Ihr Kampf - Eva Kienholz - E-Book

Ihr Kampf E-Book

Eva Kienholz

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Beschreibung

Völkisch, nationalistisch, unberechenbar: Der "Flügel" um Björn Höcke und Andreas Kalbitz, die Sammlungsbewegung der äußersten Rechten in der AfD, ist trotz der offiziell verkündeten Auflösung nach wie vor ein wichtiger Machtfaktor und Radikalisierungsmotor. Die öffentlichkeitswirksame, vom Parteivorstand "gewünschte" Trennung vom rechten Flügel, scheint geeignet, die "Salonfähigkeit" der AfD zu unterstreichen. Geht man womöglich einvernehmlich, die besseren Chancen für den Wahlkampf im Blick? Haben sich die Flügel-Leute tatsächlich von ihrem Anspruch verabschiedet, den politischen Kurs der AfD zu bestimmen? Zweifellos dominieren die Extremisten das Bild der AfD in der Öffentlichkeit, dennoch bleiben sie eine Blackbox. Auf welche Kräfte aus Neonazi-Kreisen, aus der Medienszene um rechte Verleger wie Kubitschek, aus der Bewegung der Identitären stützt sich der rechte Flügel? Die Journalistin Eva Kienholz hat undercover Veranstaltungen des Flügels und der Neuen Rechten besucht. Ihre Analysen belegen: Höcke & Co. unterwandern die AfD – und könnten schon bald die gesamte Partei übernehmen. Wer in naher Zukunft der gefährlichste Mann Deutschlands werden könnte, warum der Aufstieg einst tot geglaubte Rechtsextreme wieder ins Zentrum des politischen Geschehens rückt und wie es so weit kommen konnte – all das verrät dieses Buch.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-01367-5

ISBN Print 978-3-360-01367-5

1. Auflage 2020

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Printed in EU

www.eulenspiegel.com

Inhaltsverzeichnis

Aufgelöst, aber noch da

Wie der Flügel weitermacht

Einblicke von innen

Auf dem Flügelfest in Binz

Über den Flügel hinaus

Was er war, was bleiben wird

Im Osten geht der Flügel auf

So kämpfen Höcke und Kalbitz um Wählerstimmen

Flügelkämpfe in der AfD

Der gar nicht mal so lange Weg nach rechts

Verbotene Liebe

Auf dem Sommerfest der Identitären Bewegung

Von Schnellroda in die Köpfe

Der Kubitschek-Komplex

Für das Deutsche Vaterland

Ein Wochenende auf dem »Neuen Hambacher Fest«

Vom Lehrer zum Politiker – und noch weiter

Über den Frontmann Björn Höcke

Vom Soldaten zum Politiker

Über den Strippenzieher Andreas Kalbitz

Hinter Höcke und Kalbitz

Die Radikalen aus der zweiten Reihe

Der Grund zum Gehen

AfD-Aussteiger berichten über den Flügel

Was der Flügel freigesetzt hat

Ein Fazit

Aufgelöst, aber noch da

Wie der Flügel weitermacht

Vier Tage bevor der »Flügel« Geschichte werden soll, erscheint im Internet ein Video. Es ist der 26. April 2020 – und Björn Höcke, AfD-Chef von Thüringen und Gründer des Flügels, setzt einen Schlusspunkt unter eine Gemeinschaft, die nie leicht zu fassen gewesen ist. Ist das, was Höcke da mit bewegter Miene für beendet erklärt, ein Netzwerk in der AfD? Eine völkische Bruderschaft? Eine rechtsnationale Strömung in einer ohnehin rechtsnationalen Partei? Ein Staat im Staate? Oder bloß eine lose Interessengemeinschaft von Idealisten, die verhindern möchte, dass sich die Alternative für Deutschland zu sehr an ein System anpasst, das sie doch überwinden will?

Höckes letzte Worte im Namen des Flügels, die er duzend an seine »Freunde« richtet, fallen ihm sichtlich nicht leicht. Um sie loszuwerden, ist er ins Kyffhäusergebirge im Norden Thüringens gereist. Genau dorthin, wo 2015 das erste große Treffen des Flügels stattgefunden hat. Höcke steht mit wehmütigem Blick, beigem Trenchcoat und weißem Hemd vor der Kamera, hinter ihm das Kyffhäuserdenkmal: Kaiser Wilhelm I., hoch zu Ross, unter ihm Friedrich I., »Barbarossa«, dessen historischen Auftrag Wilhelm 1871 mit der Reichsgründung erfüllt haben soll. Die in Stein gegossene deutsche Welt der Sagen und Mythen, die Höcke so schätzt.

Immer wieder werden Szenen von verschiedenen Anlässen eingeblendet, die zeigen sollen, wie erfolgreich der Flügel gewesen ist und wie umjubelt sein Anführer. Während sich Höcke auf den eingeblendeten Fotos feiern lässt, bezeichnet er aus dem Off die parteiinterne Gruppierung als »Erfolgsgeschichte, die zwar jetzt formal abgeschlossen wird, die aber in gewisser Weise weitergeschrieben wird, weil der Geist des Flügels natürlich in der Partei bleiben wird.«

Höckes Worte kommen nicht überraschend. Im März 2020 erhebt der Verfassungsschutz den Flügel zum Beobachtungsfall, stuft ihn als »gesichert rechtsextremistische Bestrebung« ein. Daraufhin beschließt der Bundesvorstand der AfD, dass sich der Flügel bis Ende April auflösen soll. Nur ein Vorstandsmitglied stimmt gegen den Beschluss: Andreas Kalbitz, der da noch nicht ahnt, dass ihn nur wenige Wochen später das nächste bedeutende Votum dieses Gremiums treffen wird. Er ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur AfD-Chef von Brandenburg, sondern gilt auch als mächtigster Strippenzieher des Flügels. Seine Vita ist von Kontakten zu Rechtsextremen durchzogen.

Erstaunlich schnell lassen sich Höcke und Kalbitz auf die »Auflösung« ein, die sie in einem schriftlichen Statement selbst in Anführungszeichen setzen. »Grundsätzlich kann nicht aufgelöst werden, was formal nicht existiert«, heißt es in dem Abschiedsschreiben der beiden Flügel-Frontmänner. Wie Höcke in seiner Videobotschaft verlauten lässt, soll das Ende des Flügels das »ultimative Zeichen« sein, um ihren »Willen zur Einheit der Partei zu untermauern«.

Um diese Einheit war es in der AfD in Wirklichkeit nie besonders gut bestellt. Die graue Eminenz Alexander Gauland bezeichnete seine Parteigänger deshalb auch mal treffend als »gärigen Haufen«. Seit ihrer Gründung im Jahr 2013 durchläuft die AfD eine stetige Spirale der Radikalisierung. Es ist eine Auseinandersetzung, die sich zweimal zugespitzt hat – um jeweils im Abgang der zu jenem Zeitpunkt als moderat geltenden Kräfte um die ehemaligen Parteichefs Bernd Lucke und Frauke Petry zu münden. Der Streit zwischen den gemäßigten Kräften und den Vertretern des Flügels, der die Partei seit dem Frühjahr 2020 erfasst hat, ist aber nicht nur die nächste Version dieser Auseinandersetzung. Er hat eine neue Qualität. Das liegt nicht zuletzt an dem, was der Flügel war und trotz seiner formellen Auflösung noch immer ist.

In nur wenigen Jahren ist es Höcke, Kalbitz und ihren Gefährten aus der zweiten Reihe gelungen, ihre eigene Partei zu unterwandern. Sie haben einen regelrechten Kampf gegen gemäßigtere Parteikollegen geführt, denen sie stets unterstellten, Opportunisten des verhassten Establishments zu sein. Es war ihr Kampf, und sie haben ihn nicht verloren, wie die Auflösung des Flügels suggerieren könnte. Sie führen ihn unerbittlich weiter.

Innerhalb der AfD hat der Flügel in den letzten fünf Jahren eigene Strukturen aufgebaut. Er hat jährlich sein Kyffhäusertreffen abgehalten, eine unter den Sympathisanten beliebte Veranstaltung, bei der etwa Kalbitz im Juni 2018 vor einer riesigen Deutschlandfahne von der Bühne gebrüllt hat: »Masseneinwanderung ist Messereinwanderung!« Die Antwort der Anhänger: »Abschieben! Abschieben!«

Der Flügel hat verdiente Parteifreunde mit einem eigenen Orden geehrt, dem »Flügelabzeichen«. Er hat über eigene Obleute verfügt, die regional für ihn geworben haben. Er hatte eine eigene Website, ein Logo, einen Online-Shop, über den Flügel-Fanartikel verkauft wurden: Anstecker mit Logo, Tassen, Taschen und Shirts mit Höckes Konterfei, dazu der Spruch: »Höcke hatte recht!«

Das formelle Ende des Flügels ist nicht nur nach Meinung führender Verfassungsschützer eine »Scheinauflösung«, denn die meisten Parteigänger, die für das Netzwerk standen und stehen, sind nach wie vor da. Vor allem ihr Anführer Björn Höcke.

Der Kult um Höcke hat in den vergangenen Jahren teilweise sektenähnliche Ausmaße angenommen. Beim Kyffhäusertreffen 2019 wurde vor seiner Rede ein Einspieler über den »Menschen Björn Höcke« gezeigt, in dem er Schafe füttert, durch den deutschen Herbstwald joggt oder von Flügel-Freunden gefeiert wird. Höcke, der Messias. Derweil operierte Kalbitz in dessen Windschatten und sorgte dafür, dass der Flügel innerhalb der AfD immer mächtiger wurde.

Aber auch außerhalb der Partei scharen die Flügelisten Unterstützer um sich, etwa Götz Kubitschek, den bestens vernetzten Strategen der Neuen Rechten. Inzwischen gibt es Vereine, Verlage, Stiftungen, Netzwerke und Thinktanks, die alle dasselbe Ziel haben: eine Diskursverschiebung nach rechts, sowohl innerhalb der AfD als auch in ganz Deutschland. Dieses Ziel verfolgen die Vertreter der Neuen Rechten nicht mit Nazi-Parolen. Statt »Ausländer raus« sprechen sie von »Remigration«. Der Kern der Aussage ist gleich, aber die neue Verpackung lässt auch Interessenten genauer hinsehen, die sich zuvor vielleicht abgewendet hätten.

Egal ob bei Pegida-Demonstrationen, Festen der Identitären Bewegung oder beim »Neuen Hambacher Fest«, das von außen völlig harmlos wirkt – überall sind auch AfDler zugegen, die dem Flügel zuzurechnen sind. Während der Entstehung dieses Buches versuchen führende Flügelisten, sich an die Spitze der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu setzen. Die vor allem von Verschwörungsmystikern genährten Demonstrationen richten sich in erster Linie gegen die nach Meinung ihrer Protagonisten zu harten Schutzmaßnahmen – aber in ihrer Tiefe gegen den liberalen Staat.

Zwar spielt die AfD in dieser neuen Protestwelle nicht die erste Geige, aber die durch die Corona-Krise aufkommende Wirtschaftskrise wird ihr in die Hände spielen. Auch 2015, im Jahr der »Flüchtlingswelle«, hat zu Beginn noch die Willkommenskultur die Schlagzeilen dominiert. Wirtschaftliche Folgen und gesellschaftliche Verwerfungen könnten die radikalen Kreise in der AfD aber auch diesmal langfristig profitieren lassen.

Die Ereignisse aus dem Frühjahr 2020 sind zunächst einmal ein Sieg für das gemäßigte Parteilager, allerdings gab es auch in dieser Phase starke Schwankungen im Machtgefüge.

Als im März 2020 die Auflösung des Flügels beschlossen wurde, sprach Parteichef Jörg Meuthen zunächst öffentlich davon, dessen Strukturen »zerschlagen« zu wollen. Wenig später befürwortete er die Trennung des Flügels vom »bürgerlich-konservativen Teil der AfD«, wofür er innerhalb der Partei scharf kritisiert wurde. Am Ende musste der AfD-Chef auf Druck seiner Parteikollegen öffentlich eingestehen, einen »großen Fehler« gemacht zu haben. Der Parteichef wurde vom Flügel zurechtgestutzt.

Doch Meuthen holte erneut zum Schlag aus. So stimmte der AfD-Bundesvorstand auf sein Betreiben hin im Mai für den Parteiausschluss von Andreas Kalbitz. Dass sein überraschender Rauswurf einen gewaltigen Machtkampf zwischen beiden Lagern auslösen würde, war abzusehen – und dieser Kampf zeigt ganz klar: Die gute alte Zeit der propagierten Geschlossenheit innerhalb der Partei, die es so nie gegeben hat, ist vorbei. Ohnehin haben die Flügelisten sich bereits so tief in die Strukturen der AfD eingenistet, dass sie nicht einfach entfernt werden können, ohne dass die Partei auseinanderfliegt. Temporäre Punktsiege der einen oder der anderen Seite werden daran nichts ändern.

Doch wie ist es überhaupt so weit gekommen, dass der Flügel die ganze AfD infiltrieren konnte? Wer sind seine parteiinternen Protagonisten und wer seine außerparlamentarischen Unterstützer? Wie feierte er seine internen Feste? Was sagen Parteiaussteiger heute über den Flügel? Und wer sind überhaupt die Flügelisten aus der zweiten Reihe, die hinter Höcke die AfD radikalisieren? Antworten auf diese Fragen sollen die nachfolgenden Kapitel liefern. Denn auch wenn er sich formell aufgelöst hat: Der Flügel schlägt weiter.

Einblicke von innen

Auf dem Flügelfest in Binz

Vor dem Hotel Arkona in Binz weht an einem kalten Novembertag die Deutschlandflagge. In Kürze soll dort das erste sogenannte »Flügelfest« von Mecklenburg-Vorpommern steigen. Die Presse darf nicht rein – sowieso sind nur geladene Gäste willkommen. Der Flügel will lieber unter sich bleiben.

Vorbei an Absperrungen der Polizei laufen Flügel-Anhänger auf das Hotel zu. Viele haben sich extra schick gemacht. Sie werden aus etwa 500 Kehlen ausgebuht, so viele Demonstranten sind gekommen. Sie sind deutlich einfacher gekleidet und auch ihre Botschaft ist eine andere. Sie skandieren: »Rügen ist bunt!«

Im Hotel wird es auch schnell laut, vor allem als Andreas Kalbitz ans Rednerpult tritt. Er ist im Angriffsmodus. »Das sind diese wohlstandsverwahrlosten, gentrifizierten, metrosexuellen Wesen, die sich durch Berlin-Friedrichshain quälen …«, ruft Kalbitz höhnisch und zeigt nach draußen, zu den Demonstranten. Geklatsche. »Jawoll!«, schallt es aus dem Saal. »… und sich jeden Morgen neue Geschlechtskugeln …« Satzabbruch. Gelächter. Geklatsche. Kalbitz’ Worte donnern durch die Lautsprecher, er hat seinen Saal im Griff, etwa 200 Menschen sind gekommen. Als »Degenerationsausschlag« beschimpft Kalbitz die Demonstranten weiter. Der werde sich aber wieder »nivellieren«, da sei er »völlig zuversichtlich«. Applaus.

Kalbitz erzählt, dass er mal im Bundestag mit Claudia Roth »zu zweit im Aufzug« gefahren sei. Geraune. Kalbitz legt eine Kunstpause ein, nickt selbstsicher. »Da hätte ich Geschichte schreiben können.« Mehr Geraune. Gelächter. Großer Spaß. Kalbitz fügt hinzu: »Aber sowas würde ich ja nicht machen.« Diese Aussagen fallen knapp ein halbes Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke. Kalbitz’ Spruch ist ein pseudo-scherzhaft angedeuteter Anschlag auf eine Politikerin. Eine Frau im Saal quietscht vor Vergnügen.

Das Fest auf Rügen heißt »Königsstuhltreffen«. Es findet in mal wieder bewegten Zeiten für die AfD statt. Die drei Landtagswahlen im Jahr 2019, in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, haben zwar starke Ergebnisse gebracht, aber nicht die erhofften Wahlsiege. Trotzdem sehen sich die Anhänger des Flügels auf dem Vormarsch, da sie maßgeblich für diese Erfolge verantwortlich sind. Sie sind das Kraftzentrum einer erstarkenden AfD. Mit welcher Hybris sie ans Werk gehen und was sie mit der AfD und später mit Deutschland vorhaben, unter welchem Namen auch immer, ist an diesem Tag in Binz gut zu beobachten. Gewöhnlich gilt Kalbitz als die unausgesprochene Nummer zwei des Flügels. Der Star heißt Björn Höcke, auch in Binz, wo er als Letzter und am längsten sprechen darf. Während der übrigen Auftritte reist Höcke noch an. Er ist der Headliner bei diesem Festival. Wer aber den Tag im Hotel Arkona verbringt, gewinnt einen anderen Blick auf Kalbitz, auf Höcke und auch auf das Machtgefüge innerhalb ihrer Gruppierung.

Kalbitz ist zu diesem Zeitpunkt AfD-Chef von Brandenburg. Er war früher Fallschirmjäger bei der Bundeswehr, und damit niemand seinen Hintergrund vergisst, erinnert er bei seiner Rede die Zuhörer mit militärisch-martialischen Zitaten daran, wie etwa: »Der Frieden ist nur die Abwesenheit von Krieg!« Kalbitz’ Vergangenheit ist gespickt mit Verbindungen zu rechtsradikalen Strukturen wie der mittlerweile verbotenen »Heimattreuen Deutschen Jugend«. Artikel über ihn lassen ihn kalt, versichert Kalbitz in Binz: »Weil ich, was die Medien angeht, immer getreu dem Grundsatz verfahre: Was schert’s die deutsche Eiche, wenn sich die Sau dran reibt.«

Gebannt lauschen die Teilnehmer Kalbitz’ Worten. Sein Ton: aggressiv-süffisant. »Diese ganzen Fridays-for-Future-Kiddies, die alle diesem Mondgesicht-Mädchen mit Zöpfen hinterherlaufen«, sagt Kalbitz und grinst. Er pöbelt gerne, aber so, dass ihn auch ja jeder versteht. Einmal habe er eine AfD-Kollegin runtergeputzt, weil sie angefangen habe, »diese politikerdeutschen Wörter« zu benutzen. »Das muss man evaluieren, das klären wir bilateral«, äfft er sie nach. »Da hab ich ihr gesagt: Hörst du dich reden? Du hörst dich an wie die!«

Nein, so wie »die« möchte Kalbitz auf keinen Fall sein. Ihm geht es darum, »diesen Deutschland-Abschaffern« klarzumachen: »Es gibt kein ruhiges Hinterland mehr für euch. Wir sind überall.« Überall in der AfD ist auch Kalbitz, keiner ist in der Partei so gut vernetzt wie er. Wenn er von möglichen Koalitionen spricht, klingt das so: »Wenn es zu Allianzen kommt, werden andere sich uns annähern und nicht andersrum.« Sein Traum ist eine »positive konservative Konterrevolution«. Den Flügel betrachtet Kalbitz als »Kurshalter in der Partei« sowie als »ein Regulativ, um klarzumachen, wofür die AfD steht«. »Natürlich sind wir nicht antidemokratisch, ganz im Gegenteil. Wir sind der Defibrillator dieser am Boden liegenden entmerkelten Demokratur.«

Kalbitz’ Rede wechselt zum nahenden Bundesparteitag. »Im Moment führt er in manchen Bereichen zur Hyperventilation. Weil da einige um ihre Pöstchen fürchten. Die können sich selber mal überlegen warum.« Kalbitz beschwört den Wandel: »Entscheidend ist, dass dieses politische Schlachtschiff fährt. Und entscheidend ist, dass, wenn der Kapitän weggeschossen wird, ein nächster ans Steuer geht. Der Kapitän ist nicht wichtig. Das Schiff ist wichtig.« Im Anbetracht der Entscheidungen, die am Bundesparteitag eine Woche später fallen, hat Kalbitz mit seinen Worten recht. Neben Jörg Meuthen wird Tino Chrupalla zum Parteichef gewählt. Der gelernte Malermeister aus Sachsen hat keine Ambitionen als Kapitän. Aber er ist gut steuerbar. Für Höcke. Für Kalbitz.

Um die Reden der beiden großen Impresarios herum wirkt das Flügelfest wie ein Klassentreffen. Mittags gibt es Kabeljau oder Rinderroulade, als Getränke Kaffee oder Bier, als Gesprächsthemen den Niedergang Deutschlands oder die Schuld Angela Merkels an eben diesem Niedergang. In der Essensschlange reden ein paar Flügelisten über den bald eintrudelnden Höcke. »Der Führer kommt zu spät«, sagt ein Mann. Alle lachen. Ein Scherz, natürlich. »Ich mag den Kalbitz eh lieber«, sagt sein Nebenmann.

Einer der Organisatoren des Flügelfestes ist Enrico Komning, AfD-Bundestagspolitiker und »Alter Herr« der Greifswalder Burschenschaft Rugia, die selbst für die Verhältnisse der weit rechts stehenden Burschenschaftsszene sehr weit rechts steht – ähnlich wie der Flügel in der AfD. So wird das Fest auch damit begonnen und beendet, dass burschenschaftlich bis volkstümlich kostümierte junge Männer Fahnen rein- und auch wieder raustragen, begleitet von Marschmusik. Komning selbst versucht sich in seiner Rede an einer Einordnung: »Man tritt dem Flügel nicht bei. Der Flügel ist kein festgelegter Meinungskorridor, und der Flügel verpflichtet niemanden zu etwas. Wir sind nicht das, was man uns anzuhängen versucht. Wir sind keine Extremisten. Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.« Applaus.

Es hat auf Rügen viel Ärger um das Flügelfest im Hotel Arkona gegeben. Dabei ist es nicht das erste AfD-Treffen an diesem Ort. Schon seit mehr als vier Jahren ist die Partei hier willkommen. Die Hoteldirektorin Birte Löhr hält sogar eine kleine Rede, bezeichnet das Fest – eine geschlossene Veranstaltung – als »gelebte Demokratie« und wird mit stehenden Ovationen begrüßt und verabschiedet.

Der gesamte Tag in Binz, wenn man ihn mit der AfD verbringt, vermittelt das unangenehme Gefühl von dem, was kommen mag, wenn diese Leute einmal drankommen. Auch wenn die Gewaltfantasien oder rechtsradikalen Sprüche immer mit einer notdürftigen Aura von Humor kaschiert werden, zweifelt keiner der Anwesenden daran, wie sie gemeint sind. Die Sicherheitsleute sind so einschlägig tätowiert, dass jeder, der sich schon mal mit Neonazi-Strukturen auseinandergesetzt hat, die Männer mit den kräftigen Oberarmen sofort zuordnen kann. Über allem schwebt der Dunst einer längst untergegangen geglaubten Zeit.

Lange nach dem offiziellen Teil trinken und reden die Flügelisten im benachbarten Hotel Rugard, wo sie auch absteigen. Auch dieses Haus wird von Birte Löhr geführt. Zwischen den Hotels stehen zierliche weiße Villen, Binzer Bäderarchitektur, sie erinnert an Kolonialbauten. Fünf Kilometer weiter zieht sich die heute runderneuerte ehemalige Kraft-durch-Freude-Ferienanlage Prora an der Küste entlang.

Das Hotel Rugard wirkt von innen so, als habe RTL II »Titanic« neu verfilmt. Kitschig goldverzierte Wände, auch mal holzvertäfelt, die Geländer wie Nachbauten einer imaginierten Schiffsreling. Und in dieser Umgebung baut sich irgendwann am Abend ein offensichtlich deutscher Küchenmitarbeiter vor einem offenbar migrantischen, schmächtigen Küchenjungen auf, pflaumt ihn an, während der mit jeder Silbe kleiner wird: »Hast du keine Beine?! Du sollst laufen, nicht den Aufzug benutzen! Oder willst du etwa nach Hause gehen?«