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Renate Bergmann wählen! Die berühmte Online-Omi weiß, was die Menschen bewegt, und mischt sich ein: Nie war Kommunalpolitik unterhaltsamer als mit der bekanntesten und humorvollsten Seniorin aus Berlin. Gertrud, Horst, Ilse und der Koyota sind natürlich auch wieder dabei. Renate Bergmann haut ab: Raus aus Berlin, rein in die vermeintliche Ruhe ins brandenburgische Spreeweide. Dort, wo Stefan, Ariane und die Kinder wohnen und der Alterswohnsitz auf Renate wartet. Durchwischen muss sie da ohnehin mal. Kaum angekommen, gerät sie mit Bürgermeister Brummer aneinander. «Kandidieren Sie doch selbst!» muss man ihr nicht zweimal sagen. 82 Jahre hin oder her: Der Adenauer und Renate powern in diesem Alter erst richtig los. Deshalb hängt schon bald Renates Wahlplakat an jeder Dorflaterne. Ohne Raute zwar, aber mit schickem Blazer. Das Auge wählt schließlich mit! Bei der Einweihung des Karussells in der Kita «Wurzelzwerge» oder beim Wettbewerb um den schönsten Spreeweider Balkonkasten mischt Renate ab sofort wählerwirksam mit, wenn Lokalreporter Trutsch seine Bilder schießt. Wer weiß besser Bescheid über zu hohe Friedhofsgebühren, schmuddelige Parkbänke oder die von den «Raudies» beschmierten Busfahrpläne? Renate ist mittendrin im Wahlkampf, zwar ohne Dienstwagen und Bodyguard, aber mit dem Koyota, Gertrud, Kurt und Ilse. Bürgermeister Brummer kann sich warm anziehen! Jeder Band ein Bestseller: Die Fans warten so sehnsüchtig auf Neues von der Online-Omi wie auf das erste Stück Torte beim Kaffeekränzchen.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2025
Renate Bergmann
Die Online-Omi lässt sich wählen
Renate kümmert sich.
Wenn Not ist, ist eine Renate Bergmann da. Immer. Als Stefan im brandenburgischen Spreeweide Unterstützung mit den Kindern braucht, ist sie ruckzuck zur Stelle. Kaum angekommen, gerät sie mit Bürgermeister Brummer aneinander. «Dann kandidieren Sie doch!», muss man ihr nicht zweimal sagen. 82 Jahre hin oder her: Der Adenauer und Renate legen in diesem Alter erst richtig los. Renate macht Nägel mit Köppen, denn sie weiß, wo den Leuten der Schuh drückt. Beim Nettwörking am Bäckereiwagen und der «Eisbeinkutsche» informiert sie sich über allen Klatsch und Tratsch im Dorf. Und so hängt schon bald Renates Wahlplakat an jeder Laterne. Ohne Raute zwar, aber mit schickem Blazer. Das Auge wählt schließlich mit!
«Eine Renate Bergmann fährt nicht irgendwo mit, nur damit der Bus voll wird. Wenn, dann gibt sie da auch den Ton mit an!»
Renate Bergmann, geb. Strelemann, 82, lebt in Berlin-Spandau. Sie war Reichsbahnerin, kennt das Leben vor, während und nach der Berliner Mauer und hat vier Ehemänner überlebt. Renate Bergmann ist Haushalts-Profi und Online-Omi: Ihre riesige Fangemeinde freut sich täglich über ihre Posts und Lebensweisheiten im «Interweb» – und über jedes neue Buch in der analogen Welt.
Torsten Rohde, Jahrgang 1974, hat in Brandenburg/Havel Betriebswirtschaft studiert und als Controller gearbeitet. Sein Social-Media-Account @RenateBergmann entwickelte sich zum Internet-Phänomen. «Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker» unter dem Pseudonym Renate Bergmann war seine erste Buch-Veröffentlichung – und ein sensationeller Erfolg –, auf die zahlreiche weitere, nicht minder erfolgreiche Bände und ausverkaufte Tourneen folgten.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung Rudi Hurzlmeier
ISBN 978-3-644-02178-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Hier schreibt die Abgeordnete Bergmann, guten Tag.
Ja, da staunen Se, oder? Damit haben Se nicht gerechnet!
Ich auch nicht. Denken Se bloß nicht, ich hätte das geplant, in meinem Alter Politikerin zu werden! Das ist mir so passiert. Ich bin da irgendwie reingeraten … und Sie müssen nun auch nicht Haltung annehmen, ich bin nicht Ihre neue Bundeskanzlerin, sondern Gemeinderätin, und auch das noch mit Fragezeichen.
Aber gestatten Se zunächst, dass ich mich kurz vorstelle. Die Höflichkeit gebietet das, denke ich.
Mein Name ist Renate Bergmann, ich bin eine geborene Strelemann. Ich bin 82 Jahre alt und vierfach verwitwet. Ich wohne – oder besser gesagt, ich wohnte – in Berlin-Spandau und bin pensionierte Eisenbahnerin.
Wer mich schon kennt, wird jetzt stutzen und denken: «Warum schreibt sie denn ‹wohnte›, was ist denn da passiert? Und was soll das eigentlich mit der Politik und dem Gemeinderat?» Sehen Se, da sind wir schon mittendrin in der Geschichte. Lassen Se uns also nicht lange mit der Vorrede Zeit verplempern, sondern machen Se es sich bequem im Lesesessel. Ich wünsche viel Vergnügen!
Ihre Renate Bergmann
Ach, mein Berlin!
Ich denke, je älter ich werde, immer häufiger mit einem Seufzen an meine Stadt. Die Großstadt hat ihre Vorteile, das will ich nicht verhehlen. Aber sie wird auch immer lauter und jeden Tag schneller. Mit dem Tempo, in dem die Leute durch die Gegend hetzen und mit dem sich alles verändert, kommt man als alter Mensch nur schwerlich mit. Und es funktioniert auch so vieles nicht richtig und kostet so viel Kraft, Zeit und Nerven!
Was meinen Se, was los war, als ich einen neuen Ausweis haben musste. Die Dokumente laufen ja alle paar Jahre ab. Gucken Se mal in Ihrem nach! Nicht dass Se schon drüber sind über die Frist, das kann Ärger geben. Meiner war Ende letzten Jahres dran, und ich ahnte schon, dass die gleichen Behörden, die mich mahnen, dass ich die Frist nicht verpassen soll, monatelang dafür brauchen würden, mir einen neuen Ausweis zu verpassen.
Dass es aber so schlimm werden sollte …
Natürlich hatte ich mich, wie es sich für eine ordentliche Bürgerin gehört, um einen Termin beim Amt bemüht. Das allein war schon ein Abenteuer. Anrufen nützt da nämlich nichts, die helfen einem nicht – wenn se überhaupt drangehen. Da muss man mit dem Onlein firm sein, sonst kommt man nicht weiter, und selbst mit dem Interweb war es nicht möglich, in Spandau für einen neuen Pass vorsprechen zu dürfen. Drei Monate sollte es dauern, und nicht etwa im Rathaus in Spandau, wie es wohl Sinn gemacht hätte. Nee. Ich kriegte Schulzendorf bei Hennigsdorf zugewiesen. Das gehört zu Berlin, wenn auch gerade so noch. Aber bei dem Chaos, das hier in der Verwaltung herrscht, regt man sich nicht auf, sondern nimmt, was man kriegen kann, sonst dauert alles nur noch länger. So abgestumpft war ich mittlerweile schon, dass ich aufgehört hatte, mich gegen einen solchen Irrsinn zu wehren. Reineweg mürbe hatten die mich schon, dass ich resigniert tat, was die wollten. Natürlich hatte ich genau geguckt, wie ich da am besten hinkomme in dieses Schulzendorf. Zeit genug war ja gewesen für die Reiseplanung, bei den drei Monaten Wartezeit auf den Termin. Mit dem Bus musste ich fahren, dann umsteigen in die S-Bahn, anschließend wieder mit dem Bus, und dann war noch ein ganzes Stück zu laufen. Ich ahnte schon, dass das nicht glattgehen würde, und plante eine Stunde Reservezeit ein. Das mache ich immer, wenn ich innerhalb von Berlin mit den Öffentlichen unterwegs bin, das muss man, denn es geht nie alles glatt. Wissen Se, ich habe stets ein Buch in der Tasche und kann mir die Wartezeit gut vertreiben. Lieber bin ich ein bisschen zu früh als zu spät. Ich bin noch eine vom alten Schlag. Für mich gilt: «Fünf Minuten vor der Zeit ist Renate Bergmanns Höflichkeit!»
Ich hatte mir zur Feier des Tages mein gutes Kostüm angezogen und reichlich vom guten Kölnischwasser aufgelegt, bevor ich mich auf den Weg machte. Erst kam mal wieder kein Bus, und der, der kam, war so überfüllt, dass ich stehen musste. Es macht ja keiner mehr Platz für eine alte Dame, die sitzen alle da mit ihren in den Gehörgang reingepopelten Kopphörern, starren auf die Scheibchentelefone und ignorieren alles um sich herum. Das Fenster war auf Kipp, und ich stand im Durchzug. Ein steifes Genick habe ich mir geholt, jawoll! So was merke ich gleich, und es kam auch so. Am nächsten Tag konnte ich mich kaum rühren. Als dann noch der Bus eine Notbremsung machen musste, weil so ein Raudi mit Elektroroller bei Rot über die Fußgängerampel geprescht war, wollte ich mich noch an der Stange festhalten, aber nachdem ich mich gedreht hatte wie eine Nackttänzerin im Rotlichtlokal, bin ich auf dem Schoß eines verdutzten Herrn gelandet. Er war aus Mexiko, denken Se bloß! Woher ich das weiß? Na, wenn ich bei einem Herren auf dem Schoß sitze, können Se aber wissen, dass ich mich vorstelle und frage, mit wem ich es zu tun habe. Zum Glück haben wir uns beide nicht verletzt.
An der S-Bahn angekommen, musste ich durch knarzende Lautsprecher auf dem Gleis hören, dass wohl irgendwo auf der Strecke ein Relais kaputtgegangen war und man nun «leider, leider nur sporadisch Fahrten anbieten» könne. Man war «sehr dankbar für mein Verständnis». Sie, da ging mir aber die Hutschnur hoch: Ich hatte nämlich gar kein Verständnis! Ich hatte den Hals voll, und zwar gestrichen. Ständig soll ich «Verständnis» haben, dass in dieser großen Stadt etwas nicht funktioniert: Ich muss für meine Papiere eine Tagesreise machen, die Post kommt nur einmal die Woche, der Päckchenfahrer verbummelt ständig Sendungen, in der Schule fällt der Unterricht aus, auf einen Termin beim Doktor muss ich als Kassenpatientin ein halbes Jahr warten, und immer soll ich das alles verstehen? Nüscht is! Ich nahm mir fest vor, einen Beschwerdebrief an den Bürgermeister zu schreiben.
Ganze zwei Bahnen fielen aus, und gut die Hälfte meines Zeitpuffers war schon weg, als ich endlich in die Bummelbahn nach Schulzendorf steigen konnte. Die Nichtberliner sagen einem ja oft: «Sind Sie doch froh, bei uns kommt nur zweimal am Tag ein Bus.» Ja, da haben die in gewisser Weise recht. Aber: In Berlin fährt ja nicht planmäßig alle zehn Minuten eine Bahn, weil die so viel Freude an der Bewegung historischer Züge aus der Nachkriegszeit haben, sondern weil so viel Bedarf da ist und ordentlich Leute auf dem Bahnsteig stehen und warten. Die Menschen sind darauf angewiesen, sie müssen zur Arbeit, zur Schule oder zu sonstigen Terminen, zum Beispiel zum Bürgeramt. Da können Se sich denken, wie voll so eine Bahn ist, wenn vorher zwei ausgefallen sind. Ich musste wieder stehen. Diesmal war meine Nase in der Hochsteckfrisur einer jungen Frau eingehakt, und wer mich da zwei Stationen lang am Hintern schubbelte, werde ich wohl nie erfahren. Das ist vielleicht auch besser so. Der Zug war voll wie in Indien, sage ich Ihnen, und die Temperaturen kamen dem auch nahe, denn die Heizung war auf volle Pulle, und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Auf einmal blieben wir stehen, weil … ja. Warum eigentlich? Auch das werde ich wohl nie erfahren. Aus dem Lautsprecher nuschelte die Zugführerin was von «ungeplanten Ereignissen, die uns an der Weiterfahrt hindern».
Ich habe dann meine Nase vorsichtig aus dem Haarknödel des jungen Fräuleins gelöst, bin ausgestiegen und habe mich erst mal orientiert, wo ich bin und wie weit es noch ist. Es wurde nun wirklich knapp mit meinem Termin beim Bürgeramt, auf den ich so lange gewartet hatte. Wissen Se, was? Ich habe mich dann mit ein paar Erfrischungstüchern halbwegs hergerichtet und mir ein Taxi rangewinkt. Es war furchtbar teuer, aber anders hatte ich keine Schangse, es noch pünktlich zu schaffen.
Mit einer ganzen Stunde Reservezeit war ich losgefahren, und gerade mal zehn Minuten vorm Termin kam ich letztlich an. Gute zwanzig Euro hat mich die Schose gekostet. Das Geld kriege ich auch von keinem wieder! Aber bevor die mich noch des Landes verweisen oder ich nicht mehr wählen darf, weil mein Ausweis ungültig ist, musste das eben sein.
Der Herr auf der Behörde war sehr freundlich, da kann man wirklich nicht meckern. Der Verwaltungsakt an sich war ruck, zuck erledigt. Er stempelte ein bisschen, und ich musste etliche Male unterschreiben und natürlich bezahlen. Mit Schipskarte, Bargeld konnten die nicht. So weit ist es nun schon gekommen! Ich kenne mich aus, und ich mache schon lange mit bei Schipskarte und Geheimzahl, aber was macht da eine Lotte Lautenschläger zum Beispiel? Die holt sich immer am Monatsersten die Rente in bar von der Sparkasse und hebt ihr Geld im Schrank mit der Tischwäsche auf. An die denkt keiner! Alles muss modern und elektrisch. Furchtbar!
Nach drei Wochen bekam ich meinen Ausweis mit der Post zugeschickt und habe tief durchgeatmet.
Eine regelrechte Odysseus-Reise hatte ich hinter mich gebracht.
Eine Odyssee, meine ich.
An dem Abend habe ich nur noch die Beine hochgelegt und Katerle gekrault. Ich war fix und fertig und bin nicht mehr zu Gertrud und Gunter zum Rommeabend rumgegangen, wie es eigentlich verabredet war, sondern habe mir recht früh die Schlafhaube aufgesetzt, die Zähne ins Schälchen gelegt und bin zu Bett gegangen.
Wie gerädert war ich am nächsten Morgen, als ich gegen halb sechs aufwachte. Ich fühlte mich, als hätte ich gar nicht geruht, und musste mir erst mal einen starken Bohnenkaffee brühen und meine Stuhlgymnastik machen, um in die Gänge zu kommen.
Ich wollte gerade los zum Einkaufen, als das Telefon läutete.
Mein Neffe Stefan war dran: «Tante Renate, reg dich nicht auf. Es ist was passiert, aber nichts Schlimmes. Setz dich erst mal hin.»
Der Junge war mal wieder voller Widersprüche. Ich hörte doch an seiner Stimme, dass es was Furchtbares war! Ich sollte mich nicht aufregen, aber hinsetzen. Das passte doch nicht zusammen! Dass er sich Mühe gab, mir die Katastrophe schonend beizubringen, war an sich ja lieb. Ich kenne doch meinen Stefan. Er nimmt immer Rücksicht auf mich und ist besorgt. Wissen Se, ich bin jetzt 82 Jahre alt, und da denkt ein großer Teil der Verwandtschaft, dass die alte Tante nicht mehr alles wissen muss und darf. Einerseits, weil ich mich wegen Blutdruck und Zucker nicht aufregen soll und sie mich schonen wollen, aber auch, weil ich mich angeblich in alles einmische und die Dinge durcheinanderbringe. Es ist also eine Mischung aus Fürsorglichkeit und Bevormundung, weshalb er mir oft nur dosiert erzählt, was los ist. Ich bin allerdings der Meinung, dass ich noch rüstig und auch im Koppe frisch genug bin, dass man mir immer alles sagen kann. Dann müsste ich mich auch nicht «einmischen» und hintenrum ermitteln, wo der Hase wirklich im Pfeffer liegt!
«Nun mal los, Stefan, raus mit der Sprache. Was ist passiert?», fragte ich klar und deutlich, aber unaufgeregt zurück.
«Arianes Mutter hatte einen kleinen Unfall. Es ist aber nicht schlimm!»
So oft, wie der Bengel nun schon gesagt hatte, dass es nicht schlimm ist, musste es wohl in Wahrheit äußerst dramatisch sein.
«Monika ist im Lager bei der Inventur von der Stehleiter gefallen. Sie hat versucht, sich mit den Händen abzustützen. Dabei ist sie so unglücklich aufgekommen, dass nun beide Handgelenke gebrochen sind.»
Auweia. Ich konnte beim Hören schon spüren, wie das wehtat. Arianes Eltern, müssen Se wissen, haben einen Sanitärhandel in Leipzig. Badewannen, Waschbeckenstöpsel, Toilettenbecken, Wasserhähne … all so’n Zeug, was man braucht in der Badestube. Da ist die Monika eine regelrechte Füchsin und kennt sich aus. Sie hat immer das Geschäft im Sinn. Selbst auf der Einschulungsfeier von unserer kleinen Lisbeth hat sie seinerzeit ihre Visitenkarten verteilt und wollte der Frau Druss-Hell, Lisbeths Klassenlehrerin, eine neue Spüle aufschwatzen. In solchen Momenten ist Monika in ihrem Element, und alle beiwohnenden Anwesende hüsteln peinlich berührt in ihr Taschentuch. Ich sehe sie nicht oft, wissen Se, Leipzig ist weit weg, und sie und ihr Mann Manfred, Stefans Schwiegervater, kommen nicht zu jeder Familienfeier. Das dürfen Se jetzt nicht falsch verstehen, das soll nicht heißen, dass sie sich nicht um die Enkelkinder kümmern. Sie sind sehr großzügige und auch warmherzige Großeltern. Die von Fürstenbergs überschütten die Kleinen mit Geschenken! Teddys in Metergröße und lauter so teures Zeug, was bimmelt, Sirenen hat und Batterien braucht, schleppen sie immer an, wenn sie sich blicken lassen. Aber wer ein Geschäft hat, kann sich nicht ständig loseisen. Selbstständig sein heißt eben selbst und ständig arbeiten müssen, das ist eine alte Weisheit, die nichts von ihrer Wahrheit verloren hat. Da kann man eben nicht alle Nase lang nach Berlin düsen und mit an der Kaffeetafel sitzen, wenn Geburtstag gefeiert wird. Aber die beiden telefonieren oft mit den Enkelchen, auch mit diesem modernen Fernsehtelefonierer, wo man sich sehen kann und Manfred auf Anweisung von Monika immer Faxen machen und Grimassen schneiden muss.
Nun war die Gute also von der Leiter geplumpst. Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein! Monika ist ja auch über die sechzig drüber, da werden die Knochen langsam morsch, und es düselt ab und an schon mal im Kopf. So ging es bei mir auch los, und heute muss ich immer erst einen kleinen Korn nehmen, bevor ich die Stufen zum Gardinenabnehmen hochklettere.
Manfred war zum Glück vorn im Geschäft gewesen und hörte es hinten im Lager rumpeln, als Monika unten aufschlug. Er ist gleich aufgesprungen und hingeeilt, und da sah er sie dann liegen zwischen Kupferrohren und den Scherben eines zerschellten Urinals, das sie mit runtergerissen hatte und das glücklicherweise nicht auf ihr gelandet war. Nicht auszudenken, was noch Schlimmeres hätte passieren können! Sie wimmerte und brüllte Manfred an, dass er einen Krankenwagen rufen soll, was der auch gleich tat. Manfred ist es nämlich gewohnt, Monikas Anweisungen Folge zu leisten. Der weiß genau, dass es nur Ärger gibt, wenn er widerspricht. Und er übersah die Situation auch gleich und wusste, dass es ernst war. Also kamen sie mit Blaulicht und Tatütata und betteten die wimmernde Monika vorsichtig auf eine Trage. Sie wurde ins Krankenhaus gefahren und gleich ins Röntchen geschoben.
Das alles erzählte mir Stefan am Telefon, aber nicht so am Stück, wie ich Ihnen das jetzt aufschreibe. Männer sind da anders, die kommen immer nur bröckchenweise mit den wichtigen Informationen der Geschichte raus. Man muss jedes Puzzleteil einzeln aus ihnen herauskitzeln. Meine Freundin Gertrud ist zwar kein Mann, aber trotzdem ist es bei ihr ähnlich. Gertrud sprudelt wie ein Vulkan, aber man muss von dem ganzen Redeschwall die ganzen unnützen Informationen abscheiden und das wenige Wichtige finden. Das ist wie beim Goldwaschen. Da muss man für ein kleines glitzerndes Fitzelchen des edlen Metalls Tonnen an Geröll abbauen und mühsam waschen. Gertrud erzählt und erzählt über Hackrezepte, über Gunters eingewachsene Zehennägel, dass Hedi Heisenhechler ein Urenkelchen bekommen hat und dann, ganz plötzlich so nebenher, dass im Lidl der Korn im Angebot ist. Man muss viel Geduld haben, die ganze Zeit über zuhören und im richtigen Moment aufmerken, um das wirklich Wichtige nicht zu verpassen!
Bei Männern hingegen setzt man besser gleich Hammer und Meißel an, um jedes kleine Fünkchen wichtige Information aus ihnen rauszuarbeiten. Es ist oft wie beim Zähneziehen! Würde ich Ihnen das Gespräch mit Stefan jetzt so aufschreiben, wie es verlaufen ist, na, dann wären wir aber über hundert Seiten damit beschäftigt. Ich fasse das besser kurz zusammen, wir wollen schließlich nicht, dass unnütz Bäume für Papier sterben, nur weil der Junge nicht auf den Punkt kommt!
Also, was war weiter passiert?
Monika wurde auf eine Bahre geladen.
Nee, auf eine Trage. Eine Bahre hat nur der Bestatter, und so weit war es noch nicht. Sie haben sie ins Krankenhaus gefahren und ins Röntchen geschoben. Dabei stellten sie fest, dass die ungeschickte Liese sich beide Unterarme gebrochen hatte. Die Frau war auf jeden Fall außer Gefecht und musste erst mal im Krankenhaus bleiben, weil nämlich auch noch operiert werden musste, um die Knochen zu richten. Ariane hatte verständlicherweise alles stehen und liegen lassen und war gleich Hals über Kopf zum Vati nach Leipzig gedüst, um sich vor Ort einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Stefan war nun in Spreeweide mit den Mädchen allein.
Na, da wusste ich, was ich zu tun hatte. Eine Renate Bergmann kann zwei und zwei zusammenzählen.
Sollen die mal froh sein, dass se mich haben!
Man brauchte keine Prophetin zu sein, um vorherzusehen, was als Nächstes passieren würde. Arianes Vater, der Manfred, war ein Mann, der brav folgte, aber alleine nichts konnte, weder im Geschäft noch im Haushalt. Dem würde das Mädel erst mal den Abwasch und die Betten machen müssen. Und sich auch um Monika kümmern. Wenn Manfred ihr die Tasche packt, na, da fehlt doch die Hälfte! Der weiß als Mann doch gar nicht, was in eine Krankenhaustasche gehört und dass der gute Morgenmantel mitgegeben werden muss und welche Toilettenartikel. Monika war mit den zwei gebrochenen Armen doch komplett außer Gefecht. Und im Geschäft hatte sie auch die Hosen an. Der Manfred konnte bestimmt die Kunden gut beraten, aber wie der Computer geht, wusste der nicht. Da klickste der immer genauso plan- und hilflos rum wie Frau Doktor Bürgel, wenn sie die Tabletten für mich raussucht.
Also, kurzum, mir war gleich klar, dass Ariane da von ihren Eltern gebraucht wurde, und zwar dringend, und nicht nur für heute. Sicher, sie würde spätestens morgen erst mal nach Hause zurückkommen, weil sie genau wusste, dass Stefan zwar ein prima Papa ist, der mit den beiden kleinen Mädchen zurechtkommt, aber dass spätestens, wenn sich ein Haargummi im Zopf verknüddelt, doch die weibliche Hand gefragt ist. Und dann würde sie noch mal losfahren müssen, weil Manfred die falschen Schlüpfer ins Krankenhaus gebracht und ein Kunde im Geschäft sich beschwert hätte, dass die Rechnung nicht stimmte. Außerdem würden Schreiben von der Unfallkasse und von der Versicherung kommen und was sonst noch alles. Ich weiß doch, wie der Hase läuft! Denken Se mal, Gundi Zippe ist letzten Sommer auf der Straße über den Bordstein gefallen und hat sich so ungeschickt abgestützt, dass der Ellenbogen angeknackst war. Zum Glück eilten gleich Passanten zu Hilfe und riefen einen Rettungswagen. Sie kriegte eine Gipsschiene und musste Reha machen und Wattebälle werfen. Mit über achtzig Jahren ist so ein Armbruch keine Kleinigkeit, sondern ein Grund zu großem Aufatmen, wenn man wiederhergestellt werden kann. Da heilen die Knochen nicht mehr so leicht! Die Freude währte jedoch nicht lange, denn ein halbes Jahr später, als Gundi schon gar nicht mehr an den Vorfall dachte, kriegte sie Post von der Kasse. Sie schickten ihr doch tatsächlich eine Rechnung für den Krankenwagen mit der Begründung, es war ja nur der Ellenbogen, und sie hätte genauso gut mit dem Bus ins Krankenhaus fahren können, denn die Beine waren ja nicht gebrochen. Na, da hatte die aber erst mal über Wochen Papierkrieg, bis die Geschichte aus der Welt war und die Kasse das zurücknahm!
Nee, da muss man aufpassen, von Anfang an. Es war schon richtig, dass Ariane den Eltern in diesen Zeiten zur Seite stand.
Also tat ich, was zu tun war: Ich packte meine kleine Reisetasche. Im Gegensatz zu Manfred wusste ich auch, was da reingehört! Spätestens morgen würde Stefan mich brauchen. Heute war es noch nicht der richtige Moment, sich anzubieten. Das würde der Junge nur empört zurückweisen und behaupten, er braucht keine Hilfe. Wissen Se, manchmal muss man der Zeit nur ihren Lauf lassen und bereit sein. Es reicht, den Dingen dabei zuzusehen, wie sie sich für einen entwickeln. Da wäre zusätzliches Eingreifen nur hinderlich.
Am nächsten Tag hatte ich genug gewartet. Ich konnte beim Finstergram sehen, dass Ariane auf dem Weg nach Leipzig war, und machte mich auf den Weg nach Spreeweide.
Die jungen Winklers wohnen in Spreeweide. Dort haben sie vor ein paar Jahren gebaut, auf dem Grundstück, das ich von meinem dritten Mann Franz geerbt habe. Es war ein Stück raus aus Berlin, leider. Aber immerhin! Das Grundstück, das ich beim Pokern in «Haus Seerose» von Gretchen Görlitz gewonnen hatte, wäre schöner gewesen. Aber die Angehörigen stellten sich damals bockbeinig und schickten einen Brief über den Rechtsanwalt, dass das nichts gildet, weil Gretchen mit den Tabletten neu eingestellt und nicht ganz klar im Oberstübchen war. Pah! Spielschulden sind Ehrenschulden, sage ich, und wenn ich verloren hätte, hätte meine Tochter Kirsten Gretchens Sohn Erhard auch geheiratet, wie es vereinbart war. Da hätte ich auch keinen Anwalt geschickt! Gut, Kirsten vielleicht, aber das steht auf einem anderen Blatt. Ich will Sie nicht mit ollen Kamellen langweilen, die Dinge sind, wie sie sind: Stefan und Ariane haben auf Franz’ Grundstück gebaut, und ich habe dort eine kleine Einliegerwohnung. Natürlich habe ich damals nicht nur Grund und Boden beigesteuert, sondern auch was vom Ersparten dazugegeben. Wissen Se, der jungsche Herr Koch von der Sparkasse hatte einen Teil meiner Puseratzen in Aktien angelegt. Was habe ich mich zuerst aufgeregt und dem aber tüchtig den Kopf gewaschen! Er sollte nur Schatzbriefe kaufen, für feste Zinsen und ganz sicher, aber der hatte was falsch angekreuzt und Aktien gekauft. Ich schimpfte allerdings nicht sehr lange und nicht sehr laut, denn mein Gespartes hatte sich beträchtlich vermehrt, und ich konnte großzügig was beisteuern zum Haus. Dafür bekam ich eine kleine Wohnung für das Alter, wenn ich mal nicht mehr alleine zurechtkommen sollte. Ebenerdig, zwei gemütliche, helle Stuben, eine nicht zu kleine Küche – ich bin ja im Gegensatz zu den jungen Dingern, die nur Kochsendungen im Fernsehen gucken, selbst aber nur Büchsen aufmachen, jeden Tag am Kochen und Braten! Die Badestube ohne Stufen und direkt vor dem Wohnzimmer eine Terrasse zum Garten raus. Das hat Stefan damals beim Bau so durchgesetzt, obwohl ich mich zierte wie die Zick am Strick und das eigentlich gar nicht wollte. Der gute Junge! Nun bin ich als Eigentümerin im Grundbuch und auch mit Zweitwohnsitz in Spreeweide gemeldet. Bei Renate Bergmann hat alles seine Ordnung!
Und da stehen jetzt nicht die neuesten Möbel drin, das dürfen Se nicht denken. Ich bin zwar vierfache Witwe, aber der Onassis war keiner meiner Gatten. Den hat sich ja die Jackie Kennedy geangelt damals. Ach, da fällt mir ein Witz von unserem Kurt ein. Der Kurt ist ja so ein Spaßvogel und hat immer einen lustigen Spruch auf den Lippen! Neulich hat er mich, ohne die Miene zu verziehen, gefragt, wie wohl die Weltgeschichte verlaufen wäre, wenn dieser Irre damals nicht den Kennedy, sondern den Walter Ulbricht erschossen hätte. Ich habe natürlich mit den Schultern gezuckt. «Ich weiß es auch nicht, Renate», hat er gesagt. «Aber ich bin mir sicher, die Lotte Ulbricht hätte der Onassis nicht geheiratet!» So ein Witzbold ist das, der Kurt!
Jedenfalls stehen in meiner Wohnung in Spreeweide eher wie in einer Gartenlaube alte Möbel und ausgedienter Hausrat. Sie kennen das bestimmt, man kauft neues Geschirr, braucht Platz im Schrank, will aber das alte noch nicht wegschmeißen und denkt sich: «Für den Garten oder für den Campingwagen geht es noch!» Deshalb ist die Einrichtung dort eher spanisch.
Spartanisch.
Herrje, da hat die Taste geklemmt. Spartanisch, aber tipptopp, das sage ich Ihnen. Es ist zwar einfach eingerichtet, aber alles ist sauber, wie sich das gehört. Ich fahre alle paar Wochen raus und wische feucht durch. Das ist immer ein schöner Anlass, die Kinder zu besuchen. Im Fall des Falles, dass ich mich dort mal niederlassen sollte, würde ich natürlich meine Einrichtung und meinen Hausstand aus Spandau mitnehmen. Deshalb macht es gar keinen Sinn, da teures Mobiliar reinzustellen, was nur einstaubt.
Als dann die Conora-Zeit kam und Stefan und Ariane wie so viele von zu Hause aus gearbeitet haben, sind sie in meine Wohnstube gegangen und waren froh, dort an ihren Computern mal in Ruhe videotelefonieren zu können mit dem Scheff und den Kollegen, ohne plärrende und quengelnde Kinder im Hintergrund.
Kurzum: Ich habe in Spreeweide eine eigene Wohnung und einen Schlüssel dazu, ich muss mich nicht groß anmelden und jemanden fragen, ob ich wohl kommen darf. Das Problem war nur, dass ich da erst mal hinkommen musste. Wissen Se, in Berlin ist man es gewohnt, dass man sich an die Bushaltestelle stellt, und entweder fährt sofort ein «großer Gelber» vor oder in spätestens fünf Minuten, zumindest planmäßig. Wenn er mal zehn Minuten warten muss, wird der Berliner schon nervös und fängt an zu schimpfen. Das ist in Spreeweide anders. Da fährt auch ein Bus, jawoll. Einmal in der Stunde. Das ist aber noch gut, denn ein paar Dörfer weiter fährt nur morgens um kurz nach halb acht einer und mit ein bisschen Glück am späten Nachmittag noch mal. Aber nur, wenn die Schule kein Hitzefrei gegeben hat, dann kutschiert der die Kinder nämlich mittags schon zurück, und man hat Pech. Es ist nämlich der Schulbus, der als Linienbus verkehrt.
Ich würde mich schon durchschlagen nach Spreeweide!
Am darauffolgenden Tag kam alles, wie ich es erwartet hatte. Ariane war spät in der Nacht mit dem Auto nach Hause gedüst gekommen und fix und fertig. Die Sorge um die Mutti war groß. Die war operiert worden und lag im Krankenhaus, wo sie aber nun in guten Händen und eins a versorgt war. Die Arme waren eingegipst, und sie kriegte alle nötige Hilfe bei … bei allen Verrichtungen, die zu erledigen waren. Die Schwestern und Pfleger waren den Umgang mit herrischen Personen gewohnt und wussten sich zur Wehr zu setzen, da machte ich mir keine Sorgen. Man muss in allem Schlimmen immer auch was Gutes suchen, und in gewisser Weise war es für Manfred auch nicht verkehrt, dass er mal für ein paar Wochen aus Monikas Klauen befreit war. Allerdings schlug dem der Schreck auch ganz schön aufs Gemüt, und es stellte sich raus, dass er in all den Jahren so unter der Fuchtel der Gattin gestanden hatte, dass er alleine ü-ber-haupt nicht zurechtkam. Der konnte sich wohl alleine einen Kaffee kochen, ja. Aber nur, solange noch Pulver in der Dose war. Wohin der alte Filter mit Kaffeesatz kam, wo er ein neues Päckchen Krönung herbekam und dass man die Tasse abwäscht, nachdem sie benutzt wurde – das alles waren Rätsel für ihn. Sicher, dass er jeden Morgen ein frisches Hemd anziehen muss, war auch ihm geläufig, aber nicht, wie die Waschmaschine angeht. Und auch in der Firma führte Monika das Regiment. Manfred konnte gut mit Kunden umgehen und war prima im Verkauf, aber er fand im Lager keinen Wasserhahn. Der stellte sich an, dass Ariane immer bange war, er würde das Interweb kaputt machen!
Ariane war also in großer Sorge, um die Mutti genauso wie um den Vati. Wenn es drauf ankommt, sind die Kinder ja da. Da spürt man dann die Bande. Erst können se es nicht abwarten, flügge zu werden und aus dem Nest zu entschwinden. So muss das auch sein, denn sie müssen ihr eigenes Leben leben, ihre Fehler machen und ihre Erfahrungen sammeln, ihr Glück finden und ihren Weg gehen. Aber wenn es hart auf hart kommt und man bei der Erziehung nicht alles ganz falsch gemacht hat, sind sie auch in der Ferne da für einen und kümmern sich um die Eltern. «Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel», heißt eine Weisheit. So habe ich das mit Kirsten gemacht, und auch wenn mir ihre Wünschelrutenwedelei oft gegen den Strich geht, so muss ich doch anerkennen, wie sie sich liebevoll und mit langer Leine um mich kümmert. Sie ruft alle paar Tage an und mahnt, dass ich viel trinken soll, wenn es heiß ist, und dass ich nicht so viel trinken soll, wenn es kalt ist und ich mir gern einen Grog brühen würde. Sie fragt immer meine Arzttermine ab und lässt sich auch berichten, was die verschiedenen Doktors gesagt haben. Und alle paar Monate kommt sie für ein paar Tage nach Berlin. Kirsten erdrückt mich nicht mit ihrer Fürsorge, aber sie ist da, wenn ich sie brauche. Genauso ist es bei Ariane. Die hat mit zwei Kindern, ihrem Beruf, dem Haushalt und unserem Stefan genug um den Hals und kann nicht jedes Wochenende nach Leipzig fahren. Aber jetzt, wo Not an der Frau war, gab es kein Zögern für sie. Selbstverständlich hatte Ariane gleich den Scheff angerufen, erst mal Urlaub genommen und mit Stefan besprochen, dass sie gleich wieder nach Leipzig düsen würde. Diesmal aber mit dem Zug, nicht nur wegen der Umwelt, sondern auch, weil Stefan das Auto ja brauchen würde. Die Mädchen mussten zur Schule, zum Kindergarten, zum Hort, zum Handballtraining, zum Tanzen und zum Kindergeburtstag von Jannie gekutscht werden, und das ging nicht mit dem Bus und nicht mit dem Lastenrad. Ariane hatte in Leipzig das Auto von der Mutti zur Verfügung, und deshalb war das ganz schnell entschieden. Ich hörte mir das alles von Stefan am Telefon an und überlegte die ganze Zeit, wie ich mich wohl am geschicktesten ins Spiel bringen könnte. Was Ariane alles um die Ohren hat, ist schon zu normalen Zeiten ohne verunfallte Monika nicht von schlechten Eltern. Sie behauptet von sich selbst, sie kann Muttitasking. Multi. Also, zwei Dinge auf einmal. Stefan lacht dann nur, und einmal hat er sogar widersprochen. «Wenn man auf zwei Parkplätzen gleichzeitig steht, ist das kein Multitasking», hat er gesagt. Allerdings nur einmal, weil er danach in der kleinen Stube auf dem Gästebett schlafen musste.
Auf jeden Fall brauchten die mich, da biss die Maus keinen Faden ab. Hätte ich jedoch jetzt schon angeboten, nach Spreeweide zu kommen, hätte Stefan sofort behauptet, dass das nicht nötig wäre und er prima allein klarkommt. Ich musste das geschickter anstellen. Wie ich das schon sagte, der Stefan müsste von selber auf die Idee kommen und mich fragen. Aber dazu kenne ich den Bengel zu gut, als dass das realistisch wäre. Das würde Stefan nicht tun. Also sagte ich: «Stefan, nicht, dass du dich wunderst, ich bin morgen mal unten in der Wohnung. Die Fenster müssen geputzt werden, und ich glaube, die Terrasse hat es auch mal wieder nötig, die muss abgefegt werden.» Er war kurz ganz stille, und dann kicherte er kurz: «Was für ein Zufall, Tante Renate. Ausgerechnet morgen.»
«Ja», sagte ich, einfach nur «ja», und wartete ab, was da noch kam. Das Eis war dünne, noch konnte es brechen. Aber dann sagte Stefan: «Ich hole Lisbeth um halb vier vom Handballtraining in Spandau ab. Wenn dir das nicht zu spät ist, kann ich dich mitnehmen. Dann musst du nicht mit dem Bus fahren.»
Ich atmete erleichtert auf und hoffte, dass der Junge meinen Freudenkiekzer, der mir entfahren war, nicht durch die Leitung hören konnte.
«Das passt prima, Junge. Und dreh doch bitte die Heizung schon mal auf drei, damit es nicht so kalt ist. Aber nicht in der Schlafstube, da reicht es auf zwei, du weißt, ich schlafe nie …»
«… ohne deine Heizdecke. Ja, klar, Tante Renate. Dann bis morgen!»
Na, das hatte ich doch gut eingefädelt! Wir waren so elegant durch das Gespräch geschlittert, dass Stefan mich nicht bitten musste, und ich musste mich nicht aufdrängen. Wir konnten beide sagen, dass «es sich so ergeben» hatte.
Und so kam ich nach Spreeweide.
Ich hielt mich in den ersten Tagen sehr zurück und blieb in meinen vier Zweitwänden. Also, in den zweiten vier Wänden. Sie wissen schon, wie ich das meine. In meiner kleinen Wohnung. Nur in Absprache mit Stefan ging ich zu den Winklers rüber und half morgens, die Kinder fertig zu machen, räumte ein bisschen auf, holte die Mädchen nach der Schule und dem Kindergarten ab und gab ein bisschen acht auf sie.
Ach, es war erst alles sehr nett. Die kleine Agneta nutzte es aus, dass Oma Nate da war, und ließ sich verwöhnen. Ich kochte ihr Schokoladenpudding als Nachtisch und ließ sie beim Würfeln gewinnen. Jedenfalls manchmal.
Die Mädchen sind wirklich brav und rundum prächtig gelungen. Wenn ich mir dieses Theater mit angucke, das bei meiner Nachbarin Frau Berber jeden Abend zur Bettzeit los ist! Sie hat ihren Jemie-Dieter nicht im Griff. Der Bengel zieht die Schnodder hoch und ist unfreundlich zu alten Damen. Und die Füße tritt er sich auch nicht ab, der Hausflur ist ständig dreckig. Das stört weder die Mutter noch den Rotzbengel. Aber was soll man sich aufregen, es bringt ja alles nichts. Das geht nur auf meine Nerven. Die bezahlt mir auch keiner, und zum Doktor fährt mich auch niemand, wenn ich wieder den Blutdruck hoch habe. Ach, hören Se mir doch auf!
Bei den Berbers wird in einer Tour diskutiert und gebettelt, gebrüllt und gequengelt. Vor achte fängt die abends gar nicht an, das Kind bettfertig zu machen. Früher war nun beileibe nicht alles besser, aber wenn meine Mutter sprach: «Marsch ins Bett», dann gingen wir ins Bett. Und zwar ohne Widerworte, sowohl mein kleiner Bruder, der Fritz, als auch ich. Und nicht irgendwann, sondern nach dem Abendbrot. Wir aßen immer um sechs, danach wurde der Tisch abgeräumt. «Kinder sind zum Helfen da», lautete das Motto, und so griffen wir selbstverständlich mit zu. So sagt man das heute nicht mehr, aber trotzdem griffen auch Lisbeth und Agneta ganz selbstverständlich mit zu und halfen dabei, die Küche in Schuss zu bringen. Zu meiner Zeit hatten wir ja keinen Geschirrwaschapparat, sondern Oma und Mutter wuschen ab. Derweil schnitt Opa sich die Zehennägel, las die Zeitung oder stopfte seine Pfeife. Wir Kinder putzten unsere Zähne, zogen die Nachthemden an, und dann ging es eben «marsch ins Bett». Wir wären nicht mal auf die Idee gekommen, ein Gezeter anzustimmen! Manche Tage, wenn wir brav gewesen waren und es die Zeit zuließ, kam Mutter noch in die Dachkammer und las eine Seite aus «Grimms Hausmärchen» vor. Aber nur eine Seite, schließlich wollte sie auch mal Feierabend und ein Stündchen für sich haben. Wenn am nächsten Abend nicht die Mutter, sondern Oma Strelemann zum Zudecken zu uns kam, bettelten wir, dass sie uns auch vorlas, weil wir natürlich wissen wollten, wie die Geschichte weiterging. Aber Omas Augen waren so schlecht, dass sie trotz Brille im schummerigen Petroleumlampenlicht nichts entziffern konnte. Sie erzählte uns stattdessen kleine Geschichten. Meist waren Oma Strelemanns Sagen aber so gruselig, dass Fritz vor Angst nicht in den Schlaf kam. Einmal hat er sogar ins Bett gepullert, danach verbot Mutter der Oma die Geschichten. «Die holde Heidrun und der geköpfte Verehrer» war von da an ebenso tabu wie «Die gehenkte Prinzessin von Schloss Bessenau».
Nur wenn es nötig war, ging ich nun Stefan im Haushalt ein bisschen zur Hand. Wissen Se, der Junge ist ja von Ariane her gut ins Geschirr genommen. Sie hat von Anfang der Ehe an darauf geachtet, dass er auch mit anpackt. Ich mischte mich, wie gesagt, im Haushalt der jungen Winklers nicht groß ein und half nur ein bisschen beim Abwasch. Gern hätte ich wohl ihre Schubladen mal durchgeseift, aber so was mag Ariane nicht. Die jungen Leute sind ja in ihrer Küche doch ganz anders eingerichtet und haben ihre Eigenheiten, genau wie unsereins. Man kriegt da nur Ärger, wenn man seiner Leidenschaft freien Lauf lässt. Ich bin nun mal so gestrickt, dass ich es gern reine habe. Egal, wo ich hinkomme, ich muss wenigstens den gröbsten Dreck beseitigen. Ach, was habe ich deshalb schon für komische Blicke geerntet, wenn ich in der Kaufhalle mit einem feuchten Tuch mal über die Scheibe von der Kühltruhe gegangen bin oder auch im Bus die Fenster geputzt habe. Fingerpatschen sind mir einfach ein Dorn im Auge! Wissen Se, Gertrud ist bestimmt ein guter Mensch und eine treue Freundin, aber ihre Schubladen … Ich konnte da gar nicht hinschauen. Seit Jahren wollte ich die schon durchräumen, da wurde sie jedoch regelrecht böse und hat es mir eindringlich verboten. Aber dann kam meine Schangse: Wir saßen beim Tee zusammen, als ein Anruf von ihrer Enkelin kam. Gertrud musste schnell weg und ihr einen Schlüssel bringen. Erst dachten wir, es ist der Enkeltrick. Wir wissen
