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Tuba Sarica

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Beschreibung

Eine junge Deutschtürkin über unbequeme Wahrheiten
Für ihre Familie ist Tuba Sarica eine Deutsche, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Was läuft schief bei der Integration, wenn „eingedeutscht“ als Schimpfwort gilt? Tuba Sarica kritisiert die Deutschtürken dafür, es sich in einer Opferrolle bequem zu machen, eine Parallelwelt zu schaffen, in der eigene Regeln gelten, und sich den Populismus à la Erdoğan zu eigen zu machen. Sie kritisiert aber auch die Deutschen, die durch falsch verstandene Toleranz genau diese Entwicklungen fördern. Ein Plädoyer dafür, Konflikte auszutragen und nicht unter einem vermeintlichen Toleranzdeckmantel zu verstecken, der alles nur schlimmer macht.

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Was läuft schief bei der Integration vieler Deutschtürken?

Für Tuba Sarica gibt es auf diese Frage ganz klare Antworten, die sie anhand ihrer eigenen Beobachtungen und Erfahrungen präsentiert. Als Insider identifiziert sie eine deutschtürkische Parallelgesellschaft, die die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme von sich weist und sich bereitwillig für den anti-deutschen Populismus à la Erdoğan begeistern lässt. Sie nimmt aber auch die Deutschen in die Pflicht, die durch falsch verstandene Toleranz und eine zu vorsichtig geführte Debatte, oft an den wahren Problemen vorbei, diesem Phänomen nicht viel entgegenzusetzen hat.

Tuba Sarica erzählt von ihrem Kampf um das Recht, ihren eigenen Weg zu gehen; sie spricht über Schweigespiralen und den unterschwelligen Druck, der vor allem auf Mädchen ausgeübt wird. Sie will aufrütteln und dazu ermuntern, in der Gesellschaft zu leben, was sie in ihrer eigenen Familie geübt hat: Dinge beim Namen zu nennen und Konflikte auszutragen, um sie tatsächlich zu lösen.

TUBA SARICA

IHR SCHEINHEILIGEN!

Doppelmoral und falsche Toleranz – die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 06/2018

Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von: Ben Piepraes Photography

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-21647-4V001

www.heyne.de

INHALT

Vorwort

Die Parallelgesellschaft

Verortung

Kultur ohne Worte

Die Schutzblase

Das Sozialleben

Vorbilder

Medienkonsum

Familienbegriff

Fortschritt

Fremdenfeindlichkeit

Erziehung

Individualität

Liebe

Religion

Nachwort

Die Türkei

Deutschland

Anmerkungen

VORWORT

Dieses Buch ist mir eine Herzensangelegenheit. Deutschland liegt mir am Herzen. Ich liebe mein Land. Dabei ist Patriotismus in Deutschland nicht besonders cool. Für meine Generation sind die Errungenschaften des vereinten Europa nämlich selbstverständlich. Das ist auch gut so. Aber als Enkelin eines türkischen Gastarbeiters musste ich mir schon als Kind Gedanken darüber machen, wie ich zu Deutschland stehe. Und ich habe mich entschieden. Dafür.

Seit Jahrzehnten schlagen wir uns immer wieder mit dem Thema Integration herum. Doch wir drehen uns im Kreis. Denn diejenigen, die sich integrieren sollten, weigern sich, Selbstkritik zu üben. Dieses Buch soll dazu anregen, die deutschtürkischen Muslime in die Verantwortung zu nehmen. Gleichzeitig soll es für sie selbst ein Anstoß sein, Verantwortung zu übernehmen und damit das nachzuholen, was sie bisher versäumt haben.

Zu lange richtete die Politik ihre Integrationskritik, wenn überhaupt, gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft und deren Fremdenfeindlichkeit. Aus vielleicht allzu großer Vorsicht machten deutsche Politiker und Medien den Fehler, mit den Nachfahren der Gastarbeiter zu unkritisch umzugehen. Das hat dazu geführt, dass man allein aus der AfD Stimmen hört, die sich kritisch gegen die in Deutschland lebenden Muslime äußern.

Viele Deutschtürken haben es sich in der Opferrolle bequem gemacht. Sie ist einfach viel zu praktisch, um sie aufzugeben. Die Deutschen wiederum eignen sich aufgrund ihrer Nazivergangenheit besonders gut dafür, für das eigene Versäumnis verantwortlich gemacht zu werden. Sobald sich etwas nach Kritik anhört, einfach mit dem Rassismusvorwurf drohen, und schon lässt der Deutsche dich in Frieden – herrlich!

Die Verantwortung für die Integration sollte nicht auf die Deutschen abgewälzt werden. Es ist wie beim Feminismus: Wenn es Mängel in der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gibt, wie etwa Gehaltsunterschiede, dann sollte man dies zur Kenntnis nehmen und sich fragen, was man als Frau aktiv dagegen unternehmen kann. Aber man sollte nicht einfach so tun, als wären allein die Männer daran schuld. Dass wir eine Kanzlerin haben, ist immerhin der Beweis dafür, dass Frauen in Deutschland durchaus Chancen haben, solange sie nach ihnen greifen. Leider tun das zu wenige. Genauso sind auch viele Migranten zu bequem, die Chancen, die sich ihnen bieten, zu nutzen und damit Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, statt den Deutschen die Schuld für ihre schlechte Integrationssituation in die Schuhe zu schieben.

Ich möchte mit diesem Buch versuchen, hinsichtlich der Haltung gegenüber der muslimischen Welt die Mitte wiederzufinden, die wir zwischen grenzenloser Toleranz und totaler Ablehnungshaltung offenbar verloren haben.

Schon als Kind konnte ich die Ungerechtigkeit kaum aushalten, dass der böse Deutsche für die problematische Integrationssituation der Deutschtürken verantwortlich gemacht wurde. Denn während in der Öffentlichkeit unermüdlich Toleranz gegenüber den türkischen Mitbürgern propagiert wurde, sah ich an dem großen deutschtürkischen Umfeld, in dem ich durch meine Eltern aufwuchs, dass sehr viele Deutschtürken gar kein Interesse daran hatten, sich zu integrieren. Stattdessen machten sie es sich in der Opferrolle bequem.

Ich formulierte gedanklich meine These: »Die wollen sich gar nicht integrieren!«, und träumte davon, sie in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich befürchtete: Wenn sich die Deutschtürken nicht endlich selbst erklären, werden die Leute bald denken, ihr Verhalten sei genetisch bedingt. Und dann war es so weit: Thilo Sarrazin besetzte die Lücke, die durch das Fehlen eines kritischen Umgangs mit den Muslimen in Deutschland entstanden war. Er verknüpfte die durchaus richtige Beobachtung: »Die wollen sich gar nicht integrieren«, mit genau der oben genannten haarsträubenden Erklärung, die das Verhalten der Türken als das genetisch bedingte Verhalten einer »Rasse« deutete. Ich kam zu spät. Obwohl seine Erklärung falsch war, hat sich nach Sarrazins Buch in der Integrationsdebatte nichts getan. Ich möchte daher in diesem Buch der durchaus richtigen Erkenntnis: »Die wollen sich gar nicht integrieren«, eine richtige Erklärung hinterherschalten, weil ich glaube, dass erst diese auch zu Lösungen führen kann.

Je älter ich wurde, desto reflektierter wurde ich und konnte erkennen, dass vor allem die in Deutschland lebenden Türken eine Gesellschaftsordnung pflegen, die anders funktioniert als die Gesellschaftsordnung meines deutschen Umfeldes. Sie bewegen sich in einer kleinen Gesellschaft innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, in der alle anderen leben. Später würde es ein wunderbares Wort dafür geben: die Parallelgesellschaft.

Viele der im Buch aufgeführten Eigenschaften der Parallelgesellschaft werden Ihnen bekannt vorkommen. So gleicht etwa die muslimische Sexualmoral der prüden Gesellschaft im Deutschland der frühen Sechzigerjahre, und man braucht auch nicht allzu lange in der deutschen Geschichte zurückzugehen, um zu sehen, dass religiöser Fundamentalismus ebenfalls in christlich geprägten Familien eine Rolle gespielt hat. Dass es dieselben Probleme, die heute in muslimisch geprägten Kulturkreisen existieren, auch in westlichen Ländern gab, ist aber sicher kein Freibrief, wie es die Mitglieder der Parallelgesellschaft gerne hätten. Im Gegenteil: Die Deutschtürken müssen die Rückschrittlichkeit ihres eigenen Kulturkreises benennen und eine Chance darin sehen, sich Deutschland und Europa zum Vorbild machen zu können. Dazu müssen sie aufhören, sie als ihren Feind zu betrachten.

Je mehr es mir gelang, mich aus der Parallelgesellschaft heraus- und in die Position eines Betrachters hineinzudenken (zumal ich mich sowieso zu einem deutschen jungen Menschen entwickelte und auch so erzogen wurde), desto klarer stellte sich mir die Kernursache für die schlechte Integrationssituation dar, die die Parallelgesellschaft noch heute zu verschleiern versucht: ihre eigene Fremdenfeindlichkeit, vor allem ihre Feindlichkeit gegenüber den Deutschen. Erdoğan hat diese Fremdenfeindlichkeit aufgegriffen, sie auf die politische Ebene getragen und somit salonfähig gemacht. Selbst vor klaren rassistischen Tönen macht er nicht halt, etwa wenn er, wie im Juni 2016, nach der Abstimmung über die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Bundestag, bezweifelt, dass der Deutschtürke Cem Özdemir türkischer Abstammung ist, und einen Bluttest von ihm fordert.

Dadurch, dass der Rassismus der Deutschtürken und ihre Feindlichkeit gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft verschleiert und verdrängt werden, ergibt sich eine Schieflage in der Diskussion. Diese Schieflage wieder geradezubiegen wurde für mich zu einer Art Lebensaufgabe. Ich wollte von Grund auf aufräumen. Anfangen wollte ich bei mir selbst. Ich fing damit an, mich in Selbstkritik zu trainieren, dem ersten Schritt zur Besserung. Meine Zukunft sollte auf ein sicheres Fundament gebaut sein. Denn an irgendeinem Punkt hatte ich begriffen, dass es nirgendwo hinführt, andere für selbst verursachte Probleme verantwortlich zu machen. Das sollte nicht mein Lebenskonzept sein. Deswegen möchte ich Sie mitnehmen auf eine Reise durch meine ganz persönliche Entwicklung.

»Erklär mir einer die Türken«, hieß es 2014 in der Heute Show1, denn als Europäer begreift man verständlicherweise nicht, wie man heutzutage freiwillig einen offensichtlichen Antidemokraten wie Erdoğan unterstützen kann. Die Talkshowmoderatoren der Nation versuchen seit Jahren, Antworten zu finden, und fragen ihre deutschtürkischen Gäste: Warum ist das so? Doch sie fragen die Falschen. Die Experten, die zu Talkrunden und Podiumsdiskussionen eingeladen werden, stecken zum Großteil selber in den Strukturen der Parallelgesellschaft fest. Sie machen alles nur noch schlimmer. Ein modernes Äußeres und beruflicher Status sind nämlich noch lange kein Zeichen für Vorbildlichkeit in Sachen Integration. Im Gegenteil – sie sind Kern des Problems: Vielen Deutschtürken gelingt es gerade durch ihre äußerliche Angepasstheit, die Mehrheitsgesellschaft darüber hinwegzutäuschen, dass hinter den verschlossenen Türen ihrer Wohnungen nach wie vor die Regeln der Parallelgesellschaft gelten. Ich möchte hier so ehrlich sein, wie die angeblichen deutschtürkischen Integrationsexperten unehrlich sind. Toleranz ist nur dann möglich, wenn Fragen gestellt werden dürfen. Dieses Buch soll als fundierte Grundlage für einen ehrlichen Dialog dienen.

Ja, es ist immer schwierig, über eine »Mehrheit« zu sprechen und sie zu pauschalisieren. Aber spätestens seit dem Referendum über die Verfassungsänderung in der Türkei, bei dem 63,1 Prozent der deutschtürkischen Wählerstimmen an Erdoğan gegangen sind2, kann man von einer gewissen Mehrheit sprechen, mit der irgendetwas nicht stimmt.

Ich werde in meinem Buch um der politischen Korrektheit willen keine Begriffsgymnastik betreiben. Das tun wir viel zu oft, wodurch wir uns in Unwichtigkeiten verlieren. Die Debatte muss vorangehen.

Aus Angst vor der Nazikeule scheinen wir als deutsche Mehrheitsgesellschaft alle möglichen Wege zu finden, bloß keine wunden Punkte anzusprechen. Doch genau das müssen wir tun, um das Vertrauensverhältnis zwischen Deutschen und Türken, wenn es je eines gab, wiederherzustellen und gute deutsch-türkische Beziehungen aufzubauen. Nur so kann sich Spannung allmählich entladen. Allein durch diese Art von Ehrlichkeit können wir dem Populismus à la AfD den Nährboden entziehen. Ich bin der Meinung, dass der Unmut gegenüber dem Islam ernst genommen werden und in einem ehrlichen Dialog angesprochen werden muss. Ehrlich statt populistisch. Solange dies nicht getan wird, werden Unmut und Hass immer größer, und wir dürfen uns dann nicht darüber wundern, dass Mitbürger in das Netz populistischer Politiker gehen.

Dieses Buch bietet keine einfachen Lösungen an. Es soll weder rechts sein noch links. Es soll die Mitte sein. Denn die Mitte muss wieder stark werden. Auch soll dieses Buch der verbreiteten Ratlosigkeit, wie man sich zu dem Problem verhalten soll, ein Verstehen entgegensetzen. Verstehen, nicht um zu entschuldigen. Im Gegenteil: Verstehen, um Verantwortung einzufordern. Ich behaupte, dass Sie nach der Lektüre verstehen werden, wie die Deutschtürken »ticken«. Sie werden die Muster erkennen, nach denen der Deutschtürke handelt, der sich in der Parallelgesellschaft eingerichtet hat. Und wenn Sie diese Muster erkannt haben, können Sie gezielte Forderungen stellen.

So, wie alles im Leben einen Zusammenhang hat, gibt es auch Zusammenhänge zwischen allen Themen rund um die Türken, die Integration und den gelebten Islam. Sie werden nach dem Lesen dieses Buches einsehen, dass es kein Zufall ist, wenn Muslime in Deutschland so wenig gegen den Terrorismus des IS protestieren. Denn ein Grund dafür ist, dass die Parallelgesellschaft sich über das »Wir – ihr« definiert, über die Abgrenzung gegenüber den Deutschen. Den Protest gegen den Terror verweigern die Deutschtürken durchaus bewusst. Da zu viele Muslime Politik und Religion im Kopf immer noch nicht trennen können, schlagen sie sich gedanklich lieber auf die vermeintlich »eigene«, die muslimische Seite.

Selbstverständlich bedeutet meine Kritik an der Weigerung der in Deutschland lebenden Türken, sich zu integrieren, nicht automatisch, dass ich Ausländerfeindlichkeit befürworte. Jeder, der neu in unser wunderschönes Land kommt und dessen Absicht es nicht ist, den Menschen dieses Landes gegenüber intolerant zu sein, verdient unsere Toleranz, so, wie jeder Mensch auf der Welt Toleranz verdient. Dieses Recht, von anderen toleriert zu werden, verwirken wir erst dann, wenn wir andere nicht tolerieren.

Gibt es etwas Traurigeres, als dass jemand allein aufgrund seiner äußerlich sichtbaren Herkunft beleidigt wird? Jemand, der bereit ist, sein Herz, seinen Geist und seine Türen zu öffnen? So, wie die Kinder und vielleicht selbst die erwachsenen Flüchtlinge, die 2016 in ihrer Unterkunft in Deutschland ankamen und aus Angst vor den aggressiven Beschimpfungen den Bus nicht verlassen konnten.

Die Bilder aus Clausnitz waren dunkel und gruselig. Es tat mir in der Seele weh. Umso größer ist mein Unmut jenen muslimischen Migranten gegenüber, die schon lange in Deutschland leben und dafür gesorgt haben, dass Menschen aus muslimischen Ländern so verhasst sind. Sie sind nicht weniger für diese Beschimpfungen verantwortlich als der ekelhafte Mob selbst, der sich nicht die Mühe macht zu differenzieren.

Sobald ich über die Fremdenfeindlichkeit im deutschtürkischen Kulturkreis spreche, stoße ich auf panische Reaktionen, die in mir kurz das Gefühl auslösen, mich dafür entschuldigen zu müssen. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich gegen solche Verhaltensweisen einsetze. Die Deutschtürken werfen mir vor, dass ich nicht in erster Linie die von den Deutschen praktizierte Fremdenfeindlichkeit thematisiere. Darüber reden sie nämlich gerne. Schließlich sei die Fremdenfeindlichkeit der Deutschen seit jeher ein Thema, das wisse doch jeder. Eben drum, sage ich. Solange das so ist, brauche ich nicht auch noch darüber zu schreiben.

Es ist wunderbar, dass in Deutschland so häufig gegen Rechtsextremismus geschrieben, gesprochen und demonstriert wird. Das muss auch beibehalten werden. Aber lasst mich trotzdem bitte über die Fremdenfeindlichkeit innerhalb der muslimischen Gemeinde schreiben. So, wie sich gleichaltrige Deutsche gegen den Rechtsextremismus in ihrem Land einsetzen, möchte ich mich als Türkischstämmige bitte schön gegen den Rechtsextremismus in meinem Kulturkreis einsetzen dürfen. Es heißt doch so schön, dass jeder zunächst vor der eigenen Haustüre kehren soll. Zumal ein Problem, das nicht als solches erkannt wird, dringlicher ist, da es gefährlicher ist als eines, das immerhin schon als solches erkannt wurde.

Die Namen von Personen, Politikern, Parteien, ethnischen und religiösen Gruppen in diesem Buch sind austauschbar. Denn hinter dem Integrationsproblem steckt eine menschliche Neigung, der auch andere Menschen zu anderen Zeiträumen verfallen können: die Neigung, den einfachen Weg zu gehen. Die Geschichte wiederholt sich, solange man nicht aus ihr lernt.

Ich schreibe dieses Buch nicht zuletzt für die zwölf- bis Anfang zwanzigjährigen türkischen, muslimischen Jungs und Mädels in Deutschland und Europa, die sich aus der angeblich modernen parallelgesellschaftlichen Wertewelt befreien und den Weg gehen wollen, den ich gegangen bin: ihren eigenen.

Ich betrachte es als eine Art Handbuch, das zu haben ich damals froh gewesen wäre. Zwar war es wohl am effektivsten für mich, mir meinen Weg ohne Hilfe zu erarbeiten, das heißt allein zu entscheidenden Erkenntnissen über die Parallelgesellschaft zu gelangen. Aber diejenigen Deutschtürken, die in eine Buchhandlung gehen, um sich dieses oder ein anderes außerschulisches Buch zu holen, werden den allerersten Schritt bereits aus eigener Kraft gemacht haben: Sie haben sich schon entschieden. Somit wird ihnen, so wünsche ich es mir, dieses Buch eine Hilfe zur Selbsthilfe sein.

DIE PARALLELGESELLSCHAFT

Verortung

Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Meine Eltern bauten ein Haus, das von vielen Wiesen, von Bäumen und Bächen umgeben war. Sie gehörten alle mir. Ich war ein sehr abenteuerlustiges Kind.

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, meine Eltern hatten Knochenjobs, arbeiteten abwechselnd in Tages- und Nachtschichten. Und doch lebten wir das Leben einer mittelständischen Familie. Nicht zuletzt, weil man in den Neunzigern als Arbeiter gut verdient hat. Aber auch, weil meine Eltern gerne und sehr viel gearbeitet haben. Beides kam zusammen, und so erfreuten sie sich an dem Lebensstandard, den sie sich dadurch trotz ihres Arbeiterdaseins leisten konnten.

Ich habe eine vier Jahre ältere Schwester. Mit unserer Betreuung versuchten sich meine Eltern gegenseitig abzulösen. Oft mussten sie uns allerdings bei unseren Großeltern oder Nachbarn lassen. Am liebsten ließ ich mich von unserer Nachbarin Ilse vom Kindergarten abholen, die für mich meine Oma war. Auch Ilse sah uns als ihre Enkelkinder an. Die harte Arbeit glichen Papa und Mama dann am Wochenende mit Familienausflügen und Freunden aus. Wir waren also eine ganz normale Familie.

Im Vergleich zu den meisten anderen türkischen Familien war aber irgendetwas anders. Es war der Wert, den meine Eltern dem Familienleben beimaßen. Und zwar dem Familienleben der Kernfamilie, Mutter, Vater, Kinder, die sie von allen anderen Verwandten trennten. Die anderen türkischen Familien traten nicht als autonome kleine Einheiten auf. Immer vermischte sich die Grenze der Kernfamilie zur Verwandtschaft. Es ist »typisch türkisch«, dass sich ständig ein Verwandter anhängt, wenn man eigentlich etwas alleine unternehmen möchte. Meine Eltern wussten der Verwandtschaft gegenüber Grenzen aufzuzeigen. Sie sorgten dafür, dass ihre Privatsphäre respektiert wurde.

Meine Eltern hatten viele Freunde. Vor allem mein Vater war ein sehr lebenslustiger Mensch – ein Entertainer, der auf den Tischen tanzte. In unserer Stadt war er bekannt wie ein bunter Hund, zumal er ein sehr »untypischer türkischer« Vater war. Er fuhr Motorrad, hatte zu Hause einen Alkoholschrank und trank abends gerne ein Bier in Nachbars Garage mit. In seiner Jugend war er zeitweise Hippie und DJ gewesen. Bei unseren Schulausflügen stellte er sich als elterliche Begleitung zur Verfügung. Sein Familienglück hielt er stets mit seiner Spiegelreflexkamera fest. Er brachte dem Leben eine Neugier entgegen, die den Vätern der meisten anderen deutschtürkischen Kinder fehlte.

Wir galten im Gegensatz zu vielen türkischen Familien als liberal. Wir durften Dinge tun, die anderen türkischen Mädchen verboten wurden. Zum Beispiel bei deutschen Freundinnen schlafen. Der erste Schritt für oder gegen Integration. Aber viele deutschtürkische Eltern verwehren ihren Töchtern diesen Spaß.

Unsere Eltern hatten einen deutschen und einen türkischen Freundeskreis. Die türkischen Freunde galten ebenfalls als »liberal« und waren alle ungefähr auf einer Wellenlänge mit meinen Eltern, wobei sich der Grad ihrer Liberalität leicht unterschied. Da gab es zum Beispiel Kemal. Auch er besaß eine besondere Neugier auf die Welt. Kemal trank bei gemeinsamen Abenden gerne Alkohol, dabei kam er so richtig in Fahrt und fing an, den Islam infrage zu stellen. Einmal sagte er: »Tuba wird irgendetwas Künstlerisches machen, wenn sie groß ist. Theater, zum Beispiel. Irgendwas mit Publikum.« Er hatte an der Art, wie ich spielte, beobachtet, dass ich kreativ war. Die anderen türkischen Freunde meines Vaters wären nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken. Es musste an Kemals Vorstellung von Erziehung liegen, dass meine Schwester und ich uns von allen Kindern der türkischen Freunde meiner Eltern gerade mit seinen am besten verstanden.

Mit Kemals Familie unternahmen wir öfter mal etwas außerhalb der Wohnungen, in denen man sich besuchte. Auch das war untypisch für Türken. Das deutschtürkische Sozialleben findet eher bei jemandem zu Hause statt als draußen. So etwas wie Zelten wäre mit den türkischen Freunden nicht möglich gewesen. Für solche Dinge war der deutsche Freundeskreis da. Ich erinnere mich an Lagerfeuer, Stockbrote und Schubkarren, auf denen wir Kinder saßen und unsere Eltern sich ein Wettrennen lieferten.

Die Sommerferien verbrachten wir typischerweise immer in der Türkei. Doch anders als die meisten deutschtürkischen Familien hielten wir uns den Großteil dieser Zeit nicht bei der Verwandtschaft in der Provinz oder in Istanbul auf. Stattdessen kauften sich unsere Eltern ein Ferienhaus an der Westküste, fernab von Istanbul und fernab von muslimischen Verpflichtungen. Dieses Haus symbolisierte uns als autonome Familie. Es schrie der Verwandtschaft ins Gesicht: Wir, Vater, Mutter, Kinder, sind unsere eigene kleine Familie. Unser Familienleben ist nicht an eures gekoppelt. Ihr kontrolliert es nicht.

Touristisch weitgehend unerschlossen, ist die Gegend nahe Izmir bekannt dafür, im Gegensatz zu anderen Teilen der Türkei besonders fortschrittlich zu sein. Hier machten wir auch Urlaub von der Verwandtschaft in Deutschland, die ich als hinterwäldlerisch empfand und die trotz der Grenzen, die meine Eltern ihr setzten, Druck auf unsere Familie ausübte. Hier konnten wir besonders ausgelassen und glücklich sein, den ganzen Tag in Badesachen verbringen, Burger essen, das türkische Bier Efes trinken, abends ausgehen – alles ohne die verurteilenden Blicke von konservativen Muslimen, denen man unter vielen Türken und Deutschtürken begegnet. Hier waren wir befreit von dem Gefühl, wir müssten irgendetwas verdecken oder verstecken. Sei es ein Körperteil oder der Wein im Schrank.

Die Nachbarn in der Ferienhausanlage waren ebenfalls sehr inspirierend. Sie kamen aus weniger konservativen Haushalten aus Istanbul und Ankara und nahmen sich hier eine Auszeit vom Leben in den Metropolen. Zum Glück gab es keine deutschtürkischen Familien, keine herumschreienden Kinder und Eltern also. Die Kinder der vornehmen türkischen Nachbarn waren auffällig leise. Das hier war unsere kleine Gegenwelt zur Parallelgesellschaft in Deutschland.

Auch die Lage unseres Hauses hier in Deutschland ist interessant. Es liegt in einem Stadtteil, der für seine relativ hohe Ausländerrate bekannt ist. Die Gegend ist jedoch wiederum in einen Bereich eingeteilt, in dem Hochhäuser stehen, dort wohnten die »Ausländer«, und einen Bereich mit freistehenden Einfamilienhäusern, in dem wir wohnten, was damals äußerst »untypisch türkisch« war. Wir waren also immer in beiden Welten zu Hause. Für die Deutschtürken, die höchstens zum Spazieren über unsere Straße gingen, waren wir »die, die in der deutschen Straße wohnen«.

Vollständig abgelehnt haben meine Eltern die türkische Welt nie. Sie hatten ein gutes Gleichgewicht gefunden, die zwei Welten zusammenzubringen, indem sie ihren eigenen, autonomen Raum schützten, unsere Tür aber jedem offen hielten, den deutschen Nachbarn genauso wie den verwandten Kopftuchträgerinnen. So habe ich gelernt, jedem Menschen respektvoll gegenüberzutreten.

An meinem achten Geburtstag, dem buntesten Kindergeburtstag aller Zeiten – ich hatte endlich meine lang ersehnte »Töröö-Torte« bekommen –, wurde plötzlich alles anders. Am Abend klingelte das Telefon. Es klingelte irgendwie anders als sonst. Mein Vater hatte einen Motorradunfall. Seitdem wühlt mich das Klingeln eines Telefons innerlich auf, und seitdem feiere ich meine Geburtstage nicht mehr.

Mein Vater hatte sich bei dem Unfall nicht schwer verletzt. Doch die Ärzte entdeckten bei den Untersuchungen, die sie im Krankenhaus durchführten, dass er Krebs hatte. Es folgte eine schwierige Zeit für uns als Familie, die vom Kampf gegen die Krankheit meines Vaters geprägt war. Etwa ein Jahr nach der Diagnose starb er.

Das liberale Leben bekam nach dem Tod meines Vaters einen Knick. Nicht von heute auf morgen, aber in einem schleichenden Prozess verlor unsere kleine Familie ihre Autonomie und rückte näher an die konservativ muslimische Welt heran. Irgendwann war Papas Alkoholschrank verschwunden, an die Stelle vereinzelter weltlicher Bücher im Wohnzimmer traten der Koran und Literatur über den Islam. Mir wurde klar, dass es mein Vater gewesen war, der für das gute Gleichgewicht zwischen freier und konservativer Welt gesorgt hatte. Er war die liberale Säule in meinem Leben gewesen und sein Tod deswegen ein riesiger Verlust für mich.

Von nun an spürte ich immer stärker, dass wir umgeben waren von einer ziemlich konservativen Verwandtschaft, vor der ich keinen Schutz mehr hatte. Meine Mutter ließ die Grenzen verschwimmen und erlaubte der Parallelgesellschaft größeren Einfluss. Es wurde wichtig für sie, was das deutschtürkische Umfeld von uns dachte. Sie machte es zu ihrem Lebensziel, niemals hören zu müssen, sie erziehe uns ohne Mann nicht gut. Meine Mutter war stets selbstbewusst und stand immer auf eigenen Beinen. Offenbar brauchte sie aber eine externe Kontrollinstanz, die das Leben zusammenhielt.

Ich sollte immer weniger ich selbst und immer mehr ein Mitglied der Parallelgesellschaft sein. Weniger deutsch, mehr traditionell türkisch. Weniger Welt, mehr Islam. Der deutsche Freundeskreis trat in den Hintergrund, dafür wurde die muslimische Verwandtschaft zunehmend präsenter. Ihr wurde Raum gewährt. Einmal erfuhr ich erst im Nachhinein, dass meine Mutter in unserem Namen eine Geburtstagseinladung bei unseren Nachbarn abgelehnt hatte, weil die einen Stripper eingeladen hatten. Ich fühlte mich entmündigt. Natürlich wäre ich hingegangen! Aber ich verlor mein Stimmrecht.

Mir fehlte ein Mensch, der mich für das anerkannte, was ich war. Man nahm mich nicht ernst. Mein Vater hatte mich ernst genommen. Ein kleines Beispiel: Als er noch lebte, entdeckte ich, als wir wieder einmal auf dem Weg in den Türkeiurlaub im wartenden Flugzeug saßen, durchs Fenster hindurch unsere Koffer zusammen mit anderen Gepäckstücken auf einem Wagen, der verspätet übers Rollfeld fuhr. Stolz machte ich meine Eltern darauf aufmerksam, dass ich unter den vielen Koffern unsere erkannt hatte. Meine Mutter schaute nicht hin und sagte, das sei doch Quatsch. Mein Vater schaute hin und sagte: »Das Kind hat recht.«

Schon zu Zeiten meines Vaters verbrachten wir immer zwei bis drei Tage des Sommerurlaubs in Istanbul. Ich mochte die Stadt nicht, weil ich mit ihr ein Haus in Verbindung brachte, in dem vollbärtige Verwandte mit ihren verschleierten Frauen lebten. Ich hatte nie ein gutes Gefühl, wenn wir dieses Haus besuchten. Ich fürchtete es regelrecht. Vor allem als heranwachsendes Mädchen fand ich den obligatorischen Besuch furchtbar unangenehm. Trotz der schwülen Sommerhitze, bei der ich normalerweise so wenig wie möglich anhabe, war es bei den Verwandten in Istanbul Gesetz, zumindest eine lange Hose und ein Oberteil ohne Dekolleté anzuziehen. Anders hätte ich mich neben den Mädchen des Hauses auch nicht wohlgefühlt, denn sie waren verschleiert wie ihre Mütter. Ich wollte nicht, dass sie von mir dachten, ich würde mich für etwas Besseres halten als sie, weil ich mich anders kleidete. Die Kinder waren immer sehr lieb zu mir, und ich spielte gerne mit ihnen. Sie hatten einen Feigenbaum in ihrem Garten, für mich etwas Exotisches, und manchmal hatte gerade eine der Straßenkatzen Babys bekommen und sich mit ihnen in dem Garten des Hauses eingenistet – da war ich dann natürlich hin und weg. Trotzdem hätte ich gerne auf diese Besuche verzichtet. Nicht wegen der Kinder, sondern vor allem wegen der Erwachsenen fühlte ich mich dort selbst in meinen züchtigsten Klamotten immer so, als täte ich etwas Falsches. Doch ich traute mich nicht zu sagen, dass ich dort nicht hinmöchte. So stark war der Zwang, den ich empfand, ohne zu wissen, warum. Spätestens, als ich ein Teenager war, hätte meine Mutter mein Unwohlsein registrieren und mich von diesem Zwang erlösen müssen. Sie spürte meine Abneigung, aber der Besuch bei der mehr als nur unliebsamen Verwandtschaft schien ein Ritual zu sein, durch das jedes muslimische Mädchen durchmusste. Warum auch immer.

Ich möchte meiner Mutter nicht Unrecht tun. Was sie alles für mich und meine Schwester getan hat, ist nicht in Worte zu fassen. Sie hat alles gegeben, damit es uns gut ging. Uns sollte es an nichts fehlen. Sie kutschierte uns jeden Tag in die Schule und zurück, zu Freunden, Hobbys und in die Konzerthallen der Nation.

Deswegen kann sie es auch nicht verstehen, wenn ich mich öffentlich negativ zur Parallelgesellschaft äußere, in der sich viele Deutschtürken von der Mehrheitsgesellschaft isolieren. »Du durftest doch alles!«, heißt es dann, womit sie die Parallelgesellschaft völlig unbeabsichtigt, aber korrekterweise über deren Autorität über Mädchen definiert. Natürlich dürfen auch deutsche Mädchen nicht alles, was sie gerne haben oder machen wollen. In der Parallelgesellschaft hingegen herrscht ein ganz anderer Maßstab für das, was erlaubt oder verboten ist. Hier handelt es sich oft nicht um materielle Dinge oder Vorsichtsmaßnahmen, sondern um eine Frage der Ehre. Es geht dabei nicht um dieselben Werte, um die es den Eltern der Mehrheitsgesellschaft geht, sondern um parallelgesellschaftliche Werte, die das Kind aus Sicht der Eltern zu vertreten hat. Obwohl es sich damit von der Mehrheitsgesellschaft ausschließt. Viele Mädels dürfen abends nicht ausgehen. Von Partys, auf denen auch Jungs sind, darf gar nicht erst gesprochen werden. Natürlich können deutsche Eltern ebenfalls streng sein, etwa im Hinblick auf Drogen und Alkohol, und natürlich möchten auch sie nicht, dass sich das Kind in falschen Kreisen bewegt. So weit denken die Eltern der Parallelgesellschaft jedoch nicht. Sie begründen ihre Strenge zwar gerne mit Drogen und Alkohol, aber das ist nur ein Vorwand. Es geht ihnen darum, die muslimischen Tugenden zu wahren. Ein Mädchen treibt sich nachts nicht herum, und da wird nicht darüber diskutiert, ob es sich um eine harmlose Hausparty bei einer guten deutschen Freundin handelt – mit deren Eltern man sich ja unterhalten könnte, wenn man sichergehen will – oder ob in einem Club gefeiert werden soll. Folgendes kommt erschwerend hinzu: Sicherlich sollten Eltern Regeln aufstellen, und es ist normal, dass Kinder auch mal gegen diese rebellieren. In der Parallelgesellschaft aber hat eine junge Muslimin erst gar nicht das Recht, mit den Eltern darüber zu diskutieren, was sie darf und was nicht. Sie hat zu wissen, was sie nicht darf. Ich habe meine Mutter um den Verstand gebracht, wenn ich nachgehakt habe. »Dass du dir überhaupt rausnimmst, mich das zu fragen!«, hieß es dann.

Allerdings hatten meine Schwester und ich deutlich mehr Freiheiten als andere deutschtürkische Mädchen. Aber warum musste das der Maßstab für mein Leben sein? Warum sollten nicht deutsche Altersgenossinnen der Maßstab für ein in Deutschland lebendes Mädchen muslimischer Herkunft sein? Oder gar mein ganz eigener Maßstab?

Meine Selbstverwirklichung bedeutete immer eine Respektlosigkeit den Mitgliedern der Parallelgesellschaft gegenüber. So zumindest fassten sie es auf, die Menschen, die sich selbst nicht verwirklichten. Dabei gibt es mit meinem Respekt kein Problem. Jeder Mensch, dem ich begegne, hat erst einmal meinen Respekt verdient. Doch irgendwann merkte ich: Der Respekt, der in der deutschtürkischen Parallelgesellschaft von mir verlangt wurde, beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Respekt war hier eine Einbahnstraße. Ich sah ein, dass ich nicht unbedingt einen Minirock tragen musste, wenn ich Leute besuchte, für die sich das nicht gehört. Aber wenn ich ihn auch dann nicht tragen sollte, wenn dieselben Leute bei uns zu Besuch waren, wurde auffällig: Diese Regel funktionierte nämlich nur in eine Richtung, und zwar in die von »weniger religiös« zu »religiös«. Andersherum galt die Regel des gegenseitigen Respekts nicht. Immer musste ich mich anpassen. Von den anderen verlangte das kein Mensch.

Dieses Spiel haben wir als Familie nach dem Tod meines Vaters mitgespielt, und genau da sehe ich das Problem vieler deutschtürkischer Familien. Sie sind der eigenen Community gegenüber zu tolerant. Echte Toleranz hat Grenzen. Selbst jene, die sich vielleicht mehr Freiheiten wünschen, geben dem Druck der Community nach, weil sie nicht den Mut aufbringen, sich aus den Zwängen zu befreien. Wir müssen lernen, Nein zu sagen. Respekt hat dort ein Ende, wo er einseitig ist.

In der deutschen Öffentlichkeit beobachte ich dasselbe Phänomen: Auch hier herrscht eine spürbare Scheu, Muslime zu kritisieren. Man begegnet ihnen mit derselben Ehrfurcht, wie sie damals in unserer Familie praktiziert wurde, und ich glaube, dass die Mehrheitsdeutschen sich diese Vorsicht von den modern wirkenden Deutschtürken abgeschaut haben. Ich halte das für eine falsch verstandene Toleranz. Es wäre hilfreich, wenn die angeblich so gut integrierten Mitschüler, Kommilitonen oder Kollegen ein Vorbild lieferten, wie man sich den Integrationsverweigerern gegenüber am besten verhält. Das aber ist deshalb kaum möglich, weil selbst moderate Deutschtürken es nicht schaffen, Haltung zu zeigen gegenüber der Unwissenheit, der Feindlichkeit gegenüber dem Westen und der Integrationsverweigerung ihrer Community. Würden hier mehr Deutschtürken echte Verantwortung übernehmen, statt das Integrationsproblem kleinzureden oder gar zu leugnen, dann würde auch die deutsche Bevölkerung weniger unsicher im Umgang mit der deutschtürkischen Parallelgesellschaft agieren.

Durch dieses Versäumnis entsteht viel Verwirrung. Man sieht so viele integriert scheinende Deutschtürken, aber dennoch gibt es das Integrationsproblem. Sollte man nun so tun, als gäbe es keines? Sollte man sich bei seiner Kritik nur auf die äußerlich erkennbaren konservativ-muslimischen Integrationsverweigerer konzentrieren? Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass für die Lösung des Integrationsproblems der Blick auf die deutschtürkische Mitte entscheidend ist sowie der Blick darauf, wie diese sich zu den Deutschtürken verhält, die eine klar rückschrittliche Weltanschauung vertreten. Wo zwischen integriert und nicht integriert steht die durchschnittliche deutschtürkische Familie? Wo zwischen hinterwäldlerisch und fortschrittlich? Wo zwischen Orient und Okzident?