschen Moderne unter naturalistischem Vorzeichen. Zu seinen ersten Publikationen zählten Essays über das Kunstprinzip von Arno Holz oder die Integration einer buddhistischen Weltanschauung in die lebensreformerisch geprägte Modernedebatte. Aus dieser Frühzeit stammt auch sein 1903 erschienener autobiographischer Schlüsselroman Der Fenriswolf, in dem Strobl vier Schriftstellerexistenzen skizzierte und damit vier Lebenswege aufzeigte, wie in einer Kleinstadt der böhmisch-mährischen Grenzregion, in der unschwer Strobls Geburtsstadt Iglau/Jihlava zu erkennen ist, ein Leben als moderner Künstler möglich werden konnte. Die einzelnen Schriftsteller konnten inzwischen identifiziert werden, so dass diesen Konzeptionen zu einem gewissen Grad empirische Authentizität zugesprochen werden kann.2

Ein aus Wien zugezogener Autor fungiert zu Beginn der Handlung als Katalysator für die beiden ortsansässigen Schriftsteller. Zu dritt gründen sie den titelgebenden Dichterbund Fenriswolf – der Name entstammt der nordischen Mythologie – auf dessen Zusammenkünften sie thematische Versatzstücke der Moderne um 1900 in die städtische Gesellschaft tragen. Die Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Jens Peter Jacobsen werden diskutiert, die zeitgenössische Kunst und Musik sowie die Problematik des Eros, aber auch die Frauenemanzipation und die sozialen Konsequenzen des neuen darwinistischen Weltbildes. Dadurch geraten sie rasch in Konflikt mit dem Pragmatismus der Stadtbürger, die noch den Werten und Regeln der vormodernen Gesellschaftsformation verpflichtet sind. Alle drei Autoren werden als Außenseiter behandelt, da sie Identitätskonstruktionen anstreben, die zunächst nicht mit der bürgerlichen Norm korrelieren. Im Verlaufe der Romanhandlung ergeben sich daraus wiederum zunächst drei differente Identitätsstrategien, die ich, um von der allzu kleinteiligen Figurenebene des Regionalromans zu abstrahieren, als Modellautoren anspreche:

Modellfall 1 beharrt auf der Höherwertigkeit seiner Künstlerexistenz. Er setzt seine moderne Weltanschauung absolut und versteht seinen Weg als Exempel, dem die Bürger folgen sollen. Er wird dadurch vom Außenseiter zum Ausgegrenzten. Trotz eines (einmaligen) Erfolgs in der Fremde bleibt ihm die lokale Anerkennung versagt. Die Romanfigur stirbt schließlich vereinsamt und zeigt so überdeutlich das Scheitern dieses Weges an.

Modellfall 2 ist die autobiographische Referenzfigur von Strobl. Er tritt nicht offensiv als „Herold einer neuen Zeit“ auf wie Modellfall 1, verkriecht sich aber auch nicht in den Elfenbeinturm, sondern erreicht in individuellen Austauschbeziehungen und kulturellen Verhandlungen eine Koexistenz mit dem Bürgertum. Da er die bürgerlichen Lebensentwürfe akzeptiert, wird ihm zugestanden, seine abweichende Identität als Künstler zu verteidigen, falls er sie in Frage gestellt sieht. Dagegen vertritt Modellautor 1 ein emphatisches Künstlerverständnis, das bereits auf die Avantgarde vorausdeutet. Zwar sind die avantgardistischen Bewegungen – noch dazu in der Frühphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht heterogen, aber doch in dem Ziel verbunden, gegen das traditionelle Kunstverständnis des Bildungsbürgertums aufzubegehren.3 Diese soziale Schicht fällt aber in Strobls Modellkleinstadt aus, womit der Romantext die realen Verhältnisse regionaler Gesellschaften in den Böhmischen Ländern hyperbolisiert. In Bezug auf Karoline von Günderrode, also in gänzlich anderem Zusammenhang prägte Christa Wolf die Formel von einer „Avantgarde im Hinterland“,4 deren Bildlichkeit aber auch auf die hier beschriebene Situation angewendet werden kann. Während Modellautor 1 sich im ursprünglichen Wortsinn von Avant-garde als Vorhut der Moderne in der Provinz sieht, akzeptiert Modellautor 2 die mangelhaften Voraussetzungen für eine offene Propagierung moderner Ideen und schafft sich neben seiner Künstleridentität auch eine stabile bürgerliche Identität, wodurch er in der Lage ist, die eigenen Ansprüche der Zusammensetzung unterschiedlicher Rezipientengruppen anzupassen.

Modellfall 3 ist ein aus der Metropole, in diesem Fall Wien, aufgrund einer Versetzung gleichsam von Amtswegen in die Kleinstadt geratener Dichter. Die Genese zum Künstler erfolgte hier vor der regionalen Fixierung und wird als solche nicht angezweifelt. Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung kommen somit zur Deckung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen zur Modellierung einer künstlerischen Identität zeigt folgender Gesprächsausschnitt, in dem bereits die Anrede eine vorab vorgenommenen Höherwertung des Wiener Autors impliziert: „Bei Ihnen, Herr Doktor, da is was andres … Sie sind ein Dichter … Aber der Klappenbach [d. i. der gescheiterte Modelfall 1], den haben wir doch all Tag g’sehn … und wissen, was er macht. Woher soll er’s denn haben.“5

Auf den Wert von interurbanen Migrationsbewegungen für die Literatur und Kultur der Habsburger Monarchie hat zuletzt Alexandra Millner in ihren Studien zu Transdifferenz und Transkulturalität hingewiesen und man könnte auch hinsichtlich Modellfall 3 von einer positiven Integration durch Migration sprechen.6 Allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens macht der Wiener Dichter, der eine Avantgarde im Hinterland grundsätzlich für ein unsinniges Unterfangen hält, keinen Hehl daraus, dass er die Stadt bald möglichst wieder verlassen wird. Sein manchmal exzentrisches Verhalten wird deswegen als vorübergehender Unterhaltungseffekt für die städtische Gesellschaft verbucht, da eine dauerhafte und dann möglicherweise problematische Integration in das ortsansässige Bürgertum von beiden Seiten nicht angestrebt wird. Zweitens liefert die Romanhandlung auch einen Modellfall für eine gescheiterte Migration. Der Finanzkonzipist Neumann entpuppt sich nämlich im Laufe der Handlung ebenfalls als Schriftsteller, der versuchte, in Wien Fuß zu fassen, aber sich zwischen Literatencafés und Salonkultur in der Kulturtopographie der Habsburgermetropole nicht etablieren konnte. Nach der Rückkehr des Erfolglosen in seine Heimatstadt erlauben ihm die Schranken des bürgerlichen Wertekanons nicht einmal mehr den Anschluss an den Fenriswolf, sondern lediglich noch das Verfassen von anzüglichen Sketchen für den als Laientheater getarnten Männerverein, der an der künstlerischen Betätigung vor allem die sich anschließenden Saufgelage schätzt. Im Gegensatz zum tödlichen Ende von Modellautor 1 stirbt er zwar nur den geistigen Tod als verhinderter Schriftsteller, aber die daraus hervorgehende individuelle Tragik wird in zwei längeren monologischen Passagen eindringlich aufgezeigt.

An dieser Stelle muss die Abstraktionsebene kurz in Richtung regionalliterarischer Kleinteiligkeit verlassen werden. Während Modellautor 1 in Josef Trübswasser (1867–1902), Modellautor 3 in Egid Filek von Wittinghausen (1874–1949) und Modellautor 2 in Strobl selbst ihre kaum verschlüsselten Vorbilder klar erkennen lassen, scheint Modellautor 4 keine reale Grundlage zu besitzen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Finanzkonzipisten Neumann im Text und Karl Hans Strobl, der kurz vor Abfassung des Romans in derselben Rangstufe in die Gebührenbemessungsstelle der Finanzverwaltung in der Mährischen Landeshauptstadt Brünn eingetreten war. In gewisser Weise deutet Strobl also aus rückschauender Perspektive und räumlicher Trennung vom Handlungsgeschehen die Instabilität seines Identitätskonstruktes an, das durchaus die Gefahr zum Scheitern in sich getragen hätte.7

Aus Argumentationsgründen kann die narrative Struktur des Romans hier nicht näher dargestellt werden. Ebenfalls nur angedeutet werden kann das erhebliche Potential an Selbstreferentialität des Textes, das u.a. dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Modellautor 1 sich auch durch das Abfassen eines investigativ-polemischen Stadtromans endgültig mit der Bevölkerung vor Ort überwirft. Er schreibt also als Figur des Romans von Strobl genau den Schlüsselroman selbst, in dem er als Figur auftritt. Festzuhalten bleibt aber, dass die in Strobls Roman vorgeschlagene Lösungsstrategie für konkurrierende Identitätsentwürfe nicht in einer Verschmelzung zu einer homogenen Identität besteht, sondern in einer akkumulativen Aneignung und Aufrechterhaltung mehrerer Identitäten.

Die dialogischen Auseinandersetzungen im Fenriswolf sind vergleichbar mit den prozessualen Strukturen der Identitätstheorie von Habermas, der in kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Rollentheorie das von Erik Erikson erstellte psychoanalytische Modell in Hinsicht auf eine Theorie der Sozialisation und der Moralentwicklung präzisierte.8 Nach Habermas gründet die Kompetenz zur Identitätsbildung darin, „auch unter Belastungssituationen Krisen der Ich-Struktur durch Umstrukturierung zu lösen und die Ichorganisation auf einer höheren Ebene wieder zu stabilisieren“.9 Das Ziel ist für Habermas der Aufbau einer konsistenten und kontinuierlichen Identität, so dass eine situative Segmentierung bzw. eine „Abschnürung der unvereinbaren Lebensbereiche“ lediglich als letzter Ausweg akzeptiert werden kann.10 In Strobls regionaler Sichtweise erscheint aber gerade die Segmentierung als erfolgversprechendste Strategie, weil sie auf die Zielvorstellung einer konzisen Identität verzichtet und die Segmentierung als Akkumulation begreift, die nicht Einschränkung auferlegt, sondern Variabilität verspricht. Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass in Strobls Modell die Künstleridentitäten zwar als krisenhaft wahrgenommen werden können (Modellautor 1, teilweise Modellautor 4), es aber die Krise und deren Überwindung nicht voraussetzt. Das – hier freilich nur angedeutete – Modell einer Identitäts-Akkumulierung schwächt sogar die Gefahr identitätskritischer Kollisionen mit Normsystemen anderer sozialer Gruppen ab, indem Mehrfachidentitäten angehäuft werden können, die zu einer Kontrolle der identitätsbezogenen Selbst- und Fremdbilder durch variable Steuerung der eingesetzten Identitätskonstruktion befähigen. Letzteres ist notwendig, da anhand regionaler Kontexte sichtbar wird, dass die Identitätszuschreibungen durch Andere maßgeblich den individuellen Identitätsbildungsprozess beeinflussen, wenn nicht sogar bestimmen.

Das kann noch verdeutlicht werden anhand der Schriftstellerin Marie Knitschke, die im Gegensatz zu den angeführten vier männlichen Modellautoren Strobls in realiter noch die Vorbehalte gegenüber weiblichen Akteuren im Kulturbetrieb Ende des 19. Jahrhunderts überwinden musste. In Erlebtes und Erdachtes (1892) publizierte sie Skizzen und Aphorismen, die in ihrer Modernität weit über das Maß an Exaltiertheit hinausgingen, welches die Einwohner in der Kleinstadt Mährisch-Schönberg, in der sie als Musiklehrerin arbeitete, zu akzeptieren bereit waren. Sie erschrieb sich ihre schriftstellerische Freiheit, indem sie – ähnlich dem vierten Modellautor Strobls – Salonstücke für den örtlichen Damenverein und kleine Dramen sowie Zeitungsartikel zur Heimatgeschichte der Stadt verfasste. Ihrer lokalen Gebundenheit entfloh sie in umfangreichen Briefwechseln mit Persönlichkeiten der modernen Kulturszene: u.a. Gerhart Hauptmann, Anton Bruckner und Edvard Grieg, dem auch ihre Aphorismenbände gewidmet sind.

Knitschkes Biographie und Strobls autobiographischer Roman belegen, dass sich künstlerische Ambitionen außerhalb der wenigen anerkannten modernen Metropolen wie Paris, London, Berlin und bereits mit Abstrichen Wien, zunächst kompensatorisch mit den konkreten Erwartungen des soziokulturellen Umfelds auseinandersetzen mussten. In den Böhmischen Ländern war diese „Anpassungsleistung“ für deutschsprachige Autoren umso drängender, da auch die Hauptstadt Prag um 1900 keineswegs großstädtische Bedingungen aufwies. Zum Vergleich: Um 1900 lebten in Prag ca. 10.000 nichtjüdische Deutsche und damit etwas weniger als in Mährisch-Schönberg, dem Wohnort Knitschkes. Dazu kamen noch 11.000 Juden, die sich in den amtlichen Zählungen zur deutschen Umgangssprache bekannten, aber auch dadurch werden nicht die 25.000 Einwohner der Kreisstadt Iglau erreicht, in der Strobls Roman spielt. Obwohl der Kulturbetrieb in Prag stärker institutionalisiert und freilich auch vielfältiger war, lassen sich deshalb innerhalb der Prager Literatur dieselben Mechanismen nachweisen, wie sie Strobl paradigmatisch für die Region Mähren beschreibt und selbstverständlich treten auch die vier Modellautoren in Erscheinung. Natürlich fehlen in der Literatur aus Prag auch nicht die heimatgeschichtlichen Referenzen, mit denen Marie Knitschke ihr modernes Schreiben rechtfertigte: von Rainer Maria Rilkes urbane Landschaft und Bevölkerung gleichsam verklärenden Larenopfern und Franz Kafkas Erzählung Das Stadtwappen über Oskar Wieners Alt-Prager Guckkasten und die fiktionalen Stadtreportagen Egon Erwin Kischs bis zu den Romanen Der Stadtpark von Hermann Grab oder Der Golem von Gustav Meyrink.

Auch die Autoren Prags unterliegen also den regionalen Identitätsmodellen, aber sie werden – und das ist die Crux, mit der regionalorientierte Ansätze immer noch zu kämpfen haben – von der Literaturwissenschaft nicht ebenso behandelt. Einerseits wird die regionale Verortung bei den Exponenten der sogenannten Prager deutschen Literatur gerne verschwiegen. So bietet das bei Metzler erschienene Rilke-Handbuch als kulturräumliche Kontakte zwar Beiträge zu u.a. Ägypten, Italien, Skandinavien und Spanien an, aber keinen zu den Böhmischen Ländern.11 Das mag vordergründig damit zu rechtfertigen sein, dass Rilke selbst die frühen Prager Arbeiten aus den entstehenden Werkausgaben redigierte, weil sie nicht den Blick auf die späteren Leistungen trüben sollten. Allerdings bezieht Rilke diese kritische Haltung nur auf die Texte, nicht auf die eigene Stellung im soziokulturellen Kontext der Böhmischen Länder. Seine Unterstützungsanträge bei der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen zwischen 1899 und 1913 erweisen ihn als ebenso interessierten wie kundigen Teilnehmer an den regionalen Debatten.12 Wird bei Autoren wie Rilke also der Anteil regionaler Phänomene am Prozess der Künstlerwerdung ausgeblendet, so wird bei denjenigen, die es nicht in den rezenten Kanon der deutschen Literatur geschafft haben, gerade der Teil der literarischen Arbeit überbetont, mit dem sie sich innerhalb eines regionalen Gefüges in ihrer Künstleridentität legitimierten. So führte beispielsweise der im gleichen Maße erfolgreiche wie belanglose Dorfroman Der Glockenkrieg dazu, dass sein Verfasser Ernst Wolfgang Freissler als provinzieller Heimatliterat eingestuft wurde. Wegen dieser minderen Qualifizierung wird dann erst gar nicht in Erwägung gezogen, dass Freissler in anderen Texten einen komplexen Umgang mit fremdkulturellen Sichtweisen hätte entwickeln können, wie sie kulturwissenschaftliche und postkoloniale Lesarten privilegieren. Während Joseph Conrad, dessen Texte durch die Übersetzungen Freisslers erstmals in den deutschen Sprachraum vermittelt wurden, mit der Erzählung Herz der Finsternis zum Paradeautor kulturwissenschaftlicher Forschung aufstieg, fristen die in manchem vergleichbaren Erzählungen und Romane Freisslers ihr Dasein bis auf weiteres in den Tiefen regionaler Literaturbetrachtung.13

In beiden Richtungen, die Beispiele könnten unschwer vermehrt werden, wird die akkumulative Identitätszuschreibung missachtet, die ich hier thesenhaft und vorerst nur als heuristisches Element vorgestellt habe. Die Fälle sollen zeigen, dass die akkumulative Identitätszuschreibung, die in kulturell eigenständigen Regionen üblich ist, bisher in den gängigen Forschungsparadigmen nur unzureichend anerkannt wird. Aber sowohl in den literarischen Texten als auch in den Lebenswegen der regionalen Akteure ist eine Reflexion über Identitätsstrategien gegeben. Während also divergierende, ambivalente und nicht valide Überzeugungen und Haltungen in der Forschung nachgerade zur Moderne längst anerkannt sind, besteht noch ein Defizit darin, diese als multiple Identitätsvarianten den jeweiligen literarischen Akteuren auch zuzugestehen.

Dass Strobls Texte sich für aktuelle Interpretationsansätze – etwa anhand des Theorieensembles von Judith Butler – eignen, wurde bereits nachgewiesen.14 So scheint es auch lohnenswert, den Fokus von der im Fenriswolf explizit behandelten Modellierung von Künstleridentitäten hinsichtlich allgemeiner Identitätsbildungsmodelle zu erweitern und zu fragen, ob die narratologisch auratisierten Lebenswege der Modellautoren nicht als itinerative Re-inszenierungen gelesen werden könnten, somit ein respektables Spektrum maskuliner role-models zur Zeit der Jahrhundertwende abgeben würden.15 Das sei aber einer anderen Studie vorbehalten. Aber schon jetzt gilt: Staubmilben aller regionalen Literaturen, hütet euch!

Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er Jahre1

Fabienne Gilbertz, Luxemburg

Mehrsprachigkeit ist nicht erst seit den Zeiten der Globalisierung ein wesentliches Merkmal vieler Literatursysteme; weltweit sind literarische Systeme durch ein Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen geprägt. Das Luxemburger Literatursystem ist keine Ausnahme: Seit seiner Entstehung sind Deutsch, Französisch und Luxemburgisch die am meisten verwendeten Literatursprachen.2 Dabei ist der Sprachgebrauch jedoch nicht, wie in Belgien, der Schweiz oder anderen mehrsprachigen Literatursystemen Europas, an bestimmte Regionen oder Sprachgemeinschaften gebunden. Daraus ergibt sich nicht nur die wesentliche Frage, ob es sich um mehrere Luxemburger Literaturen oder um eine Literatur in mehreren Sprachen handelt;3 die Luxemburger Schriftsteller:innen sehen sich darüber hinaus immer wieder dazu veranlasst, ihre Sprachwahl zu motivieren, ja zu rechtfertigen. In den 1980er Jahren erklärte der Autor Georges Hausemer in diesem Zusammenhang: „Die Frage nach der Wahl einer bestimmten Sprache kommt für die meisten luxemburgischen Autoren der Frage nach der Liebe gleich: warum und wieso diese und nicht jene, warum die Blonde und nicht die Brünette, wieso der Bärtige anstatt des Langhaarigen?“4 Hausemer zufolge haben jeder Autor und jede Autorin je individuelle Gründe, sich für eine und gegen eine andere Literatursprache zu entscheiden. Dieser Aspekt der literarischen Sprachwahl wird dementsprechend im vorliegenden Beitrag nicht eingehender behandelt. Im Folgenden wird vielmehr diskutiert, inwiefern sich die Sprachwahl auf die Identitätsentwürfe – oder, mit Jérôme Meizoz argumentiert, auf die textuelle und kontextuelle posture – von Luxemburger Autorinnen und Autoren auswirkt.5 Im Fokus steht dabei die Frage, ob und wie die in literarischen Texten, aber auch in Interviews, Artikeln und Briefen artikulierten Identitätsentwürfe mit der Wahl der Literatursprache zusammenhängen.

 

Die Mehrsprachigkeit der Luxemburger Gesellschaft, die sich im Literatursystem als einem gesellschaftlichen Teilsystem spiegelt, führt zu Reflexionen über die sozialen Funktionen und das künstlerische Potential der verschiedenen Sprachen.6 So stellt der Soziologe Fernand Fehlen ein „klares Prestigegefälle“7 zwischen der französischen und der deutschen Sprache bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fest. Dabei kommen dem Französischen als Sprache der Bourgeoisie nicht nur symbolische Funktionen zu: Indem seine Beherrschung eine Voraussetzung für den Zugang zum höheren Dienst ist, gewinnt das Französische ganz konkrete, soziale Relevanz und wird zur Sprache der gesellschaftlichen Eliten.8 Das Deutsche hingegen ist als Alphabetisierungssprache die am besten beherrschte Schriftsprache für einen Großteil der Luxemburger:innen, während das Luxemburgische lange Zeit vor allem als mündliche Alltagssprache diente.9 Obwohl sich diese Konstellation in den letzten Jahren verändert hat (durch eine allmähliche Aufwertung des Luxemburgischen als Schriftsprache, aber auch durch eine stärkere Präsenz des Englischen), haben die soziolinguistischen Verhältnisse einen nachhaltigen Einfluss auf die ästhetische Beurteilung der Literatursprachen: Den drei Sprachen werden je unterschiedliche ästhetische Wirkungsbereiche zugesprochen.10 So begründet der Literaturwissenschaftler Frank Wilhelm seine These, dass es sich bei der mehrsprachigen Luxemburger Literatur tatsächlich um drei verschiedene Luxemburger Literaturen handele, mit einer angeblichen Affinität zwischen Literatursprache und beschriebenem Gegenstand:

Globalement on peut dire que les littératures en langues allemande et luxembourgeoise induisent des œuvres proches du vécu de leur public, correspondant à la sensibilité générale, alors que la littérature de langue française, produite par et pour la bourgeoisie, donne des œuvres plus abstraites où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur, mais où l’écrivain peut davantage s’inscrire dans l’universel ou, au contraire, cultiver ses propres lubies. La littérature de langue allemande a peut-être le mieux assimilé la réalité socioéconomique. Même si certains auteurs grand-ducaux s’expriment en deux, voire en trois langues, cela ne veut pas dire qu’ils abordent la littérature sous le même angle. Certains sujets se traitent mieux dans telle langue que dans telle autre.11

Wilhelm argumentiert, dass sich mit dem Luxemburgischen und dem Deutschen alltägliche Erlebnisse besonders gut ausdrücken ließen, während das Französische einen höheren Abstraktionsgrad ermögliche. Die Literaturwissenschaftlerin Jeanne E. Glesener hat an anderer Stelle bereits dargelegt, dass Wilhelms These als Sprachtypologie nicht haltbar ist:12 In ihrem Aufsatz The Separateness of Luxembourgish Literatures revisited erläutert Glesener, dass eine strikt getrennte Betrachtung der Literatursprachen nicht erst seit dem vermehrten Aufkommen mehrsprachiger Texte in den 2000er Jahren wenig sinnvoll erscheint, da eine solche Trennung den Blick für sprachübergreifende literarische Entwicklungen versperrt.13 Wenngleich Wilhelms Unterscheidung demnach als generelle Taxonomie nicht funktioniert, trifft sie jedoch auf bestimmte Perioden zu, beispielsweise auf die 1960er bis 1980er Jahre. Luxemburgisch wurde lange Zeit von vielen Autor:innen nicht als ernstzunehmende Literatursprache berücksichtigt; dem Literaturwissenschaftler Mars Klein zufolge wurde es „in manchen poetologischen Überlegungen […] als reines Medium für volkstümliche Unterhaltung vornehmlich in den Sparten Volkstheater und Volkspoesie“14 angesehen. Seit den 1970er Jahren – im Zuge der 68er-Bewegung – wurden jedoch vermehrt auch „sozialkritische Stoffe vom Kabarett bis zum Roman, vom Hörspiel bis zum Dokumentartheater“15 auf Luxemburgisch verhandelt. Deutsch war ab diesem Zeitpunkt zwar immer noch die zentrale, jedoch nicht mehr die einzige Sprache des literarischen Engagements, der Subversion und des Experiments. Tatsächlich waren es zumeist auch die Schriftsteller:innen, die zunächst auf Deutsch schrieben, die sich in den 1970er und 1980er Jahren der luxemburgischen Sprache zuwandten. Die französischsprachige Luxemburger Literatur dieser Zeit war hingegen von ästhetizistischen und puristischen Tendenzen bestimmt.

 

Diese unterschiedlichen Literaturkonzeptionen, so die These des vorliegenden Beitrags, existierten jedoch nicht nur innerhalb des Luxemburger Literatursystems, sondern können vielmehr als ein Ausdruck von Tendenzen gedeutet werden, die sich auch außerhalb des Großherzogtums in den deutsch- und französischsprachigen Literatursystemen vollzogen. Besonders sichtbar wurden diese Tendenzen anlässlich der Mondorfer Dichtertage, die zwischen 1962 und 1974 alle zwei Jahre im Luxemburger Kurort Mondorf organisiert wurden und namhafte Vertreter:innen der deutsch- und französischsprachigen Literatur zusammenbrachten.16 Jede Ausgabe der Dichtertage stand unter einem Motto, so z.B. „Kann Poesie die Welt verändern“ (1966) oder „Deutsche und französische Literatur seit 1945“ (1968). Diese Fragestellungen, die den Diskussionsrahmen definieren und den Austausch zwischen deutsch- und französischsprachigen Autor:innen anstoßen sollten, kehrten jedoch vielmehr die grundlegenden Unterschiede zwischen den Sprachgruppen hervor. Dem Luxemburger Autor und Journalisten Henri Blaise zufolge ging es bei der Konfrontation in erster Linie „um moderne und progressive Literatur, um Engagement, um ‚neuen Wein in alten Schläuchen‘, kurz die traditionsbelastete ‚querelle des Anciens et des Modernes‘.“17 In einem Beitrag für den Deutschlandfunk fasste der deutsche Autor und Redakteur Dieter Hasselblatt seinen Eindruck, den er bei der Mondorfer Tagung 1966 von seinen französischsprachigen Kolleg:innen gewonnen hatte, folgendermaßen zusammen:

Die französischen Kollegen sind zu bewundern: daß sie sich so stark von einer Weltliteratur und deren jüngsten Entwicklungen abzukapseln vermögen, daß sie mit einem so guten Gewissen nichts zur Kenntnis nehmen als sich selbst, und daß sie nicht bemerken, wie sehr sich ihre eigene Gegenwartsliteratur […] um anderthalb literarische Epochen verspätet. Symbolismus, nichts anderes als was Mallarmé gemacht hat, und wenn die Frage der Veränderung der Welt durch die Literatur diskutiert wurde, vermochten die französischen Schriftsteller und Kritiker sich mit der schönen Gebärde eines selbstsicheren Eskapismus auf die Devise zurückzuziehen „der Schriftsteller wohne zuallererst nicht in der realen Welt, sondern in einer ‚Monde des Mots‘, in einer Welt der Worte.“18

Den Luxemburger Kommentator:innen zufolge vertraten die meisten der anwesenden französischsprachigen Autor:innen eine ästhetizistische Literaturkonzeption, während ihre deutschsprachigen Kolleg:innen eine gesellschaftskritische, engagierte Kunst forderten. Der Luxemburger Germanist Alain Weins spricht rückblickend von einem in Mondorf zutage tretenden „interkulturellen Mißverständnis“,19 und dem Schweizer Schriftsteller Urs Widmer zufolge passten die französisch- und deutschsprachigen Autor:innen so gut zusammen „wie Pfeffer und Schlagsahne“.20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich diese Aussagen in erster Linie auf die Mondorfer Gäste bezogen; es handelt sich um Eindrücke, die anlässlich der Dichtertage entstanden und generelle Tendenzen widerspiegelten. Natürlich existierte damals auch im französischsprachigen Raum die Idee einer engagierten Literatur – man denke nur an Sartre. Diese in Mondorf sichtbar gewordenen Unterschiede zwischen den Sprachgruppen sind für die Beschreibung des Luxemburger Literatursys­tems in den 1960er und 1970er Jahren insofern relevant, als auch in Luxemburg ein Antagonismus zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen bestand.21 Wie bereits erwähnt, gilt in der Tat auch für den Luxemburger Kontext, dass die Deutsch schreibenden Autor:innen eine gesellschaftspolitisch engagierte Literatur vertraten, während ihre Französisch schreibenden Kolleg:innen sich kaum politisch äußerten. Es liegt nahe, das jeweilige Literaturverständnis durch eine Orientierung der Luxemburger:innen an deutsch- bzw. französischsprachigen Vorbildern zu erklären. Darüber hinaus ist es jedoch interessant, dass sich die Luxemburger Autor:innen je nach Literatursprache unterschiedlich zu ihren ausländischen Vorbildern positionierten: Während viele Französisch schreibende Luxemburger Autor:innen eine größtmögliche Nähe zu ihren französischen und belgischen Kolleg:innen suchten – bis hin zu einer Negierung der eigenen nationalen Identität –, war es den meisten Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen ein Anliegen, im engen Kontakt mit dem deutschsprachigen Ausland ihre Luxemburger Identität zu betonen. Dieser Unterschied im Verhältnis zur eigenen nationalen Identität sowie zur gewählten Schriftsprache äußerte sich auf mehreren Ebenen, die im Folgenden kurz skizziert werden.

 

In den 1960er und 1970er Jahren thematisierten viele Deutsch schreibende Luxemburger Autor:innen das Land und den Literaturort Luxemburg mehr oder weniger explizit in ihren Texten. Beispielhaft sei Roger Manderscheid genannt, der sich in seinem Frühwerk, von den frühen 1960ern bis zur Mitte der 1980er Jahre, an Luxemburg, seiner Enge und Mentalität abarbeitete und einen spezifischen Begriff des Provinziellen entwickelte. Besonders augenscheinlich wird dies in seinem 1973 erschienenen, ersten Roman die dromedare. stilleben für johann den blinden und dem Drehbuch stille tage in luxemburg, das er im selben Jahr für einen deutschen Fernsehsender schrieb und das aufgrund seines kritischen Blicks auf Luxemburg und seine Einwohner einen kleinen Skandal auslöste.22 Im Kontrast dazu stand die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur, in der das Großherzogtum als Ort kaum eine Rolle spielte. Frank Wilhelms These, dass die französischsprachige Literatur Werke produziere, „où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur“,23 kann für die 1960er Jahre demnach bestätigt werden. In diesem Sinne hielt Michel Raus, einer der prominentesten Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur etwas überspitzt fest: „dem französischen Schriftsteller aus Luxemburg geht es vor allen Dingen um formal-ästhetische Perfektion. […] Französische Schreiber sind strenggenommen keine Dichter oder Romanciers oder Dramatiker, es sind ‚hommes de lettres‘, Essayisten, Verfechter von Ideen und Idealen“.24 Mars Klein zufolge versuchten die damaligen frankophonen Luxemburger Autor:innen „unbelastet von jeder zu direkten sprachlich-emotionalen Eingebundenheit in die nationalen Luxemburger Verhältnisse, […] ihren kosmopolitischen Beitrag zur internationalen Francité zu schreiben“.25 Als Beispiel für die 1960er Jahre nennt er den Dichter und Dramatiker Edmond Dune, auf den an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird.26

Das unterschiedliche Verhältnis zur eigenen Luxemburger Herkunft spiegelte sich auch in der Handhabung der gebrauchten Literatursprache. Die französischsprachige Luxemburger Literatur der 1960er und 1970er Jahre war, wie bereits angedeutet, von sprachpuristischen Tendenzen geprägt. Eine besonders prominente Figur des damaligen Literatursystems war Marcel Noppeney, Autor und Präsident der Société des écrivains luxembourgeois de langue française (SELF). Als solcher setzte er sich nicht nur für die Förderung Französisch schreibender Autor:innen ein, sondern führte einen regelrechten Kulturkampf gegen jegliche germanophilen Tendenzen. Dieser Kulturkampf war in erster Linie durch das in den 1960er Jahren noch sehr präsente Erlebnis der zwei Weltkriege bedingt (Noppeney selbst wurde mehrmals von deutschen Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt). Durch die Propagierung des Französischen, so die Autorin Rosemarie Kieffer, sollte die Luxemburger Identität gegen den deutschen Nachbarn verteidigt werden:

L’argument essentiel de ceux qui entendaient encourager et propager l’écriture de langue française chez nous, était vraiment de taille. L’emploi du français, affirmaient-ils, nous permettait de conserver et de consolider nos qualités proprement luxembourgeoises, et cela en face d’un voisin puissant et dangereux qui menaçait de nous détruire.27

Mars Klein argumentiert in diesem Kontext, dass Noppeney und dessen Französisch schreibende Kolleg:innen durch „die relative sprachliche Distanz des Französischen zum sprachlichen Alltag – Luxemburg ist ja ‚un faux pays francophone‘, Luxemburg ist richtiger ‚un pays francographe‘ oder besser noch ‚entre autre francographe‘“ zur Überzeugung gebracht worden seien, „in einer schwierigen sprachlichen Diaspora zu schreiben und – über den Weg der (phasenweise übertriebenen) Frankophilie – die räumliche und ideelle Distanz zu Frankreich überbrücken zu müssen.“28 Diese Frankophilie äußerte sich nicht zuletzt in einem Sprachpurismus, der vor allem in den Pages de la S.E.L.F. gepflegt wurde. In dieser Zeitschrift publizierte Marcel Noppeney die Rubrik Complexe d’Ésope, in der er seine Landsleute für den falschen Gebrauch von französischen Wörtern und Redewendungen kritisierte, ja bisweilen lächerlich machte. Diese Kritik verstand Noppeney als „intervention […] qui m’est dictée par le respect que Voltaire recommande d’avoir pour cette grande dame qu’est la langue française“.29 Das Verhältnis der Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu ihrer Literatursprache gestaltete sich anders. Wenngleich auch sie sich um eine möglichst fehlerfreie Beherrschung des Deutschen bemühten, ließen sie jedoch auch Raum für einen eigenen, freien Umgang mit der Sprache. Anise Koltz, eine der bedeutendsten Luxemburger Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und Organisatorin der Mondorfer Dichtertage, betonte viele Jahre später, dass Luxemburger Autor:innen „sowohl im Deutschen als auch im Französischen Worte zusammen[setzten], die ein Muttersprachler nie zusammensetzen würde“30 und dass dieses besondere Verhältnis zur Literatursprache zu einer gewissen Originalität führen könnte. Diese Ansicht vertrat auch Dieter Hasselblatt, als er anlässlich der Mondorfer Dichtertage 1966 über ein Hörspiel von Roger Manderscheid urteilte, „daß hier jemand in deutscher sprache etwas gesagt habe, was ein deutscher auf deutsch gar nicht hätte sagen können“31. Laut Hasselblatt bedienten sich die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zwar der deutschen Sprache, doch sie könnten mit dieser anders, vielleicht freier umgehen als die Deutschen selbst.32 Während die frankophonen Luxemburger Autor:innen also durch ihren Sprachpurismus eine größtmögliche Nähe, ja eine Identität mit der französischen Literatur anstrebten, waren die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen eher daran interessiert, sich an dem engagierten Literaturverständnis ihrer ausländischen Kolleg:innen zu orientieren, dieses aber kreativ für die eigenen Bedürfnisse im Luxemburger Literatursystem umzusetzen.

Schließlich thematisierten einige Luxemburger Schriftsteller:innen ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Luxemburger Nationalität und zur Literatursprache auch ganz direkt. Als Beispiele können hier die Autoren Edmond Dune für die französischsprachige und Georges Hausemer für die deutschsprachige Luxemburger Literatur dienen. Der Lyriker und Dramatiker Edmond Dune war als Sohn eines Luxemburgers und einer Belgierin Luxemburger Staatsbürger und nahm auch aktiv am Luxemburger Literaturleben teil, indem er beispielsweise die Mondorfer Dichtertage mitorganisierte und in Luxemburger Zeitschriften publizierte. Dennoch pflegte Dune ein sehr distanziertes Verhältnis zu Luxemburg und seiner Literatur. So liest man in einem Brief, den Dune in den 1960er Jahren an seinen französischen Freund Jean Vodaine schrieb: „Je ne veux pas qu’on me traite de poète luxembourgeois! Tu devrais le savoir depuis le temps que tu me fréquentes.“33 Tatsächlich erwähnte Dune seine Staatsbürgerschaft fast nie, in Anthologien wurden seine Gedichte zum Teil unter der Rubrik „poètes français“ publiziert – und dies war auch genau das, was er anstrebte: in einer Reihe mit französischen Autoren zu stehen. Dune negierte aber nicht nur seine eigene Beziehung zum Großherzogtum, sondern darüber hinaus ganz generell die Existenz einer französischsprachigen Luxemburger Literatur. In einem Brief an seinen Luxemburger Kollegen Paul Palgen stellt Dune klar: „À mon sens, la littérature (luxembourgeoise) d’expression française n’existe pas.“34 Dune bezeichnet das Label „französischsprachige Luxemburger Literatur“ in diesem Brief als prätentiös, ja gar als Phantom. Die Idee einer spezifischen Luxemburger Literatur weist Dune kategorisch zurück. Dieser Negierung der Luxemburger Identität und dieser kompletten Identifizierung mit der Kultur Frankreichs, die durchaus auch für andere Luxemburger Autor:innen festgestellt werden kann, steht die Haltung einiger Deutsch schreibender Autor:innen gegenüber. Hier sei zunächst Roger Manderscheid genannt, der Anfang der 1980er Jahre in einem Interview über die deutschsprachige Luxemburger Literatur behauptete: „ich glaub schon daß wir als deutschschreibende Luxemburger einen eigenen, unverwechselbaren ton haben, der bis jetzt noch nicht entdeckt wurde“.35 Dass dieses Unverwechselbare auch in dem komplexen Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zu ihren Literatursprachen begründet liegt – Literatursprachen, die damals nur selten identisch mit der luxemburgischen Muttersprache waren –, erläuterte der bereits zitierte und 2018 viel zu früh verstorbene Autor Georges Hausemer 1983 in einer Rede in Mannheim:

Demnach wandert der Luxemburger Autor, wie etwa die berühmte Katze um den heißen Brei, stetig am Rand der einen oder der anderen Weltliteratur umher, möchte eigentlich dazugehören und kann sich mit letzter Konsequenz doch nicht von der Scholle lösen, an der er zeitlebens klebt. Kann nicht und will eigentlich auch gar nicht. Wollen Sie nämlich einen deutschschreibenden Autor aus Luxemburg beleidigen, so behaupten Sie ganz einfach, er sei ein deutscher und nicht ein deutschsprachiger Schriftsteller. Diese – einige werden sagen: mimosenhafte – Einstellung hat tiefergehende Wurzeln, politische, historische Gründe, die auch meine Generation, die etwa die Mesalliance Luxemburgs mit dem Deutschen Reich nur vom Hörensagen kennt, nicht vollständig zu überwinden vermag.36

Hausemer beschreibt das Verhältnis der Luxemburger Schriftsteller:innen zur deutschen Sprache als ein zwiespältiges, als eines, das durch Nähe und Distanz zugleich bestimmt ist. Neben den historischen Gründen, die Hausemer nennt, gibt es sicherlich auch linguistische: Luxemburgisch ist – wenngleich es als eigenständige Sprache politisch anerkannt ist – ein moselfränkischer Dialekt. Diese Nähe erleichtert es vielen Luxemburger:innen, Deutsch zu erlernen und die Sprache einigermaßen gut zu beherrschen; gerade die Nähe ist es vielleicht aber auch, die eine klare Abgrenzung nötiger erscheinen lässt. Hausemer prägte in diesem Kontext den Begriff der „Stiefmuttersprache“.37 Was das Verhältnis der Französisch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu Frankreich angeht, vermutete Hausemer in seiner Rede, dass es „in dieser ausgeglichenen Relation weniger Animositäten geben“38 dürfte. Mit Blick auf die Aussagen Edmond Dunes kann dies eigentlich nur als Euphemismus bezeichnet werden.

 

Eine solche Gegenüberstellung, wie sie in dem vorliegenden Beitrag vorgenommen wurde, kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Was hier beschrieben wurde, sind Tendenzen, die natürlich nicht für alle Luxemburger Autor:innen des Untersuchungszeitraums geltend gemacht werden können. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, die nicht in das hier skizzierte Schema hineinpassen, wie die Französisch schreibenden engagierten Lyriker Phil Sarca (Jeannot Scheer) und René Welter. Darüber hinaus gab es auch damals schon Schriftsteller:innen, die mehrere Literatursprachen nutzten. Hier kann etwa die Dichterin Anise Koltz genannt werden, die auf Deutsch debütierte und sich erst ab den 1970er Jahren exklusiv der französischen Sprache widmete, ohne ihr Literaturverständnis dafür zu verändern. Dennoch sind die tendenziellen Unterschiede im Sprach- und Identitätsverständnis bei der Auseinandersetzung zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen der 1960er und 1980er Jahre nur allzu augenfällig. Davon ausgehend müsste das Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zur eigenen kulturellen Identität – als Teil ihrer posture – eingehender und über einen längeren Zeitraum untersucht werden, um Veränderungen und Einschnitte beschreiben und typisieren zu können – beispielsweise aus einer komparatistischen Perspektive, im Vergleich mit anderen, kleinen und mehrsprachigen Literatursystemen Europas. Für viele junge Luxemburger Schriftsteller:innen des 21. Jahrhunderts scheinen die gewählten Schriftsprachen jedenfalls keine grundlegende Rolle mehr für ihr Literaturverständnis zu spielen. So schreibt Elise Schmitt mit Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen deutschsprachige Kurzgeschichten ohne direkten Luxemburg-Bezug, während Ian de Toffolis französischsprachige Dramentexte ihren soziokulturellen Entstehungsraum durchaus kritisch thematisieren (z.B. L’homme qui ne retrouvait plus son pays oder Tiamat).39 Samuel Hamen zeigt, dass auf Luxemburgisch über Luxemburg erzählt werden kann, aber nicht muss (der Roman V wéi Vreckt, W wéi Vitesse steht hier dem beim Concours littéraire national 2019 ausgezeichneten und noch unveröffentlichten Roman I.L.E. gegenüber), und Jeff Schinker beweist mit dem Prosaband Sabotage, dass man in mehreren Literatursprachen zugleich (nicht nur) über Luxemburg schreiben kann. Solche Entwicklungen deuten darauf hin, dass nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die literarische Mehrsprachigkeit in stetem Wandel befindlich ist, was sich in der Sprachwahl von Autor:innen ebenso zeigt wie in ihren ästhetischen Positionierungen.

Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der Ruhrgebietsliteratur

Rolf Parr, Duisburg-Essen

I.Ausgangsüberlegungen

Von verschiedenen identitätstheoretischen Ansätzen aus ist für die Moderne und ihre Gesellschaften konstatiert worden, dass man es in aller Regel weder für Gruppen noch für einzelne Personen mit einer einzigen Identität zu tun hat.1 Vielmehr stehen kollektive2 neben individuellen Identitäten, wobei einzelne Individuen zugleich mehrere, untereinander durchaus differierende Gruppen- und Individualidentitäten sowohl diachron als auch synchron ausbilden können. Von daher scheint die Vorstellung einer singulären, alle Lebensbereiche und Konstellationen integrierenden Identität in Zeiten zunehmend konstatierter und akzeptierter Diversität eine zu einfache Konstruktion zu sein.

Von diesem Befund ausgehend versuche ich im Folgenden zunächst vom Ort der Interdiskurstheorie aus in einem ersten Schritt ein Denkmodell der Ausbildung mehrfacher individueller und kollektiver Identitäten zu entwickeln3 und zu zeigen, wie Literatur im engeren und Mediendiskurse in einem weiteren Sinne die Ausbildung von Identitäten mal stützen, mal kritisch hinterfragen, um dann in einem zweiten Schritt die Identitätskonzepte einiger Texte der Ruhrgebietsliteratur exemplarisch zu analysieren.4 Diese stellt insofern ein besonders geeignetes Referenzobjekt dar, als das Ruhrgebiet und mit ihm die Ruhrgebietsliteratur konstitutive Merkmale von Globalisierung in der Regionalität aufweist (eine große, breit über die unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus gestreute Population, mit pluralen Lebensstilen, vielfältigen Migrationskulturen und Transnationalitäten). Die Regionalität des Ruhrgebiets und die seiner Literatur muss daher immer auch als eine Form von Globalität in der Regionalität gedacht werden, was wiederum zahlreiche sich überlagernde Identitäten mit sich bringt.

II.Identität (inter-)diskurstheoretisch denken

Lässt man die in den Geistes- und Sozialwissenschaften kursierenden theoretischen Konzepte von Identität Revue passieren, so lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden. Eine Gruppe von Ansätzen fasst Identität als Ergebnis kommunikativen Handelns zwischen Akteuren auf, die mal stärker als Rollenträger, mal stärker als soziale Divergenzen verhandelnde Partner konzipiert sind. Identität ist dann das Ergebnis eines komplexen Aushandlungs- und Sozialisationsprozesses.1 Demgegenüber gehen diskurstheoretisch fundierte Ansätze genau umgekehrt „von der Priorität des Diskurses und seines ‚Wir‘ gegenüber“ den „einzelnen Interakteuren“ aus.2

Als interdiskurstheoretisch arbeitender Literatur- und Kulturwissenschaftler möchte ich auf diesen zweiten Ansatz im Folgenden näher eingehen und zeigen, wie er nach solchen diskursiven Positionen fragt, die Kulturen mit den in ihnen zirkulierenden Interdiskursen bereithalten, nämlich Positionen der (durchaus affektiv besetzten) Attraktivität, denen sich Individuen assoziieren und so einen Sozialkörper mit ‚Zusammenhalt‘ – also auch mit Identitätspotenzial – bilden können. Dazu werde ich den Ansatz der Interdiskurstheorie zunächst in einigen Grundzügen vorstellen, ihn dann auf die Identitätsproblematik hin spezifizieren und nach den spezifischen Leistungen fragen, die ein solcher Zugriff auf das Phänomen ‚Identität‘ bietet.

II.1Die horizontale Achse der Wissensspezialisierung

Wie Michel Foucaults Diskurs-, aber auch Niklas Luhmanns Systemtheorie und Reinhart Kosellecks historische Semantik geht auch die Interdiskurstheorie vom Befund zunehmender horizontal-funktionaler Arbeits- und Wissensteilung seit etwa dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Demnach sind moderne Gesellschaften in verschiedene, relativ autonome Wissensbereiche gegliedert, die jeweils spezifische Formen der Rede, je eigene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft besteht dann in ihrer horizontalen Gliederung aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen sowie kultur- und geisteswissenschaftlichen.

Um Verständigung über die von Foucault in den Blick genommenen Grenzen von Diskurs- und Wissensformationen hinaus zu gewährleisten, muss es jedoch auch re-integrierende Diskursformen geben, die den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der eigentlich auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Teilbereiche sichern. Moderne Gesellschaften und ihre jeweiligen Kulturen haben sich daher nicht nur in Spezialbereiche ausdifferenziert, sondern als kompensatorische Antwort darauf auch solche Verfahren entwickelt, die zwischen den Spezialisierungen wieder neue Verbindungen herstellen, also gleichsam Brücken schlagen.

Zu dieser Art von verbindenden, inter-diskursiven Elementen1 gehören alle Formen von Analogien, Metaphern und Symbolen, aber auch Mythen und Stereotype (einschließlich Klischees) sowie unterhalb der Ebene ganzer Erzählungen angesiedelte, wiederkehrende Narrative, wie sie bereits im Alltag (als einem solchen nicht-speziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in der Literatur und auch den verschiedenen (Massen‑)Medien anzutreffen sind. In ihrer Gesamtheit bilden sie den allgemeinen Artikulationsrahmen des Diskurssystems einer Kultur. Ganze Interdiskurse (verstanden als Summe solcher Verfahren) stellen von daher eine Art Reservoir von Anschauungsformen bereit, auf das mit Notwendigkeit zurückgegriffen wird, wenn es gilt, Verständigung über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg zu erzielen. Mittels dieser Ensembles von Anschauungsformen können – dadurch, dass sie kohärent verwendet werden – in konkreten Kontexten nun durchaus verschiedene diskursive Positionen artikuliert werden.

Die Gesamtheit der interdiskursiven Verfahren ließe sich dann als die integrierende Kultur einer Gesellschaft beziehungsweise einer regionalen oder auch lokalen Community verstehen. Das, was den immer wieder thematisierten Zusammenhang einer Kultur eigentlich ausmacht, wird vom Ort der Interdiskurstheorie aus damit materiell greifbar, nämlich als Summe derjenigen Brückenschläge, die „die praktisch geteilte Arbeit“ und Gesellschaft „imaginär in Lebenstotalität“2 verwandeln, eine Totalität, die man dann wiederum als jenen kulturellen Zusammenhang erleben kann, der eben auch als Angebot zum ‚Andocken‘ und damit zur Ausbildung von Identitäten dient. Dabei kann es natürlich nicht um vollständige Integration aller gesellschaftlichen Teilbereiche und aller menschlichen Fähigkeiten gehen, wie sie beispielsweise Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen3 entworfen hat, sondern nur um einzelne, in der Regel fragmentarisch bleibende Brückenschläge. Sie sind vor allem im Alltagswissen, in den modernen Medieninterdiskursen und nicht zuletzt auch in der Literatur zu finden.4

Doch wie sieht der Prozess des ‚Sich-Andockens‘ von empirischen Individuen an interdiskursive Positionen als eine Form von Identitätsbildung genau aus? Für die empirischen Subjekte stellen Interdiskurse und die mit ihnen eingenommenen Positionen Angebote zur Assoziation bereit, das heißt zur Ausbildung von mal eher kurzzeitig gültigen, mal langdauerstabil bestehenden individuellen oder kollektiven Identitäten. Eine solche Assoziation, oder ein solcher Sozius, kommt dadurch zustande, dass Individuen sich an die für sie attraktiven Positionen innerhalb des Diskurssystems der jeweiligen Kultur ankoppeln. Die Einheit oder Identität eines solchen Sozius ist also nichts anderes als eine diskursive (semiotische und vor allem sprachliche) Einheit, durch die Einzelindividuen auf jeweils verschiedene Weise zu ebenso verschiedenen Assoziationen, das heißt ebenso verschiedenen Sozialkörpern zusammengeschlossen werden; und sie ist nicht zuletzt eine, die zeigt, wie Identität aus Interdiskursen und ihren Elementen entsteht.5

Das bedeutet aber auch, dass historisch wechselnden Diskurssystemen auch wechselnde individuelle und kollektive Subjektivitätstypen entsprechen, das heißt wechselnde ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Subjekte mit entsprechend wechselnden Identitäten. Dem Prozess des Sich-Ankoppelns, der Bildung einer Assoziation würde dann ein Sozialkörper, ein Sozius, entsprechen, für den es keine im Vorhinein schon bestehende Identitätssubstanz gibt und Identität auch nicht zwischen Interakteuren allererst ausgehandelt werden muss.

Um diesen Vorgang etwas anschaulicher zu machen, kann man sich das Funktionieren des Diskurssystems am besten, wie Jürgen Link es vorgeschlagen hat, als eine Maschine zur Reproduktion von Diskursen und der in und mit ihnen eingenommenen diskursiven Positionen vorstellen, als eine Maschine, „die zunächst einmal unabhängig von bestimmten, individuellen Interakteuren ‚laufen‘ kann“. Diese Maschine ‚Diskurssystem‘ hält nun in Form der angebotenen diskursiven Positionen attraktive Schnittstellen für Individuen bereit. Dabei sind die einzelnen Individuen durchaus austauschbar, denn ihre ‚Eignung‘ resultiert nicht aus ihren mitgebrachten Charaktereigenschaften, sondern aus dem „Grad der Kompatibilität ihrer sprachlichen, diskursiven und subjektiven […] ‚Sozialisation‘“ mit der jeweiligen Diskursposition. „Dieser empirische Vorgang des austauschbaren ‚Eintretens‘ verschiedener und wechselnder Individuen in analoge vom Diskurs parat gehaltene Positionen ist nichts anderes als der empirische Prozess der Subjektbildung als ‚Wir‘-Bildung“, also derjenige der Identitätsbildung.6 Die diskursiven Positionen und die Elemente, die sie ausmachen, sichern die dafür nötige Kohäsion, das heißt, wir haben es in die eine Richtung gedacht mit einem Prozess der Ver-Subjektivierung von Diskurselementen und -positionen zu tun, in der anderen Richtung mit dem Andocken an diskursive Positionen.

Noch einmal sei betont: Es besteht keine Vorgängigkeit der Subjekte, „vielmehr bilden sich konkrete Subjekte […] in den ‚Hohlformen‘ allererst heraus, die der Diskurs für Subjekte ‚anbietet‘“.7 Wer also nach ‚Identität‘ fragt, ist gut beraten, sich mit diesen ‚Hohlformen‘, also den Interdiskursen der betreffenden Kultur, zu beschäftigen.

Aus einer soziologischen Perspektive sieht auch Heike Delitz Identitäten als kulturell erzeugte Gegenstände an, als

Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogene Artefakte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz.8

Nun sind moderne Gesellschaften jedoch nicht nur durch Wissensteilung (in Spezialdiskurse), sondern auch durch Macht(ver)teilung gekennzeichnet, zum Beispiel in Form von Klassen, Schichten oder Normalitäten. „Deshalb entwickeln […] sich in ihnen“ neben den assoziativen auch „dissoziierende Tendenzen“, viele kleine Sub-Assoziationen, die zur Identitätsdiffusion führen können.9 Solche Tendenzen des Auseinanderdriftens „werden entweder erfolgreich unterdrückt“ oder führen zu Friktionen und eventuell sogar Spaltungen der ursprünglichen Assoziation, was in ein unverbundenes Nebeneinander oder auch ernsthaftere soziale Konflikte münden kann.

Hinzu kommt noch eine zweite Verwerfung: Moderne Gesellschaften „tendieren zur ‚Atomisierung‘ (Isolierung und ‚Autonomie‘) ihrer Individuen“. Das führt einerseits zu einer gewissen „Dominanz der Ich-Subjektivität über die kollektive Wir-Subjektivität“, was dann wiederum kompensierende Tendenzen verstärkter Assoziation auf den Plan ruft.10

II.2Was leistet der Ansatz?

Was kann der skizzierte interdiskurstheoretische Zugriff nun leisten? Er erlaubt es, Identität in zwei Dimensionen zu denken, die sonst eher je separat behandelt werden, nämlich erstens derjenigen der horizontalen Wissensteilung und zweitens derjenigen der vertikalen Machtteilung. Damit gibt der Ansatz eine spezifische Antwort auf die Frage, wie in modernen Gesellschaften Identität entsteht, wobei er es erlaubt, mehrere kollektive und individuelle Identitäten zugleich anzunehmen. Damit kann er das Nebeneinander der (vielen) Assoziationen und Sozialkörper, denen ein empirisches Subjekt angehören kann, und zugleich von Friktionen zwischen ihnen denken.

Der von der Interdiskurstheorie angebotene Identitätsbegriff ist von daher ein offener, der Vielfalt zeitlich parallel und ebenso im historischen Wandel zu verorten erlaubt. Weiter liegt ein wichtiges Potenzial des Ansatzes darin, einen integrierenden Zugriff auf Texte und Dokumente ganz verschiedener Provenienz zu ermöglichen. Kunstliterarische Texte, Alltagsrede, politische Verlautbarungen, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Rahmen von Nationen-, Regionen- und Europabildern, historisches und aktuelles Material werden über die Analyse der verwendeten Interdiskurselemente aufeinander beziehbar und damit ein Stück weit auch die verschiedenen Prozesse der Identitätskonstruktion.

III.Identitäten in der Ruhrgebietsliteratur

Literatur nun – und damit komme ich zu den konkreten Texten aus dem Ruhrgebiet – macht als hochgradig interdiskursiver Spezialdiskurs in vielfältiger Weise Angebote zur Ausbildung von Identitäten; dies insbesondere dann, wenn ganze Cluster von interdiskursiven Elementen aus dem Alltag oder aus mediopolitischen Zusammenhängen aufgegriffen, weiterverarbeitet und dabei vielleicht sogar kohärent gewertet werden, sodass diskursive Positionen entstehen, denen sich individuelle wie kollektive Subjektivitäten wiederum assoziieren können.

Wie das in einem konkreten Fall aussieht, möchte ich am Beispiel einiger neuerer Texte von Frank Goosen zeigen, die zwischen 2008 und 2012, also rund um das Kulturhauptstadtjahr 2010 („Essen für das Ruhrgebiet“), entstanden sind und damit in einer Zeit, in der Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet Hochkonjunktur hatten. Zu diesen Texten, die sich als eine Art von ‚neuer Heimatliteratur‘ charakterisieren lassen, gehören vor allem die Bände Radio Heimat. Geschichten von zuhause aus dem Jahr 2010, der kurze Reviergeschichten versammelt, der Band Weil Samstag ist. Fußballgeschichten aus 2008 sowie der Roman Sommerfest von 2012, dessen Titel zugleich auf das Kulturhauptstadtjahr wie auch das fußballerische Sommermärchen von 2006 anspielt.1 Diese Texte sind geradezu darauf angelegt, Schnittstellen, das heißt attraktive Diskurselemente für die Ausbildung von Ruhrgebiets-Identitäten (solchen, die das gesamte Revier umfassen, aber auch solchen, die sich nur auf eine einzelne Stadt, wie Bochum, beziehen) anzubieten und solche diskursiven Identitätsmarker bisweilen geradezu zu akkumulieren. Eine der Erzählungen aus Radio Heimat etwa beginnt so:

Wenn ich nicht mehr weiterweiß, fahre ich in Bochum die Alleestraße stadtauswärts, biege, vorbei an dem Gelände „City West“, wo auch die Jahrhunderthalle steht, oben am Hochhaus der Kruppverwaltung links in die Kohlenstraße, dann, vorbei an den Resten des ehemaligen Heusnerviertels, wieder rechts, wo sich neben dem Ascheplatz des SV Germania die Kleingartenanlage Engelsburg e. V. erstreckt.2

Und an anderer Stelle heißt es:

Das Ruhrgebiet hat viele Vorteile: Es gibt hier keinen FC Bayern, auf je hundert Einwohner kommen mindestens zwanzig Frittenschmieden, und auch wenn der Schrebergarten und die Currywurst in Berlin erfunden wurden, ist die Benutzung des einen und der Verzehr der zweiten in dieser Gegend zum selbstverständlichen Bestandteil der Hochkultur geworden.

Das größte Plus für die Lebensqualität […] ist jedoch die „Trinkhalle“ oder „Selterbude“, kurz: die Bude […].3

Den äußeren, geographischen Rahmen dafür bilden bei Goosen „herkunfts- und heimatorientierte Regionalitätsvorstellungen“,4 mittels derer ein Kern-Ruhrgebiet zwischen Duisburg und Dortmund als Heimat konstituiert wird, und zwar zunächst einmal durch Abgrenzung nach außen: „Südlich von Hattingen ist für mich Tirol, nördlich von Recklinghausen Dänemark, östlich von Unna beginnt für mich Sibirien und westlich von Duisburg ist die Welt zu Ende und alle fallen ins Urmeer.“5

Was hier auf engstem Raum als übrig bleibendes Territorium eine ‚Heimat-Mitte Ruhrgebiet‘ konstituiert, das entfaltet der Roman Sommerfest als Rückblick auf das eigene, mit Ruhrgebietsspezifika angereicherte ‚coming of age‘ zugleich als ‚my generation‘ wie auch als ‚my region‘, nämlich als eine Heimat, der gegenüber München und Bayern zur entferntesten Peripherie werden, gleichauf mit New York, Mettmann, Duisburg und Krefeld: „‚Krefeld, Duisburg, alles eine Soße.‘“6 Bereits von der Grundanlage der Texte her sind damit regionale, lokale und generationsspezifische Angebote zur Subjektbildung und mit ihr zum Anschluss an die eine oder andere diskursive Position offen gehalten.

Diese geographische Eingrenzung des Territoriums für die Ausbildung einer positiv auf das Ruhrgebiet bezogenen Identität (Heimat) wird in den Texten von Goosen zudem historisiert. So ist die polnische Abstammung von Ruhrgebietsbewohnern als ein auf frühere Zeiten rekurrierendes Residualnarrativ bei Goosen geradezu Ausweis eines auf mindestens drei Ruhrgebietsgenerationen zurückblicken könnenden und damit regional-kulturell gefestigten ‚Bergmannsadels‘. Wilhelm Amann hat daher konstatiert, dass „die Vorstellung von der Ruhrgebietsregion […] bei Goosen […] eng an die Vorstellung von Herkunft gekoppelt“ ist.7 Eine der Episoden aus Radio Heimat zeigt förmlich auf, wie der daraus resultierende Attraktivitätsfaktor einer ‚polnischen Bergmannsgenealogie‘ erfüllt werden kann, um sich der Ruhrgebietsidentität assoziieren zu können:

Das Ruhrgebiet ist ja immer auch ein Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten gewesen. Dem Klischee nach stammen wir ja alle von polnischen Püttadligen ab. Dass das dem Namen nach in meiner Familie nicht der Fall zu sein scheint (klingt mehr nach Benelux), muss mein Vater als Manko empfunden haben, weshalb er sich meiner Mutter in der Tanzschule Bobby Linden 1964 als ‚Goosenowski‘ vorstellte […].8

Der fälschlich für belgisch, niederländisch oder luxemburgisch haltbare Nachname „Goosen“, der de facto polnischer Herkunft ist, wird zu „Goosenowski“ erweitert, um jeden Anflug von Nicht-Zugehörigkeit zu kompensieren, und zwar schon in der Generation der Eltern, womit zugleich wieder die historische Kontinuität der Ruhrgebietsidentität reproduziert wird. Daraus erklärt sich dann auch, dass eine der in fast allen Texten von Goosen vorkommenden Figuren die der Oma (auf Ruhrdeutsch ‚Omma‘) ist, denn sie ist es, welche die diachrone Spanne von drei Generationen und mit ihr Kontinuität, also ‚Püttadel‘, verbürgt, ohne dass größerer narrativer Aufwand betrieben werden müsste. Von daher verwundert es nicht, dass im Falle von Sommerfest die Widmung im Buch „Für Omma“9 lautet.

Am Beispiel der ‚Omma‘ lässt sich zudem zeigen, dass auch die Applikation solcher in der Literatur parat gehaltener Diskursparzellen in reale Lebenszusammenhänge funktioniert. Als nämlich Bettina Böttinger in ihrer WDR-Sendung Böttingers Bücher vom 10. Juli 2017 Frank Goosen in dessen Haus besuchte, nutzte dieser den diskursiven ‚Omma‘-Effekt ganz gezielt und machte die Moderatorin zunächst einmal mit seiner Großmutter bekannt, die gleichermaßen als ‚Kronzeugin‘ der Karriere des Autors wie auch seiner Verankerung in der Heimat Ruhrgebiet fungierte; es folgten Goosens Fußballkeller und ein Besuch bei der Wirtin in seiner Stammkneipe. Titel der Sendung: Durch die Heimat.10 Auch in Weil Samstag ist wird nahezu jede dafür geeignete Erzählepisode oder Anekdote mit ‚Omma‘ und/oder ‚Oppa‘ verbunden, sodass auch Fußball eng mit der Ruhrgebietsgenealogie verknüpft wird: „[…] meine Omma löste während der Spiele Kreuzworträtsel – was meinen Oppa immer wahnsinnig machte. […] / ‚Guck doch dahin!‘ / ‚Interessiert mich doch nicht!‘ / ‚Guck trotzdem hin!‘.“11

Für die mit den beiden ersten Verfahren geographisch und historisch konstituierte Ruhrgebietsheimat steht bei Goosen auch das Ruhrdeutsch mit seinen – im Text durch Kursivierung hervorgehobenen – transkulturellen Anverwandlungen von Lehnwörtern wie „Schangsen“, „Pafföng“, „Grateng“, „Restorang“12 und „Expresso“.13 „Das sind“, wie es bei Goosen heißt, „so Heimat-Wörter, wie es auch Heimat-Zeitformen gibt, und die typische Heimat-Zeitform in dieser Gegend ist immer das Plusquamperfekt gewesen: Da war ich drinne gewesen. Kannze vergessen“.14 Benutzt werden diese Wörter in Sommerfest von den für ‚ruhrgebietswürdig‘ und damit für die Ruhrgebietsidentität als assoziationsfähig erachteten Figuren.

Schließlich sind ruhrgebietsspezifische Orte, Einrichtungen und Gebäude Attraktoren der Assoziation und damit der Ausbildung von Identitäten. Dazu gehören das Zechenreihenhaus, in dem die Familie seit mehreren Generationen wohnt, der lokale Bolzplatz, auf dem man schon als Junge gespielt hat, der Schrebergarten mit der Gartenlaube, in der man den ersten Sex hatte, und die Trinkhalle, im Ruhrgebietsjargon schlicht ‚Bude‘ genannt. Mit solchen Regionalitäts- und Identifikationsmarkern reichlich ausgerüstet, können die Texte Goosens als Versuche einer – mit Deleuze / Guattari gesprochen – Re-Territorialisierung15 in Form der Konstitution einer für ruhrgebietsspezifisch angesehenen Heimatliteratur verstanden werden, bei der das Reihenhaus als „eingemauerte Parzelle auf der Erde“ der Region fungiert und der „Fesselung einer identischen Familie an ein Territorium über Generationen“16 hinweg dient.