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Der Regisseur Ronald Graham plant sein Filmprojekt vor der Kulisse des schlummernden Vulkans. Ein Film, der das verschwommene Bild der Camorra, der Mafia in Neapel, beleuchten soll. Wie steht Don Carlos der Pate jedoch dazu? Er stellt Bedingungen – eine davon ist tödlich. Nebst Filmkulisse birgt das Haus von Sir Lindsay, dem englischen Lord, zudem ein Geheimnis: Marie! Wie glühend roter Lavastrom begleitet der Name durch die Geschichte. Doch welche Rolle ist Marie zugedacht in diesem blutigen Spiel um Macht, Korruption und … Liebe?
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Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Il Vesuvio –
Die Ehrenwerte Gesellschaft
Renate Zawrel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion – auch auszugsweise – in jeglicher Form (Druck, Kopie oder anderes Verfahren) ist ohne schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Übersetzungsrecht vorbehalten.
© Copyright by Renate Zawrel - 2017
Lektorat: Barbara SiwikCover © Detlef Klewer
Verlag: Renate Zawrel
4464 KleinreiflingÖ[email protected]
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die Darstellung der Organisationen Camorra, N'drangheta oder Cosa Nostra beruht auf fiktiven Empfindungen und findet in der Realität keinen Niederschlag.
Viele Erzählungen ranken sich um die Position der Mafia - ›Il Vesuvio‹ ist eine davon …
*
Danke an Cathrin, die der Erstversion von ›Il Vesuvio‹ aus den Kinderschuhen geholfen hat.
*
Danke an Barbara, die durch ihre Erfahrung und ihren Wortschatz in Deutsch und Italienisch diese Neuauflage zu einem ›neuen‹ Roman macht.
*
Danke an Detlef für das grandiose Cover, das den Inhalt widerspiegelt ohne zu viel zu verraten.
*
Danke an meine Familie, dass es sie gibt und wir immer für einander da sind.
*
Ognuno la intende a modo suo.
Kapitel 1
»Marie, komm zu mir. Ich will dich – jetzt.« Schwer atmend breitete Sir Edward Lindsay seine Arme aus, um die schöne Frau im Empfang zu nehmen.
Es war Sonntag – sein Tag; der Tag, an dem er die Gespielin in sein Bett holen durfte. Das blonde, lange Haar trug sie heute aufgesteckt und mit perlenbesetzten Spangen verziert. Der kirschrote Mund leuchtete verführerisch, während dichte Wimpern ihre blaugrauen Augen fast verdeckten. Erregende Verruchtheit lag in ihrem lächelnden Gesicht.
Auf der Stirn des fast siebzigjährigen Mannes bildeten sich Schweißtröpfchen. Sein Mund wurde trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Finger zitterten, als die Frau ihm so nah gekommen war, dass er das pailettenbesticktes Kleid berühren konnte. Ihr Dekolleté bot dem Betrachter einen wundervollen Einblick.
»Nun, mon chérie, was kann isch für disch 'eute tun?«, schmeichelte Marie mit rauchiger Stimme und französischem Akzent. Sie legte den Arm um Sir Edwards Schulter und ihre Finger kraulten sein noch immer dichtes Nackenhaar.
Der Duft von Chanel No. 5 umwehte ihn. Die Lippen der Frau waren nur einen Hauch von den seinen entfernt. Ihre Augen blitzten neckisch unter den langen Wimpern.
»Möschte Monsieur, dass isch ihm beim Auskleiden be'ilflisch bin? So etwa?« Maries Finger fuhren zwischen seine Hemdknöpfe und berührten die nackte Haut darunter.
Der Lord keuchte und die Worte, die er ausstieß, verstand wohl nur die Frau.
Sie drängte den erregten Mann Schritt für Schritt rückwärts zu dem breiten, mit Seidenlaken ausgestatteten Bett. Dabei öffnete sie sein Hemd langsam mit ihren langen Fingernägeln. Ergrautes Brusthaar kam zum Vorschein. Sie senkte den Kopf und ließ ihre Zunge durch das Gekräusel gleiten.
Bebend keuchte der Lord: »Mach schneller, Marie. Ich möchte dich nackt sehen.«
»Aber mon chérie, wir 'aben doch Zeit.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. Und keinen Deut schneller als zuvor machte sie sich daran, Sir Edward von seinem Hemd zu befreien. Nun, die Jahre hatten deutliche Spuren des Alterns an seinem Körper hinterlassen. Von der stattlichen Figur eines Adonis war er weit entfernt. Dennoch beugte sich Marie vor und leckte spielerisch seine Brustwarzen.
Der alte Mann stöhnte auf und warf den Kopf zurück. Seine Hände griffen nach Maries Brüsten. Der dünne Stoff ihres Kleides riss, die Pailletten sprangen wie Glitzerstaub umher. Gierig kneteten Sir Edwards Hände die prallen Brüste, deren Brustwarzen bereitwillig darauf reagierten und sich verhärteten.
»Die Hose, Marie ... die Hose ... schnell«, bettelte er.
»Aber ja, chérie. Isch mach es ja schon«, gurrte die Frau. Blitzschnell löste sie den Gürtel und zog den Zippverschluss auf. Die Hose glitt zu Boden. Nur mehr mit dunklen Socken bekleidet stand Sir Edward mit dem Rücken vor dem Bett. Die Erigierung seines Gliedes war für sein Alter recht beachtlich. Mit glasigen Augen verfolgte er jede Bewegung Maries, die mit laszivem Blick das einzige Kleidungsstück abstreifte, das sie trug. Straffe Brüste, ein flacher Bauch, runde Hüften und ein draller Po boten sich seinen lüsternen Blicken dar. Gierig griffen die Hände des Lords zu und drängten die Frau aufs Bett.
Es gab nichts mehr hinauszuzögern. Er hatte schon viel zu lange gewartet. Und die Gespielin schenkte ihm, wonach er sich sehnte – heute war ihre französische Nacht.
***
Als Sir Edward am Morgen erwachte, war der Platz an seiner Seite leer. Die Erinnerung an die letzte Nacht wurde wachgerufen durch die am Boden verstreuten, glitzernden Pailletten. Der Duft nach Chanel No. 5 lag noch in der Luft. Zufrieden seufzend zog der Lord den Morgenrock über den seidenen Pyjama und läutete nach Frederic.
Lindsay hatte sämtlichen Angestellten französische Namen verpasst. Der Butler hieß eigentlich Friedrich und kam aus Deutschland, aber hier war er seit fünf Jahren Frederic.
»Sir?«, meldete sich eine leidenschaftslose Stimme. Frederic besaß die Fähigkeit, wie aus dem Boden gewachsen aufzutauchen.
In freundlichem Ton ordnete der Lord an: »Bitte sorgen Sie dafür, dass hier gesäubert wird, Frederic. Mein Frühstück möchte ich wie immer im Wintergarten einnehmen.«
»Sehr wohl, Sir.« Mit einem Seitenblick auf das Chaos im Zimmer erkannte Frederic, wie die Nacht verlaufen war und hob kaum merklich eine Augenbraue. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein schmales Gesicht, doch im nächsten Moment verschwand es wieder.
Alle Angestellten des Lords wusste über die Eigenheiten Sir Edwards, sein Privatleben betreffend, Bescheid. Keiner nahm daran Anstoß und niemand würde je in der Öffentlichkeit darüber sprechen. Untereinander rätselte das Personal dagegen, wer die Frau …
»Darf ich daran erinnern, Sir, dass heute die Leute von der Filmgesellschaft kommen?«, meldete Frederic höflich, während er den Lord zum Wintergarten begleitete.
Dort schien bereits der Frühling eingekehrt zu sein: Die Beleuchtung stammte von eigens installierten Tageslichtlampen. In den im Boden eingelassenen kleinen Beeten blühten Tulpen und Narzissen. Nur der Blick durch die tadellos sauberen Glaswände verriet, dass der süditalienische Winter noch nicht gewichen war. Eine dünne Schneelage bedeckte hier und da die Rasenflächen und die kurzgeschnittenen Hecken der Anlage. Die kahlen Äste der Bäume ragten glanzlos in den grauen Morgen. Die immergrünen Palmen waren aus diesem Blickwinkel nicht zu sehen.
Auf einem filigran wirkenden, silbernen Tablett erwarteten den Lord Croissants, Marmelade, Toastbrot, zarter Lachsschinken und Käseröllchen. Dazu gab es Kaffee und – nicht zu vergessen – ein Glas Tomatenjuice, das der Lord seit Jahren jeden Morgen zum Frühstück trank. Diesem Vitaminstoß schrieb er auch seine Vitalität und Manneskraft zu, obgleich er in dieser Hinsicht ein wenig mogelte.
»Ja, Frederic«, bestätigte er nun die Erinnerung des Butlers. »Ein Gespräch mit der … wie nannte sie sich doch …«
»Winestore Company, Sir«, half Frederic ohne Zögern aus.
»Winestore, richtig«, wiederholte der Lord. »So ist mir der Name auch erinnerlich.«
Damit war die Angelegenheit erledigt. Sir Edwards Aufmerksamkeit galt nun den Aktienkursen in der Financial Times. Ohne von der Zeitung aufzusehen, verlangte er nach dem Mobiltelefon. Der Butler reichte es ihm stumm und zog sich diskret zurück.
Mit langen Schritten durchmaß Frederic den Salon. Dort begegnete ihm Pascale – laut Geburtsschein Paula, ebenfalls eine Deutsche.
Pascale arbeitete als Zimmermädchen. ›Mädchen‹ im wörtlichen Sinn war stark übertrieben: Sie hatte die Fünfzig bereits hinter sich, sprühte jedoch vor Lebhaftigkeit und wirkte dadurch bedeutend jünger. Sie war zwei Köpfe kleiner als der Butler.
»Pascale, das Schlafzimmer des Lords sieht wüst aus. Kümmerst du dich?«, bat Frederic, jetzt allerdings grinsend. »Sein Sonntagsvergnügen war wieder da. Die müssen ordentlich ge…«
»Frederic, du sollst dich nicht so ordinär ausdrücken«, unterbrach ihn Pascale. Aber sie lachte. »Bin schon unterwegs.« Flink wieselte sie davon.
Die Angestellten pflegten untereinander einen lockeren Umgangston. Die ihnen von Lord Lindsay verordneten französischen Namen verwendeten jedoch auch sie der Einfachheit halber.
Frederic war der an Lebensjahren Älteste. Das schwarze, dichte Haar trug er, durch Pomade unterstützt, straff nach hinten frisiert. Es verlieh ihm einen achtungsgebietenden Ausdruck. Der schwarze Anzug saß tadellos und seine Schuhe glänzten wie Speckschwarte. Um die Angelegenheiten des Haushalts kümmerte sich vor allem eine attraktive Frau schwer bestimmbaren Alters. Sie stammte aus Österreich, hieß Marianne und der Lord hatte ihr den Namen Marie verpasst.
Diese Marie schien ein wahres Multitalent zu sein. Sir Edward hatte ihr die Leitung des Haushalts anvertraut, übertrug ihr desgleichen Arbeiten, die einer Sekretärin zukamen, und erbat sich ihren Rat sowie ihre Hilfe in vielerlei persönlichen Dingen. Wenn Gäste angesagt waren, ließ er ihr auch bei der Zusammenstellung der Speisen grundsätzlich freie Hand.
In der Küche betätigten sich Monique – abgeleitet von Monika, Francine – die einzige waschechte Französin – und Angelique, die eigentlich Angela hieß. Der Koch, Pierre, hatte eine etwas längere Gewöhnungszeit gebraucht, ehe er knurrend seinen italienischen Namen Pietro ablegte. Außer den bereits Genannten arbeiteten für den Lord noch zwei Gärtner, ein Chauffeur und zwei Kammerzofen – Mädchen, die für die Wäsche zuständig waren.
Falls für ungeplante Mehrarbeiten erforderlich, stellte Lindsay manchmal auch einfache Leute aus dem Volk ein, von denen er wusste, dass sie dringend eine finanzielle Aufbesserung der Haushaltskasse nötig hatten.
***
Sir Edward Lindsay – wie gesagt, erklärter Liebhaber des Französischen – hatte den Landsitz in der Nähe Neapels vor mehr als zehn Jahren von einer sehr weitläufigen Verwandten geerbt. Die alte Lady hatte zwar nicht auf dem Anwesen gelebt, es jedoch ganz im alten Stil pflegen lassen. Wanderte man durch den Garten, fühlte man sich in ein anderes Land versetzt. Überall dominierten die berühmten englischen Rasenflächen. Im Moment lag allerdings hier und da etwas Schnee, selten genug für die Gegend um den Vulkan.
Die Neapolitaner – soweit sie zur finanzkräftigen Oberschicht oder der Welt des Business gehörten – hatten sich an den in ihren Augen etwas verschrobenen Lord gewöhnt. Schließlich befand sich in einem der Flügel des Landsitzes eine umfangreiche und sehenswerte Bildergalerie, die er auf Wunsch auch Touristen zugänglich machte. Vor allem aber brachte er der Stadt Geld, allein schon durch die umfangreichen Einkäufe ausgesuchter Delikatessen, teure Ausstattungen aller Art und nicht zuletzt durch den Kauf kostspieliger Geschenke, für wen auch immer sie sein mochten. Seine soziale Kompetenz, wie schon erwähnt, tat ihr Übriges, um den Lord als einen der Ihren zu betrachten.
Sir Edward ließ sich in der Hafenmetropole allerdings sehr selten auf der Straße blicken. Besorgungen wurden größtenteils von Marie gemacht. Der Lord machte sich nicht so viel aus Italien. Viel lieber wäre ihm ein Gut in der Normandie gewesen, doch er hatte nun einmal dieses Anwesen geerbt. Und deshalb verband er hier, was er und wie er es sich wünschte: Englische Lebensart und französisches Savoir-Vivre – am Fuß des Vesuvs.
Ein Sonderling war Sir Edward Lindsay schon, aber ein liebenswerter und zudem ein Nachkomme britischer Lords, die darauf stolz waren, in einer Nebenlinie mit dem englischen Königshaus verwandt zu sein.
***
Ronald Graham hatte als Thema für sein Filmprojekt die Mafia, die scheinbar ›Ehrenwerte Gesellschaft‹ gewählt. Die komplizierten Ermittlungen der Rechtsorgane, die Mischung aus Korruption, Machtgier, Erpressung und nicht zuletzt Mord, machten diese Geschichte – betitelt Il Vesuvio – zu etwas äußerst Brisantem.
Beeindruckend waren auch die Namen der Schauspieler, die Graham für dieses Projekt bereits verpflichtet hatte: Brendon Pitts, Malcolm Mortimer jun., Karl Landmann. Diese Namen sollten die Menschen in die Kinos locken.
Das Landgut des Lords hatte er sich als Hauptsitz des Padrone Carlo Montessa gedacht. Natürlich würde Graham während der Dreharbeiten auf alles Rücksicht nehmen, was Interieur, Landschaft und das Privatleben des Lords betraf. Und das eben wollte er heute mit Sir Edward besprechen.
***
Lord Lindsay blickte auf seine Taschenuhr. Für zwei Uhr nachmittags war der Termin mit dem Regisseur vereinbart worden. Sir Edward liebte Pünktlichkeit – noch fünf Minuten. Sie würden mit darüber entscheiden, ob er dem Angebot der Filmgesellschaft zustimmte. Denn wenn schon jetzt Unzuverlässigkeit im Spiel war, wie sollte das dann in Zukunft aussehen? Keinesfalls wollte Sir Edward sich zudem in seinem gewohnten Lebensrhythmus stören lassen.
Die Geschichte, die hier verfilmt werden sollte, interessierte ihn allerdings. Schon immer waren die Mafia und ihre verborgene Welt sein Steckenpferd gewesen. Nur zu gut wusste er jedoch, dass alles, was dieses Thema betraf, hier nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurde. In der Öffentlichkeit vermied man es tunlichst, das Wort Mafia zu erwähnen oder Camorra, wie es in Neapel hieß. Es konnte infolge unbedachter Äußerungen durchaus passieren, dass der Betreffende an der nächsten Straßenecke plötzlich und unversehens einem Auto in die Quere lief – mit tödlichem Ausgang, versteht sich …
Es läutete am Portal: Zwei Uhr – auf den Punkt genau.
Der Lord nickte beifällig. Frederic würde die Besucher zu ihm in den Salon führen.
***
Graham war nicht ungeschickt in Verhandlungsdingen. Er hatte sich vor dem Treffen über Sir Lindsays Gewohnheiten informiert, wusste über dessen Pünktlichkeitswahn ebenso Bescheid wie über dessen Faible für französische Namen oder das Festhalten an englischer Kultur.
Natürlich war ihm ebenfalls bewusst, dass es nicht das Geld für die Miete war, das den Lord reizte, sein Anwesen als Kulisse zur Verfügung zu stellen, denn davon hatte er genug. Sir Edward war ein Börsenprofi und schien schon Tage vorher zu wissen, ob die Aktienkurse zu steigen oder zu fallen beliebten. Ronald Graham rechnete daher mit einem äußerst vitalen Menschen, der, wie man ihm gesagt hatte, noch immer gern Golf spielte, in seinem Pool einige Längen schwamm und häufig über seinen Besitz joggte. Es würde also Geschick erfordern, die Verhandlungen gut über die Runden zu bringen.
Als der Butler die Besucher ankündigte, erhob sich Sir Lindsay aus seinem ledernen Arbeitsstuhl.
Frederic verneigte sich andeutungsweise. »Sir, die Herren wären nun da – Mister Graham, Mister Mortimer und Mister Landmann.« Dann wandte er sich an die Besucher und deutete mit einer leichten Handbewegung auf die Erscheinung im tadellos sitzenden Nadelstreifanzug. »Meine Herren, Sir Edward Lindsay.«
»Danke, Frederic. Ich werde Sie rufen lassen, sobald wir Wünsche haben.«
Als Frederic den Raum verlassen hatte, musterte Sir Edward seine Gäste aufmerksam. Malcolm Mortimer jun. kannte er – nicht nur aus Filmen, sondern auch als Sohn des berühmten Malcolm Mortimer sen. Der etwas untersetzte Mann mit den rötlichen Haaren musste nach seinem Dafürhalten somit der Amerikaner Ronald Graham sein. Blieb noch der gutaussehende Mann mit dem dunklen Haar, der auch der jüngste war – Karl Landmann, der Neuseeländer.
Der Lord begrüßte zuerst den Regisseur: »Mister Graham, es freut mich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben.«
Dann reichte er Malcolm Mortimer jun. die Hand. Lag Zögern in dem Tun des Lords? Jedenfalls war der Klang seiner Stimme ein anderer als zuvor. »Unverkennbar der Sohn seines Vaters. Malcolm Mortimer, wenn ich nicht irre?«
»Respekt! Sie sind gut im Raten!«, erwiderte der Schauspieler in arrogantem Ton. Schließlich war er ein ›Star‹, man kannte ihn daher. Warum also nicht auch der Lord?
Nun, Mortimer hatte die Rechnung ohne Sir Edward gemacht. ›Unsympathisch‹ war der Eindruck, den er von dem Mann gewann, und deshalb kühl bemerkte: »Ich bezog die Unverkennbarkeit ausschließlich auf das Aussehen. Ihr Vater strahlte wesentlich mehr Sympathie aus.« Und ehe Mortimer darauf etwas zu antworten wusste, war Sir Edward schon bei seinem dritten Gast angelangt.
Warum auch immer, dessen Hand hielt er länger in der seinen. »Sie kommen also aus Neuseeland, Mister Landmann? Bisher habe ich es nicht gewagt, so weit zu fliegen. Vielleicht finden Sie ja gelegentlich Zeit, mir etwas über Land und Leute zu erzählen.«
»Gern, Sir, doch werden Worte der Schönheit meines Landes nicht gerecht werden«, erwiderte Landmann freundlich.
Sir Edward lächelte. »Nun, einiges davon habe ich ja gesehen, als ich mir die Teile der großartigen Tolkien-Verfilmung ›Herr der Ringe‹ ansah.«
Landmann lächelte in sich hinein. Ein Lord und eine Fantasy-Saga? Damit hätte er nicht gerechnet.
Die Förmlichkeiten der Begrüßung waren abgeschlossen.
»Bitte, meine Herren, nehmen Sie Platz.« Sir Edward wies mit einer einladenden Handbewegung auf die mit edlen Stoffen bezogenen Hochlehner an einem Tisch mit bräunlich marmorierter Platte.
Nachdem die Männer sich gesetzt hatten, erkundigte der Lord sich, ob er ihnen etwas zu trinken anbieten dürfe: »Trinken die Herren Kaffee, Tee, Wein?«
Mortimer und Graham entschieden sich für Wein, während Landmann um Kaffee bat. Sir Edward zog an dem breiten Band, das neben der Tür zum Salon von der Decke hing. Dann setzte er sich auf den freien Stuhl an der Schmalseite des Tisches.
Geräuschlos öffnete sich die schwere Türe mit der Lederpolsterung.
»Sir, Sie haben geläutet?«, fragte eine Frau, deren Alter schlecht zu schätzen war. Sie trug ein dezentes, schwarzes Kleid mit weißem Schürzchen. Das dunkelblonde Haar war einem Zopf geflochten und aufgesteckt. Dezentes Make-up unterstrich die aristokratisch wirkenden Gesichtszüge der Frau.
»Marie, bitte bringen Sie uns zwei Gläser und Rotwein; für Mister Landmann und mich Kaffee. Bitte tragen Sie auch etwas süßes Gebäck auf«, bat der Lord.
»Sofort, Sir.« Die Frau lächelte freundlich und verschwand.
Bald darauf wurde der Wein von Frederic kredenzt, denn das war Männersache.
Marie stellte die Kaffee-Gedecke vor Landmann und den Lord, dazu Schalen mit Milch und Zucker und goss den aromatisch duftenden Kaffee ein. Vom Servierwagen holte sie darauf noch ein Silbertablett mit verführerisch duftenden petit fours.
Die Augen des Lords begannen in Erwartung des kulinarischen Genusses zu leuchten. »Ihr Werk, Marie?«, fragte er. Er wusste, sie war eine Perle. Nur dass die Perlen meist altgediente Hausdamen waren, also keinesfalls vergleichbar mit dieser attraktiven jungen Frau.
»Ja, Sir, mein Werk. Ich hoffe, es trifft Ihren Geschmack«, antwortete Marie bescheiden. Gemeinsam mit Frederic verließ sie den Salon. Die Blicke der Männer folgten ihr und zwar mit sehr unterschiedlichem Interesse …
»Greifen Sie zu, meine Herren«, forderte der Lord auf. »Es sind echte Köstlichkeiten.« Niemand ließ sich ein zweites Mal bitten.
Und dann leitete Lindsay endlich die eigentliche Unterhaltung ein. »Lassen Sie uns über das Geschäft sprechen. Deshalb sind Sie ja gekommen.«
Ronald Graham zog eine Mappe aus dem Aktenkoffer und legte sie vor sich auf den Tisch. Er räusperte sich ein wenig nervös, ehe er seine einstudierte Rede hielt.
»Verehrter Sir Lindsay, ich habe Ihnen ja schon einige Details am Telefon erläutert. In diesen Aufzeichnungen hier finden Sie eine ausführliche schriftliche Darstellung unserer Vorhaben, für die wir Ihr Landgut in Anspruch nehmen möchten, ebenso eine Auflistung der finanziellen Entschädigungen und Gewährleistungen, die wir anbieten, nicht zuletzt auch den Vertragsentwurf. Wenn Sie, bitte, einen Blick hineinwerfen wollen.«
Er reichte dem Lord die Mappe. Der legte sie beiseite, versprach jedoch: »Ich werde die Unterlagen durch meinen Rechtsanwalt prüfen lassen, Mister Graham. Erzählen Sie mir lieber mit eigenen Worten ein wenig über den Film. So kann ich mir ein viel besseres Bild machen.«
Graham räusperte sich erneut. »Wie bereits am Telefon angedeutet: Es wird ein Film über die italienische Mafia, speziell über die Camorra, die ja hier zu Hause ist. Mister Mortimer wird einen Staatsanwalt spielen, der die unehrenhaften Hintermänner eines Padrone überführen und schließlich deren Machenschaften durchkreuzen soll. Mister Pitts, der erst zu Drehbeginn anreisen kann, wird die Rolle eines Spitzels übernehmen und Mister Landmann die Rolle der ›rechten Hand‹ des Padrone.
Der Padrone selbst wird nur selten in Erscheinung treten und von einem italienischen Schauspieler dargestellt werden. Für Statistenrollen plane ich die Mithilfe der Bevölkerung ein. Allerdings scheitert eine Kontaktaufnahme im Moment noch an fehlenden Verständigungsmöglichkeiten, beziehungsweise möchte ich Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen und …«
Der Lord hob leicht die Hand. »Verzeihen Sie, Mister Graham, wenn ich Ihren Überschwang dämpfe. Sie werden hier kaum Leute finden, die in einem Film über die Mafia als Statisten auftreten möchten. Das ist – wie ich das infolge der vielen Jahre, die ich hier lebe, beurteilen kann – ein sehr gefährliches Thema. Niemand will über diese Dinge sprechen.
Offiziell gibt es keine Mafia, man spricht allerhöchstens von der famiglia. Die Carabinieri haben das Verbrechen angeblich im Griff. Überfälle, die hier geschehen, sind eben Überfälle, wie sie sich überall in der Welt ereignen. Personen, die verschwinden, sind eben irgendwohin verzogen, nichts Besonderes bei der hohen Arbeitslosenrate in und um Neapel. Machen Sie sich doch selbst ein Bild: Es gibt mehr Armutsviertel als Villengegenden. Selbst die Zone um den Bahnhof herum gleicht eher einem großen Asylantenlager als einem Hauptbahnhof im Zentrum einer Stadt. Einzelne Häuser und ganze Wohnschluchten in der Hafengegend stehen leer. In den Gassen tummeln sich Junkies, zwielichtige Gestalten und Prostituierte. Selbst in den Hauptstraßen, die noch einen Hauch von Grandezza besitzen, sind die Portale der Geschäfte mit schweren Eisenketten gesichert. Einzig florierende Unternehmen sind die Galleria Umberto und einige Supergeschäfte der Markenindustrie, deren Besitzer sich entsprechende Schutzgelder leisten können. Natürlich gibt es auch noch die vornehmeren Wohngegenden. Doch dort werden Sie erst recht keine Freunde für Ihre Pläne finden.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus.
Schließlich ergriff wiederum der Lord das Wort. »Und mein Haus soll nun als prunkvolles Heim des Padrone dienen, wenn ich Sie recht verstanden habe? Wie stellen Sie sich das vor? Sie werden ja nicht erwarten, dass ich während dieser Zeit ausziehe?« Lindsays Gesicht schien ernst, doch im Grunde genommen war er amüsiert über diese Vorstellung.
»Nein, Sir«, beeilte sich Graham zu versichern. »Wie gesagt: Die Szenen, in denen der Padrone eine Rolle spielen wird, sind sehr kurz. Es kommt uns eher auf die Außenansicht an, die wir öfter integrieren möchten, ebenso auf die Gartenanlagen.«
Erneut entstand eine Pause, in der Sir Edward scheinbar gedankenvoll die Tischplatte fixierte. »Und kommen in Ihrem Film auch Frauen vor?«, fragte er unvermittelt.
Die Antwort folgte rasch, so als habe Graham sie erwartet: »Kaum. Zumindest ist keine tragende Rolle vorgesehen«, gab Graham zu. »Es sind eher kleine Auftritte, die jede ihrer Angestellten übernehmen könnte.«
Die Gedanken des Regisseurs kreisten unversehens um jene Frau, die er eben zu Gesicht bekommen hatte … wie war doch der Name … richtig, um Marie.
Sir Edward hatte wohl ebenfalls in Windeseile die Frauen des Hauses Revue passieren lassen und war zum gleichen Ergebnis gekommen, denn er sagte: »Ich weiß nicht, Mister Graham, ob Sie Marie zum Mittun überreden könnten.« Er schmunzelte, als er die Verlegenheit des Regisseurs bemerkte. »Und eines noch«, fügte er, in schrofferem Ton als zuvor, hinzu. »Von Samstagabend bis Montagmorgen erlaube ich keinerlei Filmaufnahmen auf meinem Gelände. Das ist eine Bedingung, von der ich nicht abgehen werde.«
Graham überlegte fieberhaft, wie sich das auf die Drehzeiten auswirkte, willigte aber ein: »Das lässt sich einrichten.« Er musste mit den Verhandlungen schnellstens zum Ende kommen, ehe dem Lord neue Bedingungen einfielen. Deshalb erklärte er: »Wir wollen Ihre kostbare Zeit nun nicht weiter in Anspruch nehmen. Wann dürfen wir mit Ihrer Antwort rechnen?« Bewusst vermied er das Wort Zusage, um den Lord nicht unter Druck zu setzen.
»Welche Entscheidung ich auch treffen werde, ich erwarte Sie alle am Mittwoch um neunzehn Uhr zum Supper«, erklärte der Lord und fragte dann ziemlich übergangslos: »Wo sind Sie eigentlich untergebracht?«
Graham reagierte nicht sofort. Er war eher ein Mann des bedachtsamen Wortes.
Karl Landmann übernahm die Beantwortung der Frage. »Im Hotel Rex, Sir«, informierte er kurz und bündig.
Er war den Ausführungen des Lords mit Interesse gefolgt. Der alte Mann schien viel über Neapel und seine Bewohner zu wissen. Es klang einleuchtend, was er über die Furcht der Leute in Bezug auf die Mafia berichtete. Und das machte den Neuseeländer nachdenklich.
Graham hatte bei seinen Ausführungen verschwiegen, dass dieser Film ein Tatsachenbericht über die jüngsten Morde der Camorra in Neapel werden sollte. Recherchiert waren die Hintergründe dieser Verbrechen aus den Berichten der polizia civile und der Staatsanwaltschaft. Wer auch immer dem Regisseur dieses Wissen hatte zukommen lassen, kannte sich im einschlägigen Milieu aus, war vielleicht selbst Teil dessen.
Landmann selbst war relativ rasch damit einverstanden gewesen, die Rolle des Angelo Cortesa zu übernehmen, des Sekretärs des Padrone. Es reizte ihn, einmal in diese Welt des Verbrechens einzutauchen, in einem Film mitzuwirken, der so nah an der Realität war, dass er schon wieder fantastisch wirkte.
Die Stimme des Lords riss Landmann aus seinen Gedanken. »Ah, das Rex! Das ist ein gutes Hotel in der Nähe von Santa Lucia. Haben Sie einen Mietwagen?«
Landmann zog eine verlegene Grimasse. »Nein, Sir. Wir sind mit dem Taxi hergekommen. Um ehrlich zu sein, wir hätten uns wohl in diesem Chaos auf den Straßen Neapels nicht zurechtgefunden.«
Vor sich sah Landmann im Geist die hupenden und ständig die Vorfahrt missachtenden Italiener in ihren kleinen, meist ziemlich verbeulten Autos. Zeitweilig hatte er sogar die Augen geschlossen, wenn der Taxifahrer sich ein Rennen mit Kollegen lieferte, in dem es darum ging, wer zuerst in den Kreisverkehr einbiegen durfte.
Sir Edward sah dem Neuseeländer die Gedanken am Gesicht an. Den neapolitanischen Verkehr kannte auch er zur Genüge. Nur zweimal, seit er hier wohnte, hatte er selbst seine Limousine nach Neapel gesteuert, um bei der Eröffnung des Museo Archeologico Nazionale nach dessen Restaurierung und bei der Schiffstaufe der Regina del mare, seiner Motorjacht, dabei zu sein. Jedes Mal war sein Anzug danach schweißnass gewesen und er einem Herzinfarkt nahe. Auch sein Chauffeur scheute Fahrten in die Innenstadt. Nur Francine und Marie fanden nichts dabei, sich in die hupenden Kolonnen einzureihen. Nun, das war wohl ein Vorrecht der jüngeren Generation.
»Haben Sie auch die Rückfahrt gleich organisiert?« Als Sir Edward in die Gesichter seiner Gäste blickte, wusste er, dass dies nicht geschehen war. Oh, diese naiven Ausländer!
»Mein Chauffeur wird Sie ins Hotel bringen, denn Sie werden kein Taxi mehr bekommen. Heute findet das Nachtragsspiel des AS Roma gegen Napoli statt«, erklärte er. Als er Verständnislosigkeit bei seinen Gästen bemerkte, ergänzte der Lord: »Fußball, das ist hier wie ein Feiertag. Selbst wenn Sie einen Taxifahrer fänden, müssten Sie damit rechnen, dass er während der Fahrt über Radio das Spiel verfolgt, das Lenkrad loslässt und sich die Haare rauft, wenn seiner favorisierten Mannschaft ein Tor entgangen ist oder weil er meint, er sei der Verteidiger und müsse mit den Füßen wild um sich treten.«
An solche Dinge hatte Graham überhaupt nicht gedacht. Italien war ihm so fremd wie der Nordpol. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, dass Sie uns einen Wagen zur Verfügung stellen«, bedankte er sich erleichtert und fügte hinzu: »Könnten Sie uns vielleicht auch einen Sprachmittler empfehlen? Es geht um Verhandlungen und … ja, einfach um alles für den täglichen Sprachgebrauch bei den Dreharbeiten.«
Lindsay nickte nachdenklich. »Wenn es soweit ist, werde ich Ihnen bei der Suche behilflich sein. Doch es wäre unnütz, bereits jetzt jemanden zu bemühen, ehe meine Entscheidung gefallen ist.«
Diese Antwort kam einer deutlichen Bremsung voreiliger Aktivitäten gleich.
Sir Edward erhob sich. »Meine Herren, ich erwarte Sie übermorgen um neunzehn Uhr.«
Die Unterredung war beendet.
Der Lord würde, sobald die Besucher das Anwesen verlassen hatten, seinen Avvocato anrufen und ihn bitten, sich die Unterlagen, die Graham mitgebracht hatte, genau anzusehen. Er selbst beschäftige sich selten mit solchen Dingen.
Auch die Männer hatten sich erhoben. Sir Edward bemerkte Karl Landmanns begehrlichen Blick, der dem letzten petit four auf dem Silbertablett galt. »Nehmen Sie nur. Marie macht sie einzigartig, man kann kaum widerstehen«, forderte Lindsay den Neuseeländer freundlich auf, zuzugreifen.
Karl zierte sich nicht und verspeiste mit Appetit die mit Schokolade überzogene Mandelcremeköstlichkeit.
Als der Lord Landmann zum Abschied die Hand reichte, äußerte er noch ein paar freundliche Worte über Neuseeland. Dieser Karl Landmann gefiel ihm – ein angenehmer Zeitgenosse. Außerdem war Lindsay davon angetan, dass der Neuseeländer Marie nicht mit jenem taxierenden Männerblick verfolgt hatte wie Mortimer, sondern er ganz offensichtlich vom Auftreten der Frau beeindruckt gewesen war. Die Blicke des Regisseurs freilich entsprachen eher einer Materialmusterung: Es schien, als wolle er ermessen, ob Marie in eine bestimmte Schublade seiner Drehpläne passte.
Wie von Geisterhand öffnete sich nun die schwere Holztür des Salons und wie ein Geist erschien der befrackte Diener. Seine Miene sagte deutlich: Wenn die Herren nun bitte gehen würden …
In der Diele erwartete Marie die Besucher. War es Zufall? Sie hielt Karl Landmanns Mantel bereit.
Es war dem Mann unangenehm, von ihr eine derartige Dienstleistung anzunehmen. Sein Mantel schien schwerer zu sein als sie selbst. »Mister Landmann, bitte!« Maries auffordernde Geste erinnerte ihn daran, dass er den Arm in den Ärmel schieben sollte. Als ihre Finger dann zufällig seinen Nacken berührten, weil sie ihm den Kragen zurechtrückte, wünschte er, dieser Augenblick möge etwas länger andauern. Himmel! Welche Gedanken kamen ihm da?
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. »Sehen wir uns am Mittwoch wieder?« Fiel ihm denn keine intelligentere Floskel ein? Karl Landmann ärgerte sich über sich selbst.
»Sicher sehen wir uns. Ich arbeite ja hier.« Marie lächelte freundlich und unverbindlich.
Sie hatte während des Servierens im Salon wohl bemerkt, dass sie die Männer in besonderer Weise beeindruckte. So etwas geschah ihr nicht zum ersten Mal. Der Lord erhielt häufiger männlichen Besuch, doch Maries Interesse an Männern hielt sich in Grenzen: Sie hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und keinen Bedarf an Erfahrungen ähnlicher Art.
Sir Edward war seinen Besuchern in die Diele gefolgt. »Ist Antoine vorgefahren?«, erkundigte er sich bei Frederic.
»Ja, Eure Lordschaft, der Wagen steht bereit«, meldete der Butler und hielt das Portal höflich für die Männer auf.
»Auf Wiedersehen«, sagte Karl Landmann leise zu Marie.
»Kommen Sie gut ins Hotel«, erwiderte Marie ebenso leise.
Die Männer schritten die geschwungene Außentreppe hinunter und stiegen in die Limousine.
Marie lief in den Salon zurück, stellte das Geschirr auf den Servierwagen, säuberte den Tisch und öffnete für ein Weilchen die Fenster, um Frischluft hereinzulassen. Wind war aufgekommen, man spürte eine salzige Brise in der Luft.
Sir Edward verschwand mit der Mappe ins Arbeitszimmer. Er rief den Anwalt an. Avvocato Girardi war ihm mit den Jahren ein guter Berater und fast ein Freund geworden, dessen Meinung ihm in diesem Fall besonders wichtig war. Sie verabredeten sich zum Abendessen.
Auf dem Weg in den Wintergarten warf Sir Edward noch einen Blick in den Salon. Alles stand wieder auf seinem Platz. Er informierte Frederic, der sich dezent im Hintergrund hielt, dass Signore Girardi gegen Abend zum Supper zu erwarten sei.
Mit den Unterlagen der Winestore Company ließ er sich dann auf seinem Lieblingsplatz im Wintergarten nieder. Sobald die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne das Wolkenmeer durchbrachen, würde Frederic die gläsernen Flügeltüren in den Garten öffnen. Bald war es so weit, denn hier währte der Winter nur kurze Zeit und Nebel war so gut wie unbekannt.
***
Gegen achtzehn Uhr vernahm Frederic die quietschen Reifen eines bremsenden Wagens.
Der Avvocato hatte seinen Chauffeur heute nicht bemüht. Der durfte dem Duell der rivalisierenden Fußballclubs sein Interesse schenken, statt den Rasern auf der Straße, zu denen der Anwalt – nebenbei gesagt – auch selbst gehörte.
Der reiche Club des AS Roma spielte gegen den immer mit Geldsorgen kämpfenden Club von Napoli. Für die Neapolitaner bedeutete es ein Freudenfest, sollte ihr Club gewinnen. Mit erhobener Faust würden sie durch die Straßen laufen und forza Napoli brüllen. Eine Niederlage zog man vor dem Spiel gar nicht erst in Betracht.
Der Avvocato war kein Anhänger des Ballsports. Viel lieber hörte er sich in seinem appartamento mittels einer gigantischen Musikanlage eine der italienischen Opern an. Nicht selten schwang er dazu einen imaginären Taktstock.
Sir Edward und Girardi begrüßten sich herzlich. Mit einladender Geste bat der Lord den Gast ins Arbeitszimmer. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, scherzte er.
Girardi wusste die gute Küche des Hauses zu schätzen, deshalb lag ihm daran, die Prüfung des Vertrages rasch hinter sich zu bringen.
Sir Edward schob ihm die Unterlagen über den Tisch und hielt sich ansonsten still in seinen Sessel.
Der Avvocato überflog die ersten Absätze. »Diesen Vertrag hat ein Manager geschrieben, kein Jurist«, murmelte er.
Seine Formulierungen wären anders gewesen, eleganter, um vieles ausgefeilter. Aber darum ging es ja nicht: Es galt, Fallstricke aufzuspüren. Gedanklich zerlegte Girardi Zeile für Zeile. »Ich werde den Vertrag neu ausformulieren, dann können Sie unterschreiben«, sagte er schließlich. »Über die Nutzungssumme werden Sie, wie ich Sie kenne, nicht verhandeln wollen, obwohl da noch einiges …« Er sprach nicht weiter. Ein Blick in Sir Edwards Gesicht hatte ausgereicht. Für ihn als Italiener war es unverständlich, dass jemand nicht feilschen wollte.
»Ich möchte nur die Sicherheit haben, dass auf dem Anwesen kein Schaden entsteht«, unterstrich Sir Edward. »Insbesondere ist festzuhalten, dass mein Personal nicht für die Obliegenheiten der Filmcrew zuständig ist. Für die Trailer müsste der große Platz am Ende des Anwesens ausreichen. Die Leute könnten dort für die Dauer der Dreharbeiten wohnen, Strom und Wasser sind vorhanden. «
Es wurde Zeit für das Supper.
Vorsorglich erkundigte sich der Anwalt, ob sie später eine Partie Schach spielen würden.
»Aber gern, ich bin Ihnen doch noch die Revanche vom letzten Mal schuldig.«
Es klopfte an der Tür. Frederic trat ein und verkündete, dass angerichtet sei. Die lange Tafel des Esszimmers war für nur zwei Personen gedeckt.
Der Butler erkundigte sich nach den Wünschen für einen Aperitif. Danach servierte Marie die verschiedenen Gänge und nach einem hervorragenden Tiramisu zogen sich die Männer mit einem Glas Sherry in den Salon zurück, wo bereits das Schachbrett auf dem Tisch stand.
Girardi beneidete Sir Edward um diese Leute, die offenbar immer im Voraus wussten, was ihr Herr wünschte.
***
Die Angestellten saßen währenddessen beim gemeinsamen Abendessen zusammen.
Francine wollte wissen, wie der Regisseur und die Schauspieler ausgesehen hätten.
Marie ließ sich nicht lange bitten: Mit treffsicheren Handbewegungen und Gesten imitierte sie die drei Männer, was zeitweilig für Belustigung sorgte. Der eine schnitt besser, der andere schlechter ab. Besonders Mister Mortimer war Marie negativ aufgefallen. Auch der sonst zurückhaltende Frederic äußerte sich wenig freundlich über ihn. »Der Kerl trägt die Nase sehr hoch. Irgendwann wird er stolpern und sich ordentlich dran stoßen«, prophezeite er. »Er fand es nicht einmal der Mühe wert, sich zu bedanken, als ich ihm in den Mantel half. «
Marie dachte an den Moment, in dem sie Karl Landmann in den Dufflecoat geholfen hatte. Als Schauspieler war ihr der Mann natürlich ein Begriff. Mehr als einmal hatte sie seine positive Ausstrahlung in Filmen bewundert. Doch wer wusste bei einem Darsteller schon, wie viel davon Spiel, wie viel davon eigener Charakter war? Heute hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er diese sympathischen Eigenschaften auch ins Privatleben übertrug.
***
Sir Lindsays Chauffeur empfand es als große Erleichterung, dass aufgrund des Fußballspieles nicht so viel Verkehr herrschte. Das Chaos würde erst wieder ausbrechen, wenn das Spiel zu Ende war. Egal, ob gewonnen oder verloren – auf der Piazza würde es brodeln und die Straßen wären heillos verstopft.
Vorschriftsmäßig diskret hatte er die Scheibe zum Fahrgastraum hochgefahren, sodass die Gespräche der Männer nicht nach vorn drangen. Ihn interessierte wenig, worüber sie sich unterhielten.
»Ich denke, Lindsay hat meinen Vortrag gut aufgenommen. Was meint ihr?«, wollte Graham wissen.
In Malcolm nagte noch immer der Zorn darüber, dass der Lord ihn so abgekanzelt hatte. Von sich selbst eingenommen, suchte er natürlich den Grund dafür nicht bei sich. »Der Alte sollte seinen Tee besser in London schlürfen, als sich hier um Dinge zu kümmern, von denen er nichts versteht«, knurrte er.
Karl ignorierte die rüde Äußerung und meinte: »Ich fand ihn ein wenig steif, aber sehr nett. Außerdem besitzt er ein kompetentes Wissen über Land und Leute, das uns ganz offensichtlich fehlt.«
»Was dir in Wirklichkeit gefiel«, schoss Malcolm jetzt mit scharfer Munition, »das war die Lady mit Häubchen, die so lange brauchte, um dir in den Mantel zu helfen.«
»Ach, und wessen Augen sind fast in ihren Ausschnitt gefallen, als sie die Backware auftrug?« Auch Karl reagierte nun aufgebracht.
»Um die Frau geht es doch jetzt gar nicht«, versuchte Ronald zu schlichten. »Obwohl – ich dachte schon daran, dass sie sich für die Rolle der Freundin Carlo Montessas eignet.« Graham wandte sich an Karl. »Was meinst du? Könntest du dir vorstellen …«
»Karl kann sich bestimmt manches mit der Kleinen vorstellen.« Malcolm hörte nicht auf zu sticheln. Sein beleidigtes Ego wollte andere treffen. »Wenn er könnte, würde er sie flachlegen und es ihr gehörig besorgen.«
Noch hielt Landmann an sich, obgleich sein Pulsschlag stieg. Die Dummheit Mortimers stank zum Himmel: Mit jedem Wort, das er sagte, verriet er, mit welchen Augen er selbst diese Frau betrachtet hatte.
Der Neuseeländer bemühte sich um einen sachlichen Ton. »Ich denke, dass wir die Frau erst einmal fragen sollten, ob sie überhaupt Interesse hat mitzuwirken. Abgesehen davon wissen wir nicht, ob Lindsay ihr für solche Aktivitäten Zeit zur Verfügung stellt.«
»Ein berechtigter Einwand«, gestand der Regisseur ein. Sein Blick wanderte dankbar zu Karl. Dankbar, weil dieser versuchte, die Provokationen Malcolms zu ignorieren und das Gespräch in ruhige Bahnen zu lenken. »Zuerst müssen wir ohnehin abwarten, ob der Lord nach der Konsultation seines Anwalts unserem Projekt zustimmt«, setzte Graham berechtigterweise hinzu. »Vor den italienischen Rechtsverdrehern habe ich eine gewisse Scheu. Aber was soll’s! Übermorgen wissen wir mehr. Für heute bin ich froh, dass Sir Edward nicht von vornherein abgelehnt hat.«
Das Warten war gar nicht das eigentliche Problem, das lag ganz woanders: Diese Zwistigkeiten zwischen Malcolm und … eigentlich jedermann, mit dem der Schauspieler bisher zusammengetroffen war, nervten ungemein. Schon seit Tagen gestand sich Graham ein, dass die Besetzung einer Rolle durch Mortimer keine gute Idee gewesen war. Feste Verträge mit den Schauspielern gab es zwar noch keine, denn es bestand ja die Möglichkeit, dass das Projekt abgesagt werden musste. Doch woher sollte er im Ernstfall Ersatz nehmen? Mortimer war nun einmal da, hatte persönlich Zeit aufgewandt und Entschädigungen, welcher Art auch immer, konnte sich die Filmgesellschaft nicht leisten.
Der Wagen hielt vor dem Hotel, das in seinem Baustil an deutsche Kaiserzeiten erinnerte. Imposant thronte das Gebäude am Ende der breiten Auffahrt. Die zuckende, weil altersschwache Neonröhre beim ›R‹ des Hotelnamens tat dem herrschaftlichen Eindruck keinen Abbruch.
Direkt hinter dem Hotel lag das Meer. Die Wellen, die heute hohe Schaumkämme trugen, brandeten geräuschvoll gegen die Felsen.
Ronald und Karl bedankten sich beim Chauffeur, Malcolm leistete sich eine verächtliche Geste. »Überschlagt euch nicht«, knurrte er. »Das ist sein Job.«
Auch der Portier bekam die üble Laune des Schauspielers zu spüren. Weil er von seinem Platz an der Rezeption aus das Match im Fernsehen verfolgte und den Zimmerschlüssel nicht sofort parat hielt, schnauzte Mortimer ihn an.
Weder Graham noch Landmann verspürten Lust, noch beieinander zu sitzen, was in erster Linie Malcoms mieser Laune geschuldet war.
»Ich hau mich aufs Ohr«, verkündete der Regisseur. »Vielleicht lasse ich mir später noch etwas Essbares aufs Zimmer bringen. Ihr könnt es halten wie ihr wollt.«
»Gute Idee«, stimmte Karl Landmann ihm zu. »Ich werde es ebenso machen.«
Die beiden Männer strebten auf den Lift zu.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich diesem interessanten Abendprogramm anzuschließen«, kommentierte Malcolm bissig.
Die Zimmer des Regisseurs und Landmanns lagen auf dem gleichen Flur, Malcolms befand sich eine Etage tiefer. Welch angenehmer Zufall! Sie wurden den Miesepeter los.
***
Karl schaltete das Licht im Zimmer ein. Auf dem Kissen des französischen Betts lockte wiederum eine süße Empfehlung – diesmal eine des Hotels. »Sehr aufmerksam«, dachte er erfreut. Vor deren Genuss erfrischte er sich im großzügig eingerichteten Badezimmer, ehe er sich – nur mit Shirt und Shorts bekleidet – aufs Bett fallen ließ. Was tun? Warum sollte er nicht auch einen Blick auf dieses Fußballspiel werfen, das in Neapel für eine so einschneidende Unterbrechung des normalen Tagesablaufes sorgte. Doch ihm fehlte ein wichtiges Detail, das zu einem Fußballspiel gehörte – ein gutes Bier.
Er stand nochmals auf und inspizierte die Zimmerbar. Sie war gut gefüllt. Karl griff nach der Flasche, die einer Bierflasche am ähnlichsten sah, ließ sich samt birra erneut auf die Überdecke fallen und startete den Fernseher. Sekunden später verfolgte er gespannt den emotionsgeladenen Kampf um das runde Leder auf dem grünen Rasen, bei dem letztendlich der AS Roma siegreich blieb. »Armes Napoli!«, dachte Karl belustigt.
Das Knurren seines Magens signalisierte Hunger. Allerdings bedeutete die Speisekarte für Karl eine Herausforderung: Sie war in italienischer Sprache verfasst. Nach einigem Hin und Her am Telefon war das Abendessen unterwegs. Während Karl darauf wartete, schloss er die Augen und gab sich dem Tagtraum hin, dass eine Frau, die unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie aufwies, ihm das Essen servierte.
Der Abend war unbemerkt in die Nacht übergegangen. Trotz eingeschaltetem Radiator fröstelte Karl. Er zog eine Jogginghose über die Shorts, schlüpfte unter die Decke und wickelte sich förmlich darin ein. Die angenehme Vorstellung überkam ihn, wie es wäre, sich an den warmen Körper einer Frau zu schmiegen. Und wieder schlich sich ein bestimmtes Bild in seinen Kopf: Er sah Marie vor sich, ihre ausdrucksvollen Augen und den kleinen, schön geschwungenen Mund, erinnerte sich an ihre angenehme Stimme und die Berührung durch ihre Hand. So falsch war es gar nicht gewesen, was Malcolm behauptet hatte: Aus seinem Bett würde er die Frau gewiss nicht werfen. Nur Malcolms ordinäre Art, diesen Umstand auszudrücken empörte ihn maßlos.
Er gönnte es sich, ein wenig zu träumen: Wie mochte sich Maries Haut anfühlen? Verstand sie sich gut aufs Küssen? Er hatte schon längere Zeit mit keiner Frau geschlafen und die Vorstellung, es mit ihr zu tun, erregte ihn. Er merkte, dass sein Körper auf diese Gedanken mit einer Erektion antwortete und bezwang sich.
Die soliden Wände schützten vor Geräuschen aus den Nebenzimmern. Schlaf übermannte Karl und er glitt hinein in ein traumloses Nichts.
Kapitel 2
Der Dienstag begann mit einem orkanartigen Sturm, der es jedermann verleidete, vor die Tür zu gehen. Marie schaute missmutig aus dem Küchenfenster: Die nackten Zweige der Bäume bogen sich im Wind, der auf ihnen lagernde Schnee wurde durch die Luft gewirbelt und erweckte den Anschein, als schneie es. Missmut änderte nichts an der Tatsache, dass sie zum Hafen fahren musste. Giuseppe hatte angerufen, dass die bestellten Fische heute mit dem großen Fischkutter eingetroffen seien. Das Schiff liege zwar noch einige Tage im Hafen, aber durch zu lange Lagerung würde die Ware nicht besser. Marie hatte nicht die Absicht, den Kauf hinauszuzögern. Sie liebte es, als eine der ersten aus dem Angebot wählen zu können.
»Mon Dieu! Das wird ‘eute wieder eine Markttag mit fliegende Fische«, seufzte Francine, obgleich sie selbst mit den Fischen überhaupt nichts zu tun haben würde.
»Jammere nicht, Francine, wir fahren trotzdem. Ich will vor dem Abendessen zurück sein«, erklärte Marie. »Wir fahren auch gleich beim mercato vorbei und kaufen ein. Aus der Reinigung müssen wir für Sir Edward ebenfalls noch etwas abholen.«
»Isch komme ja schon«, beteuerte Francine. »Sei doch nischt so ‘ektisch, chérie.«
Für sie waren diese Fahrten eine willkommene Abwechslung im sonst langweiligen Alltag. Marie setzte sie immer bei der Galleria Umberto ab, damit sie in diesem Einkaufstempel oder auch in den in der Nähe liegenden Geschäften nach dem neuestem Modefummel Ausschau halten konnte. Francine hatte bisher stets etwas gefunden, wofür es sich lohnte, Geld auszugeben.
Zum Hafen fuhr Marie allein. Sie verstand sich bestens darauf, mit den Fischern zu verhandeln: Erstens beherrschte sie die italienische Sprache und zweitens war sie eine Könnerin, was das Feilschen um den günstigsten Preis betraf.
Erst beim mercato war Francine dann wieder dabei.
Frederic hatte inzwischen die große Kühlbox im Kombi verstaut, die für den Transport der Fische gedacht war. Höflich hielt er Marie nun die Wagentür auf und wünschte: »Gute Fahrt und lass dich nicht aufs Meer wehen.« Das Lachen war zu sehen, seine Gedanken gehörten ihm: »Selbst in den abgetragenen Jeans, dem dicken Pullover und dem wattierten Gilet, sieht sie reizend aus.« Marie hatte etwas an sich, das er sich nicht erklären konnte – eine spezielle Anziehungskraft, die selbst bei ihm, den eingefleischten Junggesellen, Wirkung zeigte.
»Danke, Frederic, aber ich kann schwimmen.« Auch Marie lachte. »Soll ich dir Zigarillos mitbringen?« Sie wusste, dass Frederics heimliche Leidenschaft diesen braunen Glimmstängeln von Tonio galt, die der Händler noch selbst drehte und verpackte. Den Tabak erhielt der Alte als kleine Lieferung mit einem der großen Schiffe, die aus aller Welt in Neapel vor Anker gingen.
»Das wäre wirklich außerordentlich reizend.« Der Butler deutete eine galante Verbeugung an.
Francine kicherte. Frederic und Marie verstanden es perfekt, die Gesten und Redeweisen der vornehmen Gesellschaft nachzuahmen, so zu tun als ob … Schon viele Male hatten sie alle damit bestens unterhalten. Die Französin stieg nun in den angenehm temperierten Kombi und rief: »Au revoir, Frederic!«
Marie fuhr den Wagen langsam an. Das Tempo würde sich schnell ändern, fädelten sie sich erst in den täglichen Chaosverkehr Neapels ein. Langsame oder gar ängstliche Autofahrer waren dort fehl am Platz. Nicht, dass Marie die Fahrt scheute, sie fürchtete nur die Unberechenbarkeit der starken Böen. Das ging selbst den routiniertesten einheimischen Autofahrern nicht anders.
Auf den Straßen sah man noch die Überreste der gestrigen Fußballveranstaltung in Form von weggeworfenen Pappbechern, Flaschen und zerrissenen Papierfähnchen des leider unterlegenen neapolitanischen Clubs. Bei diesem Wind lohnte es sich nicht, den Müll wegzuräumen.
»Se bastasse una canzone …«, trällerten Francine und Marie. Die Eros Ramazotti-CD im Auto verleitete sie, laut mitzusingen. Francines französisch klingendes Italienisch wirkte geradezu erheiternd.
»Madonna mia!«, ärgerte sich Marie über einen die Fahrbahn blockierenden Kleinlaster. Hupend und gestikulierend reihte sie sich nach dem riskanten Überholmanöver in den inneren Kreis der Tangentiale ein. Wenig später befand sie sich auch schon in der Nähe des Hauptbahnhofes, von dem aus sie durch unzählige vicoli, kleine Gässchen, zur Galleria gelangte. Ohne den Motor abzustellen, ließ sie Francine aussteigen.
»Hast du dein telefonino mit?«
»Ja, ja, isch ‘abe ihm.« Francine nickte zusätzlich noch bejahend.
Marie beugte sich in Richtung Beifahrersitz, um Francine noch etwas zu sagen. »Ich ruf' dich an, wenn ich vom Hafen wegfahre. Dann hast du gut fünfzehn Minuten, um dich hier wieder einzufinden.«
»Wunderbar. Soll isch für disch schauen wegen die 'übsche Bluse?«, erkundigte sich die Französin. Beim letzten gemeinsamen shopping war ihr nicht entgangen, dass sich Marie für dieses Teil, eine Seidenbluse, interessiert hatte.
Marie überlegte. »Ja, kauf sie«, stimmte sie zu.
»Viel Spaß bei die Fische«, rief Francine, warf die Autotür zu und war – ruckzuck – im Eingangsportal der Galleria verschwunden. Es blieben ihr gut zwei Stunden Zeit für Einkäufe.
Über Schleichwege, abseits der Hauptverkehrsstraße, gelangte Marie zum Frachthafen, der auf der anderen Seite des Personenhafens lag. Die Möwen, die laut kreischend über den Fischerkähnen kreisten, ließen sich auch von den Windböen nicht beirren, die zum Glück etwas nachgelassen hatten. Marie zwängte sich in eine eigentlich kaum vorhandene Parklücke und hielt die Luft an, als sie sich durch einen engen Spalt aus dem Auto quetschte.
Wie immer, wenn sie hier am Hafen war, galt ihr erster Blick dem Vulkan, dem die Gegend – im Ernstfall eines Ausbruchs – auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Berechnungen zufolge würde der Lavastrom des Vesuvs höchstens sechs Minuten brauchen, um das Meer zu erreichen. Sechs Minuten! Natürlich gab es auch Evakuierungspläne für einen solchen Fall. Doch eine Räumung der gesamten Stadt würde mindestens sechs Tage in Anspruch nehmen – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Und so hoffte jedermann, der hier und in der Umgebung des Vulkans wohnte, dass der Vesuv noch viele Jahre weiterschlafen werde. Oft schon war Marie oben beim Krater gewesen und hatte in den tiefen Schlund hinabgeschaut, dessen Sohle sich so harmlos gab. Allgegenwärtig waren dort oben nur der feine Schwefelgeruch und die Blöcke der erstarrten Lava.
Marie wandte sich ab. Wollte sie noch vor der frühen Dämmerung des kurzen Wintertages mit der Auswahl der Fische fertig sein, war es Zeit, damit zu beginnen.
Die kleinen Kutter schaukelten auf den vom Wind bewegten Wellen. Geschäftig liefen am Kai Händler, Großabnehmer und Seeleute umher. In der Luft lag intensiver Fischgeruch und vom Meer wehte eine salzige Brise. Beides Dinge, die Marie immer wieder begeisterten. Sie liebte dieses Land und seine Leute, die so offen und voller Herzlichkeit waren, kannte man sie erst einmal. Anfangs war die Art ihres Lebensstils sicher gewöhnungsbedürftig, hatte man sich damit aber angefreundet, war es nicht schwer, sich hier wohlzufühlen.
***
Die Fensterläden – die er vor dem Einschlafen nicht geschlossen hatte – schlugen im Takt der Böen gegen die Hauswand. Ronald versuchte das Geräusch zu ignorieren, indem er die Decke über Ohren zog. Fehlanzeige.
»Shit«, fluchte er und kroch ärgerlich aus dem Bett, öffnete das Fenster und fing die Läden ein. Er verriegelte sie und im Zimmer entstand sofort der Eindruck von Nacht. Es war jedoch fast acht Uhr morgens.
Ronald hatte seit gestern nichts mehr gegessen und sein Magen meldete dies ungnädig. Ob Mortimer und Landmann auch schon wach waren? Karl konnte er ja unbesorgt über das Zimmertelefon anzurufen, bei Malcolm ließ er es lieber, um sich den Morgen nicht selbst zu verderben. Wenn nicht heute, vielleicht oder sogar ziemlich sicher brachten die nächsten Tage eine Entscheidung, was den Verbleib Mortimers in der Crew betraf. Denn das war ihm nach reiflicher Überlegung am Vorabend klargeworden: Ein Verhalten wie das seine konnte das gesamte Konzept zum Scheitern bringen!
Er wählte Karls Zimmernummer und der nahm auch sofort ab. »Morning, Karl. Ich gehe zum Frühstück und wollte fragen, ob du mitkommst?«
»Ich mache mich auch gleich auf dem Weg«, antwortete der Neuseeländer. »Wir treffen uns bei der Treppe.«
Karl trug wie Ronald Jeans und einen dicken Pullover. Sein Gesicht umrahmte – nach Tagen ohne Rasur – wieder einmal ein dunkler Bart, der ihm das Aussehen eines Südländers verlieh. »Ist Malcolm wach?«, fragte er.
Ronald zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Und ich werde mich hüten, ihn zu wecken. Seine Laune von gestern reicht mir noch für heute.«
»Geht mir ebenso. Es scheint, als sei ihm das ganze Projekt zuwider.« Karl schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich frage mich nur, warum er dann zugesagt hat.«
»Ihr habt ihn seinerzeit vielleicht zu sehr genötigt«, grummelte Ronald. »Aber egal! Wenn er so weitermacht, fliegt er. Der vermiest ja nicht nur uns die Laune, sondern vergrault mir auch die Eingeborenen, wenn wir erst mal ein paar eingefangen haben, und das kann alles zum Erliegen bringen.«
Karl nickte zustimmend. Blöde Situation! Er war froh, nicht in Ronalds Haut zu stecken.
Der Regisseur war mit seinen Gedanken schon wieder beim Film. »Frage von gestern«, nahm er den Gesprächsfaden auf. »Was denkst du? Wird der Lord seine Zustimmung geben?«
»Sir Edward machte immerhin einen aufgeschlossenen Eindruck«, erinnerte Karl. »Vielleicht solltest du ihn als Berater für gewisse Dinge in die Dreharbeiten einbinden. Sein Wissen über Land und Leute ist groß. Hab' ich ja gestern schon gesagt.«
Ronald nickte nachdenklich. »Ich brauche auch dringend einen Sprachmittler«, gestand er. »Ich verstehe ja hier nur ›Bahnhof‹.«
Karl gab seufzend zu: »Da geht's dir wie mir. Ich dachte, ich käme mit Englisch durch.«
Tourismus hin oder her: Im Süden Italiens bestand eine unausgesprochene Abneigung in Bezug auf die englische Sprache. Wenn es nicht anders ging, sprach man lieber ein paar Brocken Deutsch, eine Hommage an die zahlreichen betuchten Gäste, die alljährlich in Scharen aus Germany einfielen. Gelegentlich hörte man auch einige französische Ausdrücke, ein Mitbringsel der vielen – teils illegalen – Zuwanderer aus den nordafrikanischen Staaten.
Die beiden Männer setzten sich im Frühstücksraum an den ihnen zugewiesenen Tisch und waren erfreut, dass der Kellner Englisch verstand. Wie überall in den großen Hotels üblich, gab es auch hier ein reichhaltiges Frühstücksbuffet.
Von Malcolm war weit und breit nichts zu sehen.
Durch die großen Panoramafenster des Saales blickte man auf das bewegte Meer hinaus – auf beeindruckende Wellen und zischende Gischt. Das Wasser sah grau und wenig einladend aus, keinesfalls blau wie auf den Postkarten. Die Zweige der immergrünen Gewächse vor dem Hotel schwankten und bogen sich im heftigen Wind.
»Tolles Wetter«, bemerkte Ronald sarkastisch. »Ich dachte, in Italien gäbe es das ganze Jahr über nur Sonne.«
Außer ihnen saßen nur noch drei ältere Ehepaare im Saal. Ende Jänner war nicht wirklich eine Reisezeit. Zwar lockten die nahen Inseln Ischia und Capri mit günstigen Angeboten, ebenso die Costa Amalfitana, aber hier – direkt in Neapel – gab es zu dieser Jahreszeit nicht viel zu sehen.
»Ich denke, wir erkunden heute mal ein wenig die Gegend«, schlug der Regisseur vor. »Das kann man ja auch bei schlechtem Wetter machen. Fangen wir am besten mit dem Zentrum Neapels an.«
»Fahren wir mit dem Taxi?«, wollte Karl wissen. »Soweit ich mich an die gestrige Fahrt zu Sir Edward erinnere, war das ziemlich teuer. Aber ›per pedes‹ wird es wohl ein bisschen zu tagesfüllend werden.«
»Ich dachte eher daran, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen«, erklärte Ronald. »Dann sehen wir mehr von Land und Leuten.«
»Gute Idee! Ich habe gleich an der Straße gestern eine Tafel bemerkt; sah sehr nach einem Busfahrplan aus«, erinnerte sich Karl. Vor dem Hotel gab es tatsächlich eine fermata, eine Haltestelle des Linienbusses.
Graham verdrückte mit Genuss ein Croissant. »Wir brauchen unbedingt einen Stadtplan. Wer weiß, wo wir sonst landen.« Die Mutmaßungen darüber ließen gelöste Heiterkeit aufkommen.
In diese Frühstückunterhaltung platzte Malcolm wie ein Gewitter in ein sommerliches Picknick. Während Karl mit seinem Seeräuberbart ansprechend aussah, konnte man das vom unrasierten Gesicht Mortimers nicht behaupten. Er wirkte unausgeschlafen und gereizt. Mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck ließ er sich auf den freien Stuhl fallen. »Geht's euch gut ohne mich? Es ist zum Kotzen: Im Zimmer ist es kalt und das Essen, das ich mir gestern Abend bestellte, war ein Albtraum. Also hier werde ich nicht alt. Übrigens, Ronald, ich habe heute mit meiner Frau telefoniert. Zu Hause erwartet mich ein tolles und vor allem finanziell ansprechendes Angebot für ein Filmengagement, das ich nicht ausschlagen möchte. Ich bin dann auch näher bei meiner Familie und muss mich nicht hier mit den ›Spaghetti-Fressern‹ herumärgern. Etwas Bindendes in Bezug auf dein Projekt habe ich nicht unterschrieben, also dürfte es kein Problem sein, mich aus deinen Plänen zu streichen. Mein Flugzeug geht morgen Abend.« Als Ronald etwas entgegnen wollte, winkte Malcolm ab. »Nein, gib dir keine Mühe! Du kannst mich nicht überreden zu bleiben. Mein Entschluss steht fest.«
»Oh, ich wollte eigentlich sagen, dass deine Entscheidung in Ordnung ist. Guten Flug!« Der Ton, in dem Regisseur dies sagte, klang lässig und keineswegs, als sei soeben einer seiner Hauptdarsteller abgesprungen.
Karl verschluckte sich fast an seinem panini, als er in das verblüffte Gesicht Mortimers blickte.
Mit dieser Antwort hatte Malcolm nicht gerechnet. Mindestens ein intensives Flehen, er möge doch bleiben, und vor allem das Angebot einer Aufbesserung der Gage hatte er erwartet, nicht aber, dass Graham ruhig sein Croissant futterte und ihn quasi zwischen zwei Bissen völlig emotionslos verabschiedete.
Es gelang Malcolm nicht, seine maßlose Enttäuschung zu verbergen. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«, murrte er.
»Hmmmh!« Ronald deutete auf seinen vollen Mund. Als er den Bissen hinuntergeschluckt hatte, tupfte er sich mit der Serviette die Lippen ab und versicherte: »Ach, es war mir doch klar, dass ein Star wie du nicht im Ernst in dem kleinen Film eines noch fast unbekannten Regisseurs mitwirken würde. Ich war eher überrascht, als du damals zusagtest. Mach dir also keine Gedanken. Es ist völlig in Ordnung, dass du das lukrativere Angebot wählst.« Er griff er nach der Kaffeetasse und trank den Rest aus.
»Können wir?«, fragte er dann in Karls Richtung, Mortimers Anwesenheit ignorierend.
Malcolms Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus. War er im falschen Film? »Wohin geht ihr denn?«, fragte er.
Karl antwortete. »Wir wollen nur ein bisschen durch Neapel laufen. Ist nichts für dich, da wir ja nach Schauplätzen für einzelne Filmszenen Ausschau halten. Genieße nur in Ruhe dein Frühstück. Es ist wirklich ausgesprochen gut. Außerdem – das Wetter ist ja nicht besonders einladend und solche Tage werden wir hier noch einige haben.«
Die beiden Männer erhoben sich mit einer Geste des Abschiednehmens und Malcolm blieb allein am Tisch zurück. Der ›große Star‹ stierte in seine noch leere Tasse und begriff allmählich, dass nicht er derjenige war, der die Rolle abgelehnt hatte, sondern dass er soeben – sage und schreibe – gefeuert worden war. Diese Tatsache nagte an seinem Ego. So schnell abserviert zu werden, konnte nur bedeuten, dass Ronald bereits Ersatz für ihn gefunden hatte. Aber wen? Das würde er wohl frühestens aus dem Internet oder den Programmheften der Kinos erfahren, vorausgesetzt, das Projekt kam überhaupt auf die Beine. »Wird es nie und nimmer, schwachsinniges Thema, idiotisches Drehbuch«, murmelte er und stand schließlich auf. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.
Sie standen an der fermata und warteten auf den Bus.
Ronald war bester Laune. Malcolms selbstherrliche Absage ersparte ihm die mühevolle Erklärung, warum dieser sich nicht für die Rolle des Staatsanwalts in seinem Film eignete, verbunden mit der Bitte, auf die Rolle zu verzichten. Nein, er hatte noch keinen Schimmer, wen er nun engagieren sollte, aber es würde ihm schon etwas einfallen.
In seine Gedanken hinein fragte Karl: »Waren wir nicht doch zu unfreundlich?« Allerdings grinste er bei dieser Frage. Besser hätte Graham Mortimers ›Ausladung‹ gar nicht hinkriegen können.
Ronald wiederholte: »Unfreundlich? Findest du? Na ja, vielleicht … aber jedenfalls passend zu Malcolms Stil.« Und er überlegte laut weiter: »Jetzt muss ich nur noch einen finden, der die Rolle des Staatsanwalts übernehmen kann. Wir brauchen einen Darsteller, dem man Gerechtigkeitssinn abkauft, sobald er den Schauplatz betritt, einen, der Courage und Selbstdisziplin besitzt. Vielleicht frage ich Sir Edward?« Die Vorstellung, den alten Lord in der Rolle von Recht und Gesetz zu sehen, war einerseits gar nicht so abwegig, anderseits löste sie Heiterkeit beim Regisseur aus.
Karl konnte sich ein Lachen nicht verbeißen. Doch er hatte eine Idee. »Ich könnte mir da einen vorstellen. Aber ich weiß nicht, vielleicht hat mein Freund im Moment ein anderes Angebot.«
»Mensch, wer ist das? Ich rufe ihn sofort an.« Ronald war schnell zu begeistern, obwohl er noch nicht einmal wusste, von wem die Rede war.
»Zu Victor würde diese Rolle gut passen«, dachte Karl weiterhin laut nach.
»Victor, wer?« Ronald gelang es nicht sofort, diesen Vornamen mit einem Schauspieler in Verbindung bringen.
»Victor Anderson, du weißt schon.« Karl begann die Filme aufzuzählen, in denen sein Freund mitgewirkt hatte, und sah sich schon mit ihm in einer gemütlichen Bar am Meer sitzen und ein Bier trinken.
»Ja, ja, ja, ich weiß es wieder«, wurde er von Ronald ungeduldig unterbrochen. »Und wo erreiche ich Victor?«
»Krieg' ich Vermittlerprovision?«, spottete Karl. »Ich hab' natürlich seine Nummer. Ich rufe auch an und frage, ob er interessiert ist. Wenn, dann wird er sich melden.«
»Ja, doch! Aber mach schon!«
Karl deutete auf die Uhr. »Bestimmt nicht jetzt. Ich würde Victor zu dieser Stunde infolge der Zeitverschiebung höchstens wecken.«
Damit musste Ronald sich wohl oder übel zufriedengeben.
»Wann kommt denn dieser verdammte Bus endlich?«, knurrte er missmutig.
Keiner der beiden konnte auf dem vergilbten Fahrplan etwas Lesbares erkennen. Die Hinweistafel blieb ihnen schon deshalb ein Rätsel, weil keiner eine Ahnung hatte, welche Tage der Woche mit den italienischen Bezeichnungen gemeint waren. Wie wenig Relevanz Fahrpläne in Italien an sich besaßen, wussten sie ebenfalls – noch – nicht. Die waren eher eine Empfehlung, ähnlich wie die Verkehrsregeln. Und dass die Busse dort auch hielten, wo sie sollten, ließ sich mit einem Roulettespiel vergleichen. Karl und Ronald hatten Glück. Ein blauweißer Linienbus steuerte schließlich auf die fermata zu.
Eine füllige mamma in mittleren Jahren, die Karl schon an der Haltestelle mit verklärtem Blick verschlungen hatte, erwies sich nun als äußerst hilfreich: Sie bewerkstelligte für die Männer den Kauf der Fahrkarten. Das war gar nicht so einfach. Die biglietti hätten sich die beiden nämlich schon vorher besorgen sollen. Doch die Neapolitanerin überfiel den Busfahrer mit einem von wilden Gesten begleiteten, schier endlosen Redeschwall, bis ihm nichts anderes übrigblieb, als die zwei Euro einzustecken und die Fahrt als bezahlt zu betrachten. »Sempre questi touristi!«, stöhnte er kopfschüttelnd.
Die Männer verstanden nur ›Touristen‹ und erkannten am Tonfall, dass dies nicht als Kompliment gemeint war.
Sitzplätze gab es im Bus keine, nur Halteschlaufen. Karl ließ seinen Charme spielen und hielt ihrer gemeinsamen Gönnerin die Einkaufstasche, bis sie einige Stationen weiter ausstieg. »Ciao, bello mio«, flüsterte sie Landmann ins Ohr, quetschte ihren Busen etwas näher als nötig an seiner Brust vorbei und bedachte ihn mit einem feurigen Augenaufschlag, ehe sie sich durch die Bustür zwängte.
Ronald grinste von einem Ohr zum anderen. »Wenn das so weitergeht, besitzt du am Ende der Dreharbeiten einen Harem. Wirklich reizend, die Dame. Sie kann sicher gut kochen, ihrem Aussehen nach zu urteilen.«
Erst ein nicht ernst gemeinter Stoß in die Rippen ließ den Regisseur verstummen, aber das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht.
Nach dem Aussteigen – die Haltestelle war von den Männern willkürlich gewählt – erstanden sie an einem schmuddelig wirkenden Kiosk einen Stadtplan von Neapel, dessen Aktualität ihnen sehr fragwürdig erschien. Sie versuchten erst einmal, ihren Standort zu lokalisieren. Als ihnen das endlich gelungen war, bewegten sie sich weiter, in ständigem Kampf mit dem Wind. Der pfiff durch die Gassen und wirbelte Kleinmüll durch die Luft. Ronald notierte sich Einzelheiten, die ihm bemerkenswert erschienen oder fertigte kleine Skizzen an. Karl gab acht, dass der in seine Aufzeichnungen vertiefte Regisseur nicht fortwährend gegen Passanten stieß.
Irgendwann erreichten sie schließlich die Galleria Umberto