Ideologie und Herrschaftskämpfe - Anton Sterbling - E-Book

Ideologie und Herrschaftskämpfe E-Book

Anton Sterbling

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Beschreibung

Zugespitzt betrachtet, bewegt sich das derzeitige politische Denken, Handeln und Geschehen zwischen zwei Polen: rationalem Diskurs und ideologischem Diktat. Vor diesem Hintergrund schlägt Anton Sterbling in seinem vorliegenden Buch einen neuen Ideologiebegriff vor – unter maßgeblicher Berücksichtigung grundlegender Zusammenhänge zwischen Werten und Wertordnungen, Interessen und Wissens- und Deutungssystemen. Sein Anliegen zielt darauf, das Ideologiekonzept so zu justieren, dass es auch in konsolidierten demokratischen Gesellschaften bestimmte Prozesse der Ideologisierung wie auch bestimmte Anzeichen und Schwellenwerte ideologischer Gefährdungen signalisiert und erkennbar macht. Dabei geht es um Ideologie und Herrschaft, namentlich um Macht, Autorität, Herrschaftstypen und die polarisierende Rolle von Ideologien im politischen Handeln wie auch um ideologisch, religiös, demokratisch und utopisch begründete und legitimierte Formen der politischen Herrschaft. Ebenso um Ideologie im Kontext von Staaten- und Nationenbildung und Nationalismus. Desgleichen werden Ideologie und Sprache und insbesondere fragwürdige ideologiegeleitete Regulations- und Manipulationsversuche der Sprachverwendung thematisiert und das Verhältnis von Ideologie und Kunst im Horizont der Moderne und die Widerstandspotenziale künstlerischer Tätigkeit in ideologisch-totalitären Herrschaftssystemen behandelt. Schließlich werden aktuelle Herrschaftsauseinandersetzungen, Sinnkrisen, apokalyptische Untergangsstimmungen und neue ideologische Denkfiguren und Heilsangebote wie auch die Rolle gesinnungsethischen Handelns im Gravitationsfeld neuer Ideologien diskutiert. Eine kurze Betrachtung über Gefahren und mögliche Verhängnisse der Dominanz ideologischen Denkens und der Wirkung geschichtsmächtiger Ideologien runden die Überlegungen ab.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Teil Annäherungen an die Ideologieproblematik

Zum Ideologiebegriff

II. Teil Ideologie, Herrschaft, Nationalismus

Macht, Autorität, Herrschaftskämpfe. Das „Politische“ und die polarisierende Rolle der Ideologien

Ideologie und Herrschaft

Ideologie und Nationalismus

III. Teil Ideologie, Sprache, Kunst und neue Spielarten des ideologischen Denkens

Ideologie und Sprache

Ideologie und Kunst

Untergangsängste, Sinnkrisen und die Entstehung und Verbreitung neuer Ideologien

Schlussbetrachtungen

Literatur

Einleitung

Ideologien sind wie Netze, deren Maschen sich immer enger zusammen ziehen.

(frei nach Horst Samson, deutscher Dichter aus dem Banat)

Eine Ideologie ist dann wirkungsmächtig etabliert, wenn sie selbst das Denken ihrer Gegner noch nahezu ständig an ihre Grundvorstellungen, Selbstverständlichkeiten und Prinzipien bindet.

Die Hoffnungen nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft im östlichen Teil Europas auf eine fortschreitende Demokratisierung, die den damals um sich greifenden Prozess der Globalisierung mehr oder weniger notwendig begleiten würde, währten nur kurz. Heute blicken wir desillusioniert und teilweise auch entsetzt auf das „Wiedererwachen“1 einer aggressiven nationalistischen Ideologie begleitet von zunehmend repressiveren Maßnahmen in Russland und dem völkerrechtswidrigen Überfall eines Nachbarstaates, der Ukraine, durch dieses Land. Wir registrieren die trotz zwischenzeitlicher wirtschaftlicher Liberalisierungen und gewisser gesellschaftlicher Öffnungen unübersehbaren ideologisch-totalitären Entwicklungen in der von einem kommunistischen Einparteiensystem beherrschtenund einem sich rasch entfaltenden Führerkult bestimmten Volksrepublik China, deren gleichzeitigen, expansionistisch ausgerichteten Weltmachtbestrebungen unverkennbar erscheinen. Wir schauen bedenklich auf eine sich mit Mittel- und Langstreckenraketen und vermutlich auch mit einsatzfähigen Kernwaffen massiv aufrüstende, fast lehrbuchhafte totalitäre kommunistische Führerdiktatur der Kims in der dritten Generation in Nordkorea, auf nach wie vor gewaltgestützte sozialistische Herrschaftssysteme in Kuba, Venezuela und Nicaragua mit gewissen, durchaus bedenklichen Nachahmungswirkungen auf einige weitere lateinamerikanische Staaten. Ebenso auf die brutale Gewalt gegen ihre Bevölkerung anwendende totalitäre islamische Theokratie im Iran, auf die Diktatur Baschar al-Assads in Syrien, auf die Wiederkehr des fundamentalistischenTalibanregimesinAfghanistan,undauffastausnahmslos autoritäre, dynastische oder militärdominierte, jedenfalls nichtdemokratische oder allenfalls scheindemokratische Regierungssysteme nahezu in der gesamten islamischen Staatenwelt wie auch fast auf dem ganzen afrikanischen Kontinent und in manchen Teilen Südostasiens. Häufig, allerdings nicht immer, sind diese autoritären oder totalitären Herrschaftssysteme religiös oder ideologisch legitimiert und auch entsprechend ideologiegeleitet in ihrer Herrschaftspraxis ausgerichtet.

* * *

Wenn man angesichts all dieser Gegebenheiten und Entwicklungen erneut das klassische sozialwissenschaftliche Thema „Ideologie und Herrschaftskämpfe“ aufgreift, das in der Vergangenheit übrigens überwiegend von linken oder neomarxistischen Sozialwissenschaftlern behandelt wurde, sollte man dafür schon gute Gründe, die nicht allein in der erneuten Aktualitätdes Gegenstandes liegen, anführen können. Diese werden in den Ausführungen dieses Buches vor allem in einer theoretisch ausholender entwickelten Fassung und Präzisierung des Ideologiebegriffs gesehen. Dabei soll (insbesondere im ersten Hauptkapitel des Buches) eine erneute Annäherung an den Begriff und das Verständnis von Ideologie unter maßgeblicher Berücksichtigung grundlegender Zusammenhänge zwischen diesem und den theoretischen Auffassungen von Werten und Wertordnungen, Interessen und Wissens- und Deutungssystemen erfolgen.

Damit wird zugleich eine prozess- und verlaufsbezogene Betrachtungsweise vorgeschlagen, die das Phänomen der dynamischen und graduellen, also sowohl der fortschreitenden wie auchder rückläufigen Ideologisierung in einer Gesellschaft besser erfassbar und verstehbar machen soll. Unser heuristisches Anliegen zielt mithin darauf, das Ideologiekonzept so zu justieren, dass es auch in konsolidierten demokratischen Gesellschaften bestimmte Prozesse der Ideologisierung wie auch gewisse Anzeichen und Schwellenwerte ideologischer Gefährdungen signalisiert und erkennbar macht.

Im Rückblick auf die vielfältigen Ideologiediskussionen und ebenso auf diemittotalitärenIdeologienundHerrschaftssystemen,insbesondereim 20. Jahrhundert, gemachten historischen Erfahrungen, erscheint es angebracht, in der Diskussion um Ideologien einen deutlichen Unterschied zwischenideologischenDenkweisenschlechthinundtotalitärenIdeologien vorzunehmen. Das heißt, die graduellen wie auch die entscheidenden Differenzen zwischen den das politische Denken, Handeln und Geschehen mehr oder weniger beeinflussenden oder bestimmenden Ideologien und den zumindest zeitweilig durchgesetzten Ideologiemonopolen oder totalitären Herrschaftsideologien und entsprechenden Herrschaftsordnungen aufzuzeigen und in ideologiekritischen Analysen in Rechnung zu stellen. Zwar haben Ideologien tendenziell – anders als zum Beispiel spezifische Ausdrucksformen des ständischen Bewusstseins, das sich stets „exklusiv“ versteht – einen „expansiven“, allgemeingültige Verbindlichkeit beanspruchenden Charakter,2 aber natürlich nicht alle historisch oder gegenwärtig in Erscheinung tretenden ideologischen Phänomene und Ideologien sind als totalitäre angelegt oder verwirklicht oder gar mit auf Dauer gestellten totalitären Herrschaftsstrukturen verbunden.3 Ideologiemonopole und durch sie maßgeblich gekennzeichnete totalitäre Herrschaftsformen sind eher als Grenzfälle zeitweilig, unter ganz spezifischen Randbedingungen geschichtsmächtig gewordener Ideologien zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist zugleich die historische Erfahrung zu beachten, dass ideologisch legitimierte totalitäre Herrschaftssysteme selten von Dauer sind und dass ihr Niedergang häufig mit einer „Kernschmelze“, einer „Implosion“, ihrer ideologischen Legitimitätsbegründung angesichts sich akkumulierender Widersprüche wie auch mit einer Erschöpfung ihre Überzeugungskraft und des immer massiver zur Herrschaftsstabilisierung erforderlichen Einsatzes von Sanktions-, Kontroll- und Gewaltmittel einhergeht.

Methodisch kann es durchaus sinnvoll erscheinen, in der typologischen Erfassung von Herrschaftsordnungen von durch ein Ideologiemonopol bestimmten totalitären Herrschaftsformen auszugehen. Die ideologiekritischen Analysen sollten aber vor allem – wie bereits erwähnt – auf den dynamischen Verlauf des Ideologisierungsgeschehens, des um sich Greifens oder Schwindens des ideologisch orientierten politischen Denkens, und insbesondere dessen Rahmenbedingungen, Erscheinungsformen, Zusammenhänge mit anderen verwandten Phänomenen und dessen Auswirkungen angelegt und ausgerichtet werden.4

Die Diskussion soll im ersten Hauptteil des Buches mit dem bereits angedeuteten Hauptkapitel, das auf eine erneute theoretische Annäherung und Präzisierung des Ideologiebegriffs in einem erweiterten Kontext anderer Grundbegriffe wie Wertordnungen, Interessen sowie Wissens- und Deutungssysteme abzielt,5 eröffnet werden. Dies ist in gewisser Weise auch eine Rückkehr zu bekannten Ausgangspunkten des wissenssoziologischen Denkens, zu nicht zuletzt von Max Weber vorgezeichneten grundlagentheoretischen Weichenstellungen6 und den in dieser Denktradition weiterentwickelten Vorstellungen.

Im zweiten Teil wird es weitgehend in diesen theoretischen Bahnen um Ideologie und Herrschaft wie auch um Ideologie, Staaten- und Nationenbildung und Nationalismus gehen. Zunächst werden in einem Kapitel die Begriffe Macht, Autorität, Herrschaftstypen und die polarisierende Rolle von Ideologien im politischen Handeln thematisiert. Es folgen Ausführungen über ideologisch, religiös, demokratisch und utopisch begründete Herrschaftsformen, ihre Legitimitätsgrundlagen und Grundzüge. Sodann wird die ambivalente Rolle des Nationalismus als Ideologie im Prozess der modernen Staaten- und Nationenbildung und dessen unterschiedliche Erscheinungsformen in demokratischen wie auch in autoritären und totalitären Herrschaftssystemen behandelt. Dies soll gleichsam exemplarisch die verschiedenen Funktionen, Ideengestalten und Wirkungen von Ideologien erkennbar machen.

Im dritten Hauptteil geht es zunächst in einem Kapitel um Ideologieund Sprache und insbesondere um fragwürdige ideologiegeleitete Regulations- und Manipulationsversuche der Sprachverwendung. In einem anschließenden KapitelwerdendasVerhältnisvonIdeologieundKunstimHorizont der Moderne und die Widerstandspotenziale künstlerischer Tätigkeit in ideologisch-totalitären Herrschaftssystemen herausgearbeitet. Schließlich sollen in einem weiteren Kapitel aktuelle Herrschaftsauseinandersetzungen, Sinnkrisen, ökologisch-apokalyptische Untergangsszenarien und neue ideologische Ansätze, Denkfiguren und Angebote wie auch die Rolle gesinnungsethischen Handelns im Gravitationsfeld solcher Ideologien behandelt werden. Eine kurze Betrachtung über Gefahren und mögliche Verhängnisse der Dominanz des ideologischen Denkens und der Wirkung geschichtsmächtiger Ideologien werden die Überlegungen abschließen.

* * *

Die in diesem Band zusammengeführten Überlegungen und Erkenntnisse beschäftigen mich selbst schon sehr lange, wie nicht zuletzt aus den Literaturhinweisen ersichtlich sein dürfte. Noch vor der Aufnahme eines sozialwissenschaftlichen Studiums lagen meinem Nachdenken über Ideologie und Herrschaft eindringliche und nachwirkende persönliche Erfahrungen und Reflexionen als junger Literaturschreibender in einem nationalkommunistischen Herrschaftssystem zu Grunde. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass ich an einem regelmäßigen und intensiven kritischen Gedankenaustausch in einem Kreis junger Schriftsteller und Intellektueller beteiligt war, den diese politisch-weltanschauliche Problematik ebenso wie damals aktuelle literarische Fragen leidenschaftlich interessierte.7

Die hier erfolgte Zusammenführung, Präzisierung und Erweiterung verschiedener Gedankenstränge sollte, so die damit verbundene Hoffnung, neue Einsichten ermöglichen und Anschlussüberlegungen anregen. Es hängen sicherlich noch viele Fäden heraus, die aufzugreifen und weiter zu spinnen sind. In diesem Sinne werden diese Ausführungen dem interessierten Leser in einem gegenwärtig durchaus auffällig veränderten und nicht unproblematischen Erfahrungszusammenhang des Zeitgeschehens und Zeitgeistes der kritischen Lektüre anvertraut.

 

 

1 Siehe: Sterbling, Anton: Die „wiedererwachte Geschichte“. Ein Problem der Sicherheit, Demokratieentwicklung und politischen Kultur im östlichen und südöstlichen Europa?, in: Sterbling, Anton: Zeitbrüche. Politische Irrtümer, Krisen und der Einfluss alter und neuer Ideologien, Stuttgart 2022 (S. 17-59).

2 Siehe: Bahrdt, Hans Paul: Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 1984, insb. S. 129 ff.

3 Zu den Theorien und Wesenszügen des Totalitarismus siehe: Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus, Totalitarismus, München 41995; Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997; Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 21999.

4 Zum Aufstieg, den Erscheinungsformen und Auswirkungen einflussreicher Ideologien im 20. Jahrhundert siehe auch: Messelken, Karlheinz: Die Mythen des 20. Jahrhunderts: Rasse, Klasse, Umwelt, in: Messelken, Karlheinz: Vier Jahrzehnte im Streit mit dem Zeitgeist. Wissenschaftliche Aufsätze und Essays. Buchreihe Land-Berichte 19, Düren 2021 (S. 197-227).

5 Als ein ähnliches Vorhaben, allerdings nicht so stark auf die Ideologieproblematik, sondern mehr auf den Problemkreis der Grundwerte konzentriert und auch mit einer etwas anderen grundlagentheoretischen Ausrichtung siehe: Haller, Max: Die revolutionäre Macht der Ideen. Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral, Wiesbaden 2022.

6 Zur weichenstellenden oder zumindest richtungsweisenden Bedeutung des „Weber-Paradigmas“ im soziologischen Denken siehe: Albert, Gert/Bienfait, Agathe/Sigmund, Steffen/Wendt, Claus (Hrsg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003; Sterbling, Anton: Das „Weber-Paradigma“ und Fragen des sozialen Wandels, in: Sterbling, Anton: Verwerfungen in Modernisierungsprozessen. Soziologische Querschnitte, Hamburg 2012 (S. 113-127). Zur Bedeutung der Soziologie Max Webers siehe auch: Weiß, Johannes (Hrsg.): Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt a. M. 1989; Müller, Hans-Peter/Sigmund/Steffen (Hrsg.): Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014.

7 Meine ersten literarischen Veröffentlichungen gehen auf das Jahr 1969 zurück. 1972 gehörte ich zu den Gründungsmitgliedern der regimekritischen Autorengruppe „Aktionsgruppe Banat“. Siehe dazu auch: Wichner, Ernest (Hrsg.): Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992; Sterbling, Anton: „Am Anfang war das Gespräch“. Reflexionen und Beiträge zur „Aktionsgruppe Banat“ und andere literatur- und kunstbezogene Arbeiten, Hamburg 2008; Sterbling, Anton: Grenzgänge, Heimat, Wanderungen. Narrative über das zerbrochene Sinnmuster der Vergangenheit, Schriftenreihe Fragmentarium, Ludwigsburg 2013; Sterbling, Anton: Über deutsche Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle aus Rumänien. Autorenportraits, Essays und Rezensionen, Schriftenreihe Universitas, Ludwigsburg 2019; Sterbling, Anton: Das Banat, die Deutschen aus Rumänien und die rumäniendeutsche Literatur, München 2022; Fromm, Waldemar: Von der Peripherie zum Zentrum – kleine Literatur ganz groß, in: Fromm, Walter (Hrsg.): die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980, Ludwigsburg 2022 (S. 5-37).

I. TeilAnnäherungenandie Ideologieproblematik

 

Zum Ideologiebegriff

In Folgenden soll ein erneuter Versuch unternommen werden, den Ideologiebegriff umsichtig zu fassen, zu präzisieren und zu erläutern. Dies soll auch vor dem Hintergrund erfolgen, dass gegenwärtig vieles, zum Teil recht kurzschlüssig und leichtfertig, als „Ideologie“ bezeichnet oder verdächtigt wird, das der Sache nach nicht unbedingt so zu betrachten und zu verstehen ist. Die feststellbare Bedeutungsinflationierung des Ideologiebegriffs erscheint problematisch, da sie dieser zentralen Kategorie des sozialwissenschaftlichen Denkens mitunter weitgehend die analytische Tiefenschärfe und Aufklärungskraft nimmt. Doch wie ist damit umzugehen? Wie deren Reichweite und begriffliche Bestimmung im theoretischen Bezugsrahmen anderer Grundbegriffe und Konzepte zu verorten?

Im Jahr 1930 veröffentlichte Max Horkheimer den Aufsatz „Ein neuer Ideologiebegriff?“,1 in dem er sich vornehmlich mit Karl Mannheims wissenssoziologischer Auffassung und Wendung des Ideologiebegriffs,2 die er als „metaphysische“ Rückkehr und Abwendung vom Marx’schen Verständnis des Begriffs betrachtet, kritisch auseinandersetzt. Wie diskutabel Horkheimers Einwände und Argumente, die auf einer klassentheoretischen Fassung des Konzepts beharren, nunmehr auch erscheinen mögen, von der damaligen Intensität der Auseinandersetzungen mit dem Ideologiebegriff in der Soziologie und den Sozialwissenschaften, die nicht zuletzt durch die ArbeitenKarlMannheimsangestoßenwurden,3sindwirindengegenwärtigen öffentlichen Diskussionen und begrifflichen Verwendungszusammenhängen doch merkwürdig weit entfernt.

Wie soll im Folgenden vorgegangen werden? Zunächst wollen wir in einer ersten Annäherung die sozialwissenschaftlichen Begriffe „Einstellungen“, „Anschauungen“ und „Ideologien“ analytisch zu fassen versuchen, in denen Wertideen, Interessen und Wissen in einer spezifischen Weise gebündelt und strukturiert zusammenfinden, jeweils eigene Formen oder Aggregatzustände der „geistigen Ökonomie der Wirklichkeit“ darstellen undin besonderen Fällen auch die spezifische und überaus problematische Gestalt totalitärer Ideologien annehmen können.

In einer etwas ausholenderen, kritisch-reflexiven Diskussion der Ideologieproblematik wollen wir in einem zweiten Gedankenschritt bei den komplizierten und in der Regel auch dynamisch aufzufassenden Wechselbeziehungen von Werten und Interessen und dem Stellenwert von Wertordnungen in kulturellen und weltanschaulichen Zusammenhängen ansetzen. Einzugehen ist hierbei notwendig auch auf das jeweils maßgebliche menschliche Wissen, vornehmlich in der Gestalt lebensweltlicher, religiöser und wissenschaftlicher Wissens- und Deutungssysteme4in ihren spezifischen kulturellen und historischen Ausprägungsformen und sozialen Bedeutungen, die die in den einzelnen Kulturen vorherrschenden Wertideen und Wertkonstellationen und die in den menschlichen Bedürfnissen, im biologischen Verhaltensrepertoire des Menschen, verankerten Interessen handlungsrelevant deutend und sinnhaft miteinander verbinden. Diese drei Bezugsgrößen, die in ihrem gesellschafts- oder milieuspezifischen Zusammenspiel den „subjektiv gemeinten Sinn“,5 die jeweils dominanten SinnmusterundOrientierungendesmenschlichenHandelnsweitgehendbestimmen und mithin im Lichte des soziologischen Erkenntnisprogramms6 auch verstehbar und erklärbar machen: die kulturellen Wertideen und kulturspezifischen Wertordnungen, die bedürfnisfundierten Interessen und die maßgeblichen Wissens- und Deutungssysteme sollen sowohl für sich genommen wie auch und insbesondere im Hinblick auf ihre Verbindung mit ideologischem Denken und Handeln und ihren Deformationsmöglichkeiten in Richtung totalitärer Ideologien betrachtet werden.

Auf die Spannungs- und Verschränkungsbeziehungen von Werten, Wissen und Interessen eingehend, soll der wesentliche Kern von Ideologien, den wir vornehmlich in deren dogmatischen Geschlossenheit und „Kritikimmunität“7 gegenüber evidenten empirischen Befunden oder plausiblen rationalen Argumenten ausmachen, auch in einem späteren Kapitel nochmals unter dem Gesichtspunkt von „gesinnungsethischen“ und „verantwortungsethischen“ Handlungsweisen aufgegriffen werden, denn vieles, das gegenwärtig höchst fragwürdig als ideologiegeleitetes Handeln in Erscheinung tritt, ist zugleich rigoros gesinnungsethisch motiviert und ausgerichtet.8 Erscheinen Ideologien einerseits als Dogmatisierungen des relevanten Wissens und entsprechend „geschlossene“, gegen Kritik, Erfahrung und bessere Argumente „immune“, oft zu rigiden Glaubens- und Überzeugungssystemen erstarrte Weltbilder und Weltanschauungen, so weisen sie vielfach zugleich absolute Fixierungen auf bestimmte Wertideen auf, deren unbedingteGeltungimideologischenDenkenundHandelnnichtselten „gesinnungsethisch“ konsequent, also ohne Rücksicht auf die möglicherweise oder wahrscheinlich eintretenden, oft sehr problematischen Folgen zum Tragen kommt. Auch ansonsten soll der in diesem Kapitel neu justierte Ideologiebegriff dazu verhelfen, die in den folgenden Teilen des Buches behandeltenspezifischenZusammenhängedesIdeologischenmitPhänomenenwieHerrschaft,Nationalismus,SpracheundKunstwieauchmit neuen Spielarten des ideologischen Denkens besser verstehbar zu machen.

Einstellungen,Anschauungen,Ideologien in der geistigen Ökonomie der Wirklichkeit

Wenn wir von geistiger Ökonomie der (sozialen) Wirklichkeit sprechen, so ist damit kein fest etabliertes wissenschaftliches Konzept, sondern ehereine in verschiedenen Wissenschaften und nicht zuletzt auch in der Literaturtheorie9 verwendete metaphorische Umschreibung des Verhältnisses des erkennenden, wirklichkeitsverarbeitenden und handelnden Subjekts und der für dieses gegebenen oder überhaupt relevanten (äußeren) Realität gemeint. Damit möchten wir zunächst nur einer grundsätzlicheren Diskussion der Probleme der Erkenntnistheorie und insbesondere der Subjektphilosophie und mithin einer dezidierten Festlegung auf eine idealistische oder materialistische, eine radikal konstruktivistische oder dogmatisch realistische Position ausweichen,10 ohne das praktische Anliegen und den rationalen Ansatz der Erkenntnistätigkeit und des „sozialen Bewusstseins“ des Menschen aus dem Blick zu verlieren. Damit sollen zugleich Ausgangspunkte und Möglichkeiten einer Ideologiekritik geschaffen werden, die der „Seinsgebundenheit“ des Denkens oder des sozialen Bewusstseins hinreichend Rechnung trägt und doch gleichzeitig den Schwachstellen und Problemen jedes ideologischen Denkens und Handelns, aller ideologisch legitimierten Herrschaftssysteme und insbesondere totalitärer Ideologien und Herrschaftsgegebenheiten entschieden kritisch entgegentritt. Insofern erscheint es zunächst hilfreich, die spezifischen Erscheinungsformen und den Stellenwert von Einstellungen, Anschauungen und Ideologien in der geistigen Ökonomie der Wirklichkeit analytisch zu erfassen, zu präzisieren und zu verorten und dabei zugleich deren besonders problematischen Neigungen und Ausprägungsformen auszumachen, zu bezeichnen und zu erläutern.

Auf der individuellen Ebene wird die Tendenz zur Verfestigung, Stabilisierung und Fortschreibung (des praktisch Bewährten) in der geistigen Ökonomie der (lebensweltlichen) Wirklichkeit u.a. durch die Herausbildung von Einstellungen erkennbar. Einstellungen („Attitüden“)11könnenals relativ stabile Bewusstseinskomplexe oder Mentalitätsgegebenheiten, in denen sich spezifische Wissens-, Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster und nicht selten auch affektuelle Komponenten fest verbunden finden, betrachtet werden.12 Einstellungen haben dabei stets einen bestimmten Objekt- oder Personenbezug. Sie gehen über Meinungsäußerungen hinaus und beinhalten gleichsam Grundorientierungen und zumeist auch „lebensweltlich“ geteilte „Koordinatensysteme“ menschlicher Wirklichkeitsdeutungen und Verhaltensweisen und schaffen damit, neben und im Zusammenwirken mit sozialen Normen und Institutionen, Machtverteilungen und Interessenlagen spezifische Erwartbarkeiten, Vorhersehbarkeiten und Berechenbarkeiten des menschlichen Handelns. Einzelne Einstellungen des Individuums bestehen nicht beliebig nebeneinander, sondern weisen eine Tendenz zur Anschlussfähigkeit, zur mehr oder weniger kohärenten weltanschaulichen Geschlossenheit, im Sinne der Theorie der „Reduktion der kognitiven Dissonanz“ auf.13 Individuelle und kollektiv geteilte Einstellungen können sich zwar im Laufe der Zeit ändern, sie besitzen aber doch eine gewisseStabilität,DauerhaftigkeitundResilienz.NichtseltenfindensichEinstellungen auch mit Vorurteilen oder Selbst- und Fremdstereotypen14 bishin zu distinkten „Feindbildern“ verknüpft, bilden axiale Elemente solcher sozialer Konstrukte, die natürlich auch zur kollektiven geistigen Ökonomie der sozialen Wirklichkeit gehören. Und Einstellungen können sich natürlich auch in ideologische Denkweisen einpassen, können zu deren integralen Bestandteilen werden.

Die individuelle Ebene der Einstellungen wiederum ist mit der der kollektiv geteilten Anschauungen eng verbunden und darüber hinaus nicht selten auch in der religiöser Weltanschauungen oder Ideologien eingelagert. Folgt man Ernest Gellner,15 so sind menschliche „Anschauungen“ jene kulturell verankerten, weitgehend gesellschaftsbestimmten und gesellschaftsbezogenen kollektiven Orientierungen und Sinnmuster, die sich dem einzelnen Menschen – allein durch seine Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur oder einem bestimmten sozialen Milieu – mehr oder weniger selbstverständlich mitgegeben finden und die sich daher nur durch intentionale und zumeist individuell angestrengte kritische Denkprozesse und Erkenntnistätigkeiten hinterfragen und eventuell auch modifizieren oder – in seltenen Fällen der Konversion – ganz außer Kraft setzen lassen.

In diesen kollektiven Anschauungen sind vielfach auch dauerhafte Irrtümer eingefügt, die sich entsprechend schwierig entkräften und überwinden lassen. Natürlich bestätigen und validieren menschliche Kollektiva nicht nur durch die Alltagsroutinen ihrer gesellschaftlichen Praxis die für sie geltenden Anschauungen und verleihen ihnen damit einen mehr oder weniger unerschütterlichen, jedenfalls schwer hinterfragbaren Charakter, sondernsie bekräftigen und stabilisieren besonders relevante Anschauungen auch durch darauf ausgerichtete Rituale, Sozialisationsbemühungen und natürlich ebenso durch entsprechende, gezielt eingesetzte Sanktionsmittel. Dies wird im Falle religiöser Anschauungssysteme oder auch bei modernen Ideologien und deren weltanschaulichen und symbolischen Ausdrucksformen besonders greifbar.

Ideologien, die oft mit gesellschaftlichen Herrschaftssystemen verbunden – als deren Legitimitätsgrundlage, oder aber auch als deren radikale geistige Hinterfragungsinstanz – in Erscheinung treten,16 stellen sich zumeist als umfassende, ganzheitliche und weltanschaulich geschlossene Weltdeutungs- und Interessenrationalisierungssysteme dar. Sie sind in der Regel fest mit bestimmten Wertsystemen, Wertüberzeugungen und Interessenlagen verschränkt und haben als geschlossene Weltanschauungen eine ausgeprägte Tendenz, sich gegen jegliche kritische Hinterfragung ihrer inhärenten Widersprüche und Irrtümer zu „immunisieren“.17 Damit verschließen sich Ideologien oft auch evidenten empirischen Wirklichkeitsfeststellungen und sind nicht zuletzt gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und Befunden oder künstlerischen Einsichten immun. Insofern sind Ideologien stets auch „verzerrte“ Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Wirklichkeit, aber eben doch mehr noch als dies.

Wie bereits angedeutet, können bestimmte Ideologien Herrschaftssysteme begründen und legitimieren oder aber politisches Handeln leiten, das gegebene Herrschaftssysteme radikal in Frage stellt. Ideologien haben zwar eine expansive und inklusive, alles und alle möglichst einschließende Tendenz und Ausrichtung, sie können aber zumindest zeitweilig auch konkurrierend auftreten oder mehr oder weniger konfliktreich nebeneinander bestehen.18 In bestimmten Fällen können sie eine dominante oder sogar alles beherrschendeStellungindergeistigenÖkonomiedersozialenWirklichkeit einnehmen und totalitäre Herrschaftsstrukturen begründen wie auch deren Legitimität absichern und durch diese zugleich gestützt und geschützt werden.

Autoritäre und totalitäre Herrschaftsideologien sichern ihrerseits ihren absoluten Geltungsanspruch – auch gegenüber kritischen wissenschaftlichen Erkenntnissen – nicht selten durch Machtmittel, Verdrängungen, Manipulationen und Umdeutungen, durch „Propaganda“,19 ebenso durch die herrschaftstechnische Marginalisierung oder Minimierung der sozialen Relevanz wissenschaftlicher Einsichten oder kritischer Denkalternativen überhaupt ab. Nicht selten beanspruchen moderne Ideologien aber auch für sich selbst einen Wissenschaftlichkeitsanspruch, suchen sich mit der Aura eines wissenschaftlichen Fundaments oder Charakters zu umgeben, oder – ähnlich wie Religionen durch ihre Theologien – eine scheinbar „wissenschaftliche“ Begründung ihrer Anschauungssysteme in Anspruch zu nehmen.20 Dies gilt insbesondere und sehr auffällig für Ideologien marxistischer Observanz, aber durchaus auch für nationalistische Ideologien, die beispielweise auf geschichtsmythologischen oder auch auf sozialdarwinistischen oder rassistischen pseudowissenschaftlichen Begründungen gestützt sein können.

Um die Besonderheiten von Ideologien und ideologischer Gebilde inder geistigen Ökonomie der (sozialen) Wirklichkeit noch etwas ausholender zu erfassen, wollen wir die Betrachtungen auf jene Bezugsgrößen ausweiten, die diese „Wirklichkeitsökonomie“ wie auch den „subjektiv gemeinten Sinn“ des Handeln schlechthin maßgeblich bestimmen, nämlich Werte und Wertordnungen, bedürfnisbegründete Interessen und Wissens- und Deutungssysteme in ihrem jeweils spezifischen Zusammenspiel. In diesen Betrachtungszusammenhängen lassen sich die Probleme und Deformationen, die Ideologien innewohnen und die von ihnen ausgehen, gleichsam wie unter einem Brennglas erfassen.

WerteundInteressen,Werbeziehungenundkulturelle„Totalität“

Die folgenden Überlegungen können von Max Webers bekannten und vielzitierten Sätzen, die durchaus als paradigmenbegründend für das soziologische Erkenntnisprogramm und Denken gelten können,21 ihren Ausgangspunkt nehmen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die »Weltbilder«, welche durch »Ideen« geschaffen werden, haben sehr oft als Weichenstellerdie Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“22 Von Friedrich H. Tenbruck wurden diese Aussagen gleichsam bildhaft wie folgt erläutert: „Ungeachtet der Tatsache, daß menschliches Handeln unmittelbar von Interessen angetrieben wird, finden sich in der Geschichte langfristige Abläufe, deren Richtung von »Ideen« bestimmt worden ist, so daß hier gewissermaßen die Menschen sich für ihre Interessen abrackern und damit langfristig doch nur das Wasser der Geschichteauf die Mühlen der Ideen leiten, mit ihrem Tun in deren Bann verbleiben.“23Wertideen und Interessen, in ihrem jeweils besonders gelagerten Zusammenspiel, ihrem jeweils eigentümlichen Spannungs- und Verschränkungsverhältnis, sind nicht nur maßgebliche Beweggründe hinter dem „subjektiv gemeinten Sinn“menschlichen Handelns,24sondern kulturspezifische Wertideen strukturieren auch die wichtigsten Rahmenbedingungen oder „Bahnen“ des sinngeleiteten Handelns und Interaktionsgeschehens; und zwar insbesondereinderGestaltsozialerInstitutionen,normativerOrdnungen oder auch moralischer Überzeugungssysteme, alltagsästhetischer Orientierungsgesichtspunkte und kollektiver Identitätsvorstellungen, die allesamt durch bestimmte kulturelle Wertideen begründet und legitimiert werden und aus denen sich demnach auch die entsprechenden Sinnorientierungen und „Rationalitätskriterien“ des Handelns ergeben.25 Dazu einige Erläuterungen.

Bekanntlich ist in der kultur- und religionssoziologischen wie auch in der kulturanthropologischen Forschung immer wieder befunden worden, dass die fundamentalen Wertbestände nahezu aller Kulturen und Religionen – zumal der Hochkulturen26 – sich recht ähnlich darstellen.27 Das heißt, in den verschiedenen Kulturen und Religionen sind zumindest ähnliche Grundwerte vorzufinden und sozial handlungsrelevant. Wodurch sich einzelne Kulturen und Religionen und insbesondere verschiedene Kulturkreise aber zum Teil deutlich und folgenreich unterscheiden, das sind die Wertprioritäten, die „Wertbeziehungen“,28 die Vor- und Nachrangigkeitsverhältnisse und ebenso die Geltungsbereiche sowie die spezifischen Deutungsmodi und die Konkretisierungs- und Vermittlungsformen einzelner Werte – oder mit anderen Worten und kürzer gesagt: die jeweiligen „Wertordnungen“.29

Kulturspezifische Werte und entsprechende Wertordnungen strukturieren, koordinieren und bestimmen mithin das soziale Handeln in mehrfacher Hinsicht: als Begründungs- und Legitimationsgrundlage normativer Systeme und insbesondere – in entwickelteren Gesellschaften – geltender Rechtsordnungen, als entsprechende Wertgrundlagen gegebener Institutionen und Institutionensysteme wie auch als unmittelbar oder mittelbar sinngebende sozialmoralische wie auch alltagsästhetische30 Leit- und Orientierungsmuster des menschlichen Handelns. Kulturelle Wertideen konkretisieren sich zudem in maßgeblichen kollektiven Identitätsvorstellungen und subjektiven Selbstzurechnungen zu sozialen Bezugseinheiten, die übrigens stets einen mehr oder weniger exklusiven Charakter haben. Bestehende Gesellschaftsordnungen als historische Formationen und damit als Strukturzusammenhänge der gesellschaftlichen Praxis beruhen mithin weitgehend auf spezifischen kulturellen Wertideen, „Wertbeziehungen“ und Wertordnungen, in deren Rahmen oder „Bahnen“ sich die jeweilige Dynamik der Interessenauseinandersetzungen, der sozialen Konflikte wie auch der Macht- und Herrschaftsprozesse31 entfaltet, kann mithin in der Denktradition Max Webers als theoretische Leitvorstellung vertreten werden.

Dabei ist das Universum kulturell und sozial maßgeblicher Wertvorstellungen durch zwei wichtige Merkmale charakterisiert: Erstens durch die Tatsache, dass zwischen bestimmten Grundwerten oder „letzten Wertmaximen“ häufig tiefgreifende Gegensätze oder Spannungen bestehen oder – indenWortenMaxWebersausgedrückt–einewigerundunauflöslicher „Kampf“vorherrscht.32AlsobesondereSpannungs-undVerschränkungsbeziehungen zwischen einzelnen Werten gegeben sind,33 die nicht zuletzt aus ihrer zumindest partiellen Unversöhnlichkeit, „Unüberbrückbarkeit“34 und daher auch schwierigen Vermittelbarkeit resultieren, vor allem soweit einzelne Werte und Wertstandpunkte bis zur letzten Konsequenz vertreten und eingefordert werden bzw. praktisch verwirklicht werden sollen. Diese Auffassung der Werteproblematik folgt gleichsam einer Sichtweise, wie sie von Max Weber in Anschluss an Friedrich Nietzsche und wohl auch an Jacob Burckhardt vertreten wurde, und geht von einem „Polytheismus“ unversöhnlicher „letzter Wertmaximen“ aus.35 Mit Max Weber gesprochen und in dessen bildhaften Worten ausgedrückt: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen »Gott« und »Teufel«.“36

So lassen sich vor allem – und diese Spannungsdimension erscheint im Hinblick auf die Verfassung sozialer Ordnungen besonders relevant – tiefe und institutionell nur äußerst schwierig vermittelbare Gegensätze zwischen den Grundwerten der (individuellen) Freiheit einerseits und der sozialen Gleichheit und kollektiven Sicherheit andererseits feststellen. Etwas abstrakter kann man auch von dominant „individualistischen“ oder „kollektivistischen“ Wertorientierungen sprechen, wiewohl diese Unterscheidung bei genauerer Betrachtung nicht selten problematisch und trügerisch erscheint. Aber beispielsweise auch die letztlich unaufhebbaren Unvereinbarkeiten zwischen demgrundlegendenWertdesunabdingbarenGlaubensaneinenbestimmten Gott und dem Grundwert der religiösen Glaubensfreiheit37 lässt einen solchen diametralen und damit eigentlich unüberbrückbaren Wertdissens erkennen. Auch zwischen Wertvorstellungen, die sich auf die kollektive Identität und subjektive Selbstzurechnung beziehen, bestehen in der Regel gewisse Spannungen oder Unvereinbarkeiten, die vor allem in den Prozessen der modernen Staaten- und Nationenbildung38 konfliktreich in Erscheinung traten und die vielfach auch heute noch virulent sind oder in einzelnen Fällen sogar neu aufleben und unmittelbar handlungs- und konfliktrelevant werden können.

Das Universum kulturell bedeutsamer Werte ist zweitens aber auch dadurch gekennzeichnet, dass die potenziellen Wertgegensätze in den einzelnen Kulturen oder Religionen durch einen zumindest teilweise verbindlichen Konsens über Wertprioritäten und Interpretationsmodi der Werte entschärft und so in eine mehr oder weniger konsistente, hierarchisch strukturierte „Wertordnung“ gebracht werden. Die Eigentümlichkeit und Besonderheit einzelner Kulturen besteht nicht zuletzt – wenn auch nicht ausschließlich – darin, welche Wertprioritäten und Wertkonstellationen sich in der betreffenden Kultur weitgehend konsensuell und zumeist auch unhinterfragt festgelegt finden und welche kollektiven Identitätsvorstellungen sich damit hauptsächlich verbinden.

Um es nochmals, etwas anders formuliert, zu wiederholen: In unserem, in der Denktradition Max Webers stehenden Analyseansatz39 wird vertreten, dass Wertideen abstrakte, zumeist nicht unmittelbar handlungsrelevante, aber doch zugleich verständliche und kulturwissenschaftlich zugängliche, erschließbare und rekonstruierbare „Sinnprojektionen“ darstellen,40 bei denen die kulturspezifischen Beziehungen zwischen grundlegenden Werten maßgeblich erscheinen, zumal diese gleichsam strukturierte Wertordnungen ergeben. Die handlungsleitende Bedeutung einzelner Werte wie die der Wertordnungen insgesamt konkretisiert und objektiviert sich – wie bereits erwähnt – in mindestens fünf wichtigen Erscheinungsformen, namentlich in: Institutionen und Institutionenordnungen, formalen und informellen normativen Systemen, mit letzteren mehr oder weniger eng verschränkten lebensweltlichen sozialmoralischen Überzeugungen und Maßgaben der alltäglichen Lebensführung, ebenso wie in der Gestalt ästhetischer und alltagsästhetischer Leitgesichtspunkte sowie in kollektiven Identitätsvorstellungen, die vielfach im Hinblick auf die subjektive kollektive Selbstzurechnung maßgeblich erscheinen.41 Zugleich ist die Erkenntnis wichtig: Über diese verschiedenen verhaltensrelevanten und handlungsleitenden Konkretisierungsformen spezifischer Wertideen und ihren Rückwirkungen werden Wertordnungen gleichsam stabilisiert, fortgeschrieben oder auch (zumeist längerfristig) verändert. In einer universalhistorischen Betrachtungsweise42 könnte und müsste man die Analyse der Wertkonstellationen zudem im Zusammenhang mit Weltbildern und ihren ethischen und kognitiven Korrelaten entfalten, denn erst in ihrer engen Verbindung mit spezifischen Wissenszusammenhängen und Deutungsweisen werden Wertideen in mehr oder weniger kohärente Weltbilder und Überzeugungssysteme wie auch Anschauungen transponiert und als solche handlungsrelevant.

Ideologien – so wurde bereits ausgeführt – sind zumeist eng bestimmten Wertordnungen verbunden. Anders als in Kulturen schlechthin, aber ähnlich wie in bestimmten (fundamentalistischen) Religionen, sind diese Wertbindungen und Wertmaximen sehr rigide und in eine absolute, wenig elastische, wenig flexible oder ausbalancierbare Hierarchie gesetzt. Und dies schlägt bei totalitären Ideologien und Herrschaftssystemen auch zumindest tendenziell auf nahezu alle Konkretisierungsformen solcher Wertordnungen, also auf die Normen- und Rechtssysteme, institutionellen Ordnungen, die alltägliche Sozialmoral, die ästhetischen Prinzipien und die kollektiven Identitätsvorstellungen mehr oder weniger rigide durch, so dass diese einen weitgehend monolithischen, also wenig ausdifferenzierten oder elastisch ausbalancierbaren, nur recht beschränkt anpassungsfähigen Charakter und eben eine ganzheitlich totalitätsgebundene Verfasstheit aufweisen. Dies korrespondiert zugleich entsprechend unhinterfragbar „geschlossenen“, dogmatischen Weltbildern.

InteressenalsRationalisierungenmenschlicherBedürfnisse

Folgt man Albert O. Hirschman, so war die „Entdeckung“ der Interessen der Menschen und vor allem die Einsicht, dass es legitim und rational erscheint, eigene Interessen zu haben, zu verfolgen und zu vertreten,43 ein großer Durchbruch in der moralbezogenen Ideengeschichte der Menschen, der erst in seiner Konsequenz bestimmte Formen des wirtschaftlichen Handelns und Gewinnstrebens ermöglichte und entfesselte.Mit der Anerkennung der eigenen Interessen als nicht nur berechtigte, sondern sogar sozial nützliche und erstrebenswerte Motive und Antriebe des menschlichen Handelns, wie etwa von Adam Smith richtungsweisend vertreten wurde,44 erfolgte zugleich eine Rationalisierung in der Reflexion menschlicher Bedürfnisse, die diese aus der weitgehend oder ausschließlich religiös oder moralisch begründeten, dichotomen Vorstellungswelt von „Tugenden“ und „Lastern“ als bedürfnisbegründete Erscheinungsformen oder Motive des menschlichen Handelns herauslöste und als eigene, durchaus vernünftige und berechtigte Beweggründe und Antriebskräfte des Verhaltens undder sozialen Handlungsbestrebungen begriff.

Wiewohl menschliche Bedürfnisse weitgehend in der biologischen, in der körperlichen Verhaltensausstattung und Verhaltenssteuerung des Menschen verankert sind, treten sie eher selten unmittelbar, spontan oder instinktiv in Erscheinung, sondern unterliegen einer mehr oder weniger weitgehenden kulturellen Deutung und Überformung wie auch einer entsprechenden, nicht selten institutionalisierten Kontrolle und Selbstkontrolle.45 Dies gilt umso mehr im Hinblick auf Interessen, die sich gleichsam als reflexive Rationalisierungen menschlicher Bedürfnisse zu erkennen geben, wobei als ein wichtiges Moment solcher Bedürfnisrationalisierungen die mehr oder weniger durchdachte oder mitunter auch nur erahnte Einsicht in die gegebenen oder möglichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Interessen und Interessenlagen zum Tragen kommt. Auf die gesellschafts- oder gruppenspezifische Ausdeutung und Rationalisierung der Bedürfnisse im Sinne bewusster Interessen wirken – wie Max Weber dies so treffend erkannte und auf den Begriff brachte – stets auch kulturelle bzw. religiöse Wertideen ein.46 Dies gilt im Hinblick auf elementare, überlebenssichernde körperliche bzw. materielle Bedürfnisse wie die der Befriedigung des Hungergefühls oder des Durstes, des Sexualtriebes und der Reproduktion oder des Sicherheitsempfindens und setzt sich in den „höheren“ Bedürfnissen der sozialen Anerkennung und Selbstbestätigung fort.

Es dürfte zutreffend sein, die frühen Vergemeinschaftungsformen des Menschen anthropologisch aus ihren Reproduktions- und Sicherheitsbedürfnissen,ausderNotwendigkeit„Schutzgemeinschaften“angesichtsnatürlicher Gefahren und Bedrohungen durch andere Menschen, also aus der, wie Heinrich Popitz sagte: „Verletzungsmächtigkeit“ und „Verletzungsoffenheit“ des menschlichen Körpers herzuleiten und zu begründen.47 Ebenso erscheint es überzeugend, komplexere soziale Phänomene wie das der sozialen Autorität und Fügsamkeit, der sozialen Assoziation und Organisation oder der sozialen Herrschaft und Führung, einschließlich der Elitenbildung, aus anthropologisch fundierten, elementaren Bedürfnissen zumeist wechselseitiger, aber oft zugleich asymmetrischer sozialen Anerkennungserwartungen und Anerkennungsbereitschaften begründet zu verstehen.48 Aus solchen vielfältigen, gleichsam im biologischen Verhaltensrepertoire verankerten menschlichen Bedürfnissen ergeben sich individuelle Interessen und Interessenbestrebungen, allerdings – wie bereits angesprochen – zumeist nicht unmittelbar, instinktiv oder spontan, sondern reflexiv unter Mitwirkung kollektiven Wissens und sozialer Deutungen wie auch dem mehr oder weniger maßgeblichen Einfluss bestimmter kultureller oder religiöser Wertideen und Wertüberzeugungen. Damit erscheinen bestimmte Interessenbestrebungen und Interessenlagerungen nicht nur mehr oder weniger fest in bestimmte Weltanschauungen eingebunden, sondern können mitunter auch als Grundelemente entsprechender Ideologien fungieren und zugleich deren „Seinsgebundenheit“ zum Ausdruck bringen.

Das Besondere im Falle der Interessenrationalisierung im Kontext totalitärer Ideologien ist der absolute Vorrangigkeitsanspruch bestimmter Interessen und die Unterordnung, Delegitimierung oder Gleichschaltung aller anderen Interessen und Interessenlagen, wie im Falle der klassentheoretisch fixierten marxistischen Ideologie im Hinblick auf die Überhöhung der Interessen des „Proletariats“ und der kommunistischen Partei als dessen „revolutionärerAvantgarde“inwelthistorischerMission.Interessen–eigene wie auch die anderer sozialer Gruppen – werden in entsprechenden Ideologien einer rigiden dogmatischen und wertgebundenen Deutung und Fixierung,49 z.B. als „antagonistische Klasseninteressen“, unterworfen und dies kann natürlich auch entsprechend einschränkend und repressiv auf die hinter den Interessen lagernden unterschiedlichen Bedürfnissen durchwirken. Übrigens spielen spezifische Interessenrationalisierungen auch in der Weiterentwicklung und Umformung religiöser Weltbilder eine maßgebliche Rolle, wie wir aus der Religionssoziologie Max Webers wissen.50

Lebensweltliche,wissenschaftlicheundreligiöseWissenssysteme

Neben Wertideen und Wertordnungen wie auch Bedürfnissen und Interessen spielen Wissens- und Deutungssysteme ebenfalls eine wesentliche Rolle in den Sinnmustern und Orientierungen des das menschliche Handeln leitenden „subjektiv gemeinten Sinns“51 und in der kollektiven geistigen Ökonomie der Wirklichkeit oder, etwas anders ausgedrückt, im sozialen Bewusstsein. Schaut man vor allem auf die Neuzeit oder die neuere Geschichte und Geistesgeschichteder Menschheit, also auf einen historischen Zeitraum, in dem auch moderne Ideologien aufgetaucht sind und teilweise geschichtsmächtig wurden, so lassen sich drei wichtige, locker verkoppelte oder auch kompliziert miteinander verbundene oder verschränkte Wissenssysteme ausmachen, die wir imHinblickaufdiegeistigeÖkonomiederWirklichkeitals „lebensweltliches“, „wissenschaftliches“ und „religiöses“ Wissens- und Deutungssystem bezeichnen können.

Zum„lebensweltlichen“AlltagswissengesellschaftlicherPraxis

Das Kernelement der „Lebenswelt“ bildet das alltägliche soziale Geschehen, die „Wirklichkeit der Alltagswelt“, die sich aus dem praktischen Handeln und dessen Erfahrungszusammenhängen sowie den alltäglichen Interaktionsvorgängen und den darin involvierten Sinnmustern und Relevanzstrukturen wie auch dem darauf bezogenen Alltagswissen ergibt. Auf Max Weber zurückgreifend, könnte man auch sagen, dass die „Lebenswelt“ durch den „subjektiv gemeinten Sinn“,52 der das alltägliche Handeln von Menschen orientiert und leitet, konstituiert wird. Hierbei werden Sinnmuster, Relevanzstrukturen und Wissenszusammenhänge durch sich vielfach wiederholende und routinisierende Handlungsabläufe in der gesellschaftlichen Alltagspraxis erzeugt, reproduziert und sozial validiert, wobei entsprechende intersubjektiv angelegte Austausch-, Verständigungs- und Bestätigungsprozesse maßgeblich erscheinen.

Unter einem etwas anderen sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkt betrachtet, bildet die Weitergabe, Vermittlung und subjektive Aneignung solcher Sinnmuster und Relevanzstrukturen sowie entsprechender Werte- und Wissensbestände zugleich einen zentralen Aspekt des die verschiedenen Generationen übergreifenden und miteinander verbindenden – manchmal auch „aneinander kettenden“53 – Sozialisationsgeschehens. Das maßgebliche Alltagswissen wird dabei stets als in einer spezifischen Weise strukturiert,typisiertundsinnhaftgeordnetbegriffen,wobeidemGrundaufbau, der Grundordnung dieses Alltagswissens insbesondere räumliche, zeitliche, sachliche und soziale Bezüge, Differenzierungen und Signifikanzen eigen sind. Dieses Alltagswissen, das für den einzelnen Menschen in seinem gewöhnlichen Lebenshorizont einen weitgehend unhinterfragten, selbstverständlichen Charakter besitzt,54 ist ihm (wie seine Kultur oder seine kulturelle Umwelt) gesellschaftlich gleichsam mit- und vorgegeben und wird – wie bereits angedeutet – durch Sozialisations- und Lernprozesse in alltäglichen sozialen Handlungs-, Interaktions- und Erfahrungskontexten vermittelt sowie „subjektiv“, also vom einzelnen Individuum in seiner eigenen Art, aufgenommen und angeeignet („internalisiert“).

Geht man von einem solchen Verständnis der hauptsächlich auf intersubjektiven Austausch- und Verständigungsprozessen beruhenden „Lebenswelten“ aus, deren kognitiver Kern aus nahezu selbstevident erscheinenden, sozial geteilten Sinnmustern und Relevanzstrukturen und mithin auch aus bestimmten tradierten Wissens- und Wertbeständen besteht, und stellt man ihre zentrale Stellung in den alltäglichen Koordinations- und Orientierungsprozessen des menschlichen Handelns, der gesellschaftlichen Praxis, in Rechnung, so wird ermessbar, welche soziale Tragweite tiefgreifende Störungen der lebensweltlichen intersubjektiven Kommunikations- und Selbstverständigungsprozesse haben können.55 Damit werden nämlich alltägliche Handlungsroutinen und eingespielte Handlungsabläufe unterbunden, festgefügte Erwartungsstrukturen wie auch entsprechende Reaktions- und Sanktionsmechanismen weitgehend oder gänzlich außer Kraft gesetzt, verlieren gängige Situationsdefinitionen und Realitätsdeutungen ihre Selbstverständlichkeit, ihre kollektive Verbindlichkeit und ihre eingefahrene und bewährte Handlungsanschlussfähigkeit. Es geht – bildhaft gesprochen – eine tiefe Erschütterung durch das alltägliche Gefüge des sozialen Lebens, dessen Gebälk die gemeinsam geteilten Sinnstrukturen intersubjektiver Austauschvorgängebilden.

DiedabeiauftretendenKommunikationsstörungensind sowohl Symptome wie zugleich eigendynamische Verstärkungsmechanismen des sozialen Krisenzustandes, der stets auch die Handlungsunsicherheit und Orientierungsschwierigkeiten der einzelnen Menschen bis hin zur vollständigen Ratlosigkeit, Apathie, Verstörung, Ohnmacht und Verzweiflung zur Kehrseite hat. Insofern sind lebensweltliche Kommunikationsstörungen einer Gesellschaft und der Verlust entsprechender Selbstverständlichkeiten ein starkes und folgenreiches Krisenanzeichen und zugleich ein untrügliches, ernst zu nehmendes Alarmsignal im Hinblick auf die „geistige Situation der Zeit“. Und sie sind zugleich breite und offene Einfallstore für bereitstehende oder sich neue entwickelnde Ideologien und sonstige Heilsverheißungen jeder Art.

Natürlich wollen wir nicht vergessen, dass die moderne Gesellschaft gleichzeitig „systemisch“ integriert,56 also durch systemische und damit zugleich weitgehend zweckrational begründete und ausgerichtete Beziehungsmuster gekennzeichnet und koordiniert wird, die auf anderen Anreiz- und Sanktionsmechanismen der menschlichen Verhaltenssteuerung als den lebensweltlichen intersubjektiven Verständigungs- und Konsensbildungsprozessen beruhen. Die systemische Seite einer Gesellschaft wird vor allem in ihren Organisationen und Herrschaftsstrukturen manifest. Soweit diese – im besten Falle „bürokratisch-rationalen“ – Beziehungsmuster und Koordinationsprinzipien des Handelns – die gewiss die hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und politische Selbststeuerungskapazität und damit auch den Wohlstand und die Wohlfahrt moderner Gesellschaften begründen – allzu übergewichtig zu werden drohen und keine hinreichende Ausbalancierungdurch lebensweltliche Kommunikations- und Koordinationsprozesse des Handelns erfahren, tritt indes ein problematischer Verdinglichungs- und Entfremdungsprozess der Menschen ein,57 also ebenfalls ein bedenklicher gesellschaftlicher Krisenzustand mit einer etwas anderen Ausprägungsform und Schlagseite.58 Die systemischen Strukturen der Gesellschaft sind, historisch betrachtet,59 gleichwohl das Ergebnis langfristiger Rationalisierungsprozesse, zu denen die Fortschritte des wissenschaftlichen Denkens sicherlich einen erheblichenBeitragleisteten.60

Von Ideologien und entsprechenden Herrschaftsmechanismen gehen oft zwangsförmige Unterbindungen und Überformungen lebensweltlicher Wissensformen und Selbstverständnisse aus, die von Menschen nicht nur als repressiv, sondern oft auch als zutiefst störend und entfremdend empfunden werden. Daher bilden solche lebensweltlichen Wissens- und Deutungssysteme auch hartnäckige Widerstandspotenziale gegenüber ideologisch begründeten Herrschaftszumutungen.61 An ihnen und ihrem permanenten, zähen Widerstand können totalitäre Herrschaftssysteme letztlich auch scheitern. Tiefe Krisen lebensweltlicher Wissensformen und Selbstverständnisse bilden zugleich – wie bereits kurz erwähnt – günstige Rahmenbedingungen des erfolgreichen Vorstoßes und der Ausbreitung alter oder neuer Ideologien und Heilslehren, wie wir auch gegenwärtig erkennen können.

Zumwissenschaftlich fundierten Wissen

Die Sozial- und Kulturgeschichte der Menschheit ist nicht zuletzt eine Geschichte der Wissensanhäufung und der Wissensvermehrung, ebenso wie des Vergessens und Verwerfens von Wissen und gleichzeitig eine Geschichte der Wissenslücken und der Wissensirrtümer. Wie Wissen die Menschen in der Bewältigung ihrer lebenspraktischen Aufgaben und Herausforderungen unbestreitbar und entscheiden weitergebracht hat, so haben bestimmte Irrtümer und kollektive Illusionen Menschen aber auch in den zivilisatorischen Entwicklungen zurückgeworfen und nicht selten sogar ins Verderben gestürzt.62 Daher sind das Erkennen und das tunliche Vermeiden von Irrtümern und insbesondere von ideologischen Täuschungen, gesellschaftlichen Illusionen und politischen Fehlurteilen auch so wichtig, manchmal überlebenswichtig.

Neben dem Irrtum als nachweislich „falschem“ Wissen im Hinblick auf die Tatsachenwelt, dessen Nichtzutreffen früher oder später empirisch und kritisch erkannt werden kann, gibt es noch das gleichsam unermessliche individuelle und kollektive „Nichtwissen“, das Menschen im praktischen Leben mitunter vor ähnliche Schwierigkeiten wie die besagten Irrtümer stellt. Jeder Irrtum ist natürlich auch eine spezifische Form des Nichtwissens, das Umgekehrte gilt allerdings nur bedingt, wenngleich Nichtwissen durchaus auch als eine wichtige Quelle des Irrtums angesehen werdenkann. Mit dem partiellen oder weitgehenden Zusammenbruch der Selbstverständlichkeiten lebensweltlicher Wissensgrundlagen und Wissensbezüge ergibt sich übrigens eine besondere und zugleich besonders problematische Form des Nichtwissens, der Orientierungslosigkeit und Verhaltensunsicherheit, die sich (psychologisch) wechselseitig verstärken können, wie bereits umrissen wurde. Diese Krisensituationen schaffen zugleich günstige „außeralltägliche“ Rahmenbedingung für die Entstehung und Verbreitung von „Erlösung“ versprechenden Ideologien und Heilslehren, welcher Observanz auch immer, wie ebenfalls bereits angemerkt wurde.

In der Tradition des kritischen und skeptischen Denkens hat Karl R. PopperganzzutreffendaufdasparadoxeVerhältnisvon„Wissen“und „Nichtwissen“ aufmerksam gemacht. In seinem berühmten Vortrag „Die Logik der Sozialwissenschaften“ stellte er folgende merkwürdigen und für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess folgenreichen Thesen einander gegenüber: „Erste These: Wir wissen eine ganze Menge – und nicht nur Einzelheiten von zweifelhaftem intellektuellen Interesse, sondern vor allem auch Dinge, die nicht nur von größter praktischer Bedeutung sind, sondern die uns auch tiefe theoretische Einsicht und ein erstaunliches Verständnis der Welt vermitteln können. Zweite These: Unsere Unwissenheit ist grenzenlos und ernüchternd. Ja, es ist gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften (auf den meine erste These anspielt), der uns immer von Neuem die Augen für unsere Unwissenheit öffnet, gerade auch aufdem Gebiet der Naturwissenschaften selbst. Damit hat aber die sokratische Idee des Nichtwissens eine völlig neue Wendung genommen. Mit jedem Schritt, den wir vorwärts machen, mit jedem Problem, das wir lösen, entdecken wir nicht nur neue und ungelöste Probleme, sondern wir entdecken auch, dass dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist.“63 Dies ist gewiss eine ebenso ernüchternde wie realistische Einschätzung menschlicher und insbesondere wissenschaftlicher Wissensgrenzen.

Nun ist nicht alles bekannte und bewährte Wissen, das uns in der gesellschaftlichen Praxis nützlich erscheint, wissenschaftlich gewonnenes und solcherart gesichertes Wissen. Lediglich ein Teil – vielleicht sogar ein recht geringer Teil – der in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften vorhandenen und in den Vorgängen der Sozialisation und Bildung von Generation zu Generation weitervermittelten Wissensbestände und Kulturtechniken bildet wissenschaftliches Wissen. Und doch sind die großen Fortschritte der Menschheit, die Aufklärungsleistungen, die Rationalitäts- und Wohlstandsentwicklungen, insbesondere der „industriellen Zivilisation“ wieauch der „postindustriellen Gesellschaft“,64 wohl maßgeblich und unbezweifelbar aus der gesellschaftlichen Anwendung und technologischen Nutzung wissenschaftlicher und vor allem naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hervorgegangen.

Gegenüber den aus menschlichen Erfahrungen und durch sie immer wieder gewonnenen und erneuerten Wissensbeständen, die Menschen zu mehr oder weniger klugen und erfolgreichen praktischen Problemlösungen befähigen, hebt sich das wissenschaftliche Wissen durch mehrere Besonderheiten ab, ohne dabei allerdings den Anschluss oder die Einbettung in das lebensweltliche Wissen schlechthin zu verlieren. Die Besonderheiten des wissenschaftlichen Wissens – dem Ziel der „Suche nach Wahrheit“65 oder der „objektiven Erkenntnis“ verpflichtet – liegen darin, dass dieses in sehr konsequenter Weise auf die Prüfung der Irrtumsmöglichkeiten und die Eliminierung des Irrtums angelegt ist. Damit hängen gleichsam auch drei entscheidende graduelle Differenzen des allgemeinen, alltäglichen und des wissenschaftlichen Denkens und Wissens zusammen.