Ihr gebt meinem Leben einen Sinn - Gisela Reutling - E-Book

Ihr gebt meinem Leben einen Sinn E-Book

Gisela Reutling

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Er stand in der Tür und hatte den Autoschlüssel schon in der Hand.»Paß auf dich auf, und bleib mir treu«, sagte er.Der Nachsatz war natürlich scherzhaft gemeint. So blickte Silvia denn auch lächelnd von ihrem fast fertig gepackten Koffer hoch.»Du meinst, nach drei Jahren könnte ich mich unter gewissen Umständen nach einem anderen umschauen?»Man kann nie wissen«, orakelte Harald.»Es könnte ein Märchenprinz kommen, über dem du deinen langweiligen Pauker vergißt.Silvia lachte leicht auf.»Ich bin keine achtzehn mehr, und auch da war ich schon zu realistisch, um an einen Märchenprinzen zu glauben. Außerdem bist du kein langweiliger Pauker«, fügte sie hinzu, während sie einen großen bunten Seidenschal über ein sorgfältig zusammengelegtes helles Leinenkleid breitete.»Sondern?»Ein Lehrer, den seine Schüler mögen!»Ach ja? Woher willst du das wissen?»Ich kann es mir nicht anders denken.»Und weiter?Wie sie ihn so da stehen sah, abwartend, mit leicht vorgeneigter Haltung, die braunen Augen auf sie gerichtet, war es ersichtlich, daß er noch etwas Nettes hören wollte.»Kein langweiliger Pauker«, wiederholte sie nochmals, »sondern mein bester, geliebter Freund. Reicht das?Mit einem Ausdruck, der ihrem Gesicht einen Zug von lustiger Mädchenhaftigkeit gab, trat sie auf ihn zu und gab ihm mit gespitzten Lippen einen Kuß auf den Mund.

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Seitenzahl: 129

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Mami – 1925 –Ihr gebt meinem Leben einen Sinn

Silvia musste eine Entscheidung treffen

Gisela Reutling

Er stand in der Tür und hatte den Autoschlüssel schon in der Hand.

»Paß auf dich auf, und bleib mir treu«, sagte er.

Der Nachsatz war natürlich scherzhaft gemeint. So blickte Silvia denn auch lächelnd von ihrem fast fertig gepackten Koffer hoch.

»Du meinst, nach drei Jahren könnte ich mich unter gewissen Umständen nach einem anderen umschauen?«

»Man kann nie wissen«, orakelte Harald.»Es könnte ein Märchenprinz kommen, über dem du deinen langweiligen Pauker vergißt.«

Silvia lachte leicht auf.

»Ich bin keine achtzehn mehr, und auch da war ich schon zu realistisch, um an einen Märchenprinzen zu glauben. Außerdem bist du kein langweiliger Pauker«, fügte sie hinzu, während sie einen großen bunten Seidenschal über ein sorgfältig zusammengelegtes helles Leinenkleid breitete.

»Sondern?«

»Ein Lehrer, den seine Schüler mögen!«

»Ach ja? Woher willst du das wissen?«

»Ich kann es mir nicht anders denken.«

»Und weiter?«

Wie sie ihn so da stehen sah, abwartend, mit leicht vorgeneigter Haltung, die braunen Augen auf sie gerichtet, war es ersichtlich, daß er noch etwas Nettes hören wollte.

»Kein langweiliger Pauker«, wiederholte sie nochmals, »sondern mein bester, geliebter Freund. Reicht das?«

Mit einem Ausdruck, der ihrem Gesicht einen Zug von lustiger Mädchenhaftigkeit gab, trat sie auf ihn zu und gab ihm mit gespitzten Lippen einen Kuß auf den Mund. »Und nun geh endlich, ich habe hier noch zu tun.«

»Ja… Nur zu dumm, daß ich dich nicht zum Flughafen bringen kann. Aber du weißt ja…«

»Daß du um neun Uhr Mathematikstunde hast«, nickte Silvia. Es war schon mehrmals davon die Rede gewesen. »Mach dir nichts draus. Ich komme sehr gut mit einem Taxi hin.«

Sie brachte ihn noch bis an die Wohnungstür, schloß diese lächelnd mit einem kleinen Kopfschütteln hinter ihm. Manchmal war er wirklich umständlich, ihr guter Harald, und eine gewisse Pedanterie konnte man ihm auch nicht absprechen. Aber das gehörte wohl zu seinem Beruf.

Sie kannten sich seit vier Jahren. Ein Jahr lang war wirklich nur von loser Freundschaft die Rede gewesen. Sie hatte gerade eine Enttäuschung hinter sich und war nicht geneigt, alsbald eine neue Beziehung einzugehen. Bis dann doch mehr daraus geworden war. Nicht gerade eine leidenschaftliche Liebe – Harald Reuter war nicht der Typ für feurigen Überschwang. Aber einer gab dem anderen Wärme, Vertrauen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch wenn noch jeder seine eigene Wohnung beibehielt. Harald wäre wohl lieber heute als morgen mit ihr zum Standesamt gegangen, doch er bedrängte sie nicht und das rechnete sie ihm hoch an.

Ihr gefiel es so, wie es war. Vorläufig jedenfalls noch. In knapp zwei Jahren wurde sie dreißig, dann sah die Sache vielleicht anders aus. Diese Grenze hatte sie sich gesetzt. Bis dahin glaubte sie bereit zu sein, ihre Selbständigkeit aufzugeben und Ehefrau und Mutter zu werden. Zwei Kinder wollte sie schon gern haben. Ein Pärchen zum Beispiel, so wie Ricky und Rosi, die Kinder ihrer Kusine.

In ihrem Schlafzimmer war es jetzt aufgeräumt, den Koffer würde sie erst morgen früh schließen, denn meistens fiel einem im letzten Moment noch etwas ein.

Silvia trat auf die Terrasse des Hauses, das ihrer Meinung nach das hübscheste in dieser Straße mit alten Villen und modernen Mehrfamilienhäusern war. Es hatte zwei Stockwerke, und in der Dachterrassenwohnung wohnte sie. Zweieinhalb Zimmer, weiträumig, und groß die Terrasse. Hier oben, das war ihr Zuhause, ein selbstgeschaffenes, selbsterarbeitetes Zuhause, das sie liebte.

Sie griff zur Gießkanne, um den Pflanzen gründlich Wasser zu geben, die sich in diesem Sommer wieder zu einer wahren Pracht entfaltet hatten. An einer Seite rankte die Amaryllis mit rosa, zartblau und dunkelvioletten Blüten empor. Ringsum, in den Kästen am Geländer, prangten Hängenelken und Geranien, der Oleander im Kübel zeigte viele Knospen. Silvia mußte mehrmals laufen, um die Kanne nachzufüllen. In den nächsten Tagen wollte Harald sich darum kümmern. Wie lange sie fortbleiben würde, wußte sie ja noch nicht genau. Drei, vier, fünf Tage? Es kam darauf an, wie die Geschäfte liefen.

Unten verließen jetzt Ruperts das Haus, um mit ihrem Hund den üblichen Abendspaziergang zu machen. Das ältere Ehepaar grüßte freundlich herauf, man wechselte ein paar Worte miteinander, bevor Herr und Frau Rupert gemächlich davongingen.

Silvia blieb noch ein Weilchen an der Brüstung stehen. Sie sah zum Himmel, der sich im Westen rosig zu färben begann.

Morgen würde sie in Kopenhagen sein. Sie freute sich darauf.

*

An diesem Vormittag mit wolkenlos blauem Himmel und sanfter Sommerbrise hatte Ralf Mainhardt mit seinen beiden Kameramännern Aufnahmen vor dem Haus mit den spielerisch verschnörkelten Barockgiebeln der Königlichen Porzellanmanufaktur am Amagar Boulevard gemacht. Er sah sich gerade noch einmal um – da erblickte er sie!

Ja, sie war es, die schlanke blonde junge Frau, die ihm seit gestern nicht mehr aus dem Kopf gegangen war…

Sie trug wieder das schmalgeschnittene helle Kostüm, und an der Hand die elegante, aber geschäftsmäßig aussehende Diplomatentasche. So trat sie aus dem Gebäude im Stil des 17. Jahrhunderts auf den Platz hinaus, ging mit raschem, leichtem Schritt weiter.

Ralf hoffte, daß ihre Blicke sich treffen würden – und tatsächlich, es geschah. Erkannte sie ihn wieder? Wohl kaum. Ihr Blick streifte nur über ihn hin im Vorübergehen. Ihm blieb nichts, als ihr nachzuschauen.

Was für einen grazilen Gang sie hatte auf ihren hochhackigen weißen Pumps! Daß die schöne Unbekannte meerblaue Augen hatte, das wußte er noch von gestern, wo er sie am Rathausplatz beinahe angerempelt hätte, als er rückwärtsgehend den richtigen Blickwinkel für die Aufnahme einer Brunnenfigur suchte. Er hatte sich entschuldigt. Der Hauch eines unverbindlichen Lächelns war um ihren Mund gehuscht…

Schon in dieser Sekunde hatte ihn der Wunsch durchzuckt, sie anzuhalten, sie zu fragen: »Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Wohin gehen Sie?«

Die Stimme eines seiner jungen Männer weckte ihn aus seinen träumerischen Betrachtungen. »Machen wir Schluß für heute vormittag, Ralf?«

»Ja.« Ralf zwang sich zur Sachlichkeit. »Für diesen Vormittag haben wir genug im Kasten. Geht etwas essen. Heute nachmittag dann im Tivoli.«

*

Nach einem zeitigen Abendessen im Hotel zog sich Silvia um. ›Offizielles‹ Auftreten hatte sie nun nicht mehr nötig, denn ihr Tagewerk war getan. Weitere Besprechungen würden morgen stattfinden. Jetzt war sie frei. Ein paar Stunden Helligkeit lagen noch vor ihr.

Das schicke Kostüm tauschte sie gegen eine leichte lange Hose, zum blauen Sommerpulli band sie sich das bunte Seidentuch um. Sie wollte einen großen Spaziergang machen, dazu fühlte sie sich so recht aufgelegt. Gestern abend war sie zu müde dafür gewesen. In aller Frühe aufgestanden, um das Flugzeug nicht zu verpassen, bald schon die ersten vorfühlenden Gespräche, die vielen neuen Eindrücke – da hatte sie sich nur noch von der Stille ihres Hotelzimmers umfangen lassen und war bald in ihr Bett gesunken.

Aber in Kopenhagen gewesen zu sein und den Zauber dieser Stadt, die sich zum Hafen hin öffnet, nicht wirklich erlebt zu haben, wäre doch bedauerlich.

Ihr Weg führte sie in die Altstadt, abseits der Schlösser und der klassischen Bauwerke aus Barock und Renaissance. Durch Straßen und Gassen spazierte Silvia dahin, froh, daß sie flache Sandaletten anhatte, denn hier gab es viel Kopfsteinpflaster aus alten Tagen. Die reizenden Giebelhäuser entzückten sie, mit Butzenscheiben und Namensschildern aus Kupfer und Messing. Sie staunte über das gerade südländisch anmutende Leben in dieser nordischen Stadt. Heitere Menschen, Musik in Straßencafés, und dazu, ganz nahe, das Tuten der Schiffe vom Hafen her.

Immer war man hier in der Nähe des Wassers, und immer waren auch Möwen da. Die Vögel kamen vom Meer herein wie die Seeluft, die nach Salz und Frische roch.

Das Sonderbare war, daß Silvia bei allem Schauen und Staunen das Gefühl hatte, hier schon einmal gewesen zu sein…

Sie belächelte es nachsichtig, weil es gar nicht sein konnte.

Vor einem Antiquitätengeschäft, deren es hier viele gab, blieb sie stehen, um die Auslage zu betrachten. Vielleicht kam ihr die Idee für ein hübsches Mitbringsel für ihre Kusine Beatrix.

Als sie sich umwandte, blickte sie gerade in ein Paar helle, glänzende Männeraugen hinein. War es nicht eben, als wäre ein stummer Ruf an sie ergangen, daß sie sich hatte umwenden müssen?

Mit einem bezwingenden Lächeln sagte dieser Mann, der schräg hinter ihr stand: »Ich hätte nicht gedacht, daß Kopenhagen so klein ist. Gestern hätte ich Sie beinahe umgerannt, heute mittag sah ich Sie am Amagar Boulevard und jetzt sehe ich Sie im Gassengewirr der Altstadt wieder. Ob man das noch Zufall nennen kann?«

»Was sonst«, lächelte Silvia leichthin. »Solche Zufälle gibt es.« Auch sie erinnerte sich flüchtig.

Sein heller Blick schien sie festzuhalten. Sie wollte sich daraus lösen. Aber sie vermochte es nicht. Nicht sogleich.

»Drei Begegnungen in einer fremden Stadt«, betonte der Fremde. »Könnte das nicht der Märchendichter Andersen erfunden haben, der hier gegangen ist? Und verpflichtet das nicht mindestens zu einem kleinen gemeinsamen Drink?«

Silvias Lächeln wurde unsicher. Sie hatte vorhin schon daran gedacht, daß sie ganz gern noch etwas trinken würde, sich einfangen lassen von der heiteren Atmosphäre dieses Sommerabends, die Passanten beobachten und die frechen Spatzen, die zwischen den Tischen hüpften und Krümel pickten.

Doch wann hätte sie sich je auf der Straße von einem Fremden ansprechen und zu einem Drink einladen lassen?

Andererseits machte der hochgewachsene, gutaussehende Unbekannte mit den offenen männlichen Zügen nicht den Eindruck, als suche er ein Abenteuer. Er wollte einfach nett sein, einer mehrmaligen Zufallsbegegnung einen Punkt setzen. Silvia sprang über ihren Schatten.

»Einverstanden«, sagte sie. »Eine kurze Pause während eines Stadtbummels kann nicht schaden.«

»Eben. Und da wir offenbar Landsleute sind – ich war dessen zuerst nicht sicher. Setzen wir uns gleich dort drüben hin? Das sieht doch sehr einladend aus, und

ein kleiner runder Tisch ist noch frei.«

Er stellte sich vor: Ralf Mainhardt, und auch sie nannte ihren Namen, Silvia Claasen. Was tranken sie?

»Es gibt das beste Bier der Welt hier«, behauptete er, »es heißt

Carlsberg oder Tuborg. Aber junge Damen machen sich wohl nicht soviel aus Bier.« Damit griff er nach der Getränkekarte, darin eine lange Reihe von Cocktails aufgeführt war.

»Warum nicht? Ich würde es auch gern probieren, wenn ich schon einmal in Dänemark bin. Außerdem bin ich durstig.«

»Fein.« Ralf Mainhard legte die Getränkekarte beiseite, die brauchten sie dann nicht. Sein Blick heftete sich wieder auf seine Begleiterin. Das Herz wurde ihm weit. Hätte er sich das träumen lassen, daß er ihr am Abend hier gegenübersitzen würde! War ihm nicht vorhin fast der Atem gestockt, als er sie vor dem Schaufenster stehen sah?

»Sie sind aber nicht als Touristin hier, Silvia Claasen«, vermutete er. »Am Vormittag sahen Sie hoheitsvoll und geschäftig aus, als ich Sie aus dem Firmengebäude kommen sah.«

»Hoheitsvoll?« fragte sie amüsiert. »Das sicher nicht. Ich war nur etwas verärgert, weil ich nicht gleich die richtigen Leute angetroffen hatte. Die waren erst nachmittags zu sprechen.«

»Sie machen mich neugierig«, bekannte Ralf.

In diesem Moment trat die Kellnerin an den Tisch, er gab seine Bestellung auf.

»Ich bin als Einkäuferin für Porzellanwaren und Keramik eines deutschen Kaufhauskonzerns in Kopenhagen«, erklärte Silvia.

»Alle Achtung!« Ralf machte eine scherzhafte kleine Verbeugung. »So jung und schon so einen verantwortungsvollen Posten.«

»So jung nun auch wieder nicht«, wehrte Silvia ab.

Die hohen Gläser wurden vor sie hingestellt, sie tranken sich zu.

»Und Sie, Herr Mainhardt«, setzte Silvia das Gespräch fort, »was machen Sie mit Ihren Kameras und all den Utensilien um Sie herum? Filmen Sie?«

Sie hatte ihn also doch bemerkt, frohlockte Ralf innerlich.

»Ich bin in Hamburg Mitinhaber einer Werbefirma und mache hier im Auftrag eines Touristikunternehmens Aufnahmen für einen Werbeprospekt über Dänemark. Heute abend war ich auf Motivsuche.«

»Und haben Sie gefunden, was Sie suchen?« fragte Silvia unbefangen.

»Ja!« Das kam so spontan, mit einem aufleuchtenden Blick, daß Silvia verwirrt die Lider senkte. Er sollte sie doch nicht so ansehen. So – fast beglückt, als wäre ihm ein Wunder geschehen.

»Sie habe ich gefunden, Silvia!«

»Warum sagen Sie das? Wir kennen uns doch kaum.«

Wie bezaubernd sie war, wenn sie leicht errötete. Eine selbständige, tüchtige junge Frau, nach dem, was sie ihm von ihrer Tätigkeit erzählt hatte, und doch, wie sie hier so vor ihm saß, ein Mädchen, schmal und anmutig, mit halblangen, lose fallenden aschblonden Haaren, der zarten Wangenlinie – ein Mädchen, wie es in Märchenbüchern gemalt war, mit einer Taube, nein, einer Möwe auf der Hand.

»Vielleicht doch. Vielleicht kennen wir uns schon seit einer Ewigkeit«, knüpfte Ralf an ihre Worte an. »Vielleicht waren wir hier, vor langer Zeit, in einem anderen Leben.«

Unwillkürlich zog Silvia die Schultern ein wenig zusammen. Da war es wieder, dieses Gefühl, daß die Straßen ihr nicht fremd waren, nicht die Atmosphäre dieser Stadt mit ihrem Geruch von Weite und Meer. Und am Ende – auch nicht dieser Mann mit den hellen grauen Augen.

Sie rettete sich in leichten Spott: »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie ein Romantiker sind!«

»Wir trugen andere Kleider und andere Namen«, spann Ralf Mainhardt dennoch den Faden mit verhaltener Stimme weiter. »Sie waren Tänzerin im Königlichen Ballett, ich saß unten im Orchester, ein armer Geiger, hoffnungslos in Sie verliebt. Abends in meiner Mansarde, träumte ich von Ihnen und schrieb Gedichte. So wie Hans Christian Andersen vor ungefähr hundertfünfzig Jahren in seiner Mansarde Gedichte und Märchen schrieb.«

»Jetzt fangen Sie schon wieder von dem Dichter an«, sagte Silvia mit einem kleinen Auflachen, wie um den Bann zu zerreißen, den die sanfte Männerstimme um sie legte.

»Es liegt nahe, nicht wahr? Es ist seine Stadt. Haben Sie die Meerjungfrau schon gesehen, die der Bildhauer Eriksen nach dem Märchen von Andersen geschaffen hat?«

»Nein.« Silvia schüttelte den Kopf. »Ich bin erst seit gestern hier und wie Sie wissen, nicht zu meinem Vergnügen.«

Ralf schwieg einen Moment, bevor er behutsam fragte: »Darf ich Sie Ihnen zeigen?« Er lächelte bittend dabei.

»Ist es sehr weit?« zögerte sie. »Ich möchte es nicht spät werden lassen. Morgen früh muß ich topfit sein.«

Es war eine Ausrede. Silvia sah auf ihre Hand, die auf dem Tisch lag, bewegte leicht die Finger. Sie wußte nicht, worauf sie sich einlassen würde, wenn sie noch länger mit Ralf Mainhardt zusammenblieb. Das war nicht irgendeiner. Es war ein Mensch, der einen gewissen Zauber um sie zu legen verstand. Wo sie sich ohnehin schon in seiner seltsam schwebenden Stimmung befand, seit sie hier herumspaziert war.

Oder lag es nur an diesem Sommerabend, der nicht war wie jeder andere? »Es ist am Hafen. Kommen Sie nur, Sie müssen es gesehen haben!« hörte sie Ralf Mainhardt ermunternd sagen.

Welche Lust war es, die Schiffe zu betrachten! Welch ein Reichtum von Formen in den Schiffen überall! Die Segel eines Fünfmasters waren eingezogen, weiße Türme von starkem Leinen und stärkerem Holz. Ein paar große Dampfer der Fährlinien nach Schweden fuhren ein und aus. Ein Schlepper zog eine Yacht in den Hafen, der Name INGEBORG ließ darauf schließen, daß ein Reeder es nach seiner Frau getauft hatte. Von drüben her, von den Docks, winkten wie schwarz-rote Giganten die Schiffsrümpfe – immerzu mußten die Blicke umherschweifen, um alles in sich aufzunehmen.

Und immer die Scharen von Möwen darüber…

»Da ist sie«, sagte Ralf Mainhardt, stehenbleibend und den Arm seiner Begleiterin leicht berührend.

Silvia folgte seinem Blick, und sie sah das zarte Meisterwerk, das doch in aller Welt bekannt war: Die kleine Meerjungfrau. Bescheiden, auf einem Felsblock unter anderen saß sie, den rechten Arm aufgestützt, das Haupt ein wenig zur Seite geneigt, so schaute das Nixlein träumerisch in die Weite. Der es einst erdichtet hatte, wäre wohl zufrieden damit gewesen, denn es war die Anmut selbst.