Im Bann der Quelle - Karin Spieker - E-Book

Im Bann der Quelle E-Book

Karin Spieker

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Beschreibung

Die magische Quelle sorgt dafür, dass Luise und ihre Freunde alles haben können, was sie sich wünschen. Aber dafür zahlen sie einen hohen Preis: Der Rat von Südental regelt das Leben aller Dorfbewohner. Freundschaften außerhalb Südentals sind streng verboten. Und niemand darf Südental den Rücken kehren. Mysteriöse Todesfälle ereignen sich, wann immer jemand die Regeln der Quelle missachtet. Luise passt sich an - bis ein Neuer an ihre Schule kommt: Leander. Versehentlich liest sie seine Gedanken und auf einmal schlägt ihr Herz Purzelbäume. Sie muss sich entscheiden: zwischen dem Leben, das sie kennt, und ihrer großen Liebe... Luxus oder Freiheit – was würdest du wählen? (aktualisierte und überarbeitete Neuauflage des Romans "Das Geheimnis der Quelle" von Karin Marold)

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Im Bann der Quelle

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Im Bann der Quelle

Karin Spieker

© 2020 Karin Spieker

1.

„Die Zellen, aus denen die haploiden Geschlechtszellen entstehen, sind diploid. Deshalb muss bei der Bildung der Geschlechtszellen die Chromosomenzahl auf die Hälfte reduziert werden. Der sich dabei abspielende Vorgang nennt sich Meiose“, leierte Frau Schulte herunter. Ihr Monolog dauerte jetzt schon zehn Minuten. Und ich war davon überzeugt, dass gerade niemand irgendetwas lernte.

Unmotiviert informierte sie uns darüber, naja, vielmehr versuchte sie es, wie aus einem Spermium und einer Eizelle die Zygote, also die befruchtete Eizelle, entsteht. die ganze Klasse 10a döste seit Beginn der Stunde vor sich hin. Eigentlich fand ich das Thema gar nicht so uninteressant, doch leider war unsere Biolehrerin nicht gerade das, was man eine Lehrerin aus Leidenschaft nennt … Sina hatte schon öfter aus purer Langeweile in Frau Schultes Hirn herumgestöbert. Sie behauptete, dass Frau Schultes Gedanken in etwa die gleichen waren wie die unserer Mitschüler, die Gedanken männlicher Pubertierender selbstverständlich ausgenommen. Unsere Lehrerin konzentrierte sich selten auf den Stoff. Sie interessierte sich kaum für Biologie, sondern beschäftigte sich lieber mit der Uhrzeit: Noch dreißig Minuten, dann ist die Stunde um, noch fünfzehn Minuten, dann ist die Stunde rum, nur noch zwei Stunden, dann darf ich hier raus … Sina fand das total lustig! Mich überraschten Sinas Erkenntnisse wenig. Auch ohne dass ich in Frau Schultes Gedanken stieg, spürte ich ihre unendliche Langeweile. Sina neben mir seufzte tief. Seit geraumer Zeit rahmte sie ihre Heftseiten mit den in Blockbuchstaben gemalten Worten OH ÖDNIS OH ein. Drei Seiten hatte sie bereits auf diese Weise verziert. Sie musste vergessen haben, dass am Ende des Schuljahres die Biohefte eingesammelt werden würden. Oder es war ihr egal. Wahrscheinlich Letzteres. Im Gegensatz zu mir versuchte Sina nicht einmal, sich auf den Stoff zu konzentrieren. Ihr Motto war von jeher: Warum anstrengen, wenn man auch entspannt durchs Leben kommt? Seit bei ihr die Gabe erwacht war, ignorierte sie unsere Lehrer völlig und schrieb bei schriftlichen Tests einfach die Gedanken der größten Streber mit. Mir war das zu langweilig. Ich musste ja sowieso im Unterricht herumsitzen – warum dann nicht versuchen, etwas mitzunehmen? Auch für jemanden, der die Gabe hatte, lohnte es sich schließlich Wissen zu erwerben. Vielleicht war es für uns Begnadete sogar noch wichtiger, klug und vernünftig zu handeln, als für andere. Schließlich verlieh die Gabe uns Macht und die galt es überlegt zu nutzen, das schärften uns die Erwachsenen immer wieder ein. Leider sah Sina das anders. Spaß schlug für sie grundsätzlich vernünftige Argumente, besonders wenn es um die Gabe ging. Manchmal dachte ich, dass wir genau deswegen schon so lange Freundinnen waren: Sina zog mich immer wieder ein kleines Stückchen in die Wolken und ich zog sie immer wieder zurück auf den Boden. Wir lebten in einer Art Symbiose, wenn auch nicht immer in einer harmonischen. Jetzt warf sie ihren Bleistift beiseite und stöhnte leise. Dann stupste sie mich an, wies mit den Augen in Richtung Sofie und kniff die Stirn ganz kurz konzentriert zusammen. Sofie bekam einen glasigen Blick, den Bruchteil einer Sekunde nur, und wenig später bohrte sie ihren Zeigefinger tief in die Nase. Im nächsten Moment zog sie ihn wieder heraus, das Gesicht voll von Abscheu und Erschrecken. Dann lief sie dunkelrot an und kramte hektisch in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Hinter Sofie wurde gekichert und getuschelt und Sina grinste in sich hinein. Eins musste ich Sina lassen: Sie war verdammt gut, dafür, dass sie wie ich ein Neuling in der Kunst des Gedankenlenkens und –lesens war. Sie hatte ihre Gabe erst seit rund neun Monaten, ich seit sieben, aber Sina lenkte Gedanken bereits schnell, präzise und über kleinere Entfernungen hinweg. Ich hingegen musste meine Opfer zumeist noch anfassen, außerdem sah man mir viel stärker an, wenn ich die Gabe benutzte. Manchmal tränten meine Augen vor Konzentration so stark, dass ich aussah, als würde ich weinen. Natürlich war Sina einfach besser im Training als ich. Sie setzte ihre Fähigkeiten ständig ein und erleichterte sich hemmungslos den Alltag, obwohl wir alle vom Rat angewiesen waren, unsere Künste höchst dosiert und äußerst diskret zu verwenden. Und einfach so, aus Spaß, durften wir Jugendlichen die Gabe schon gleich gar nicht einsetzen – viel zu groß war die Gefahr, dass wir alle sonst irgendwann entdeckt würden! Sina lächelte immer noch und schielte von Zeit zu Zeit zu Sofie hinüber, begeistert von dem kleinen Unheil, das sie angerichtet hatte. Ich war ein bisschen sauer. Warum tat Sina das nur immer wieder? Ja, natürlich war Sofie eine elende Zicke und furchtbar eingebildet, weil sie die unangefochtene Klassenschönheit war. Und ja, Sofie dachte wirklich mieses Zeug über Sina, über mich und über andere Mädchen in unserer Klasse. Aber trotzdem verhielt Sina sich falsch! Ihr Hobby, aus Langweile Schabernack mit anderen Menschen zu treiben, ohne dass diese die kleinste Chance gehabt hätten, sich dagegen zu wehren, das war die dunkle Seite der Gabe, fand ich. Sina und ich stritten nicht selten über dieses Thema. Vorne am Pult gähnte Frau Schulte, gelangweilt von ihren eigenen Ausführungen. Ich schielte auf meine Uhr: In zwanzig Minuten konnte ich nach Hause fahren. Draußen zeigte sich ein herrlich blitzblauer Himmel – ich konnte es kaum erwarten, bis ich mit einem Buch in unserem Garten am Flüsschen sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen konnte. Heute war Mittwoch, das bedeutete, dass auch meine Mutter zu Hause sein würde. Prima, dann könnten wir zusammen essen. Hoffentlich hatte unsere Haushälterin Frau Hansmeier was Leckeres gekocht! Ein weiterer Blick auf die Uhr. Die Sekunden verstrichen quälend langsam. Wieder stupste Sina mich triumphierenden Blickes an. Diesmal ging ihr Blick nach vorn, Richtung Pult. Sie würde doch nicht schon wieder … Warnend schlug ich gegen ihren Oberschenkel. „Sina!“, zischte ich. Zu spät. Sie würde. Wieder kniff sie kurz und konzentriert ihre Stirn zusammen und Frau Schultes Blick verschleierte sich für einen Moment. Jetzt war ich wirklich wütend. Diesen Zirkus hatte Sina bestimmt schon zehn Mal abgezogen! Irgendwann würde es jemandem auffallen. „Entschuldigt, Kinder“, Frau Schulte fasste sich deutlich verwirrt an den Bauch, „Mir ist nicht gut … glaube ich. Ich – das ist eure letzte Stunde heute, oder? Macht es euch etwas aus, wenn wir früher Schluss machen? Ich glaube … ich sollte mich hinlegen. Ja. Mir ist entschieden so, als sollte ich mich hinlegen!“ Ich sah zu Sina hinüber, reiner Triumph malte sich in ihrer Miene. Wieder schwankte ich zwischen Bewunderung – sie war wirklich gut! – und Ärger über Sinas Leichtfertigkeit hin und her. Frau Schulte verließ tatsächlich den Raum und in der Klasse erhob sich begeistertes Gemurmel. „Los!“ Sina zupfte mich am Ärmel. „Beeil dich, vielleicht kriegen wir den früheren Bus noch!“ Ärgerlich wischte ich ihren Arm weg und packte meine Sachen in die Umhängetasche. „Ja doch, ich komme …“ Sina ging schon vor, während ich mich noch von ein paar Mitschülerinnen verabschiedete. Als ich im Rausgehen hörte, wie sich Alina und Kim für einen Kinoabend verabredeten, konnte ich, wie so oft, einen leisen Anflug von Neid nicht unterdrücken. Ich mochte meine Mitschülerinnen und sie mochten mich – wenigstens ab und zu wäre ich gern bei ihren Aktionen dabei gewesen! Seufzend machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.  

2.

Wie immer gab es auf dem Heimweg nichts zu sehen. Ackerfläche folgte auf Ackerfläche – man konnte jederzeit die Augen schließen und verpasste garantiert nichts. Der Bus war angenehm leer. Die Schüler aus den umliegenden Dörfern würden erst die nachfolgenden Busse bevölkern. Um uns herum saßen nur ein paar alte Leute und eine Mutter mit Kinderwagen und Baby. Sina und ich lümmelten allein auf der Rückbank. Wir waren die einzigen Südentaler in unserer Klasse und hatten auf dem Schulweg deshalb selten Gesellschaft. Es gab wenig Kinder und Jugendliche bei uns im Dorf. Auf unserer Schule, dem Städtischen Gymnasium Papenbrück, waren außer Sina und mir nur noch sieben weitere Südentaler Jungs und Mädchen. Eine weitere Handvoll Jugendlicher bevölkerte die Haupt- und Realschule in Papenbrück und das war’s. Im Moment gab es in Südental nur dreiundzwanzig Jugendliche, Sina und mich eingerechnet. Sehr übersichtlich. Aber so ist das eben, wenn man in einem kleinen Dorf lebt, in dem seit rund fünfhundert Jahren der Zuzug von Fremden vermieden wird … Gut, dass ich wenigstens eine Freundin in meinem Alter hatte, wie meine Mutter nicht müde wurde zu erwähnen. Sina dachte zwar über viele Dinge anders als ich, aber ich kannte sie seit meiner Geburt und wir fühlten uns oft wie Schwestern. Sie verstand meine Sorgen und Nöte besser, als eine nichtbegnadete Freundin es je gekonnt hätte. Wenn sie doch nur – manchmal - eine Spur weniger Sina wäre …. Ein bisschen verantwortungsvoller, ein klein wenig sozialer … Sina umgekehrt, das wusste ich, fand mich manchmal zu besonnen, zu vernünftig. Dann nannte sie mich „Heilige Luise“ oder gleich „Mutti“. So wie jetzt. „Hör auf zu schmollen, Mutti!“ Sina stieß mir sachte ihren Ellenbogen in die Seit. „Freu dich doch lieber! Jetzt, wo wir den früheren Bus erwischt haben, sind wir viel eher zu Hause!“ „Schon, aber …“, ich senkte meine Stimme zu einem Wispern, „nötig gewesen wäre das nicht! In zwanzig Minuten hätte es sowieso geklingelt und Frau Schulte wird Ärger bekommen, wenn du so etwas immer wieder abziehst!“ „Ach, tu doch nicht so!“, höhnte Sina leise und verdrehte die Augen gen Himmel, „du bist doch auch vor Langeweile gestorben!“ Ich sah mich im Bus um. Konnte die weißhaarige Oma, die zwei Reihen vor uns saß, uns womöglich hören? Sollte ich schnell mal nachsehen, worum sich ihre Gedanken drehten? Nein, Luise, Blödsinn, verwende die Gabe sparsam! Außerdem – wem machte ich etwas vor? Auf diese Entfernung würde ich die Gedanken der Frau sowieso nicht lesen können. Da war ich Sina weit unterlegen. „Wir reden gleich weiter!“, bestimmte ich leise, „auf dem Weg.“ Sina verdrehte noch mal die Augen, nickte genervt und steckte die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren. Leise ertönte ein scheppernder Beat. Ich starrte in die vorbeiziehende Landschaft. Wieder einmal wünschte ich mir sehnsüchtig, es gäbe die Gabe nicht und Südental wäre ein Dorf wie jedes andere. In Momenten wie diesem, wenn wieder einmal ein wichtiges Gespräch auf später verschoben werden musste, fühlte ich mich schmerzvoll daran erinnert, wie allein wir waren, wir Begnadeten. Die Gabe machte uns stark, das schon, aber sie trennte uns auch von allen anderen. Wie ein Felsblock hing mir das kollektive Geheimnis manchmal um den Hals. Oft stellte ich mir vor, wie es wäre, normal zu sein. Ich könnte Freunde haben, viele Freunde, auf Partys gehen – richtige Partys außerhalb des Dorfes mit vielen fröhlichen Jugendlichen. Ich könnte in einer Band singen, vielleicht sogar reisen. Nach Spanien, in die Türkei, nach Thailand, Costa Rica, Frankreich … Es gab so viel zu sehen auf der Welt! Aber nein. Nichts davon war möglich und schlimmer noch: Nichts davon würde je möglich sein, befürchtete ich. Der Rat wollte es nicht. So einfach war das. Sobald ein Südentaler Kind das kollektive Geheimnis kannte, sobald die Gabe bei ihm erwacht war, sollte es in der Dorfgemeinschaft leben. Und nur dort. Manchmal fühlte ich mich wie eine Gefangene!

Der Bus hielt an der Bundesstraße. Von dort aus standen uns noch zwanzig Minuten Fußmarsch bevor. Selbstverständlich waren Sina und ich die einzigen, die ausstiegen. Unser Dorf - genaugenommen war Südental mit seinen paar hundert Einwohnern wohl eher ein Dörfchen – liegt in einer Sackgasse. Die Landstraße, die nach Südental hinein führte, endete in einer Wendeschleife um unseren Dorfplatz, für Busse lohnte sich die Fahrt dorthin nicht. Wenn das Wetter schlecht war und Sina keine Lust hatte zu laufen, hielt sie oft Autofahrer an, die uns unter Sinas Einfluss schnurstracks nach Südental kutschierten und sich hinterher, wenn sie zu ihren eigenen Terminen zu spät kamen, wohl wegen ihres Anfalls von Wohltätigkeit am Kopf kratzten. Meistens aber liefen wir, denn wir liefen gern. So auch heute: Es war ein wunderschöner Sommertag – die Luft war nicht zu heiß, ein laues Lüftchen wehte und es roch nach frisch gemähter Wiese. Herrlich! Wir überquerten die Bundesstraße und auf einmal hatte ich überhaupt keine Lust mehr, mich mit Sina zu streiten. Sina wohl auch nicht. „Bevor du jetzt wieder predigst, Lu – gib zu, dass das genial war, eben in der Schule! Falsch, ja, wegen mir, aber genial! Wahnsinn! Ich war beide Male so schnell so tief in ihren Köpfen – ich hätte alles mit denen machen können!“ Sinas Augen blitzten dunkel vor Begeisterung über sich selbst. „Hast du ja auch!“ Jetzt hatte ich doch wieder Lust, mich zu streiten. „Frau Schulte fragt sich bestimmt schon, ob sie verrückt geworden ist, weil ihr Unwohlsein immer in dem Moment vorbei ist, in dem ihre Klasse den Raum verlassen hat. Und Sofie wird noch tagelang grübeln, wie es passieren konnte, dass sie im Unterricht vor der gesamten Klassen in der Nase gebohrt hat. Wirklich, Sina, hast du denn gar kein Mitgefühl? Warum springst du nur derart mit allen um?“ „Ganz einfach: Weil ich es kann!“ Sina grinste herausfordernd und mir lief ein kleiner Schauer den Rücken hinunter. Sina war nicht boshaft, aber ihre Zügellosigkeit machte mir manchmal ein bisschen Angst. „Wer weiß, was du so anstellen würdest, Lu, wenn du besser mit der Gabe umgehen könntest! Du bist doch nur neidisch!“ „Nein. Ehrlich nicht, Sina.“ Ich blieb stehen und sah sie eindringlich an. „Du bist zwar viel besser als ich, das wissen wir beide, aber glaub mir: Ich bin nicht allzu scharf auf die Gabe. Und ich möchte sie wirklich nicht ohne Grund gegen andere einsetzen.“ Sina streckte mir die Zunge raus. „Oh heilige Luise!“, sagte sie fröhlich. „Dann lass es halt!“ Wir kabbelten uns eine Weile. Sina behauptete, dass die meisten Unbegnadeten sowieso nur Müll im Kopf hätten und es deshalb verdienten, Zielscheiben unserer Manipulation zu werden. Speziell die Mädchen in unserer Klasse. Lang und breit setzte Sina mir auseinander, wer in den letzten Tagen schlecht über sie gedacht hatte. „Du musst damit aufhören, den Leuten ihre Gedanken vorzuwerfen!“, sagte ich Sina zum hundertsten Mal. „Glaubst du denn ernsthaft, dass deine Südentaler Freunde nie auch nur einen einzigen gemeinen Gedanken über dich denken? Und was ist mit dir selbst? Hast du ausschließlich nette Gedanken?“ „Wen interessiert’s? Meine Gedanken kann ja keiner lesen und die von unseren Leuten kann ich auch nicht lesen! Was ich nicht weiß, macht mich auch nicht heiß! Die Gedanken, die ich lesen kann, stören mich!“ „Du bist doch selbst schuld, dass du so viel Geläster über dich liest! Hör doch endlich mal auf damit, dich ständig in alle möglichen Köpfe zu klicken!“ Im Gegensatz zu Sina tat ich alles, damit ich nicht aus Versehen in fremden Köpfen landete. Jeder hatte ein Recht auf seine düsteren Gedanken, fand ich. Entscheidend war doch, was jemand nach außen trug, was jemand lebte! Ein Gedanke raste so schnell vorbei und oft hinterließ er keine Spuren – wenn man ewig in alle Köpfe einstieg, erwischte man lauter dummes, fieses oder verrücktes Zeug, das niemand je ausgesprochen und das nie irgendeine Konsequenz gehabt hätte. Als ich Sina meinen Standpunkt erklärte, schnaubte sie nur verächtlich. „Trotzdem sind die Gedanken ja gedacht worden, oder nicht? Wenn ich in Sofies Kopf lese, dass sie meine Haare potthässlich findet, dann findet sie sie doch wohl potthässlich!“ „Ja, aber das würdest du doch ohne die Gabe nie erfahren!“, jaulte ich und war schon wieder froh, dass Sina meine Gedanken nicht lesen konnte. Ich fand Sinas Haare im Moment auch sehr gewöhnungsbedürftig. Sie hatte sich drei blonde Strähnen in ihre dunkle Mähne gefärbt und das Ergebnis erinnerte an ein Zebra, um es niedlich auszudrücken. Ehrlich gesagt: Meine erste Assoziation war ein Misthaufen gewesen. Ein letztes Mal versuchte ich, Sina ein wenig Mitgefühl für ihre Opfer zu vermitteln: „Ich stelle mir halt immer vor, ich wäre diejenige, deren Gedanken manipuliert würden, und ich käme dahinter. Ich wäre völlig fertig. Ich würde mich so ausgenutzt fühlen.“ Sina zog verächtlich die Augenbrauen in die Höhe. „Was du dir immer für Gedanken machst … Kommt ja keiner dahinter! Genieß dein Leben und grübel nicht so viel! Das Wetter ist übrigens gigantisch heute! Ich schätze, dass Max heute Abend wieder sein Open-Air-Kino öffnet. Kommst du auch?“ Ich ließ es gut sein. Sina war eben total pro Südental. Ich würde sie nicht bekehren, wahrscheinlich hatte sie in ihrer ganzen Kindheit keinen einzigen dorfkritischen Satz gehört.

Wir wandten uns für den Rest der Strecke Sinas Lieblingsthema Max zu. Max war ein Jahr älter als wir – siebzehn also – und seit einigen Wochen der Nabel von Sinas Welt. Seit er und Hanna offiziell auseinander waren, himmelte Sina ihn unverhohlen an. Meiner Meinung nach genoss er ihre Aufmerksamkeit zwar, hing aber nicht wirklich am Haken. Aber das war nur meine Meinung und ich würde mich hüten, Sina ihre Illusionen zu rauben. Was wusste ich schon! Meine Erfahrung mit Jungs beschränkte sich auf die zwei Tage um Ostern herum, an denen ich mit Paul Händchen gehalten hatte, eine ziemlich alberne Aktion, da weder Paul noch ich auch nur im mindesten ineinander verknallt waren. Die ganze Sache hatte sich eher zufällig bei einem Filmabend ergeben und ich schätzte, wir wollten beide einfach nur endlich zu den „reifen“ Jugendlichen in Südental gehören, die in einer Beziehung lebten. Was soll ich sagen – nachdem wir uns rund achtundvierzig Stunden lang beide in Grund und Boden geschämt hatten, machten wir „Schluss“ und waren einfach wieder gute Freunde. Diese bizarre Episode machte mich sicher nicht zu einer Kapazität in Sachen Liebe! Natürlich hatte ich darüber hinaus bereits ausführlich Erfahrungen aus „dritter Hand“ gesammelt, wenn ich versehentlich in die romantischen oder sexuellen Phantasien Fremder geraten war. So etwas ließ sich leider nicht vermeiden, wenn man in die Köpfe anderer Leute einstieg. Viele Menschen denken praktisch immerzu an Sex. Die Jungs in unserer Klasse beschränkten sich dabei meist auf ausführliche Phantasien über die Brüste ihrer Mitschülerinnen – eher witzig, wenn man dort hineingeriet. In den Gedanken mancher älterer Menschen war ich allerdings schon auf Sexphantasien gestoßen, bei denen ich mir überlegt hatte, ob ich nicht doch lieber ins Kloster gehen sollte. Egal, das alles hatte bislang wenig mit mir und meinen Empfindungen zu tun. Und mit „Liebe“ noch viel weniger. Aber wie gesagt: Was wusste ich schon … Ich ließ Sina reden und machte an den richtigen Stellen zustimmende oder ablehnende Geräusche. Während Sina so plapperte, dachte ich weiter über mein eigenes unzureichendes Liebesleben nach. Ein bisschen beneidete ich sie um ihre Zuneigung zu Max, denn in letzter Zeit fragte ich mich oft, ob ich mich je richtig verlieben würde. Die Dorfregeln verlangten, dass wir Südentaler Mädchen uns mit Südentaler Jungs zusammentaten. Das kollektive Geheimnis ließ sich so am besten wahren, Beziehungen in andere Dörfer wurden nur äußerst selten genehmigt. Wenn ich mir die Südentaler Jungs allerdings so ansah … Nun, ich hoffte einfach, dass ich mit der Zeit für einen von ihnen mehr als freundschaftliches Interesse entwickeln würde.

Ich hatte einen herrlich faulen Nachmittag im Garten hinter mir, als ich mich gegen Abend zu Max aufmachte. Sina hatte richtig vermutet: Auch heute hatte er in sein neues Open-Air-Kino eingeladen. Der wahnwitzig leistungsstarke Beamer war Max’ neuestes Spielzeug, erst vor zwei Wochen hatte er vom Rat die Erlaubnis zur Anschaffung erhalten. Max hatte einen geradezu skandalösen Rabatt im Elektrofachmarkt in Papenbrück erzwungen, indem er den Verkäufer hatte glauben lassen, das Gerät wäre defekt. Am Ende war der arme Mann froh gewesen, dass Max überhaupt noch etwas für das vermeintlich schrottreife Gerät bezahlt hatte. So oder so ähnlich lief es immer ab, wenn wir Südentaler „einkauften“. Im Kleinen fiel das nicht weiter auf. Über ein T-Shirt, das sie wegen eines Stofffehlers reduziert abgegeben hatte, dachte eine Verkäuferin nach Feierabend nicht mehr nach. Oder über ein Netz Äpfel, das sie verschenkt hatte, weil die Äpfel ihr plötzlich schon reichlich angegammelt schienen. So etwas gehörte für jeden, der im Verkauf arbeitete, zum Alltagsgeschäft. Mit Luxusgütern war das allerdings etwas anderes. Ungewöhnliche Rabattierungen blieben hier nie unbemerkt. Größere Anschaffungen wurden deshalb, sofern die Gabe eingesetzt werden sollte, sorgfältig vom Rat geplant. Der Rat bestimmte den Zeitpunkt und den Ort der Gedankenlenkung. Es musste schließlich vermieden werden, dass mehrere Südentaler im gleichen Laden – womöglich mit dem gleichen Verkäufer – kurz nacheinander die gleiche Nummer abzogen. Man musste um jeden Preis verhindern, dass sich ein Verkäufer fragte, warum die größten Rabatte in der Geschichte seines Ladens immer in einem Zustand leichter Verwirrung erteilt wurden und immer an die Südentaler gingen. Aus dem gleichen Grund durften wir unser Gegenüber grundsätzlich nicht zwingen, uns etwas zu schenken. Das hätte jeder Verkäufer schon wenige Minuten nach der Manipulation so seltsam gefunden, dass er noch lange ausführlich über seine Beweggründe gegrübelt hätte. Und grübeln sollten – durften unsere Opfer nicht! In meiner Familie bezahlten wir für die meisten Dinge einfach den vollen Preis. Das hatte den Vorteil, dass wir nicht immer wieder auf Freigaben vom Rat warten mussten. Außerdem hatten wir – wie übrigens fast alle Südentaler – mehr als genug Geld. Meine Eltern hatten sich über die Jahre in Spitzenpositionen befördern lassen und alle ihre Gehaltsverhandlungen waren – oh Wunder, oh Wunder – sehr zu ihren Gunsten ausgefallen. So machten es alle berufstätigen Südentaler. Aber auch in Sachen Beförderungen und Gehaltserhöhungen achtete der Rat darauf, dass verdächtige Häufungen vermieden wurden. Mehr als zwei Südentaler arbeiteten nie im selben Betrieb und der Rat verteilte die Dorfbewohner sorgfältig über diverse Berufe in allen möglichen Branchen, in denen längere Geschäftsreisen nicht nötig waren, damit sich kein Netz aus misstrauischen Kollegen bilden konnte. Natürlich war in der Gegend über die Jahrhunderte dennoch aufgefallen, dass leitende Positionen gerne mit Südentalern besetzt wurden. Dass geheimnisvolle Kräfte daran schuld sein könnten, darauf war allerdings noch keiner gekommen. In den umliegenden Dörfern standen die Südentaler in dem Ruf „sehr fleißig“ und „furchtbar ehrgeizig“ zu sein. Ein guter Witz, oder? Dabei waren wir Südentaler einfach nur besonders manipulativ!

Ganz Südental war auf Unauffälligkeit getrimmt. Unauffällig. Das war ein wichtiges Wort in unserem Dorf. Es gab nicht ein einziges interessantes Gebäude in Südental, nicht eine idyllische Gasse, noch nicht einmal hübsche Vorgärten. Während ich durch die Straßen schlenderte dachte ich nicht zum ersten Mal, dass es kaum ein reizloseres Kaff auf der Welt geben konnte als Südental. Sicher, hinter den grau und beige verputzten Fassaden ging es edel, in vielen Häusern sogar regelrecht luxuriös, zu. Ein Whirlpool und ein beheizter Innenpool gehörten bei uns ebenso zum Standard wie eine High-End-Multimediaausstattung und der eigene Billardtisch. Aber von außen sah man nichts davon. Damit Südental sogar aus der Luft stinknormal wirkte, gab es nur zwei Familien im Dorf, die einen Außenpool betreiben durften. Mehrfachgaragen wurden als Scheunen getarnt – und selbst davon durften nicht beliebig viele gebaut werden. Ganz gewöhnliche Dorffassaden säumten die Straßen. Die Fenster waren wie in jedem anderen Dorf mit billigen Kaufhausgardinen, Kakteen und Porzellanfiguren bestückt. Ein deprimierender Anblick, den nicht einmal die laue, duftende Sommerabendluft und das weiche Licht des Sonnenuntergangs retten konnten. Alles, damit kein Fremder je einen Grund finden würde, sich in Südental aufzuhalten. Südental den Südentalern. Furchtbar fand ich das!

Kurz vor Max’ Haus kam mir Sina entgegen, die sich total herausgeputzt hatte: Sie trug ihre Lieblingsjeans, neue Sandalen und ein hautenges, tief ausgeschnittenes Top, das an mir mit meinen doch ausgeprägt weiblichen Formen verboten ausgesehen hätte, der zierlichen Sina aber super stand. Dass sie geschminkt war, sah sogar ich schon von weitem, außerdem kamen mir ihre langen, dunklen Haare viel lockiger vor als sonst! Ich selbst trug nicht die Spur von Make-up und steckte wie immer in Schlabber-T-Shirt, lockeren Jeans und Stoffturnschuhen. So verpackte ich meine etwas üppigen ein Meter achtzig am liebsten – bequem, lässig und unaufdringlich. Immerhin trug ich meine dicken blonden Wellenhaare offen und hatte sie sogar frisch gebürstet. „Ist es zu viel?“, wollte Sina wissen, kaum dass ich sie erreicht hatte, und drehte sich langsam um die eigene Achse, damit ich sie von allen Seiten begutachten konnte. Spontan fühlte ich mich unsicher. In solchen Situationen wusste ich nie, ob eine freundliche Lüge oder die Wahrheit angebracht war. „Nein, gar nicht, du siehst toll aus!“, behauptete ich. Na, wenigstens der zweite Teil des Satzes entsprach der Wahrheit. Sie sah toll aus, aber jeder würde sofort sehen, dass sie auf Beute aus war. Auf Max, selbstverständlich. Wahrscheinlich hatte sogar er das längst gemerkt. „Sehr gut!“ Sinas Haltung wurde sofort selbstbewusster nach dieser Bestätigung: Busen raus, Hintern rein, Kopf hoch. „Ich hoffe so, dass es heute endlich klappt mit Max. Glaubst du, es klappt endlich?“ „Hm“, sagte ich so unbestimmt wie möglich und lenkte schnell ab, ehe Sina weitere unbequeme Fragen stellte. „Weißt du eigentlich, wer noch alles da ist, heute?“ „Wer soll schon da sein? Bestimmt sind Lukas und Paul da, Hanna ganz sicher, mit der habe ich eben noch telefoniert, Maria kommt auch… Tja - und wir und Max halt.“ „Also weder die Kinder, noch die Großen“, fasste ich zusammen. Lukas, Max’ kleiner Bruder, der seit Neuestem auch überall dabei war, war immerhin schon dreizehn. Insgeheim bedauerte ich, dass Titus nicht dabei sein würde. Er war letzten Monat achtzehn geworden und hing schon länger lieber mit den älteren Südentalern herum. Schade, wirklich. Titus war momentan der einzige im Dorf, der mich ein ganz klein wenig interessierte. So als Mann, meine ich. Naja, vielleicht. „Wurde auch Zeit, dass Maria und Hanna mal wieder dabei sind! Man sieht Hanna gar nicht mehr, die arbeitet nur noch“, beschwerte sich Sina. Hanna war nur ein Jahr älter als wir und hatte vom Rat nicht die Erlaubnis bekommen, nach der Realschule noch ihr Abitur zu machen. Schließlich konnten nicht alle Südentaler Abitur machen und studieren, das wäre zu auffällig. Hanna hatte das zum Glück nicht weiter gestört. Sie war sowieso lieber an der frischen Luft als im Klassenzimmer. Seit den Sommerferien machte sie in Papenbrück eine Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin und war hochzufrieden mit ihrer Berufswahl. Allerdings war sie seitdem abends viel zu kaputt, um sich mit uns zu treffen. „Ich verstehe gar nicht, warum sie die Gabe nicht öfter benutzt!“, maulte Sina weiter. „Sie kann sich doch ohne Probleme vorm Pflastern oder Sandschippen drücken – sie muss doch nur ein klitzekleines bisschen lenken …“ „Vielleicht möchte sie sich ja gar nicht drücken? Vielleicht möchte sie ihren Beruf richtig lernen?“ Irgendwie ging mir Sina heute auf die Nerven.

Die Haushälterin öffnete uns, kaum dass wir auf die Klingel gedrückt hatten. Ich kannte sie noch nicht, was mich wenig überraschte. Personal wurde bei uns im Dorf häufig ausgetauscht. Ab und zu war es in jedem Haus nötig, Angestellte von der Quelle oder von verfänglichen Gesprächen wegzulenken. Nach einiger Zeit bemerkten die Südentaler Haushälterinnen und Köchinnen und Putzfrauen und Gärtner meist, dass sie bei der Arbeit häufig verwirrt waren und Dinge taten, die sie sich nicht erklären konnten. Oder sie begannen sich zu fragen, warum so viele in Südental so unglaublich wohlhabend waren, wenn man hinter die Fassaden blickte. Wenn es soweit war, mussten sie gehen. Wir konnten nicht riskieren, dass sie Verdacht schöpften oder – mindestens genauso schlimm – einen Arzt wegen ihrer Gedächtnislücken konsultierten. Doch in kaum einer Familie wechselten die Haushälterinnen derart häufig wie bei den Schreckenbergs. Das lag vor allem an Max, der es wahnsinnig lustig fand, mit dem Hauspersonal zu „spielen“, wenn ihm langweilig war. Die letzte Hausperle hatte er zuletzt dazu gebracht, sich während ihrer Arbeitszeit ein Wannenbad aus den Sektvorräten seines Vaters zuzubereiten. Max’ Vater hatte getobt, Max war vom Rat scharf verwarnt worden und Sina hatte sich tagelang vor Lachen geschüttelt. Die Neue lächelte uns arglos entgegen und bat uns herein. Nachdem wir uns vorgestellt hatten, wies sie Richtung Hintertür: „Maximilian und Lukas sind im Garten. Das ist ja eine tolle Anlage, die die beiden Jungs da aufgebaut haben!“ Sie sah nett aus mit ihrem Pferdeschwanz, ihrer Blümchenbluse und ihren milden blauen Augen. Wie eine Erzieherin oder Grundschullehrerin, fand ich. Spontan tat mir die arme Frau leid. Max würde auch vor ihr nicht Halt machen, da war ich sicher. Vielleicht passte er ja doch ganz gut zu Sina? Gedankenterrorismus lag schließlich beiden. Sina und ich gingen durch den düsteren Flur zur Hintertür. Max’ und Lukas’ Eltern hatten sich einen Spaß daraus gemacht, den Eingangsbereich besonders furchtbar zu gestalten – sogar ein kleines Hirschgeweih und eine Kuckucksuhr hingen an der schaumbeschichteten, beigefarbenen Tapete. Die mahagonifarbene Garderobe, die voller Jacken hing, sowie das dazu passende mahagonifarbene Telefontischchen hatten sie in einem Möbeldiscounter aufgetrieben. Kein Briefträger würde in diesem Haus Geschmack oder gar Reichtum vermuten. Neben dem Eingangsbereich gab es noch einen weiteren Raum, der im Stil „arme Provinzler“ eingerichtet war: Ein kleines Wohnzimmer mit knautschiger Eckcouch, Schrankwand und Vitrine. Dort hinein führten die Schreckenbergs Ortsfremde, wenn es denn wirklich mal sein musste. Jeder Haushalt in Südental verfügte über ein oder zwei solcher „Gruselkabinette“. Nur nicht auffallen, das war schließlich das Wichtigste. Die Hintertür allerdings war wie das Tor zu einer anderen Welt: Betrat man den Schreckenbergschen Garten, war es vorbei mit der Illusion eines ganz normalen Hauses auf dem Dorf. Durch hohe Mauern von Blicken geschützt, erstreckte sich dort umrahmt von schneeweißem Pflaster einer der beiden tiefblauen Südentaler Außenpools. Der zweite glitzerte – natürlich - in Sinas Garten. Die Schreckenbergs gehörten wie Sinas Familie zu den führenden Familien des Dorfes. Sicher, Sinas Vater war als Bürgermeister so etwas wie der ungekrönte König Südentals, aber Max’ und Lukas’ Vater kam als seine rechte Hand direkt danach und entsprechend luxuriös lebte die Familie. Logisch, wer im Rat saß, konnte sich nehmen, was er wollte.

Mir gefiel der Garten der Schreckenbergs sogar noch besser als der der Bügermeister-Familie: Komfortable Loungemöbel voller Kissen und Polster standen auf der leicht erhöht gebauten Terrasse. Die große Rasenfläche war gleichmäßig satt grün, wie ein gut gepflegter Golfplatz. Umrahmt und aufgelockert wurde die Pracht von üppigen Blütenmeeren. Schattenspendende Bäume standen überall im Garten verteilt. Es roch nach Geld und nach Süden. Die beiden Jungs lungerten auf dem Rasen herum, Max hatte eine Dose mit Bier, Lukas eine mit Cola in der Hand. Sie beobachteten grinsend den Gärtner, der bewaffnet mit einem Staubwedel auf dem Rasen kniete und Halm für Halm mit dem Feudel abstaubte. Sehr witzig! „Max hat ihn voll an den Eiern!“, flüsterte Lukas uns zu, als wir näher kamen und kicherte. „Der macht noch Stunden so weiter, wenn Max das will!“ Sina stieg ausnahmsweise mal nicht auf diesen Blödsinn ein. Sie hatte sich schließlich nicht stundenlang im Bad eingeschlossen, um irgendwelchen Jungenstreichen zuzusehen. Sie rückte ihr Top gerade, wuschelte noch mal ihre Haare durch und ging dann mit wiegenden Hüften hinüber zu Max. Von hinten hielt sie ihm die Augen zu und befahl: „Rate, wer da ist!“ Ihre Stimme klang unnatürlich tief. Oje, sollte das etwa verführerisch wirken? Ich fand es unglaublich peinlich. Aber Max schien nichts zu merken, er drehte sich zu ihr um und lächelte. „Na? Auch wenn’s nicht so aussah: Ich hab euch schon bemerkt“, er senkte die Stimme, „aber wir haben gerade sooo schön gespielt!“ Max hob bedeutungsvoll eine Augenbraue und zwinkerte Sina dann zu. Ich konnte förmlich fühlen, wie sie dahin schmolz. Sogar ich musste zugeben, dass Max attraktiv war. Sein unerschütterliches Selbstbewusstsein, verbunden mit seinem unleugbar guten Surferboy-Aussehen wirkte in seltenen Fällen auch auf die Festigkeit meiner Kniekehlen. Wenn Max einen anlachte, leuchtete er regelrecht und dieses Leuchten erreichte auch sein Gegenüber. Der Gärtner war inzwischen aus seiner Trance erwacht. Hektisch versteckte er seinen Staubwedel in der Rückseite seiner Jeans. Sichtlich verwirrt zupfte er ein paar Halme aus dem Rasen, sprang dann auf und verschwand Richtung Garage. Hahaha. Sehr lustig. Man könnte meinen, dass sie alle irgendwann mal genug hätten von dieser Art von Scherzen. Lukas neben mir seufzte: „Ich will das auch endlich können!“ „Freu dich drauf!“ Sina streckte ihm die Zunge raus. „Heute im Biounterricht war es richtig geil! Ich hab die ganze Klasse vor dem Tod durch Langeweile gerettet. Schade nur, dass das außer Lu keiner weiß …“ „Echt?“ Lukas’ Augen leuchteten auf. „Erzähl mal!“ Natürlich ließ sich Sina nicht lange bitten, die Gelegenheiten, bei denen sie vor Max prahlen konnte, waren rar gesät. Sie warf schwungvoll ihre Haare zurück und straffte die Schultern. „Es war so“, begann sie. „Bio war mal wieder tödlich öde, die Schulte laberte und laberte …“ Zum Glück kamen in diesem Moment Hanna und Maria mit Paul über die Terrasse zu uns geschlendert, sonst hätte ich wahrscheinlich eine Grundsatzdiskussion zum Thema „unnötige Gedankenmanipulation“ vom Zaun gebrochen und verloren und mir wieder einmal den Zorn der ganzen Truppe zugezogen. Ich stand auf und ging den drei Neuankömmlingen entgegen. Paul grüßte nur kurz im Vorbeigehen und trabte dann direkt zu Lukas hinunter, Maria und Hanna hingegen umarmten mich. Sie sahen wie Schwestern aus mit ihren langen, weiten Röcken, ihren Hippie-Shirts und ihren wuscheligen Kurzhaarfrisuren. Kein Wunder, die beiden machten von Kind an alles gemeinsam, das schloss auch Shoppingtouren und Friseurbesuche mit ein. Es war hart für sie gewesen, dass Maria zum Gymnasium, Hanna aber zur Realschule hatte gehen müssen. Die beiden beneideten Sina und mich glühend darum, dass wir gemeinsam eine Klasse besuchen durften. Hanna war ungewöhnlich blass heute, fand ich, obwohl sie doch eigentlich den ganzen Tag in der Sonne arbeitete. Vielleicht war sie krank, selbst ihre großen braunen Augen wirkten stumpfer als sonst. „Alles in Ordnung mit dir?“ Ich legte Hanna besorgt die Hand auf den Arm. „Geht so.“ Hanna schnitt eine Grimasse und Maria blickte warnend zu der kleinen Versammlung unten auf dem Rasen hinüber: Sina schien immer noch in ihren Missetaten vom heutigen Vormittag zu schwelgen und Lukas, Paul und Max hingen ihr an den Lippen. Hanna senkte die Stimme: „Wir haben eben Sarah Feldmann getroffen … Ihr Freund hatte heute einen Autounfall. Ein entgegenkommender LKW-Fahrer hat ihn gerammt, auf gerader Strecke, keiner weiß, warum. Sarahs Freund … er ist tot.“ „Oh Gott“, flüsterte ich. Das erklärte Hannas Miene. „Lächeln“, zischte Maria zwischen zusammengebissenen Zähnen und wies mit den Augen hinunter zu den anderen. Wir mochten Max, Lukas und Sina, wir alle waren Freunde von Kind an. Aber es gab gewisse Dinge, die wir in ihrer Gegenwart nicht besprachen, nicht besprechen durften. Die Beziehungen zum Bürgermeister und zum Rat waren einfach zu eng. Ich zog meine Mundwinkel nach oben und bemühte mich um eine einigermaßen unauffällige Miene, aber innerlich blutete ich. Die arme Sarah! Sie war so glücklich gewesen, vor wenigen Wochen erst. So verliebt! Ein Kollege aus dem Nachbardorf, sie hatte ihn sogar heiraten wollen, das hatte sie stolz nach der letzten Dorfversammlung verkündet. Und nicht nur das: Sie wollte raus aus Südental, mit ihrem Liebsten zu ihren Schwiegereltern ziehen. Meine Eltern hatten sich bereits nach der Versammlung besorgt angesehen und einander versichert, dass das niemals gutgehen könnte. Und richtig: Zwei Tage später verlor Sarah die Gabe, weitere zwei Tage später traf ihre Eltern dasselbe Schicksal. Dann wurde der ganzen Familie im Abstand von wenigen Wochen der Job gekündigt und jetzt – das. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Hanna, Maria und ich sahen uns an, in unseren Blicken lag Angst. Niemand glaubte, dass diese Geschichte Zufall war. Es war bekannt, dass seltsame Dinge mit denen passierten, die Kritik am Dorfleben übten, sich zu stark mit jemandem von außen einließen oder gar planten, Südental den Rücken zu kehren, kurz, mit all jenen, die sich irgendwie gegen die Quelle stellten. Nach einiger Zeit verloren sie die Gabe. Und vielen stieß danach Schlimmes zu. Manche glaubten, dass die Quelle so auf ihre Art dafür sorgte, dass die Südentaler zusammenblieben. Andere hatten den Bürgermeister und seinen Rat in Verdacht, etwas mehr Macht zu besitzen, als sie offen zeigten. Es wurde nie offen darüber gesprochen, aber jeder Südentaler wusste es: Man verriet sein Dorf besser nicht. Hanna, Maria und ich hielten es daher für das Beste, gewisse Themen ohne Sina, Max und Lukas zu besprechen. Wer wusste schon, was zu ihren Eltern durchsickerte und welche Konsequenzen das für uns haben würde? Ich vertraute Sina, aber größer als mein Vertrauen war die Angst vor dem Rat. „Hey!“ Sina hatte ihre Geschichte offenbar endlich beendet, jetzt besann sie sich auf uns. „Kommt ihr, oder was?“ Ich spürte, wie Hanna mir kurz und beruhigend über den Rücken strich. „Schon unterwegs!“, rief sie und wir setzten uns in Bewegung. Keiner von uns musste die anderen darauf hinweisen, dass über Sarahs Schicksal heute Abend kein Wort mehr fallen würde.

Auf dem „Kinoprogramm“ standen heute „Ready Player One“ und „The Visit“. Ich war nicht so wild auf die Filme, Science Fiction und Horror gucke ich mir normalerweise nicht an, aber ich musste zugeben, dass es herrlich war, an einem lauen Sommerabend auf weichen Bodenkissen mit Freunden auf einem duftenden Rasen zu lümmeln und sich berieseln zu lassen. Alle schienen sich wohl zu fühlen. Sina und Max saßen sehr dicht beieinander und sahen sich häufig an, berührten sich aber nicht. Ob sich da doch was entwickelte? Lukas und Paul kicherten lautstark über besonders gruselige Szenen, und Hanna und Maria verfolgten gebannt die Handlung und sahen wieder aus wie immer. Meine Familie. Ich erwischte mich dabei, wie sich wohlige Wärme in mir breitmachen wollte. Erschrocken rief ich mich zur Ordnung. Sarahs Freund hatte einen Unfall gehabt, der bestimmt kein Zufall gewesen war. Vermutlich steckte sogar die Quelle, der wir den heutigen Abend gewissermaßen verdankten, dahinter. Wie konnte ich unter solchen Umständen den Abend genießen? Der Schauer, der mir spontan den Rücken hinunterlief, hatte absolut nichts mit der Filmhandlung zu tun.  

3.

Das Herz unseres Dorfes, der Ort, an dem das ganze Dorf sich regelmäßig versammelte, war die Quellscheune. Kein Uneingeweihter würde hinter der funktionalen, dunkelgrünen Holzfassade der Quellscheune mehr vermuten als eine große, landwirtschaftlich genutzte Lagerhalle. Tatsächlich aber barg die Scheune unser aller Schicksal: Geschützt durch den uralten Quellpavillon und das Quellbecken sprudelte dort seit vielen Jahrhunderten die Gabe aus den Tiefen der Erde. Jeder Südentaler benetzte seinen Kopf jeden Tag mit dem Wasser der Quelle, das täglich angewandt die Gabe des Gedankenlesens und -lenkens verlieh. Die Gabe erwachte zwar erst zu Beginn der Pubertät, trotzdem trug man schon Säuglinge und kleine Kinder zur Quelle, um ihre Persönlichkeit zu schützen. Das Wasser der Quelle, täglich auf ihre Stirn gegossen, sorgte dafür, dass ihre Gedanken von Geburt an unlesbar waren. Natürlich hätte man ihnen auch einfach von dem Geheimnis der Quelle erzählen können, um sie für alle Zeiten unlesbar zu machen, aber man war sich einig, dass das kollektive Geheimnis bei Kindern nicht gut aufgehoben war. Auch ich war meine ganze Kindheit hindurch täglich mit meinen Eltern zur Quelle gegangen, obwohl ich nie so ganz verstanden hatte, warum. „Das Ritual macht dich zu einer Südentalerin“, sagten meine Eltern nur und ich stellte das nie in Frage, zumal alle, wirklich alle, die ich kannte, ebenfalls täglich zur Quelle pilgerten.

Inzwischen ging ich allein oder mit Sina zur Quellscheune. Wir vollzogen das kurze Ritual – Hand in die Quelle tauchen, Wasser schöpfen, Stirn benetzen – frühmorgens, vor der Fahrt zur Schule. Nur donnerstags fiel der morgendliche Abstecher weg, denn alle Jugendlichen, bei denen die Gabe schon erwacht war, mussten sich jeden Donnerstagabend zum Gemeinschaftskreis in der Quellscheune einfinden und das Ritual gemeinsam vollziehen. Danach saßen wir auf den Bänken vor dem Quellpavillon und lernten, unsere Gabe vernünftig, verantwortungsbewusst und vor allem diskret einzusetzen. Es gab keinen festen Lehrer, der Kreis wurde von unterschiedlichen Freiwilligen geleitet, überwiegend von Müttern, die nicht arbeiteten - Sinas Mutter stand oft vor uns, Max’ Mutter ebenfalls. Jede Woche diskutierten wir eine Leitfrage - z. B. „Welche Manipulationen sind genehmigungspflichtig, welche nicht?“ oder „Woran erkenne ich ein leichtes Opfer?“ oder „Wann lohnt sich Gedankenlesen? Wann lohnt es sich nicht?“ Danach tauschten wir persönliche Erfahrungsberichte aus, beratschlagten, was wir hätten anders machen können, wie wir uns verbessern könnten … Das Ganze hätte auch eine Selbsthilfegruppe sein können, lästerte ich manchmal mit Hanna und Maria: „Mein Name ist Luise und ich habe da ein Problem. Ich kann die Gedanken der Metzgerin im Supermarkt nicht quer über die Ladentheke lenken. Ist das normal?“ Ich mochte die Gemeinschaftskreise nicht, weil ich selten etwas zum Thema „persönliche Erfahrungen“ beisteuern konnte. Außerdem gab es jede Woche eine Hausaufgabe und oft genug hatte ich nicht einmal die erledigt. Diese Woche sollten wir z. B. jemanden über eine Distanz von mindestens zehn Metern dazu bringen, seinen Blick auf ein von uns gewünschtes Ziel zu lenken. „Und seid diskret!“, hatte uns Sinas Mutter eingeschärft. „Es geht hier um kleine Manipulationen! Wenn auch nur eins eurer Opfer längere Zeit verwirrt aussieht, habt ihr zu viel getan!“ Die Schwierigkeit war selbstverständlich nicht die Manipulation der Blickrichtung, so etwas war Anfängerniveau. Gerade dann, wenn jemand seinen Blick sowieso gerade schweifen lässt, braucht man fast keinen Druck, um die Pupillen kurz umzulenken. Nein, die Schwierigkeit lag in der Entfernung zur Zielperson! Sich auf eine Distanz von über zehn Metern überhaupt in jemanden zu versenken war ziemlich schwierig – zumindest für mich. Sina sah das selbstverständlich anders, zehn Meter Distanz waren für sie normalerweise ein Kinderspiel. Aber egal, der hohe Schwierigkeitsgrad war nicht der Grund, weshalb ich meine Hausaufgaben noch nicht gemacht hatte, es noch nicht einmal versucht hatte. Nein, der eigentliche Grund war der, dass ich generell einen großen Widerwillen gegen das Gedankenlesen hatte. Und das Lenken von Gedanken empfand ich als nahezu aggressiven Akt.

Gedankenlesen ist beängstigend und merkwürdig: Du konzentrierst dich auf dein Gegenüber, am besten auf die Augen. Du zwingst dein Opfer, sich dir zu öffnen. Du übst Druck aus, immer mehr, immer stärker. Und dann ist es plötzlich, als würde etwas aufplatzen und du versinkst in deinem Gegenüber. Diesen Moment fand ich scheußlich, vielleicht brauchte ich deshalb immer so lange, um ihn herbeizuführen. Es ist, als würde man durch eine Eisschicht schlagartig in kaltes Wasser krachen. Plötzlich ist alles anders, das ganze Fühlen verändert sich. Wenn man drin ist, im fremden Kopf, verliert man sich für kurze Zeit im anderen. Wie eine Lawine brechen die Gedanken und Gefühle des Gegenübers auf einen ein und verschwimmen mit dem eigenen Empfinden. Das kann furchtbar sein, man weiß nie vorher, in was man gerät! Es dauert einige Momente, bis man diese Masse neuer Gedanken geordnet und sich selbst wiedergefunden hat. Und erst dann kann man die Gedanken lesen. Oder eben – was noch mehr Energie und Willenskraft erfordert – lenken, indem man seine eigenen Gedanken in die des anderen hineindrückt.

Ich hatte mich schon oft gefragt, warum ausgerechnet ich so ein Problem mit dem Vorgang hatte. Die anderen liebten Gedankenlesen, Sina und Max behaupteten immer, es mache sie regelrecht high in den Köpfen von Fremden herumzuwühlen. Und ausgerechnet ich, die ich doch alles andere als menschenscheu war, war davon angewidert? Einmal hatte ich mich getraut, mit meiner Mutter über mein „Problem“ zu sprechen. Darüber, dass es mir generell falsch vorkam, die Gabe anzuwenden. Darüber, dass ich mir gemein und gewalttätig vorkam, wenn ich es tat. Darüber, wie unangenehm ich es fand, in anderer Menschen Privatsphäre einzudringen. Meine Mutter hatte mich verwundert angesehen. „Was du dir für Gedanken machst!“, hatte sie gesagt. „Gedankenlesen ist für mich ebenso selbstverständlich wie atmen oder sprechen – es gehört zu meinem Leben. Ich lenke jeden Tag Gedanken, ich merke es nicht mal mehr, es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Wir können nun einmal mehr als andere Menschen, Luise, es ist nur natürlich, dass wir diesen Vorteil auch nutzen. Vielleicht brauchst du einfach mehr Übung? Damit du nicht über jeden einzelnen Vorgang so viel nachdenkst?“ „Vielleicht …“ Ich hatte mir auf die Lippe gebissen. Irgendwie bezweifelte ich, dass ich je genug Übung haben würde. „Die Gabe macht unser Leben herrlich bequem, Luise, und wir sollten dankbar dafür sein. Die Menschen sind netter zu uns Südentalern, weil wir die Gabe besitzen. Sie halten uns die Türen auf, lassen uns jederzeit den Vortritt, entschuldigen sich für alles, machen Komplimente und“, ein breites Lächeln hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet, „lassen uns in Diskussionen jederzeit gewinnen! Sei dankbar, Luise! Du wirst schon noch dahinterkommen!“ Abschließend hatte sie mir eingeschärft, meine Zweifel für mich zu behalten. „Die Gabe bedeutet den Südentalern viel! Unser aller Wohlstand, unser aller Erfolg beruht auf ihr! Es wäre sicher nicht gut für uns, wenn du das öffentlich in Frage stellen würdest!“

Dieses Gespräch lag nun schon einige Wochen zurück und ich war immer noch keinen Schritt weitergekommen. Nein, ich fand es weiterhin nicht richtig, Menschen zu manipulieren. Ich wollte, dass man mir die Tür aufhielt, weil man mich mochte, vielleicht auch, weil ich nett lächelte oder meinetwegen auch einfach, weil die Sonne schien. Aber sicher nicht, weil ich Macht ausübte. Schließlich war ich eine ganze Kindheit lang hervorragend mit meinen Mitmenschen zu Recht gekommen – ganz ohne die Gabe. Ich hatte meine Lehrer und Mitschüler immer gemocht und sie hatten mich gemocht. Ich fand sogar, dass das Leben mit der Gabe komplizierter geworden war. Da Sina im Unterricht ständig in den anderen herumschnüffelte, stieß sie notgedrungen auch auf negative Gedanken über mich und teilte sie mir empört mit. So wusste ich leider, dass einige Jungs in unserer Klasse mich zu dick fanden. Ich wusste, dass Kim mich für eine elende Streberin hielt, weil ich mich ständig meldete und auch noch richtige Antworten gab. Ich wusste, dass Niklas und Finn darüber spekulierten, ob ich noch ungeküsst wäre. Sofie fand meine Kleidung entsetzlich langweilig. Alina beneidete mich um meine fröhliche Ausstrahlung und hoffte, dass sie irgendwann einmal eine Leiche in meinem Keller ausgraben konnte. Und so weiter und so weiter. Lauter nichtige, höchst normale Gedanken, von denen ich nie hätte erfahren sollen.

4.

Es war Donnerstag und ich hatte meine „Hausaufgabe“ für den Gemeinschaftskreis schon wieder nicht erledigt. Ich hatte mich die letzten Male gedrückt, als es um die Erfahrungsberichte der Woche ging, es war nahezu sicher, dass ich heute Abend würde berichten müssen. In der ersten großen Pause standen Sina und ich mit Kim, Johanna und Alina herum, so wie meistens. Die drei waren die einzigen Mädchen in der Klasse, die Sina um sich herum ertragen konnte. Was Alina und Kim betraf, war das kein Wunder: Die beiden waren eher schüchtern und himmelten Sinas überlegene Coolness an. Sina wusste das. Aus erster Hand natürlich, sie hatte in den Gedanken der beiden herumspioniert. Mit Johanna war es eher das Gegenteil. Sie war sehr selbstbewusst, hatte einen gepiercten Nasenflügel, ein Sonnentattoo auf dem Oberarm, platinblond gebleichte Haare und die schrägsten Klamotten der Stufe. Hier war es Sina, die anhimmelte, und Johanna, die sich darin sonnte. Insgeheim vermutete ich, dass Sina Johanna nur deshalb so gern mochte, weil es unheimlich schwierig war, in Johannas Gedanken einzudringen. Ich hatte es einmal versucht – natürlich nur wegen einer Hausaufgabe, wir sollten jemanden zum Gähnen bringen. Obwohl ich Johanna angefasst und ihr direkt in die Augen gesehen hatte, hatte ich ihre Gedanken nicht erreichen können. Sina hatte es schon einmal geschafft, aber selbst sie gab zu, dass Johanna ein hartes Stück Arbeit war. Und sogar für Sina war es unmöglich, Johanna frei, also ohne jede Berührung, zu lenken. Sina und ich vermuteten, dass Johanna ihre Wahrnehmung grundsätzlich stark auf andere Menschen statt nach Innen richtete. Sie wirkte immer sehr wach, fast nervös, und beobachtete ihre Umgebung. Man erwischte sie nie in sich gekehrt in jenem Dämmerzustand, der es uns Gedankenlesern leicht machte. Ich fand es schon interessant, dass ausgerechnet Johanna – neben mir natürlich - die einzige in der Klasse war, mit der Sina ein wenig befreundet war. Warum gab ihr das eigentlich nicht zu denken? Ich mochte die meisten meiner Mitschüler, manche vielleicht sogar lieber als Alina, Kim und Johanna. Trotzdem stand ich meist mit Sina in unserem kleinen Trüppchen herum. In gewisser Weise fühlte ich mich am wohlsten dort. An Sinas Seite musste ich mich nicht wie eine Lügnerin fühlen. Und weder Alina und Kim noch Johanna gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen des großen Geheimnisses, das Sina und ich miteinander herum trugen. Die drei standen mir nicht nah genug, ganz einfach. Gerade drehte sich das Gespräch um ein Video, das Alina irrsinnig lustig fand. Alina schien ganze Nachmittage lang lustige Videos zu sehen. Diesmal war es irgendetwas mit einem Spanisch sprechenden Hund, keine Ahnung, worum es genau ging, ich hörte nur mit einem Ohr zu. „Das müsst ihr euch rein tun! Das ist so geil, wie der abgeht!“, hörte ich sie sagen. Kim bekam plötzlich einen glasigen Blick und bellte zwei Mal. Alle lachten und Sina lachte aus ihren eigenen Gründen am lautesten. Ich warf ihr einen strafenden Blick zu. Immer und immer wieder tat sie so etwas! Und zuckte nicht einmal mit der Wimper dabei. Heute Abend im Gemeinschaftskreis würde sie darüber sicher nicht sprechen, den Erwachsenen gegenüber gab sie sich gern ganz angepasst und zahm. Aber wenn die Clique sich das nächste Mal traf, würde sie mit ihren Heldentaten prahlen. Ich seufzte. Sinas Aktion hatte mich daran erinnert, dass ich meine Hausaufgaben immer noch nicht erledigt hatte. Und allmählich lief mir die Zeit davon. Warum also nicht jetzt mein Glück versuchen? Ich sah mich auf dem Schulhof um. Nun gut. Wer stand ungefähr zehn Meter von mir entfernt? Da, ein paar Fünftklässler. Ach nein, die waren zu lebhaft, auf die Distanz würde ich es nie schaffen, einen von ihnen zu knacken. Rechts von mir standen einige Mädchen aus unserer Klasse, aber in deren Köpfe mochte ich nicht steigen.