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8 Jahre sind seit dem Orinama-Anschlag, dem größten Terroranschlag an Bord des Generationenschiffs IHP Last Hope vergangen. Dieser Tag veränderte für die beiden verbliebenen Orinama-Schwestern, Naomi und Ari alles, die Gesellschaft stieß sie aus. Auch jetzt noch befinden sie sich am Rand und während Naomi versucht mit aller Macht sich von ihrer Mutter abzugrenzen, fällt Ari erneut den Spätfolgen des Attentats zum Opfer. Ein bitterer Rückschlag, oder eine neue Hoffnung? Amelie Revans, die Tochter einer der bedeutendsten Familien der Last Hope, nimmt sie zum ersten Mal wahr und stellt sich der Aufgabe, Ari in die Klasse zu integrieren. Währenddessen verschlechtert sich die Sicherheitslage an der Grenze zur verlorenen Sektion. Können Naomi und ihre Kameraden die Bewohner des Generationenschiffes beschützen?
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Seitenzahl: 488
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Texte: © 2020, Andreas Bernrieder Umschlaggestaltung: © Idee: Andreas Bernrieder, gestaltet durch shinji2603 auf fiverr.com Verlag: Andreas Bernrieder Augartenstraße 112, 68165 Mannheim [email protected]
Herzlich Willkommen zum ersten Band der IHP Last Hope Reihe!
Nach Jahren der Arbeit (mal mehr, mal weniger aktiv) habe ich dieses erste Buch abgeschlossen und widme mich nun der Fortsetzung (IHP Last Hope: Reditus), sowie anderen Buchprojekten. Den Lesern dieses Buches möchte ich empfehlen zunächst die beiden Anhänge zu lesen, oder zumindest zu überfliegen, um ein Gefühl für die Welt der Last Hope zu bekommen. Danke an meine Freunde, Familie und an viele Serien, Bücher und Filme, die mir immer wieder Inspirationen gegeben haben.
Disclaimer:
Dieses Buch setzt sich auseinander mit und zeigt Mobbing, Verlustängste, mutwillige Gewalt und Selbstverletzungen. Die Darstellung ist stilistisch überspitzt. Falls diese Themen dich belasten, oder betreffen ist diese Geschichte vielleicht nicht für dich geeignet. Falls du Probleme in diesem Bereich hast suche bitte professionelle Hilfe, z.B. unter www.nummergegenkummer.de
Es war der achte Jahrestag des Anschlags. Die Acht war für manche eine Heilige Zahl, für andere eine Spirituelle und für wieder andere schlicht eine Glückszahl. Doch für alle war dieser achte Jahrestag die Erinnerung an eine Tragödie. Für Betroffene war es die Erinnerung an eine nicht geheilte Wunde, die mal mehr, mal weniger schmerzte. Der Jahrestag war zu einer Zeremonie geworden, bei der sie versuchten, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Die Andacht würde am Nachmittag beginnen, zum selben Zeitpunkt wie die Geiselnahme vor acht Jahren. Die Schulen würden den ersten Tag nach den Ferien frühzeitig beenden, damit die Kinder mit ihren Familien trauern konnten.
In einer kleinen Wohnung in den Sozialvierteln bereiteten sich zwei Schwestern auf diesen wichtigen Tag vor. Heute ging es für beide darum nicht aufzufallen, keinen falschen Schritt zu machen. Die ältere, eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren, einem kräftigen, anmutig wirkenden Körper und dunklen, grünen Augen trieb ihre Schwester zur Eile an. Sie wollten lange vor den anderen Schülern in den Klassenzimmern sein. Beide trugen ein schwarzes Trauerkleid. Sie waren schlicht, ohne schmückende Ornamente, die Aufmerksamkeit erregen konnten, bis auf die zwei schmalen Streifen, die mit rotem Stoff auf die linke Schulter genäht waren. Endlich war auch die Jüngere fertig. In ihrem Kleid, dass schon deutliche Abnutzungsspuren zeigte, wirkte sie noch zerbrechlicher als das ganze Jahr über. Schweigend sahen die Schwestern sich an, bevor sie sich lange umarmten, sich gegenseitig Kraft für den restlichen Tag spendeten.
Gemeinsam verließen sie die Wohnung, gingen sie die Straße hinab zur nächsten Bahnstation und warteten. Alleine stiegen sie schließlich in unterschiedliche Bahnen, die Köpfe gesenkt, um nicht erkannt zu werden, auf dem Weg in das nächste Kapitel ihres Lebens.
Naomi Orinama blickte auf das beeindruckende Gebäude der Akademie der Sicherheit. Es war mehr ein Gebäudekomplex als ein einzelnes Gebäude. Die einzelnen Gebäudecluster waren von weitläufigen Grünflächen umgeben, auf denen trotz der frühen Stunde bereits Studenten unterwegs waren.
Die meisten trugen normale Alltagskleidung, jedoch waren vereinzelt auch schwarze Trauerklamotten, wie Naomi sie trug, zu sehen. Gegenüber der Bahnstation, an der Naomi ausstieg lag der Hauptgebäudekomplex mit den Büros der Verwaltung, der Dozenten und der Angestellten. Ihr Ziel war ein großer Gebäudeblock, der zur Linken versetzt lag. Dort wurden die Studenten der Sekundarstufe Vier, die Naomi ab diesem Jahr besuchen würde, ausgebildet. Letztes Jahr noch hatten ihre Schritte zu dem Gebäude der Sekundarstufe Zwei geführt, aber durch wochen- und monatelanges Lernen hatte sie sich das nötige Wissen angeeignet, um nicht nur die Abschlussprüfungen dieser Stufe zu bestehen, sondern in den folgenden Ferien auch die Prüfungen der Stufe drei abzulegen. Jetzt würde sie die jüngste Studentin der neuen Stufe sein.
Ein Sonderfall, eine Anomalie. Aber würde sie daraus einen Vorteil schöpfen können? Naomi hoffte es. Sie hoffte, dass ihre neuen Mitschüler ihre Leistung honorieren würden, dass sie Naomi in ihre Mitte aufnehmen würden. Stopp. So durfte sie gar nicht denken. Tief in ihrem Inneren wusste sie, wie es wahrscheinlich werden würde. So wie es letztes Jahr gewesen war, im Jahr davor und in allen Jahren davor, seit dem Anschlag. Der größte Vorteil, den das Überspringen der dritten Stufe bringen würde, war, dass Misa eine Stufe weit entfernt war. Ein leichtes Gefühl der Verbitterung, der Trauer, beschlich sie, wie jedes Mal, wenn sie an ihre ehemalige beste Freundin, ihre letzte Freundin dachte. Und wie jedes Mal schob sie es beiseite, verdrängte es, um den Schmerz zu entgehen.
Naomi war jetzt am Hauptgebäude vorbei. Die gewaltigen Deckenstrahler der Last Hope sorgten für einen gleichmäßigen Schatten um das gesamte Gebäude, der seine Position nur nachts änderte, wenn die Beleuchtung heruntergefahren wurde, um einen Tageszyklus der alten Erde zu imitieren. Wegen diesen Bedingungen waren dort schattenliebende Gewächse gepflanzt worden. Naomi betrachtete sie eingehend im Vorbeigehen, um einen Vorwand zu haben ihr Gesicht von der ihr entgegenlaufenden Gruppe abzuwenden. Sie spürte ihre Blicke, konnte aber nicht sagen, ob das an ihrer Person oder ausnahmsweise nur an ihrer Kleidung lag.
Sie trug heute ein schwarzes Kleid der Trauer. Ein Kleid zu Gedenken der Toten in ihrer Familie. Zwei Streifen in einem dunklen Weinrot zierten ihre linke Schulter. Ein Streifen für ihre Schwester, ein Streifen für ihren Vater. Naomi überlegte, ob die vorbeiziehenden Studenten wussten wer sie war. Würden sie es ablehnen, dass sie dieses Kleid trug? Es war ihr Recht. Auch sie hatte Familie verloren. Diese Gedanken währten nur wenige Momente und als die Gruppe sie passiert hatte, richtete Naomi ihren Blick wieder auf ihr Ziel. Sie war nur noch wenige Hundert Meter entfernt und konnte jetzt über den Vorplatz die Front des Gebäudes sehen. Sie war in einer Mischung aus antikem, und modernen Stil gehalten mit prachtvollen Säulen, die das etwas vorgelagerte Dach stützten. Dahingegen wurde der weiße Gebäudekorpus von großen Fenstern durchbrochen. Darin waren Szenen des studentischen Lebens zu sehen. Naomi versuchte zu erkennen, welche eine Simulation der virtuellen Fenster waren und welche Fenster ihre echte Funktion ausübten. In der dritten Etage entdeckte sie ein falsches. Es wirkte auf den ersten Blick wie echt. Man sah eine Vorlesung, wahrscheinlich über Militärtaktik, aber das war nicht eindeutig zu erkennen. Aber der Umstand, dass die ersten Vorlesungen erst in 90 Minuten beginnen würden zerbrach die Illusion.
Naomi durchquerte den Vorhof und betrat das Gebäude. Im Inneren folgte es demselben einfachen Bauplan, wie jedes andere auf dem Campus, sodass sie sich schnell zurechtfand. Eine Treppe hoch, durch einen langen Gang und sie stand vor ihrem neuen Kursraum. Etwas zögernd griff sie nach der geschlossenen Tür. Würde sie die Erste sein? Langsam zog sie die Tür auf und betrat den Raum. Ja. Sie war die Erste. Als Naomi die Türschwelle überschritten hatte aktivierte sich die Raumbeleuchtung, sowie die digitalen Fenster. Momentan waren sie auf die einfache Außenansicht eingestellt, sodass sie die Grünanlagen und die spärlichen Studentengruppen beobachten konnte. Der Raum war, wie das ganz Gebäude Standard und bot 60 Plätze auf 10 Reihen. Dem Betreuungsschlüssel nach würde der Kurs nur etwa die Hälfte der Plätze belegen, was bedeutete, dass es noch viele andere dieser Vorlesungsräume im Gebäude geben musste, um allen Studenten der vierten Jahrgangsstufe Platz zu bieten. Naomi ließ sich auf der Fensterseite des Raums in der ersten Reihe nieder. Erfahrungsgemäß würden hier die wenigsten sitzen wollen, also nahm sie niemanden den Platz weg.
In die Tischfläche vor ihr war ein Display eingelassen. Sie tippte es einmal an und legte dann ihre gesamte Hand auf, um sich in ihrem Studienkonto anzumelden. Nach einem Moment leuchtete das Display grün auf und Naomi zog ihre Hand zurück. Dort war jetzt in weißer Schrift auf schwarzem Grund zu lesen:
Anmeldung erfolgreich.
Identität: Naomi Orinama
Sekundarstufe: Vier (4)
Aufzeichnungen – Informationen – Notenübersicht – Persönliche Daten
Naomi tippte auf Informationen und öffnete so ein Fenster mit Informationen zu ihrem Stundenplan, den Dozenten und vielen weiteren Themen. Sie rief ihren Stundenplan auf und vergewisserte sich, dass sie sich alles korrekt gemerkt hatte. Für den heutigen Tag waren eine Einheit Strategie, sowie eine Einheit angewandte Sicherheit eingetragen, bevor der Tag frühzeitig um 15 Uhr endete. Danach sollte es den Schülern freigestellt sein zu einer der vielen Trauerfeiern zu gehen oder den freien Nachmittag zu genießen. Als nächstes rief Naomi die Informationen über die Dozenten auf. Auf dem Display tauchten quadratische Bilder der verschiedenen Dozenten auf, untertitelt mit dem Namen und dem Fach, dass sie unterrichteten. Das erste Bild zeigte Professor Kirginja, einen mittelalten Mann mit Glatze und harten Gesichtszügen. Er hatte Naomi die Prüfungen der dritten Sekundarstufe abgenommen und sie erinnerte sich an seine raue Stimme, die eher dazu passte, einer Hundertschaft Untergebener Befehle zuzubrüllen, als Studenten zu unterrichten. Die zweite Dozentin war eine noch im aktiven Dienst stehende Frau, F-Lieutanant Sargei. Sie hatte blonde Haare, ein freundliches Gesicht und unterrichtete die Studenten wohl in angewandter Sicherheit. Naomi schloss das Fenster wieder, mehr musste sie heute nicht wissen.
Abschließend überprüfte sie ihren neuen Spind Standort. Er lag gleich um die Ecke des Vorlesungssaals, also sperrte sie das Display, stand auf und packte ihre Sporttasche. Auf dem Gang war immer noch nichts los. Es war Naomi recht, sie hatte gelernt die Ruhe und das Alleinsein zu genießen. Vielleicht würde sich das dieses Jahr ändern. An der Seite eines Ganges, der tiefer in das Gebäudeinnere führte waren die Studentenspinde aufgereiht. Die Front war aus mattem bläulichem Metall und für den Moment sahen sie alle gleich aus. Vor dem Jahresanfang waren alle von Grund auf gereinigt, alle Erinnerungen an die bisherigen Schüler beseitigt worden. Aber im Laufe des Jahres würden Schriftzüge, Poster und Kratzer jedem Spind individualisieren, bevor sie für das nächste Jahr wieder gereinigt wurden. Ein immerwährender Kreislauf. Mit weißen Lettern stand auf jedem Spind in der unteren rechten Ecke eine Nummer. Naomi ging bis zur Nummer 2.N5. Sie legte ihre Hand auf, wurde authentifiziert und öffnete die entriegelte Tür. Ein leichter Geruch nach Desinfektionsmittel schlug ihr aus dem Inneren entgegen. Naomi packte ihre Sporttasche und verfrachtete sie in den Spind. Als sie sich wieder umdrehte und zurück zum Vorlesungssaal ging hörte sie bereits trippelnde Schritte aus dem Stockwerk unter sich. Also würden bald auch die ersten ihrer neuen Mitschüler eintreffen. Beim Gedanken daran krampfte sich ihr Magen leicht zusammen. Würde sie sich in die Klassengemeinschaft integrieren können? Würde man ihr eine Chance geben. Naomi bezweifelte es, aber sie würde alles tun, um sich selbst zu widerlegen.
Im Raum angekommen setzte sie sich wieder auf ihren Platz, überschlug die Beine und wartete, den Blick auf die Tür gerichtet. Als erstes betrat eine Gruppe aus 3 Studenten den Raum. Ein schmächtiger Junge mit offenem Blick und 2 Mädchen die ihren Freund um gut einen Kopf überragten. Die drei unterhielten sich angeregt über den Ausgang des gestrigen Fußballspiels und nahmen keine Notiz von Naomi. Sie setzten sich in die letzte Reihe, während ihre Stimmen den ganzen Raum ausfüllten. Danach tröpfelten immer mehr Gruppen herein, keiner kam alleine und alle verstanden sich dem Augenschein nach gut. Ein paar bemerkten Naomi, aber niemand machte Anstalten sich zu ihr zu setzen, oder sie auch nur zu fragen wer sie war.
Kurz vor Unterrichtsbeginn kamen die letzten drei Studenten herein. Die erste, die den Raum betrat war ein braunhaariges Mädchen mit auffallend gelben Schuhen. Sie sprach mit einem großen, schwarzhaarigen Jungen. Mit seinen breiten Schultern wirkte es fast, als ob er nicht durch die Tür passte, aber schließlich schob er sich doch durch. Hinter ihm kam die letzte Person herein. Es war eine schlanke junge Frau, deren muskulöse Arme sich deutlich durch den Stoff ihres schwarzen Trauerkleides abzeichneten. Auf ihrer linken Schulter hafteten 2 kaminrote Streifen. Naomi konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber diese rostroten Haare würde sie jederzeit erkennen. Sie gehörten zu ihrer ehemaligen besten Freundin. Zu der letzten Freundin, die sie fallen gelassen hatte. Sie gehörten zu Misa.
Naomis Gedanken rasten. Was tat Misa hier, sie sollte eigentlich eine Jahrgangsstufe unter Naomi sein. Naomi hatte alles getan, um die 3. Sekundarstufe zu überspringen, alles, um ihrer alten Klasse zu entfliehen. Und Misa war einer der größten Gründe gewesen. Der tägliche Schmerz, den sie in Naomi verursachte, durch ihre Taten, ihre Worte, oder bloß ihre Anwesenheit, war zu viel geworden. Und jetzt stand sie hier, unterhielt sich lachend mit dem großen Jungen vor ihr. Als die Gruppe an Naomi vorbei ging nahm sie aus dem Augenwinkel das spitze Lächeln um Misas Mund wahr. Wie hatte sie es geschafft die dritte Stufe zu überspringen? Naomi war die einzige gewesen, die die Prüfungen in diesem Sommer abgelegt hatte. Oder waren Sonderprüfungen für sie angesetzt worden? Naomi konnte sich nicht vorstellen, wie Misa das bewerkstelligen sollte, aber jetzt musste sie wohl oder übel damit leben. Schon hörte sie tuscheln aus den hinteren Reihen, wagte es aber nicht sich umzudrehen und nachzusehen von wem es kam.
Die übrigen Minuten vor Unterrichts Begin verbrachten die Schüler damit, sich über ihre Ferien auszutauschen, miteinander zu lachen und mit neuen Leuten Kontakt zu knüpfen. Misa wurde direkt in die Klassengemeinschaft aufgenommen, bestärkt durch ihren Freund und ihre umgängliche Art. Mit Naomi sprach noch niemand. Einige Minuten später betrat Professor Kirginja mit forschen Schritten den Raum. Mit ihm kam eine Aura des Unheils, die jedem aufmüpfigen Studenten horrende Strafen androhte und dafür sorgte das mit einem Mal Stille im Zimmer herrschte. Kirginja nahm hinter dem Dozentenpult Aufstellung und betrachtete die Studenten. Mit einer Stimme, die kalten Stahl schneiden konnte begrüßte er sie. „Willkommen in der vierten Sekundarstufe meine Herrschaften. Da ich die meisten von Ihnen bereits im letzten Jahr geschult habe erwarte ich zumindest keine Verschlechterungen. Dasselbe gilt für unsere zwei neuen Studenten, die aus der zweiten Sekundarstufe hierher versetzt wurden. Doch hierzu möchte bestimmt ihr Kurssprecher noch etwas sagen in seiner …“, er zögerte einen winzigen Augenblick „… unausweichlichen Ansprache.“ Sein Gesichtsausdruck verriet eindeutig was er von diesem obligatorischen Ritual eines jeden neuen Schuljahres hielt.
Naomi blickte sich um, sie wusste nicht wer der aktuelle Kurssprecher war. 3 Reihen hinter ihr stand ein Junge auf, es war derjenige mit dem sich Misa beim Hineingehen so angeregt unterhalten hatte. Einmal mehr fiel ihr sein muskulöser Körper auf, der deutlich durch das enganliegende Hemd zu erkennen war. Selbstbewusst ging er nach vorne und reichte mit großer Geste Professor Kirginja die Hand. „Schon gut, Mr. Topwa. “, knurrte Kirginja, „machen Sie einfach schnell.“ Der Junge setzte ein breites Grinsen auf, trat hinter das Pult und rief mit fester Stimme. „Willkommen in der vierten Stufe der Hölle.“ Ein kurzes Auflachen hallte durch den Raum, das aber parallel zu der sich hochziehenden Augenbraue von Professor Kirginja wider verstummte. Der Junge räusperte sich und fuhr mit ernsterer Stimme fort. „Also, wie ihr hoffentlich noch wisst bin ich Goron Topwa, euer Kurssprecher. Falls sich jemand anderes berufen fühlt diesen Posten auszuführen kann eine Wahl über euer Infosystem beantragt werden. Solange ihr aber zufrieden mit mir seid bleibe ich und sorge dafür, dass es unserer Klasse gut geht. Sonntagabend gibt es eine Konferenz der Kurssprecher mit dem Akademiepräsidium. Ich informiere euch am Montag über die Ergebnisse. Jetzt bleibt mir nur noch die neuen vorzustellen. Beginnen will ich mit meiner Freundin Misa Kumarani, dieses schöne Mädchen da hinten. Steh bitte kurz auf.“
Misa stand auf, winkte mit einem strahlenden Lächeln in die Runde und wurde mit einem warmen Applaus begrüßt. Goron sprach jetzt mit ruhiger, gefasster Stimme weiter. „Ihr wisst was heute für ein Tag ist. Heute ist ein Tag an dem wir um unsere Toten trauern. Ihr wisst auch, dass ich mir meine Trauer für Sonntag aufhebe, aber wie ihr seht gehört auch Misas Familie zu den Opfern.“. Er wies auf das schwarze Kleid und Misa schlug die Augen nieder. „Das Wichtigste ist unsere Solidarität mit den Betroffenen, also bitte ich euch um einen Moment der Andacht.“ Goron verschränkte die Arme und senkte seinen Kopf. Naomis Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte Angst, wie es weitergehen würde. Nach einigen Sekunden hob Goron wieder den Kopf und bedeutete Misa sich hinzusetzen, in deren Augenwinkeln Tränen glitzerten.
„Wir haben noch eine zweite neue in der Klasse … Jemanden der ebenfalls … trauert, nehme ich an. Ihr Name ist Naomi“, Gorons Stimme wurde merklich kühler „Orinama.“ Schweigen. Dann leises Getuschel von allen Seiten.
„Aufstehen“, befahl Goron. Naomi erhob sich, blickte unsicher über die Schulter und sah, wie alle sie anstarrten. Es waren Blicke voller Erstaunen, wie konnte jemand mit diesem Namen hier studieren, Blicke voller Wut, wie konnte jemand mit diesem Namen es wagen ein Trauerkleid zu tragen und am schlimmsten für Naomi Blicke voller Angst, was würde jemand mit diesem Namen uns antun. Als keine weitere Reaktion folgte strich Naomi ihr Kleid glatt und setzte sich schnell wieder, ihre Wangen vor Scham gerötet.
Den Kopf gesenkt bemerkte sie, wie Professor Kirginja sie nachdenklich musterte. „So, das war’s dann auch wieder. Auf ein gutes Jahr“, verabschiedete sich Goron, bevor es sich wieder hinsetzte. Professor Kirginja trat wieder hinter das Pult. Mit einer flinken Handbewegung startete er das, in der Wand hinter ihm verborgende, Display. „Da heute ein … besonderer Tag … ist, möchte ich unsere heutige Strategievorlesung darauf verwenden Sie ein praktisches Beispiel bearbeiten zu lassen. Heute vor acht Jahren kam es zu einem der größten Militäreinsätze der Geschichte auf der Last Hope. Wie Sie alle wissen wurde damals eine mehrtägige Geiselnahme gebrochen. Dabei kam es zu erheblichen Verlusten auf unserer Seite, was auf die besonderen Gegebenheiten der Örtlichkeit zurückgeführt werden kann. Ihre heutige Aufgabe besteht darin eine Alternative zu der verwendeten Taktik zu entwerfen und abschließend als Präsentation vorzustellen. Dafür werden Sie in Gruppen arbeiten, ihre jeweilige Gruppennummer entnehmen Sie Ihrem Display. Ich stelle Ihnen alle öffentlich zugänglichen Informationen zu der verwendeten Taktik zur Verfügung, damit sie daraus Rückschlüsse für sich selbst ziehen können. Und jetzt beginnen Sie!“ Auf dem Display hinter ihm erschien ein Timer, der von einer Stunde abwärts zählte. Auch die Displays der Studenten leuchteten auf und zeigten Nummern von 1 bis 5.
Vor Naomi leuchtete die Ziffer Fünf. Konnte sie es nach der vorangehenden Situation noch schaffen sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren, oder waren die Meinungen ihrer Mitschüler schon gefestigt? Hinter ihr begannen die Studenten sich zu ihren Gruppen zusammen zu stellen. Sie hörte hinter sich einen Studenten „Gruppe fünf hierher.“ rufen. Einige Momente rang Naomi noch mit ihren Gefühlen, entschloss sich dann aber für die Flucht nach vorne.
Sie stand auf und blickte suchend über die Köpfe der anderen Studenten hinweg. Ganz hinten standen bereits drei Studenten und einer der drei rief wieder „Gruppe fünf hierher.“. Naomi setzte sich in Bewegung. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Misa sich auf dieselbe Gruppe zu bewegte. Misa erreichte die anderen zuerst und Naomi hörte, wie sie sich begrüßten. „Danke für euer Mitgefühl. Es geht schon.“.
Naomi trat hinzu, als Misa die Hand des Jungen ergriff und er sich vorstellte. „Hi, ich bin Marco, das hier ist Laura und dieser kleine hier ist Nils.“ „Lass das, du bist keine 10 Zentimeter größer als ich.“, murrte Nils, der tatsächlich der kleinste in der Gruppe war. Die anderen bemerkten Naomis Anwesenheit und ein unbehagliches Schweigen trat ein.
Mit leicht bebender Stimme begann Naomi „Hi, ich bi“. „Dass du es wagst heute ein Trauerkleid zu tragen.“, zischte Misa. „Du wagst es“, „Misa, bitte“ „Du wagst es die Streifen des Verlusts zu tragen.“ „Misa, lass mich“ „Nein. Du hast hier gar nichts zu sagen, oder Leute?“ Fordernd wandte sie sich an Marco, Laura und Nils. Erst wirkten die drei etwas unsicher, aber auf Misas drängenden Blick hin stimmte Marco zu. „Kolonialisten Abschaum brauchen wir hier nicht.“ Laura und der kleingewachsene Nils warfen sich einen Blick zu, bevor sie stumm nickten und sich von Naomi abwandten. „Misa, bitte lass uns reden.“, unternahm Naomi einen letzten Versuch, aber die angesprochene ballte die Fäuste und erwiderte mit von Hass verzerrter Stimme „Mach das du hier verschwindest du Verräterin.“
Naomi erkannte in dem ihr immer noch gut bekannten Gesichtszügen die unterschiedlichsten Emotionen. Wut, Hass, Trauer und vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie meinte auch etwas Verletztes in ihren Zügen zu erkennen. Dieser Gesichtsausdruck schmerzte sie mehr, als alles was gerade zu ihr gesagt worden war. Wortlos drehte sie sich um und ging zurück. Es erforderte ihre gesamte Kraft die Tränen zurück zu halten, aber sie wusste das ihre neuen Mitstudenten sich wie Aasfresser auf jedes Anzeichen von Schwäche stürzen würden, also hielt sie sie zurück. Sie hätte wissen müssen, dass spätestens seit Misas Auftritt, spätestens seit der Ansprache von Goron Topwa ihr niemand helfen würde. Wieder einmal war die Chance verstrichen neue Verbündete zu finden. Oder wie Naomi traurig dachte, alte wiederzufinden. Wieder hallten Misas Worte wie Schläge in ihrem Magen nach, bevor sie ihren Platz erreichte und sich allein an die Lösung der schwierigen Aufgabe setzte.
Naomi betrachtete den schematischen Plan des Bonaparte-Parks mit gerunzelter Stirn, darauf bedacht die Erinnerungen an jenen Tag zurück zu halten. Sie erkannte die wesentlichen Landmarken intuitiv, die verschlungenen Wege, der große zentrale Platz mit dem Springbrunnen in seiner Mitte. Um den Brunnen waren die Positionen von Menschen eingezeichnet, die überwiegende Mehrzahl in einem neutralen Grau, einige Dutzend jedoch in einem leuchteten Rot. Die Grauen waren die Geiseln, die Roten die Kolonialisten, die den Park besetzt hielten. Naomi musste die Zahlen am rechten Rand des Displays nicht ansehen, um zu wissen wie viele Menschen dort standen.
Es waren 947 Zivilisten und 86 Geiselnehmer. 1.033 Menschen und vier davon trugen den Namen Orinama, drei graue und eine rote Person.
Die Terroristen hatten ihre Geiseln zu einer großen Gruppe zusammengetrieben, während sie sich in einem losen Halbkreis drum herum, beziehungsweise vereinzelt in der Gruppe befanden. Naomi öffnete die Detailansicht eines Wächters und erhielt einen detaillierten Überblick über die zu diesem Zeitpunkt bekannten Informationen. Sofort fiel ihr auf, dass der Sprengstoffgürtel, den alle Angreifer trugen nicht verzeichnet war. Eine der größten Fehleinschätzungen der Eingreiftruppe, es wurde nicht bedacht, dass es zu massiven zivilen Opfern kommen konnte.
Bilder der alten Frau, die Naomi panisch wegzerrte blitzten vor ihren Augen auf. Fast konnte sie wieder den Gesang der Kolonialisten hören, die sich überschlagenden Stimmern, die den Moment ihrer Niederlage noch in einen Sieg verwandeln wollten. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb die unliebsamen Erinnerungen.
Wie hätte das Spezialkommando besser vorgehen können? Wie hätte man mehr Menschen retten können? Naomi öffnete das Simulationsprogramm, dass Professor Kirginja ihnen zur Verfügung gestellt hatte und begann eine Strategie auszuarbeiten. Ihr Hauptfokus war es dabei die Geiselnahme mit möglichst wenig zivilen Opfern zu beenden. Sie versank immer tiefer in die Details des Tages, las sich die kurzen psychologischen Beschreibungen der Täter durch, um den richtigen zu finden, bis sie die Persona von Sarah Orinama öffnete.
Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie das verhasste, schmale Gesicht sah. „Warum hast du das getan, Mama?“ Die Tränen rannen ihrem 13-jährigen Ich die Wannen herab. Sarah starrte sie durch die beinah durchsichtigen Laserschranken an. In ihren Augen glitzerte der Wahn. „Ich hatte keine Wahl.“ „Aber, aber was ist mit Papa?“ “Er stand der neuen Welt im Weg.“, ihre Stimme senkte sich zu einem unheimlichen Flüstern. „Jetzt stehen uns weniger Leute im Weg, begreifst du nicht, dass ich das alles für euch gemacht hatte.“ Ein durchtriebenes Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ich werde als Heldin sterben.“. Naomi riss sich von ihren Erinnerungen los und schloss die geöffnete Datei.
Diese Person war kein geeignetes Ziel für ihre Strategie. Jetzt achtete sie auch darauf diese nicht erneut zu öffnen. Konzentriert und ohne weitere Gedankensprünge arbeitete sie sich vorwärts bis der Timer hinter Professor Kirginja rot zu blinken begann.
Naomi gab ihre Simulation zur Abgabe frei und wartete auf das Ende der Vorbereitungszeit. Langsam wurden um sie herum die Stimmen leiser, bis schließlich der Timer von 00:00:01 auf 00:00:00 sprang. In diesem Moment erhob sich Professor Kirginja von seinem Stuhl und warf einen prüfenden Blick auf seine Studenten. „So, meine Herrschaften. Dann bin ich mal gespannt, was für “, er zögerte und fuhr dann mit leicht ironischem Unterton fort „geniale Lösungen Sie anzubieten haben. Einer jeder Gruppe tritt bitte vor und stellt den Lösungsweg vor und dann können wir noch rechtzeitig ins Mittagessen starten. Gruppe 1 beginnen Sie!“
Ein braun gelocktes Mädchen trat nach kurzer Absprache mit ihrem Team vor die Klasse und startete ihre Simulation, während sie immer wieder Pausen machte, um ihre Entscheidungen zu begründen. Professor Kirginja blieb den gesamten Vortrag über still und machte sich Notizen. Am Ende führte er seine Beobachtungen aus, ging auf einige Kritikpunkte ein und forderte von der Gruppe eine abschließende Analyse bis zu seiner nächsten Unterrichtsstunde.
Danach präsentierten die anderen Gruppen, mal etwas besser, mal etwas schlechter. Naomi verfolgte die verschiedenen Ansätze interessiert, merkte sich gute Ideen und achtete auf Kirginjas Feedback. „Gruppe 5, wenn ich bitten darf.“, sagte dieser schließlich. Sollte sie ihr Ergebnis präsentieren und dadurch die anderen ihrer Gruppe vorführen? Bevor sie sich dazu durchringen konnte hörte Naomi, wie jemand nach vorne ging. Es war Misa, deren schwarzes Kleid um ihre Knöchel strich. Sie trat vor die Klasse und blickte erst einmal schweigend in die Gruppe hinein. Schließlich räusperte sich Professor Kirginja und bedeutete ihr zu beginnen.
„Wir als Gruppe haben uns darauf konzentriert gesellschaftlich bedeutende Personen zu evakuieren und dafür zu sorgen, dass möglichst viele der Drahtzieher gefangen zu nehmen, um sie zu verhören und dieses Terroristennetzwerk auszuheben.“ Sie öffnete einen Plan, auf dem die Geiselnehmer und ihre Geiseln markiert waren. Diese leuchteten jetzt in verschiedenen Farben auf und Misa erklärte „Die Grün markierten haben wir als wertvoll markiert. Unsere Kriterien waren dabei zum Beispiel der gesellschaftliche Stand, der Beruf und das Alter der betroffenen. Die orangen markierten Terroristen waren die Rädelsführer des Angriffs und sollen für spätere Verhöre verschont bleiben. Soweit ich weiß wurde beim realen Angriff nur eine “, ihre Augen flackerten zu Naomi, „Anführerin festgenommen. Mit unserem Plan wäre es möglich bis zu 5 hochrangige Personen gefangen zu nehmen und dabei bis zu 200 Personen zu evakuieren. Beim realen Angriff wurde diese eine Anführerin gefangen genommen, während nur 53 Personen den Anschlag auf lange Sicht überlebten.“
Daraufhin startete sie ihre Simulation und erklärte die Vorgehensweise der Eingreiftruppe detailliert. Naomi kam nicht umhin zu bemerken, dass sich die kleinen dicht gedrängten Punkte, die Misa zur Evakuierung ausgewählt hatte weit weg von der Position war, wo sie selbst zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester vor so vielen Jahren gestanden hatte. War Misa das bewusst, oder unterstellte sie ihr nur aufgrund ihrer verletzten Gefühle etwas? Sie wischte ihre Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den Plan, den die übrigen Mitglieder von Gruppe 5 ausgeheckt hatten. Sie musste zugeben, dass der Plan brilliant durchdacht, wenn auch in der Ausführung enorm komplex sein würde. Misa hatte schon immer viel von Strategie verstanden, sie wusste um die Schwächen ihrer Gegner und auch wie man sie ausnutzen konnte, wie Naomi schon zur Genüge am eigenen Leib erfahren hatte.
Auf einmal kamen ihr Zweifel, würde ihr Plan mit Misas mithalten können, was würden die anderen über sie denken. Naomi hatte sich einzig darauf konzentriert die Zahl an geretteten Leben zu erhöhen. Kompromisslos. Im Vergleich zu Misas Plan wirkte er kalt, Misa warf ihre Soldaten in Linien in das Gefecht, um so die Angreifer von den Zivilisten zu trennen. Doch zu viele schafften es die Bomben zu aktivieren und lösten so ein ums andere Mal eine Kettenreaktion aus Toten hervor.
Nachdem Misa fertig war setzte sie sich unter höflichem Klopfen ihrer Klassenkameraden wieder auf den Platz, während Kirginja seine üblichen Beleherungen hielt. Als er daraufhin Anstalten machte den normalen Unterricht fortzusetzten entspannte sich Naomi etwas. Ihm war wohl nicht aufgefallen, dass auch sie eine Simulation bereitgestellt hatte und vielleicht war es besser so. Sie musste ihre Klasse auf andere Weise davon überzeugen, dass sie auf der richtigen Seite stand. Doch in diesem Moment fragte der Professor in den Raum hinein.
„Ich denke einer von Ihnen sollte mir etwas erklären.“ Er ließ seine Worte einen Moment im Raum stehen, streifte mit dem Blick durch die leicht unruhigen Studenten und fuhr dann fort. „Ich war der Ansicht, soeben die Simulation der Gruppe fünf gesehen und bewertet zu haben. Aber mein Terminal hier möchte mir weißmachen, dass es noch eine weitere Simulation dieser Gruppe gibt.“ Nach einem Moment des Zögerns fügte er schärfer hinzu. „Also?“
Naomi wollte sich gerade erklären, als sie Marcos Stimme hörte. Sie drehte sich zu ihm um, er war aufgestanden und trug nun in leicht anklagenden Blick vor. „Ja Sir, das kann ich. Wir wollten alle gemeinsam an der Aufgabe arbeiten, aber die Neue, Naomi Orinama, wollte nicht mit uns zusammenarbeiten.“ Er hob hilflos die Arme. „Sie hat gesagt, wir würden nicht wissen wie so etwas anzupacken …“ „Das stimmt nicht.“, fuhr Naomi auf, einen Moment lang ihre Besonnenheit vergessend. „Ihr wolltet mich nicht dabeihaben!“ Jetzt schaltete sich auch Misa ein und rief. „Sie lügt, Marco hat Recht. Laura und Nils haben auch gehört was sie gesagt hat.“ Alle Augen richteten sich auf die Zwei, die nach einem zögernden Moment schleppend nickten. Naomi spürte die Zornesröte in ihr Gesicht steigen. Die vier trieben ein falsches Spiel mit ihr und sie hatte keine Chance sich zu wehren. Ihr Ausbruch hatte ihr in der Klasse wahrscheinlich weitere Antipathien eingebracht und so schwanden ihre Hoffnungen auf einen Neuanfang immer weiter.
Professor Kirginja schaute sie, Marco und Misa abwechselnd an, bevor er hinter seinem Pult hervorkam und sich vor ihrem Platz aufbaute. Es war ein beeindruckender Anblick, wie eine Mauer stand er vor ihr, die Arme vor der Brust verschränkt und missmutig auf sie hinabsehend.
„Also Miss Orinama.“, begann er kühl, „ich denke in Ihrer bisherigen Ausbildung wurde eine Tatsache, eine wichtige Komponente des Sicherheitsdiensts sträflich vernachlässigt.“
Er setzte eine bedeutungsschwere Pause. „Zusammenarbeit, Miss Orinama. Zusammenarbeit ist das was unsere Bemühungen zusammen hält. Denken Sie ein einziger Mann kann einen wütenden Mob von Demonstranten aufhalten. Denken Sie eine einzelne Frau könnte die Last der Welt auf ihren Schultern tragen? Nein. Niemand kann das. Allein sind wir schwach, kaum besser als Tiere. Zusammenarbeit ist das was die Menschheit voran bringt.“, er breitete die Arme aus, umschloss den ganzen Raum mit ihnen. „Zusammenarbeit ist das, was diesen Ort erschaffen hat, im am Leben hält. Alleine wären wir schon alle mausetot. Merken Sie sich das, bei der nächsten diesbezüglichen Abweichung werde ich dies in Ihrer Akte vermerken. Bis dahin legen Sie bis nächste Woche einen Aufsatz vor, der sich mit dem Sinn von Zusammenarbeit in militärischen Belangen befasst.“
„Ja, Sir“, brachte Naomi mühsam heraus und blickte auf Kirginjas Kinn, zu zermürbt, um ihn in die Augen zu sehen. „Gut, da wir das geklärt haben.“, er hockte sich wieder auf seinen Sitz, „Sie dürfen uns nun zeigen, was ein Einzelner schaffen kann. Zeigen Sie uns Ihre Demonstration.“
Naomi schluckte, sie spürte beinah die Schadenfreude mancher ihrer Mitschüler und war nicht erpicht darauf sie noch weiter gegen sich aufzubringen. Aber dem Professor zu widersprechen stand außer Zweifel, also erhob sie sich, strich ihr Kleid glatt und trat vor die Klasse.
Von dieser Perspektive wirkte er größer, die Rekruten saßen dicht gedrängt beieinander, einige tuschelten miteinander. Naomi schloss einen Moment die Augen, atmete einmal ein, einmal aus und ließ dann mit einigen Gesten den Beginn ihrer Simulation hinter sie projizieren. Sie erklärte mit ruhiger Stimme ihren Plan, versuchte keine Emotionen in ihre Stimme einfließen zu lassen, sie wollte ihn wie die logische Konsequenz der Ausgangslage darstellen und dazu passte keine persönliche Betroffenheit.
„Die einzige Möglichkeit eine Vielzahl an Zivilisten zu retten ist das persönliche Opfer anderer.“, sagte sie. Ihre Simulation zeigte, wie die Soldaten sich von verschiedenen Stellen aus auf den Weg machten und Reihe um Reihe Menschen niederschossen. Es war eine schreckliche, ja im Prinzip unverzeihliche Tat. Aber Naomis Plan sah vor, dass die Soldaten so schnell wie möglich zu den Attentätern kamen, und diese versteckten sich nun mal in der Menschenmenge. Einige der anderen Gruppen waren mit Stoßtrupps in die Menschenmenge vorgerückt und hatten versucht die Terroristen auszuschalten, aber die verängstigten Menschen kosteten den Soldaten Zeit.
„Diese Opfer sind bedauernswert, müssen aber in Kauf genommen werden, um eine größere Anzahl an Menschen zu retten.“ Ihre Simulation lief weiter und zeigte, wie ein Terrorist nach dem anderem aufflackerte und dann verblasste. Sie starben. Aber nicht durch ihre eigene Hand, durch die Bomben, die sie sich umgeschnallt hatten, nein sie starben durch Gewehrkugeln der Soldaten. Unter der Annahme, dass die Attentäter denselben zeitlichen Ablauf abhalten würden, versuchten sich zu verstecken und die Bomben nur als letzte Möglichkeit sahen ermöglichte Naomis Plan es einen großen Teil von ihnen auszuschalten. Der Preis dafür waren Leben.
Als ihre Simulation endete, erschienen Zahlen auf der Anzeige. ‚Zahl überlebender Zivilisten: 467 – Zahl durch Soldaten getöteter Zivilisten: 389‘ 467, mehr als acht Mal so viele Überlebende.
Naomi war überzeugt, dass ihr Plan der Einzige war, der einen so hohen Anteil an Zivilisten rettete. Die Pläne ihrer Mitschüler waren bei weitem nicht an ihr Ergebnis herangekommen, aber wie sie befürchtet hatte gereichte ihr das nicht zum Vorteil, nein die anderen sahen sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. In einigen blitzte der Zorn, der Hass, die Wut, in anderen die Angst. Sie war zu radikal gewesen.
Sie drehte sich zum Professor, wartete auf die Erlaubnis auf ihren Platz zurück kehren zu dürfen, aber Kirginja sagte nichts. Er hatte seine Hände verschränkt, während die Finger aufeinander klopften und schien in tiefen Gedanken versunken. Er regte sich selbst dann nicht, als die Schulglocke ertönte und die ersten Studenten den Klassenraum verließen. Naomi konnte ein paar Gesprächsfetzen auffangen. „Massakriert die Leute, die sie schützen soll.“ „… genau wie ihre Mutter“ „sollte nicht mit uns studieren dürfen.“ Als letzte verließ Naomi den Raum, ihre Schultern niedergedrückt von dem Gewicht ihrer Sorgen. Sie bemerkte nicht, dass Professor Kirginja sich regte und ihr einen langen, nachdenklichen Blick hinterherwarf.
Schulter an Schulter standen sie dort und blickten in die Dunkelheit. Rücken an Rücken standen ihre Kameraden und blickten ins Licht. So bildeten die Wächter eine der Barrieren zwischen den zwei Teilen des Schiffes.
Dem Teil der Lebenden und dem Teil der Toten.
Die stillen Wächter waren zu erkennen an ihren Uniformen. Sie alle trugen eine Uniform, so schwarz, wie das All, das die IHP Last Hope umgab. Dieses Schwarz wurde gebrochen, von der Insignie, die strahlend weiß auf ihrer rechten Brust schimmerte. Auf dem weißen Grund lugte ein schwarzes C hinter der grauen Silhouette der Last Hope hervor.
Die Grenze, auf der die Wächter standen, verlief durch das gesamte Schiff. Seit fast 200 Jahren bewachten sie diese unsichtbare Linie. Sie würden hier wachen, bis diese Grenze fiel. Die Frage war nur, ob sie bestimmten, wann diese Grenze fiel, oder ob ihnen diese Entscheidung aufgezwungen wurde. Grenzposten B-1.04 befand sich in einem Gang von etwa 20 Metern Breite. Eine meterdicke weiße Markierung zeigte den Ort, an dem Sektion B auf Sektion C traf. Vor langer Zeit sicherten gewaltige Stahltore diesen Übergang. Während des Zwischenfalls schützten sie, wie all die anderen, das restliche Schiff vor dem was in Sektion C geschah. Jahrzehntelang waren sie geschlossen gewesen und die Menschen vergasen was dahinter lag. Doch vor etwa 150 Jahren waren immer mehr dieser Stahlkolosse zusammengebrochen, zerbröckelten innerhalb weniger Monate. Beim Versuch neue Barrikaden auf den neuen zu platzieren stellte man fest, dass die Technik rebellierte. Unzählige Wissenschaftler untersuchten diese Anomalie und versuchten zu verstehen, warum innerhalb der Grenzen von Sektion C alle technischen Geräte scheinbar zufällig funktionierten, ausfielen und ihre Funktionsweise änderten. Es kam zu keinem eindeutigen Ergebnis und da die technischen Probleme nicht gelöst werden konnten wurde einige Meter weiter in Sektion B ein neues Tor errichtet. Um die alte Grenze zu bewachen wurde eine neue Abteilung des Sicherheitsdienstes geschaffen, die Sektion-C-Sicherheit, kurz SCS. Als stille Wächter bewachten sie seit diesem Tag die Grenze.
Jack Chanssen war einer von ihnen. Vor 8 Jahren hatte er die Sicherheitsakademie mit Bestnoten verlassen und war zur SCS gegangen. Jack hatte gedacht, dass die letzten zwei Jahren der Ausbildung, in denen die Rekruten auf ihre späteren Abteilungen vorbereitet wurden, ihn auf alles kommende vorbereitet hatten. Aber die Theorie unterschied sich von der Praxis. Kein Unterricht konnte das Gefühl vermitteln, dass Jack während jeder seiner Schichten beschlich. Das Gefühl der Ungewissheit, während er ins Dunkle späte. In eine Dunkelheit, die nur wenige Meter vor ihm begann, trotz der starken Scheinwerfer, die in seinem Rücken gegen diese Finsternis ankämpften. Diese unnatürliche Dunkelheit schuf eine Atmosphäre der Anspannung in den Wächtern.
Jack Chanssen hörte nichts außer seinem Atem und dem Atem seiner Gefährten um ihn herum. Diese Stille, erdrückend in ihrer Last und doch notwendig, schuf eine beständige Atmosphäre der Gefahr. Aber die Stille war besser als die Laute, die beizeiten aus den Tiefen der Sektion drangen. Jack schauerte bei dem Gedanken daran.
Er wandte seine Gedanken wieder der Aufklärungseinheit, die in einigen Minuten hier eintreffen würde. Soweit er informiert war würde es die 676te Expedition in die verlorene Sektion sein. Abermals würden gute Männer und Frauen ihr Leben riskieren, um mehr über diesen Teil des Schiffes herauszufinden. Ob es diesmal Fortschritte geben würde? Wie viele würden zurückkommen? Wie viele der Zurückgekommenen würden noch bei klarem Verstand sein. Jack wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht unter ihnen sein würde. Dieses Mal zumindest.
Dann hörte Jack das Zischen der sich öffnenden Stahltore. Er widerstand dem Drang seinen Kopf zu drehen, sondern starrte weiter ins Dunkle, suchte nach Gefahr. Er hörte Schritte. Es waren 10. Es waren immer 10. Ein Trupp, klein genug, um agil agieren zu können, aber auch groß genug, um eine Bedrohung dar zu stellen. Die Schritte kamen immer näher und als sie nahe genug waren trat Jack einen Schritt nach vorne. Einen Schritt in Sektion C hinein. Seine rechte Kameradin, Noroi Kammens trat zeitgleich mit ihm vor. Nun tat Jack einen Schritt nach links, Noroi einen nach rechts. Sie drehten sich, sodass sie einander ansehen konnten. Jack sah Noroi müde lächeln und erwiderte ihren Blick. Auch ihre beiden Rückenkameraden hatten dasselbe getan, sodass nun ein Korridor zwischen den Wächtern durchführte. Ein Korridor von Sektion B zu Sektion C. Die 4 Soldaten drückten zum Salut ihre Waffen an die Brust, während die 676te Aufklärungseinheit zwischen ihnen passierte. Sie trugen Rucksäcke mit Vorräten und Lampen. Es waren Gaslampen, eine Antiquität, die auf der alten Erde benutzt wurden, bevor es Elektrizität gab. Jetzt hatten sie eine neue Verwendung, in einer Sektion, in der moderne Technik nur unzuverlässig funktionierte.
Nachdem der Trupp vorbeigezogen war nahmen die Soldaten ihre angestammten Positionen wieder ein. Jack und Noroi schauten den anderen Soldaten hinterher, bis die Dunkelheit sie verschlang.
Mit der linken Hand massierte Naomi ihre Stirn und überlegte, wie es jetzt weiter gehen sollte. Ihre Hoffnungen in der neuen Klasse akzeptiert zu werden waren ebenso gründlich zunichte gemacht worden wie in allen Klassenstufen zuvor. Misa und ihr Freund Goron waren zu beliebt und der Rest der Klasse schloss sich entweder ihrer Meinung an, oder hatte schon eine vorgefertigte Meinung über sie gehabt, die sie in ihrer Dummheit auch noch bestärkt hatte.
Also was tun? Naomi musste härter arbeiten, härter als alle anderen, um bei den Leistungen nicht zurückzufallen. Gruppenprojekte konnte sie wohl vergessen, aber das war schon sehr lange so. Und das wichtigste.
Sie durfte keine Schwäche zeigen. Egal wie sehr man ihr zusetzte, egal wie viele Beleidigungen sie ertragen musste, sie durfte sich davon nicht beindrucken lassen. Nach außen hin zumindest.
Wenn Naomi genug leistete würde, nein musste allen klar werden, dass sie nichts mit ihrer Mutter verband. Sie musste sich von ihrer radikalen Ader trennen, musste sich noch weiter abgrenzen. Denn nichts verband sie mit dieser Frau. Gar nichts.
Sie blickte auf die Uhr. Es war jetzt 11:34 Uhr, also hatte sie noch etwas weniger als eine Stunde bevor die Einheit angewandte Sicherheit bei F-Lieutanant Sargei beginnen sollte. Naomi verließ das Gebäude der vierten Sekundarstufe und schritt zielstrebig auf einen Waldabschnitt auf dem Campus Gelände zu. Dieser Wald stellte ein Teil der Erholungsmöglichkeiten für Studenten dar und Naomi hatte vor zwei Jahren darin eine Lichtung gefunden, die schön abgelegen war. Dort konnte sie alleine ihre Mittagspause verbringen, ohne von irgendwem gestört zu werden. Mehrere Minuten strich sie durch den Wald, bevor sie ihre Lichtung erreichte. Sie war klein, kaum ein paar Quadratmeter groß, aber in ihrem Zentrum lag ein großer, runder Fels, gerade groß genug, um sich darauf zu legen. Naomi vermutete, dass dieser Stein noch von der alten Erde stammte und von den Konstrukteuren des Schiffs hier platziert worden war, auch wenn sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Naomi streckte sich, so gut es ging, auf dem Stein aus und starrte in Richtung Decke. Von der leuchteten die gigantischen Tageslichtstrahler herab und verhinderten beinah die Sicht auf die stählerne Oberfläche, auf der sie montiert waren. Naomi zupfte eine Handvoll Gras aus und zerrieb es langsam zwischen ihren Fingern, während ihre Gedanken zur Ruhe kamen. Hier war einer der wenigen Orte, an denen Naomi aufhören konnte zu überlegen, wie andere über sie dachten. Hier war nur sie, der umliegende Wald und ihr Atem. Langsam entspannten sich auch ihre Muskeln und so glitt sie in einen Zustand des Befreit-seins, in dem nichts sie stören konnte.
Einige Zeit später erklang ein dumpfer Glockenschlag über das Campus-Gelände und rief alle darauf verteilten Studenten zur nächsten Unterrichtseinheit, die in zehn Minuten beginnen würde. Naomi erhob sich und ging mit beschleunigtem Schritt zurück zu ihrem Unterrichtsgebäude. Sie eilte zu ihrem Spind und holte sich ihre dort deponierten Sportsachen. In der Umkleidekabine angekommen bemerkte sie, dass sie wohl eine der letzten war. Der Raum war gefüllt mit Studentinnen der vierten Sekundarstufe. Naomi nahm an, dass Aufgrund der Anzahl diese Unterrichtseinheit von zwei Kursen zur selben Zeit absolviert wurde. Die Mädchen waren damit beschäftigt zu quatschen und sich umzuziehen, wodurch es Naomi gelang unbemerkt in eine Ecke zu gelangen.
Dort streifte sie zügig das Trauerkleid ab, stets darauf bedacht ihren Rücken von allen anderen abgewandt zu halten. Nachdem sie mit dem Umziehen fertig war reihte sie sich ein und verließ gemeinsam mit den anderen die Kabine. Sie traten in einen der Gebäudeinternen Sportsäle, der genug Platz für 100 Studenten bot. Dort standen bereits Reihe um Reihe Jungen und Mädchen aufgereiht und warteten auf den Unterrichtsbeginn. Anscheinend legte F-Lieutanant Sargei mehr Wert auf militärischen Drill als ihre letzte Dozentin in einem Sportfach. Naomi war es recht so, Disziplin würde auch verhindern, dass andere ihr während der Unterrichtseinheit Probleme machten.
Sie stellte sie neben einen Jungen, der offenkundig nicht aus ihrem Kurs war, denn er lächelte sie kurz an, bevor er wieder starr geradeaus starrte. Zwei Reihen weiter vorne konnte sie Misa und Goron erkennen, ebenfalls still dastehend.
Die Minuten vergingen und als F-Lieutanant Sargei nicht kam, raunten sich einige der Studenten Fragen zu und standen bequemer. Naomi warf einen Blick über den Rücken und sah, dass hinter ihr nochmal zwei Reihen mit jeweils zehn Studenten standen. Daraus schloss sie, dass der andere Kurs wohl kleiner sein musste als ihrer, aber ob das von Bedeutung war, wagte sie zu bezweifeln. Weitere Minuten verstrichen und das Gerede der Studenten wurde zunehmend lauter. Einige forderten die Kurssprecher dazu auf, etwas zu unternehmen, andere freuten sich über ein früheres Schulende, bevor eine rauchige Stimme sie alle übertönte.
„Stillgestanden. Alle Augen zu mir.“ Die Stimme war befehlsgewohnt und sorgte binnen eines Augenblickes dafür, dass es still wurde. Alle Studenten strafften die Schultern und standen gerade, als F-Lieutanant Sargei den Raum auf der Frontseite betrat. Ihre schwarzen Stiefel hallten durch den Raum, als sie mit gemessenem Schritt an den Personen in der ersten Reihe vorbeischritt. Der dunkelrote, beinah ins schwarz übergehende, Stoff ihrer Uniform wallte von ihrem Körper, der kein Zweifel daran ließ, dass diese Frau sich ihr Leben lang gestählt hatte. Schließlich blieb sie mittig zu ihnen stehen und musterte sie einen Moment aus ihren kühlen, braunen Augen. Naomi kam nicht umhin zu bemerken, dass sie in diesem Augenblick wenig mit der freundlich wirkenden Frau aus ihrem Profilfoto zu tun hatte. Aber bevor sie diesen Gedanken weiter verfolgen konnte begann F-Lieutanant Sargei zu sprechen.
„So ist das also. Sie wollen also Nachwuchskräfte für den Sicherheitsdienst sein? Es trennen Sie nur noch zwei Jahre bevor sie in den Dienst entlassen werden. Zwei Jahre in denen sich zeigen soll, ob sie dazu taugen potenzielle Unruhen niederzuschlagen, dem Gesetz seine Geltung zu verschaffen, oder auch unsere Politiker zu schützen. Und weniger als ein halbes Jahr bevor Sie sich entscheiden müssen. Für die Bequemlichkeit der Exploration, dem Eifer der inneren Sicherheit oder dem Abenteuer der SCS. In dieser Zeit bis dahin werden wir sehen, ob Sie etwas taugen. Oder es zeigt sich, dass sie nichts davon gewachsen sind und aus dieser Ausbildung entfernt werden müssen.“
Sargei kam auf die Studenten zu, und wie man es ihnen gelehrt hatte bildeten sie Zwei Blöcke, sodass ein Gang für den F-Lieutanant in ihrer Mitte frei wurde. Alle Augen waren nun auf die unter ihnen wandelnde Offizierin gerichtet.
„Ich habe mich gefragt, was mich erwarten würde, bevor ich diesen Raum betrat. Würden sie still auf meine Ankunft warten und damit zeigen, dass sie zu nichts anderem taugen als treudoofem Kanonenfutter? Oder würden sie die Disziplin ganz ablegen und gehen, in der Annahme es würde niemand mehr kommen. Nun ich schätze mal einige von Ihnen waren kurz davor.“
Sargei musterte die Studenten kritisch, „Aber ich stelle mir die Frage, ob jemand weiß was zu tun gewesen wäre?“ Sie blieb vor einem Mädchen mit türkisem Haar und einem grünen Shirt stehen. „Können Sie es mir sagen?“ Kleinlaut kam „Nein“ als Antwort. „Wie bitte? Reden sie verständlich, Rekrut.“ „Sir, Nein, Sir.“, kam es deutlich lauter.
F-Lieutanant Sargei trat wieder vor die Studenten, die ihre Reihen schlossen und nun alle nach vorne gerichtet auf die Antwort warteten. „Ich sage Ihnen was ein verantwortungsvoller Rekrut hätte tun sollen. Merken Sie sich dies und denken daran, wenn es wieder zu einer solchen Situation kommt. Also merken Sie sich, im Falle einer Krise und sei es auch nur die Abwesenheit eines Führungsoffiziers ist eine Truppe die dumpf darauf wartet, dass jener Offizier noch eintrifft ebenso verloren wie die Truppe, die sich in Panik auflöst. Die Truppe, die gewinnt bestimmt einen Übergangsoffizier, der in ihrem Namen die Befehle erteilt, was auf Sie angewendet bedeutet, warum hat niemand die Aufgabe übernommen das Aufwärmtraining zu leiten? Sie sind alt genug, um zu wissen was getan werden muss. Um sie daran zu erinnern beginnen wir mit einem 20 Kilometer Rundlauf. Los geht’s.“ Und alle rannten los.
Etwa eine Stunde später beendeten sie das Aufwärmtraining mit Dehnen, bevor sie sich wieder aufstellten und auf weitere Anweisungen warteten. Naomi stand jetzt in der ersten Reihe, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und den Blick starr geradeaus gerichtet. F-Lieutanant Sargei trat vor sie. „Wie ich sehe, ist bei Ihnen noch nicht alles verloren. Auf diesen Leistungen kann man aufbauen, aber ich erwarte bis zu ihren Abschlussprüfungen dieses Jahr noch einiges an Verbesserung. Wie dem auch sei, wir kommen jetzt zu einer Übung, die Ihnen neu sein dürfte. In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten kam es immer wieder zu gewalttätigen Demonstrationen auf der Last Hope. Der friedliche Protest kann und sollte geduldet werden, was jedoch nicht für den Gewaltsamen gilt. Wir leben hier auf begrenzten Raum, und ohne Disziplin und Frieden steht das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel. Es zählt zu einer der wichtigsten Aufgaben des Sicherheitsdienstes diesen Frieden zu wahren. Aus diesem Grund müssen sie darauf vorbereitet sein einer zahlenmäßig überlegenen Demonstration standzuhalten. Bis drei durchzählen, Sie fangen an.“
Sargei deutete auf einen Jungen ganz vorne links. „Eins“, „Zwei“, ging es durch die Reihen. Naomi wurde eine Drei. Nachdem alle durchgezählt hatten bat F-Lieutanant Sargei alle Dreier nach vorne und gab ihnen gelbe Trikots. „Sie nehmen die Rolle der Sicherheitskräfte ein, während ihre Kommilitonen die Demonstranten spielen. Ihre Aufgabe ist es die Demonstranten zurückzuhalten. Sorgen Sie dafür, dass sie das vorderste Drittel dieser Halle nicht erreichen. Die Übung wird solange dauern bis sie verlieren und in Kürze beginnen. Überlegen sie sich eine Strategie.“
Kirginja ging zu den übrigen Studenten, um ihnen ihre Aufgabe zu erklären. Betreten schauten alle Verteidiger zu der mehr als doppelt so großen anderen Gruppe hinüber. „Wie sollen wir das denn schaffen?“ „Bei denen sind auch noch alle Großen“ „Das sind doch zu viele, um sie alle aufzuhalten. Wir haben nicht mal Ausrüstung dafür.“ Kam es von links und rechts. Naomi überlegte fieberhaft, anscheinend hatten viele das Kämpfen schon aufgegeben. Alleine hatte sie nun mal keine Chance. Aber F-Lieutanant Sargei würde keine Aufgabe stellen, die nicht zu lösen wäre. Sie hatten keine Ausrüstung bekommen, was hieß das es auch ohne klappen muss. Naomi bemerkte, dass der Junge, der sie vorher angelächelt hatte, auch bei den Verteidigern war. Er schaute sie an und fragte. „Hast du einen Plan?“ Naomi grübelte. Einen Kampf Mann gegen Mann konnten sie nicht eingehen, es kamen zwei Angreifer auf einen Verteidiger.
Allein hatten sie keine Chance, also mussten sie zusammenarbeiten.
Hinter sich hörte sie, wie Kirginja rückwärts von 20 zu zählen begann. Jetzt war keine Zeit mehr zu denken, also wandte Naomi sich an den Jungen und erklärte mit wenigen Wörtern ihren Plan. Er nickte und nahm auf Naomis rechter Seite Aufstellung, während ein Mädchen ebenfalls aus dem anderen Kurs dasselbe auf ihrer anderen Seite tat. Der Rest der Verteidiger schloss sich kurzentschlossen der Reihe an, da niemanden ein anderer Plan einfiel.
„Ich bin übrigens Kurt, Kurt Nort. Wer bist du eigentlich? Ich habe dich bisher nie gesehen.“ Naomi wusste nicht was sie sagen sollte, ihr Plan stand und fiel mit dem Zusammenhalt der gesamten Gruppe und sie hatte schon zu oft erlebt, wie andere ihr das Vertrauen entzogen, als sie ihren Namen hörten. Also sagte sie „Naomi, einfach Naomi.“
Sie bemerkte, dass er etwas fragen wollte, aber in diesem Moment erreichte Kirginja die Null und die Gruppe der Demonstranten, die rote Trikots trugen kam auf sie zu. Naomi streckte ihre Arme nach links und rechts und hackte sich bei Kurt und dem Mädchen zu ihrer Linken unter genau wie der Rest der Verteidiger. So bildeten sie eine menschliche Mauer, die den Demonstranten gegenüberstand. Die ersten erreichten ihre Linie und drückten und schoben gegen sie an, aber mit vereinter Kraft konnten sie dagegenhalten und die Rot-Trikots sogar einige Schritte weit zurücktreiben. Nach einigen Minuten des Hin und Herdrückens versuchten die Angreifer die Linie zu durchbrechen, indem sie an einzelnen Verteidigern zogen und zerrten, aber wieder konnten diese Versuche gemeinsam abgewehrt werden. Naomi sah befriedigt, dass ihre Taktik aufging, aber sie wusste, dass die Kette nur solange halten würde wie ihr schwächstes Glied. Die Frage wer war das?
Die Demonstranten hatten jetzt eine große Gruppe gebildet und sich von den Verteidigern weit genug entfernt, dass sie ihre gedämpften Stimmen nicht mehr hören konnten. Soweit Naomi jedoch erkennen konnte standen Goron, Misa und ein Mädchen aus Naomis Kurs, dessen Namen sie nicht kannte, in der Mitte. Goron schien einen Plan zu haben, den auf seine Züge legte sich Siegesgewissheit als er aus dem Kreis der anderen heraustrat. Ihm folgten auf dem Fuße Misa, das Mädchen und Marco, der der sich Misa bei der Strategie-Vorlesung angeschlossen hatte. Das waren wohl die stämmigsten 4 der Angreifer Truppe, angeführt von Goron, der jetzt einige Meter vor den Verteidigern auf und ab ging, wie Kirginja dies vorher vor allen Studenten getan hatte. Sein kräftiger Bariton hallte durch die ganze Halle.
„Da habt ihr ja einen hübschen kleinen Plan ausgeheckt, um uns aufzuhalten was?“ Er lachte, ganz als ob er sich freuen würde, dass sie Widerstand leisteten. „Ihr haltet zusammen, so wie es sein sollte. Aber ich will euch ein Geheimnis erzählen. Vor allem euch aus dem B-Kurs. Ihr habt einen Verräter unter euch. Einen der uns jetzt gleich freiwillig durchlässt, denn ein Verräter bleibt ein Verräter, ob hier oder draußen in der echten Welt.“ Naomi bemerkte, wie einige der Verteidiger, diejenigen aus dem A-Kurs, leise „Orinama“ und „das Orinama Mädchen“ flüsterten.
Goron griff das auf. „Ja, ihr habt richtig gehört. Orinama. Kaum ein Name verheißt so viel Unheil. Und sie befindet sich genau zwischen euch. Seht nur hin.“ Er deutete erst auf das Mädchen zu Naomis linker, dann auf Kurt zu ihrer rechten. „Helen, Kurt. Schaut nur wer da zwischen euch steht. Ich sage es euch. Das ist Naomi Orinama, die Tochter von Sarah Orinama.“
Ein Raunen lief durch die Studenten des B-Kurses, ob sie nun Verteidiger oder Angreifer waren. Naomi merkte, wie der Griff von Kurt und Helen sich lockerte. „Hört nicht auf ihn, ich bin nicht wie meine Mutter!“, doch dann übernahm Goron wieder das Wort und übertönte Naomi mühelos.
„Ja. Die Tochter von Sarah Orinama und erst heute Morgen konnten wir sehen, wo ihre Prioritäten liegen. Sie liegen nicht bei uns, das kann ich versichern. Also denkt immer daran was sie ist. Eine Orinama, eine Verräterin, eine Kolonialistin.“
Und mit einem Schrei stürmten Marco und das Mädchen, das neben Misa gestanden hatte, los und kamen direkt auf Naomi zu. Während Gorons Ansprache hatte niemand auf die beiden geachtet. Naomi versuchte wieder fester zuzugreifen, aber Kurt und Helen entzogen ihr die Arme, um sich mit den Schultern zu den anstürmenden zu drehen.
Aber Marco und das Mädchen waren nur eine Finte, denn kurz nach Ihnen waren Goron und Misa ebenfalls losgestürmt und während die ersten beiden noch rechtzeitig vor dem Aufprall abbremsen, offensichtlich eine Finte, kamen Goron und Misa unaufhaltsam näher und näher. Jetzt wusste Naomi wer das schwächste Glied war.
Sie war es.
Als ihr das klar wurde rammten Goron und Misa sie mit den Schultern, sodass sie rücklinks zu Boden fiel begraben unter den Körpern der beiden. Der Aufprall drängte ihr alle Luft aus den Lungen, während der Aufschlag auf dem Boden eine Schockwelle aus Schmerz durch ihren ganzen Körper sandte. Verzweifelt schnappte sie nach Luft, aber ihre Lungen wollten sich nicht füllen. Misa und Goron richteten sich auf und lächelten sich an.
„Du hattest wie immer recht, meine Liebe“, sagte Goron und drückte Misa einen schnellen Kuss auf die Lippen. „Die hier ist nun mal die Schwachstelle und wird es immer sein.“, lachte Misa und stand auf. Goron beugte sich noch einmal hinab und flüsterte ihr höhnisch ins Ohr. „Wir werden noch viel Spaß mit dir haben.“ Dann richtete auch er sich auf, wobei er sich nicht zu schade sie als Stütze zu verwenden.
Sekunden, die Naomi wie Stunden vorkamen vergingen, während sie verzweifelt nach Luft schnappte und versucht den Schmerz in ihrem Rücken zu ignorieren. Endlich füllte wieder Luft Naomis Lungen und sie schnappte gierig danach. Goron und Misa gingen durch die durchbrochene Verteidigungslinie zurück zu den Angreifern und ließen sich feiern. Naomi sah, dass viele der Verteidiger sie musterten. Wieder waren es Blicke voller Wut, voller Misstrauen und voller Angst. Auch Kurt blickte auf sie hinab, seinen linken Arm von sich gestreckt, als hätte ihn etwas Giftiges berührt. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, sagte Naomi gepresst „Kurt. Ich bin nicht so.“
Und sie streckte ihm die Hand entgegen. Er runzelte die Stirn, bevor er sich demonstrativ abwandte und sie auf dem Boden liegen ließ.
Mühsam stemmte Naomi sich erst auf die Knie und rappelte sich schließlich komplett auf.
Keiner der Verteidiger blickte mehr zu ihr, nur Misa von der Seite der Angreifer. Und wieder meinte Naomi einen Anflug von Mitleid zu erkennen, das aber in Sekundenbruchteilen verschwand, sodass Naomi es eher für Ekel hielt. „Aufstellen, wenn ich bitten darf.“, klang die rauchige Stimme von F-Lieutanant Sargei durch die Halle. Die Studenten trampelten herum, bis sie wieder gleichförmige Reihen vor dem F-Lieutanant bildeten. „Was hier angewendet wurde nennen wir die menschliche Blockade. Üblicherweise tragen die Sicherheitsbeamten dabei einen Ganzkörperschild, der mit den anderen in der Reihe verhakt wird. In Ermangelung eines Schildes haben unsere Sicherheitsbeamten auf Probe ihren Körper benutzt und sich an den Armen untergehackt. Ich erwarte bis zu unserer nächsten Stunde einen detaillierten Bericht von jedem über die Vor- und natürlich auch die Nachteile dieser Taktik. Aber fürs erste würde ich gerne hören, woran diese Verteidigung gerade gebrochen ist.“ „An der verräterischen Kolonialistin“, kam es aus einer der hinteren Reihen leise. Alle lachten, alle bis auf Naomi und Sargei, die wohl bessere Ohren besaß als angenommen, denn sie deutete auf das Mädchen, das mit Marco losgelaufen war und forderte mit aalglatter Stimme „Vortreten und Wiederholen, Rekrut.“.
Das Mädchen trat nach ganz vorne, nahm vor Sargei Aufstellung und sagte etwas kleinlaut „Lisa Losis, Sir. Ich habe Naomi Orinama gemeint, Sir.“ „Nein, das haben Sie nicht und das wissen wir beide, nicht wahr?“, fragte Sargei zuckersüß. „Sir, ja, Sir.“ „Dann ist ja gut, ich denke ein weiterer 20 Kilometerlauf sollte Ihnen Zeit geben nachzudenken, meinen Sie nicht?“ „Sir, ja Sir. Danke, Sir.“, sagte Lisa und lief auf ein Zeichen des F-Lieutanants los.
Diese trat jetzt vor Kurt und Helen und musterte die beiden eingehend. „Ich werde Ihnen sagen, wo heute das Problem war. Es lag genau hier.“, sie beugte sich etwas vor, „Das Problem heute lag daran, dass der Angreifer erkannt hat, wie er den Zusammenhalt zwischen den Verteidigern brechen kann. Eine gewagte Taktik, die jedoch trotzdem Früchte getragen hat. Ich kann und werde Ihnen keine Vorschriften machen, wie Sie sich außer Dienst verhalten sollen. Aber während sie in Dienst sind, und das schließt meine Unterrichtseinheiten ein, erwarte ich von Ihnen jederzeit tadelloses Verhalten. Ich erwarte, dass Sie Ihren Kameraden zur Seite stehen und wie eine Einheit agieren.“ Sargei beugte sich noch etwas weiter vor und flüsterte in einem Ton, der Naomi die Haare zu Berge stehen ließ: „Wenden Sie sich nie wieder von einem Kameraden ab, oder ich sorge höchstpersönlich dafür, dass sie in den Sozialvierteln als Wachmann landen.“ Kurt und Helen erbleichten und nickten eindringlich. F-Lieutanant Sargei trat wieder vor den gesamten Kurs.
„Trikot-Wechsel. Jetzt sind alle Zweier die Sicherheitsbeamten. Aufstellen, ich zähle von 30. 30, 29, 28.“
Naomi tauschte ihr Trikot mit einem Jungen aus ihrem Kurs, der das Trikot wie ein verrottetes Tier musterte, bevor er es überstreifte. Mehrmals führten sie die Übung an diesem Tag noch aus, wobei sich keine bessere Verteidigungsstrategie fand als die menschliche Blockade. Naomi war darauf bedacht in allen folgenden Anläufen ihr blaues Trikot zu behalten. Es gelang ihr, und so hielt sie sich bei den Angriffen stets im Hintergrund, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bei den Gelegenheiten, wo die Verteidiger fest zusammen hielten gelang es ihnen fast immer die Angreifer abzuwehren. Gegen Ende der Unterrichtseinheit ließ Sargei sie noch einmal antreten.
„Ich hoffe Sie nehmen sich die heutigen Ergebnisse zu Herzen. Teamwork ist eine Kernkompetenz einer jeden Abteilung des Sicherheitsdienstes. Vergessen Sie das nicht, dann schaffen Sie es vielleicht mich nicht zu enttäuschen. Und nun gehen Sie nach Hause, sehen sich die Zeremonie an und vergessen den Aufsatz nicht. Wegtreten.“ Der F-Lieutanant verließ die Halle, gefolgt von den Jungen und Mädchen, die ihren jeweiligen Umkleidekabinen entgegen strömten.
Naomi beeilte sich, sie wollte als erste unter der Dusche stehen, und so bald wie möglich auf dem Heimweg sein, bevor die anderen Mädchen eine Möglichkeit bekamen sich für das unerwartet nette Verhalten von F-Lieutanant Sargei ihr gegenüber zu rächen. Über dieses Verhalten sollte sie ebenfalls nachdenken, aber jetzt war nicht die Zeit dafür, also ging sie schnellen Schrittes in die Umkleidekabine, schnappte sich ein großes Handtuch vom bereitliegenden Stapel und verschwand in der Gemeinschaftsdusche.
Gerade als das Wasser über sie hinwegspülte hörte sie, wie die ersten anderen Mädchen den Raum betraten. „sollte Ihnen genug Zeit zum Nachdenken geben“, äffte Lisa die Stimme von Sargei nach. „Was bildet die sich ein uns zu bevormunden?“ Ein Naomi unbekanntes Mädchen antwortete kichernd, „Na sie ist nun mal Offizierin, während du nur eine einfache Rekrutin bist.“. „Ich habe nur gesagt, was jeder gedacht hat, stimmt’s?“ Zustimmendes Gemurmel. Eine weitere neue Stimme fragte: „Habt ihr gesehen, wie schnell die Orinama hierhergelaufen ist. Was die wohl vor hatte?“ Naomi wusch sich so schnell sie konnte, verpasste aber durch das Wasser, das ihr in die Ohren strömte, die nächsten Sätze der Unterhaltung. Als sie das Wasser abstellte hörte sie kichern und jemand sagte: „Das will ich sehen.“ Naomi strich das meiste Wasser aus ihren langen, schwarzen Haaren und bedeckte sich mit dem Handtuch, wobei sie darauf achtete das ihr ganzer Rücken verhüllt war. Auf dem Weg zurück in die Umkleidekabine kamen ihr einige Mädchen entgegen, die sie verstohlen musterten.
„Na, Schönheit? Willst du uns nicht zeigen, womit du die alte Sargei rumgekriegt hast?“ Um Lisa herum standen Misa, Helen, Laura und noch einige andere Mädchen aus beiden Kursen. Naomi ließ sich auf kein Wortgefecht ein, gewinnen konnte sie gegenüber dieser Personengruppe im Moment sowieso nicht. Sie senkte den Kopf und drängte sich durch die Gruppe. Dabei zupfte ihr jemand am Handtuch, dass für einen kurzen Augenblick ihr oberer Rücken frei lag. Schnell zog Naomi das Handtuch wieder zurecht, aber es war zu spät.
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Im ersten Affekt waren einige mitleidige Kommentare zu hören. „Schrecklich.“ „Die Arme.“ Dann besannen sich die Anwesenden über wen sie redeten und angeführt von Lisa kamen gehässigere Kommentare. „Sieht aus wie eine Schweißnaht “ „Verdient.“ Ihr Kopf wurde hochrot und hastig eilte sie zu ihrem Spind, um sich umzuziehen. Hinter sich hörte sie, wie die anderen noch etwas über sie redeten, bevor sie zum Duschen gingen. Jetzt war es ruhig im Raum, nur noch einzelne Studentinnen hielten sich hier auf. Naomi schlüpfte unbemerkt in ihr Kleid und verließ still und heimlich die Umkleidekabine.
An diesem Tag fiel die Zeremonie auf den ersten Schultag nach den Übergangsferien. Die Lehrer der Maranaka School, einer der Primärschulen der Last Hope, hatten sich darauf geeinigt diesen besonderen Tag zu nutzen, um ihren Schülern die Einzelheiten des größten Terrorangriffs, den die Bevölkerung des Schiffes je hatte erleiden müssen, näher zu bringen. Die Lehrer waren angewiesen worden vor allem den Trauernden nicht zu viel aufzulasten und darauf zu achten, dass niemand mit dieser Situation nicht fertig wurde.
Herr Villan war da anderer Ansicht, vor allem bei einem Mädchen aus dieser neunten Primärstufe würde er darauf achten, dass niemand vergas wer sie war.
Das kleine Mistding hatte ihm im letzten Jahr zu viele Probleme bereitet, fast hätte die Schulleiterin ihn seines Amtes enthoben. Dann wäre er, ein Mann, der vieles riskiert hatte, um so weit zu kommen mit einem Schlag allen Möglichkeiten beraubt worden. Aber nein, er hatte dafür gesorgt, dass der manipulierte Aufsatz verschwunden war und so war der Rektorin nichts anderes übriggeblieben, als ihn mit einer Verwarnung davon kommen zu lassen. Aber es war zu knapp gewesen und jetzt hatte er die Chance sich dafür zu rächen.
Er setzte sein bestes Lächeln auf, bevor er die Tür zum Klassenzimmer aufschob. „Guten Morgen euch allen“, begrüßte er sie und erhielt eine respektvolle Antwort. Sein Blick schweifte über die Reihen an Schülern. In der ersten Reihe saßen wie gewohnt die Streber, aber alle die letztes Jahr nach vorne bestellt worden waren saßen wieder weiter hinten. Von den Schülern trugen drei die Kleidung der Trauer mit den zugehörigen roten Streifen. Zwei davon saßen im Mittelfeld des Klassenzimmers, sie gehörten zu den beliebten und alle fühlten mit ihnen mit.
Aber ganz hinten, allein in der letzten Reihe saß ein kleines schwarzhaariges Mädchen, dessen grüne Augen ihn traurig musterten. Auf ihrer Schulter prangten 2 Streifen. Wieder kochte die Wut in ihm hoch, was bildete die Göre sich ein, ihn so anzuschauen? Aber das würde ihr noch vergehen, dafür würde er sorgen. Er musste sich dabei auch keine Sorgen um die anderen Betroffenen machen, jeder wusste wer dieses Kind war und dieses Wissen sorgte dafür, dass man es entweder nicht beachtete oder auf ihr rumhackte. Ihm war beides recht, jetzt da er wusste, was für eine verlogene Schlange das war. Er senkte den Kopf etwas und setzte ein bekümmertes Gesicht auf.