Tochter der Elfen - Karin Spieker - E-Book
SONDERANGEBOT

Tochter der Elfen E-Book

Karin Spieker

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

**Erwecke das magische Erbe in dir** Als die siebzehnjährige Greta das erste Mal auf den charismatischen Lance trifft, ist sie überzeugt: Dieser Typ spielt in einer ganz anderen Liga. Doch dann beobachtet sie ihn bei einem magischen Ritual und von da an ändert sich für sie alles. Greta erfährt, dass sie eine der letzten reinblütigen Elfen ist – und damit in großer Gefahr. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach dem Geheimnis um ihre wirkliche Herkunft. Nur Lance, zu dem sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt, scheint ihr dabei helfen zu können. Sie ahnt jedoch nicht, dass der Elf ein dunkles Geheimnis hütet, das sie nicht nur ihr Herz, sondern auch das Leben kosten könnte … Elfen-Fantasy zum Dahinschmelzen! Eine reinblütige Elfe, die ihre Kräfte erst noch entdecken muss, und ein gut aussehender Elf, der seine verloren hat: Zusammen haben sie das das Potenzial, die Welt zu verändern. Eine Geschichte voller Magie, Herzklopfen und tiefer Gefühle! //»Tochter der Elfen« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

Jetzt anmelden!

Jetzt Fan werden!

Karin Spieker

Tochter der Elfen

**Erwecke das magische Erbe in dir**Als die siebzehnjährige Greta das erste Mal auf den charismatischen Lance trifft, ist sie überzeugt: Dieser Typ spielt in einer ganz anderen Liga. Doch dann beobachtet sie ihn bei einem magischen Ritual und von da an ändert sich für sie alles. Greta erfährt, dass sie eine der letzten reinblütigen Elfen ist – und damit in großer Gefahr. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach dem Geheimnis um ihre wirkliche Herkunft. Nur Lance, zu dem sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt, scheint ihr dabei helfen zu können. Sie ahnt jedoch nicht, dass der Elf ein dunkles Geheimnis hütet, das sie nicht nur ihr Herz, sondern auch das Leben kosten könnte …

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Das könnte dir auch gefallen

© Michael Spieker

Karin Spieker schreibt Romane über Heldinnen, die mit und ohne magische Fähigkeiten selbstbewusst gegen den Strom schwimmen. Heiße Typen dürfen in ihren Geschichten ebenso wenig fehlen wie eine kräftige Prise Humor. Die Autorin lebt mit ihrem Mann bei Paderborn und ist Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie liebt wandern, reisen, lesen und telefonieren. Mit ihrer Stimme und am Klavier macht sie oft und gern Musik.

Kapitel 1

Ich konnte kaum noch den Arm heben, aber ich war unglaublich stolz auf mein Werk. Für eine kleine, viel zu schmal geratene Siebzehnjährige, die noch nie allein ein größeres Gartenprojekt angepackt hatte, hatte ich in den letzten Stunden wirklich Erstaunliches geleistet!

Ich hatte den Vorgarten von Unkraut, vertrockneten Trieben und wild wucherndem Efeu befreit. Nur die Buchsbäumchen brauchten noch einen kleinen Formschnitt und die Wege mussten bei Gelegenheit frisch mit hellem Schotter bedeckt werden. Davon abgesehen sah Omas Garten wieder aus wie in seinen besten Zeiten. Überall wucherte sattes Grün, gekrönt von einem Meer aus perfekten Blüten. Sämtliche Schattierungen von Blau, Lila, Pink und Rosa waren hier vertreten. Jetzt, wo ich alles Störende entfernt hatte, schienen die Blumen viel üppiger zu blühen als zuvor. Auf einmal fielen mir überall Blüten ins Auge, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte. War diese Heckenrose nicht heute Morgen noch schlicht grün gewesen? Und wo kamen die ganzen Lupinen auf einmal her? Egal, auch wenn meine Wahrnehmung heute nicht die beste gewesen war, ich fand den Garten jetzt einfach wunderschön!

Zufrieden blickte ich an mir herunter. Ich war restlos erschöpft, würde jeden Moment umkippen und einfach auf dem Gartenweg einschlafen und sah inzwischen vermutlich aus wie das Monster aus dem Moor. Aber wen interessierte das? Ich war allein und würde das auch bleiben, bis meine Mutter morgen Abend aus der Stadt zurückkehrte. Und das hieß, dass ich so dreckig und verschwitzt herumlaufen konnte, wie ich wollte.

»Toller Garten!«, rief mir jemand vom Gartenzaun zu.

Ich fuhr erschrocken herum. Am Zaun lehnte ein Typ, vermutlich etwas älter als ich, und musterte mich von Kopf bis Fuß. Wollte der mich etwa anbaggern? Oder sich über mich lustig machen? Letzteres, entschied ich innerhalb von Sekundenbruchteilen. Er sah nicht nur toll aus, sondern war auch alles andere als zufällig angezogen. Modische Jeans. Markensneakers. Lässig gekrempeltes Hemd über bedrucktem T-Shirt. Dazu dunkle, halblange Haare, die mit Sicherheit besser gepflegt waren als meine. Man musste sich doch nur mal den Glanz angucken!

Ich starrte den Typen an wie eine Erscheinung.

»Ich bin Lance«, sagte der. »Eigentlich Lancelot, aber ich bitte dich, so kann man einfach nicht heißen, oder?«

Ich riss mich aus meiner Erstarrung und fuhr mir hastig mit den Händen durch die Haare. »Hallo«, murmelte ich.

Moment mal, was war nochmal die Frage gewesen? Namen, oder? Es war um Namen gegangen.

»Ich bin Greta«, stellte ich mich vor.

»Freut mich, Greta.« Lance lächelte. »Darf ich?« Er deutete auf das Gartentor und als ich nicht reagierte, öffnete er es und kam zu mir in den Vorgarten, wo er neben mir stehen blieb.

»Der Garten ist echt nicht wiederzuerkennen!«, sagte er. »Ich komme fast jeden Tag hier vorbei, aber so lebendig habe ich die Beete noch nie gesehen. Wow, die Hortensien! Und die Pfingstrosen! Wer hätte gedacht, dass die so viel Power haben! Wahnsinn! Hat es dich viel …«, er legte eine bedeutungsvolle Pause ein »Kraft gekostet, die Beete wieder so in Schuss zu bringen?«

»Hä?« Ich war hoffnungslos überfordert. Eben noch war ich allein, dreckig und kaputt gewesen und hatte beschlossen den Rest des Tages im hinteren Garten liegend mit einem Buch zu verbringen und mich möglichst nicht mehr zu bewegen. Und jetzt stand auf einmal ein fremder, schockierend gut aussehender Typ neben mir, kannte sich mit Pflanzen aus und wollte mit mir über Gartenarbeit reden? War ich vielleicht schon eingeschlafen? Träumte ich das hier?

»Kraft«, half Lance mir auf die Sprünge. »Hast du viel Kraft verbraucht?«

Ich verstand die Frage nicht. »Klar«, sagte ich und zuckte die Schultern. »Ich arbeite hier seit Stunden. Bin total k. o. – Gartenarbeit ist echt nichts für Weicheier!«

Lance legte den Kopf ein wenig schräg und kniff die Augen zusammen. »Alles eine Frage der …«, wieder diese Pause. »Energieeinteilung. Oder?« Ein ironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Was?« Ich kam mir doof vor, weil ich seinen Gedanken so offensichtlich nicht folgen konnte.

Lance’ Grinsen verschwand und er winkte ab. »Ach, vergiss es. Meine Eltern haben eine Gärtnerei, ich interessiere mich manchmal etwas zu sehr für die Gärten anderer Leute.«

»Das macht doch gar nichts.« Ich kicherte blöd.

Lance sah mich mit gerunzelter Stirn an. Vermutlich hielt er mich für beschränkt. »Und ihr lasst euch jetzt also hier nieder, deine Mutter und du?«

»Woher weißt du, dass ich hier mit meiner Mutter wohne?«

Er strich sich mit einer ziemlich lässigen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Wie gesagt, ich komme fast täglich hier vorbei. Ich hab euch hinten im Garten lesen sehen. Außerdem glaubst du doch wohl nicht im Ernst, dass ihr in ein Dorf wie Siebenbergen ziehen könnt und niemand über euch redet? Hier wusste schon das ganze Dorf, dass ihr herkommen würdet, noch bevor ihr selbst es wusstet. Deine Oma hat gern geredet, deine Tante Ilse redet, meine Eltern reden … Versuch gar nicht erst hier Geheimnisse zu haben.«

»Guter Tipp«, murmelte ich.

Lance angelte sein Smartphone aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Ich muss weiter«, stellte er fest. »Aber soweit ich weiß, kommst du zu meiner Schwester Luna in die Stufe. In die Elf, richtig?«

»Genau«, hauchte ich perplex. »Und du? In welcher Stufe bist du?«

»Ich hab gerade Abi gemacht. Im Oktober fange ich mein Studium an, bis dahin arbeite ich bei meinen Eltern in der Gärtnerei.«

»Ach so«, war alles, was mir dazu einfiel.

Lance grinste. »Ich denke, wir werden noch voneinander hören.« Er nickte mir zum Abschied zu und schlenderte Richtung Gartentor.

Ich blieb mit dem Gefühl zurück, dass das gerade nicht mein stärkster Auftritt gewesen war. »Glückwunsch, Greta«, murmelte ich, während ich Lance’ Rückseite mit Blicken verschlang, bis er im Wald verschwand.

Genau so hatte ich eigentlich nicht anfangen wollen in meinem neuen Heimatort. Eigentlich hatte ich mich im Haus meiner Oma neu erfinden wollen. Weg vom wortkargen Pflanzen-Freak, hin zum coolen It-Girl. Nun, dieser Plan war wohl gerade gründlich in die Hose gegangen.

Aber vielleicht fange ich doch lieber von vorne an und erzähle erstmal, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass ich ganz allein im Vorgarten meiner Großmutter herumbuddelte.

***

Alles hatte damit angefangen, dass meine Mutter vor einigen Monaten begeistert einen Briefumschlag vor meiner Nase schwenkte.

»Es hat geklappt, meine Versetzung ist durch«, verkündete sie. »Nach den Sommerferien fange ich am kleinen städtischen Gymnasium im schnuckeligen Buchenheim an und unserem Umzug nach Siebenbergen steht nichts mehr im Weg. Freust du dich? Deine Tage in der Großstadt sind gezählt.«

Zu sagen, dass ich mich freute, wäre vollkommen untertrieben. Von einem Moment auf den anderen war ich selig! Im siebten Himmel! Endlich, endlich würden wir aus der Großstadt rausziehen. Und wir würden nicht einfach nur irgendwohin ziehen, sondern an den schönsten Ort, den es auf der Welt gab: ins Haus meiner Großmutter.

Oma war vor einem halben Jahr gestorben und hatte Mama das Haus vermacht. Und seitdem bekniete ich meine Mutter nahezu von früh bis spät, dieses Erbe zu würdigen, indem wir dort einzogen.

Omas Haus war ein schlichtes, efeubewachsenes kleines Bruchsteinhaus mit grünen Sprossenfenstern, Fensterläden und einem schwarzen Schieferdach, das seit Generationen im Familienbesitz war. Das Haus bot nicht allzu viel Platz, aber für Mama und mich würde es locker reichen.

Unten gab es eine schnuckelige Küche, in die neben einer L-förmigen Küchenzeile so gerade eben ein Esstisch mit vier Stühlen passte. Außerdem war dort das Wohnzimmer mit offenem Kamin und einem Ausgang in den Garten. Oben befanden sich zwei nahezu identisch geschnittene Schlafzimmer mit herrlich schrägen Decken und das Bad, in dem eine riesige Badewanne direkt unter einem Dachfenster thronte, sodass man je nach Tageszeit und Wetterlage beim Baden entweder die Wolken, den Regen oder die Sterne beobachten konnte.

Natürlich war das Haus immer noch bis zum Rand mit Omas Sachen vollgestopft, aber das störte mich nicht. Wir würden unseren Hausstand zunächst einlagern und nach und nach ganz stressfrei Omas Sachen durch unsere eigenen ersetzen, wenn wir erst dort wohnten. Vielleicht lebten wir auch einfach mit Omas Sachen, mich würde das nicht stören. Zu dem gemütlichen alten Haus passten Omas dunkle schnörkelige Möbel, die Bilder in den Goldrahmen, die Trockenblumengestecke, die vielen Kissen und die Spitzendeckchen, die sie bis zu ihrem Tod gehäkelt hatte und die fast jede freie Fläche im Haus bedeckten. Sogar auf dem Spülkasten der Toilette lag immer ein kleines Spitzendeckchen, eine stilvolle Unterlage für die Reserve-Klopapierrolle, die dort ihren Platz hatte.

Ich liebte Omas Häuschen und ich hatte es immer geliebt. Die paar Tage, die wir jedes Jahr dort verbrachten, waren, seit ich denken konnte, die schönsten Tage des Jahres gewesen. Das lag an Omas riesigem Garten, in dem lauter Obstbäume und blühende Sträucher standen. Das lag an dem Wald, der direkt an Omas Grundstück grenzte, und durch den ich stundenlang streifen konnte. Aber vor allem lag es an meiner Oma, deren braune Augen rund um die Uhr vor Energie und Humor leuchteten und die sich immer über meine Anwesenheit freute, was sie mit kleinen Umarmungen, liebevollen Kniffen in meine Wange und natürlich mit ihrem ständig aufblitzenden strahlenden Lächeln kundtat.

Ich war sehr traurig gewesen, als meine Oma starb, obwohl Mama und ich uns ihren Tod genau so für sie gewünscht hatten, wie er gekommen war. Oma hatte beim Heckenschneiden einen Schlaganfall erlitten. Ein Nachbar hatte sie im Gras liegend neben ihrer uralten Heckenschere gefunden. Angeblich hatte sie sehr friedlich ausgesehen.

»Sie hätte es so gewollt«, hatten auf der Beerdigung alle gesagt. »Sie hätte es gehasst, irgendwann auf Hilfe angewiesen zu sein.«

Und Mama und ich hatten genickt und unter Tränen versucht uns mit allen anderen für Oma zu freuen und eine schöne Erinnerung nach der anderen hervorzukramen.

Nur meine Tante Ilse hatte gejammert und geklagt und sich unentwegt Vorwürfe gemacht. »Sie war doch erst 78! Wenn man sie nur früher gefunden hätte, dann hätte man ihr doch helfen können! Warum habe ich denn nicht die Hecke für sie geschnitten? Wie konnte ich eine Frau in ihrem Alter mit ihrem Garten allein lassen? Und jetzt stehe ich ohne Mutter da! Einsam und allein!«

Mama und ich hatten Ilse nach Kräften getröstet, aber eigentlich wäre uns lieber gewesen, sie hätte mit uns gelacht und geweint, statt sich in ihren ganz persönlichen unsinnigen Schuldgefühlen zu wälzen.

Aber so war Tante Ilse. Sie hatte eigentlich immer Schuldgefühle oder Komplexe oder auch einfach nur Stress. Sie war die bittere Pille, die wir schlucken mussten, wenn wir in Omas Haus nach Siebenbergen zogen. Denn Ilses modernes Reihenhaus lag nur drei Straßen von Omas Häuschen entfernt. Nicht, dass Mama und ich Ilse nicht mochten. Aber es war anstrengend, sie um sich zu haben, weil immerzu negative Gedanken aus ihr herausströmten, die man sich anhören oder kommentieren musste.

Und negative Gedanken hatte ich selbst weiß Gott genug!

Ich neigte nur nicht dazu, sie rauszulassen. Wenn ich unglücklich war – also meistens – verzog ich mich eher in eine ruhige Ecke und leckte dort meine Wunden.

Manchmal munterte meine Mutter mich auf, wenn es mir nicht so gut ging. Sie fuhr dann mit mir ins Grüne und wir machten einen Spaziergang und unterhielten uns. Über meinen Vater zum Beispiel, an den ich keine Erinnerungen mehr hatte, weil er noch vor meinem zweiten Geburtstag gestorben war. Oder über Bücher. Oder darüber, welche Pflänzchen ich als Nächstes in meinem Zimmer großziehen wollte.

Meine Klassenkameraden hingegen munterten mich nie auf. Warum sollten sie auch? Die sahen mich durchweg schief an und lebten sowieso auf einem anderen Planeten als ich.

Das fing schon bei meinem Äußeren und meiner wackeligen Konstitution an. Im Sportunterricht konnte ich nie mithalten, oft genug wurde mir während der Stunde schwindelig und ich musste mich an den Spielfeldrand setzen. Ich war die Kleinste und Dünnste in der Klasse und ich sah fast immer elend aus. Meine sehr helle Haut war oft eher grau als weiß, meine dunklen Haare waren stumpf, meine Lippen meist rissig und blass. Sicher, Make-up half ein wenig, aber manchmal betonte das Make-up auch nur mein elendes Aussehen.

Weder ich noch meine Mutter noch unsere Hausärztin wussten, warum ich so überschlank blieb und ständig schlapp und ein wenig depressiv war, obwohl ich doch normal aß. Meine Blutwerte waren normal, mein Blutdruck war zwar niedrig, aber okay, und mein Körper funktionierte und reagierte in allen Tests, wie er sollte.

Eine Zeit lang dachte meine Mutter, ich wäre magersüchtig. Sie bot mir ständig meine Lieblingsspeisen an, beobachtete mit Argusaugen jeden Bissen, den ich zum Mund führte und begleitete mich nach den Mahlzeiten auf mein Zimmer, wo sie ständig über Schönheitsideale, Size zero und die Bedeutung innerer Werte mit mir reden wollte. Das Wort Magersucht erwähnte sie nie – aber hielt sie mich eigentlich für blöd?

Leider war es nicht nur mein Äußeres, das mich von Gleichaltrigen unterschied. Ich hatte einfach grundlegend andere Interessen als die Clowns aus meiner Klasse.

Ich hasste es, mit Klassenkameradinnen ins Fußballstadion zu gehen, weil dort angeblich lauter süße Jungs herumlungerten. Warum sollte ich stundenlang Bier trinken und herumgrölen, nur weil 22 wildfremde Männer auf einer riesigen Wiese mit einem Ball spielten?

Ich hasste Shopping, schon allein, weil ich in überfüllten Geschäften regelmäßig das Gefühl hatte, dass mir jeden Moment die Luft ausgehen würde. Außerdem waren mir die meisten Klamotten in der Damenabteilung sowieso viel zu groß.

In Bars und Clubs bekam ich Panikattacken. Partys ertrug ich nur im Sommer, wenn sie im Freien stattfanden.

Mein Notebook und mein Handy verwendete ich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Das stundenlange Starren auf Monitore kam mir künstlich vor, fast schon widernatürlich, und es löste bei mir nach kürzester Zeit Augenflimmern und üble Nackenschmerzen aus. Wenn es um Handyspiele, Blogs, Influencer und lustige Videos ging, konnte ich daher nicht mitreden.

Kurz: Ich war ein Freak!

Ich war die, die nach der Schule allein nach Hause ging.

Ich war die, deren Jugendzimmer einem Dschungel glich, weil ich dort inzwischen über fünfzig Topfpflanzen hegte und pflegte. Die meisten von ihnen hatte ich selbst gezogen.

Ich war die, die nach den Hausaufgaben stundenlang im Park unter den alten Kastanien saß und las. Ja, auch im Frühjahr und Herbst, wenn die meisten es draußen schon deutlich zu frisch fanden. Ich hatte sogar mal im Winter einen Nachmittag im Park verbracht, aber als meine Mutter beim Heimkommen meine blauen Lippen gesehen hatte, hatte sie mir weitere Parkbesuche verboten, solange das Thermometer unter zehn Grad anzeigte.

Ich war die, die am Wochenende am liebsten mit ihrer Mutter im Wald spazieren ging, was die meisten aus meiner Klasse geradezu absurd fanden.

Ich wusste selbst nicht, warum ich so besessen von Pflanzen und Bäumen und Wäldern war, aber meine Lebensgeister erwachten nun einmal erst dann so richtig, wenn ich die Stadt hinter mir gelassen hatte und rundum von Grün umgeben war.

Und im Gegensatz zu meiner Kondition im Sportunterricht konnte ich mich im Grünen stundenlang bewegen.

Wie gesagt, ich war ein echter Freak.

Kapitel 2

»Wie wollt ihr denn um Himmels willen all diese Topfpflanzen hier unterbringen? Sollen die alle in deinem Zimmer stehen, Greta? Ihr könnt doch Muttis gute Walnusskommode nicht mit Pflanzen vollstellen!«

Tante Ilse war eigentlich gekommen, um uns beim Auspacken zu helfen. Aber ich hatte allmählich das Gefühl, dass sie eher das Haus ihrer Mutter gegen uns Eindringlinge verteidigen wollte. Sie hatte bis jetzt nichts getan außer zu jammern.

Sie fand es zwar toll, dass wir Omas Möbel weiterhin benutzen wollten und nur ganz wenig eigene dazustellten. Aber es gefiel ihr nicht, dass wir Omas braune Fußmatte gegen unsere regenbogenbunte getauscht hatten. Und dass Mama unsere leuchtend gelben und grünen Kissen auf der cremefarbenen knautschigen Couchgarnitur verteilt hatte. Und dass in Omas altem Schlafzimmer auf einmal Mamas Matratze mit Mamas Bettzeug lag. Und dass Mama ihre eigene Kleidung in Omas Schrank räumte.

»Am liebsten wäre mir, wir könnten alles ewig so lassen, wie es immer war«, seufzte Ilse von Zeit zu Zeit.

Komischerweise konnte ich das ausnahmsweise einmal nachempfinden. Auch ich hätte am liebsten alles ewig so gelassen, wie es war. Auch ich fand, dass es sich falsch anfühlte, was wir mit Omas Haus anstellten. Es war, als würden wir mit jedem Gegenstand, den wir austauschten oder verrückten, eine Erinnerung an Oma vernichten.

Deshalb hatte Mama mich auch nicht mitgenommen, als sie am letzten Wochenende Omas Haus entrümpelt hatte. »Ich kenne dich, Greta. Jeder weggeworfene Waschlappen würde dir Tränen in die Augen treiben«, hatte sie behauptet. Sie musste radikal aussortiert haben – alle Schränke, Kommoden und Regale waren leer gewesen, als wir mit dem Umzugswagen angekommen waren.

Aber zum Glück hatte sie etliche Bilder und einige Dekogegenstände behalten, sodass das Haus nicht ganz fremd wirkte. Ilse war es trotzdem zu viel gewesen, hatte Mama erzählt. Sie hatte von den aussortierten Gegenständen so viele mit nach Hause genommen, wie es ihr irgend möglich gewesen war.

Und jetzt stand Ilse also hinter mir und beäugte misstrauisch die Kartons mit den Pflanzen, die die Umzugshelfer rund um mein Bett arrangiert hatten. »Wo willst du das alles hinstellen? Musstest du denn dein ganzes Grünzeug mitschleppen? Ihr hättet die Pflanzen wegschmeißen können. Wenigstens die Größeren. Hier, dieses Klettergestrüpp, brauchst du das wirklich?« Sie griff nach einem Blatt meiner geliebten Gespensterpflanze, die über die Jahre so groß geworden war, dass sie, sorgsam zusammengerollt, einen ganzen Umzugskarton allein füllte.

»Ich brauche sie alle«, sagte ich schroff. Am liebsten hätte ich ihre Hand weggeschubst. Wenn es um meine Pflanzen ging, verstand ich überhaupt keinen Spaß.

»Aber du hast doch jetzt den Garten«, machte Ilse weiter. »Und ich fände es so schön, wenn ihr Muttis Vorgarten erhalten würdet. Hast du da nicht genug Raum, dich gärtnerisch zu betätigen? Du lebst jetzt nicht mehr in einer kleinen Stadtwohnung, die du begrünen musst. Du lebst ab jetzt in einem Häuschen auf dem Land.«

»Ach. Und deshalb soll ich meine Pflanzen töten?« Ich hielt es nicht mehr aus. So sanft, wie ich es gerade noch fertigbrachte, schob ich ihre Hand vom Umzugskarton weg. Und wo ich schon mal dabei war, schob ich gleich die ganze Tante aus meinem neuen Zimmer. Was verhältnismäßig leicht war, weil ich sie einfach überrumpelte.

»Ich schaffe das allein«, murmelte ich, als sie vor der Treppe stand und mich mit einem Gesichtsausdruck musterte, der irgendwo zwischen Ärger und verletztem Stolz lag. »Geh lieber und hilf Mama in der Küche.«

»Wie du meinst.« Ilse stieg die Stufen hinunter. »Ich werde mich dir nicht aufdrängen. Aber wundere dich nicht, wenn du in deinem Zimmer hinterher kein Bein mehr auf den Boden bekommst.«

Ich ging zurück in mein Schlafzimmer, machte die Tür hinter mir zu und fühlte mich, als hätte ich mir gerade einen Splitter aus dem Fuß gezogen. Nämlich rundum erleichtert.

Es war jedoch tatsächlich nicht so einfach, alle Pflanzen in meinem Zimmer unterzubringen. Und leider hatte Ilse recht. Es war keine gute Idee, die Kommode mit Pflanzen vollzustellen. Lauter bunte Blumentöpfe würden das edle, in sanftem Braun schimmernde Möbelstück optisch erschlagen. Außerdem würden sie den goldgerahmten Spiegel verdecken, der direkt darüber hing, was natürlich unpraktisch war. Wenn meine Mutter morgens mal wieder stundenlang das Bad blockierte, würde ein eigener Spiegel im Zimmer nützlich sein.

Ach Blödsinn, ich brauchte keinen Spiegel. Wem machte ich etwas vor? Die Kommode und der goldgerahmte Spiegel sahen nach meiner Oma aus. Und ich wollte, dass das so blieb, denn von dem Möbelstück mal abgesehen erinnerte in meinem Zimmer leider überhaupt nichts mehr an sie.

Ich arrangierte also meine Lieblingspflanzen auf der Fensterbank – besonders an meinem kleinen, noch jungen Kiwibäumchen hing ich sehr – und legte die Ranken meiner Gespensterpflanze im ganzen Zimmer aus. Ich musste nur ein paar Haken an den richtigen Stellen befestigen, dann konnte sie sich ungestört an ihrem neuen Standort ausbreiten. Die Pflanzen, die ich in meinem kleinen Dachkämmerchen nicht unterbringen konnte, durfte ich hoffentlich im Treppenhaus und im Wohnzimmer verteilen.

Ich biss mir auf die Lippe. Meine Mutter war nicht ganz so begeistert von meiner »Zimmerpflanzensucht« wie ich. Sie verstand zwar, dass es mich reizte, aus einem unscheinbaren Samenkorn eine kräftige Pflanze zu ziehen, aber mit den Jahren waren es für ihren Geschmack einfach zu viele Pflanzen geworden. Ich musste zugeben, dass all die Töpfe jede Bewegung in meinem alten Zimmer kompliziert gemacht hatten. Aber was war die Alternative? Sollte ich üppige, rundum perfekte, vor Leben strotzende Pflanzen entsorgen, nur weil es zu viele von ihnen gab?

Ich hatte nun mal einen grünen Daumen. Meine Mutter fand sogar, dass ich die reinste Pflanzenhexe war. Unter meiner Pflege war keine Pflanze je eingegangen. Im Gegenteil. Kaum holte ich eine dieser übriggebliebenen, stark preisreduzierten, verkrüppelten Topfpflanzen aus dem Baumarkt oder Gartenmarkt nach Hause, sah sie wieder aus wie das blühende Leben. Jedes Samenkorn, das ich in die Erde steckte, trieb früher oder später aus. Manchmal witzelten Mama und ich, dass das Ganze fast ein bisschen unheimlich war.

***

Stunden später hatte ich mein neues Zimmer endlich in die gewünschte Mischung aus Antiquitätenladen und Gewächshaus verwandelt und die übriggebliebenen Pflanzen einfach in den Flur gestellt.

Jetzt war es Zeit für das Abendessen. Ilse hatte den Tisch gedeckt und Spaghetti gekocht. Sie und Mama saßen vor je einem Glas Rotwein in der Küche, als ich den Raum betrat.

»Und?« Meine Mutter musterte mich forschend. »Wie geht es dir? Bereust du unsere Entscheidung schon? Dein altes Zimmer war bedeutend größer, oder?«

»Ja, das war es. Ich bin trotzdem lieber hier.«

»Wirklich?«, mischte sich Ilse ein. »Wirst du die Stadt nicht vermissen? Und deine alte Schule?«

Mama lachte. »Greta? Die Stadt vermissen? Da kennst du sie aber schlecht! Greta ist alles andere als ein Stadtmensch. Sie fand es furchtbar, dass wir so zentral gewohnt haben. Und dabei habe ich die Wohnung damals ausgesucht, weil ich dachte, meine Tochter würde mir irgendwann dankbar sein, weil sie ihre Jugend mitten in der Stadt verbringen darf. Da, wo was los ist. Pustekuchen!« Sie lachte wieder und sah mich kopfschüttelnd an.

»Das kommt wohl dabei raus, wenn Mütter von sich auf ihre Töchter schließen«, sagte Ilse und verschränkte die Arme. »Du warst es, die immer weg wollte. Dir war es hier immer zu ruhig. Ich weiß gar nicht, wie du es jetzt auf einmal hier aushalten willst.« Das klang beleidigt. Mal wieder.

Meine Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das schaffe ich schon, keine Bange. Greta hat das Stadtleben lange genug ertragen. Außerdem ist sie jetzt alt genug, um mal allein zu bleiben. Ich werde öfter ein Wochenende zu meinen Freundinnen fahren und nach Herzenslust die City genießen.«

Ich nickte. »Genau. Hab nichts dagegen.«

Ilse runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob du sie nächtelang allein im Haus lassen solltest. Sie ist doch noch ein Kind. Du kannst jederzeit bei mir übernachten, Greta.«

Nur über meine Leiche, dachte ich. Mehr als ein paar Stunden am Stück könnte ich nicht mit Ilse verbringen. Und ehrlich gesagt freute ich mich darauf, Omas kleines Häuschen ab und zu ganz für mich zu haben. Ich würde den ganzen Tag im Jogginganzug herumlaufen, mir nur ungesunde Sachen kochen und ganz entspannt stundenlang im Garten in der Erde wühlen. Und niemand würde mich besorgt ansehen und denken, dass ich viel zu viel allein war und doch lieber eine Freundin anrufen sollte.

»Was ist überhaupt mit deinen Freundinnen, Greta?«, fragte Ilse wie aufs Stichwort. »Willst du die denn nicht besuchen?«

»Nein«, sagte ich und wickelte konzentriert ein Bündel Spaghetti um meine Gabel. Als ich den viel zu großen Bissen zum Mund führte, sah ich, dass Ilse mich mit waidwunden Augen ansah.

So leise wie möglich seufzte ich. Ich hatte sie wieder einmal verletzt. Das ging schnell bei Ilse, sie reagierte sehr empfindlich auf meine Einsilbigkeit. Mir war klar, dass sie gern eine engere Beziehung zu mir gehabt hätte, schließlich waren Mama und ich ihre einzige Verwandtschaft. Aber irgendwie fiel es mir schwer, mich ihr und ihren oft zudringlichen Fragen zu öffnen.

Um meine Schuldgefühle zu verscheuchen, lächelte ich sie halbherzig an und erklärte: »Ich hatte nicht viele Freundinnen an meiner alten Schule. Die Mädchen in meiner Klasse haben nicht so richtig zu mir gepasst.«

Ilse lächelte sofort zurück. »Hoffentlich ist es hier anders!«

Ich zuckte die Schultern und machte mich wieder über mein Essen her. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich an der neuen Schule auf Freundinnen hoffte. Möglicherweise wäre es nett, ab und zu jemanden zu haben, der meine Interessen teilte. Vielleicht gab es außer mir ja noch eine verschrobene, lesebesessene Pflanzenhexe auf der Welt, die Lust hatte, mit mir im Garten zu buddeln und Pfannkuchen zu machen, wenn meine Mutter wirklich mal ein paar Tage in der Stadt verbrachte.

Kapitel 3

Meine Mutter ließ mich eher allein im Haus, als ich erwartet hatte. Schon am übernächsten Wochenende fuhr sie zu ihrer besten Freundin Lotta, die ihren 45. Geburtstag feierte. Sie fragte mich etwa hundert Mal, ob ich nicht doch mitkommen wollte, und ich sagte etwa hundert Mal, dass ich lieber zu Hause bliebe und sie sich absolut keine Sorgen um mich machen müsste.

Als sie am Samstagmorgen nach dem Frühstück den Wagen aus der Einfahrt lenkte, war mir doch etwas mulmig zumute. Natürlich war ich schon oft allein zu Hause gewesen.

Aber es ist etwas anderes, ein paar Stunden allein in einer Stadtwohnung zu verbringen, Wand an Wand mit den Nachbarn, die man schon ewig kennt, als zwei Tage und eine Nacht allein in einem Haus.

Da die Schule noch nicht wieder begonnen hatte, kannte ich immer noch keinen im Dorf bis auf Ilse. Ilse hätte sich wahrscheinlich wahnsinnig gefreut, wenn ich vorbeigekommen wäre, aber ehe ich freiwillig Ilse besuchte, sprach ich lieber mit meinen Pflanzen. Die jammerten mir nichts vor, machten sich keine Sorgen und fragten mich nicht aus.

Es gab zum Glück immer noch viel im Haus und im Garten zu tun, sodass ich kaum Zeit haben würde, mich einsam zu fühlen. Man merkte an allen Ecken, dass Oma gegen Ende ihres Lebens nicht mehr die Kraft gehabt hatte, ihren Besitz tipptopp in Schuss zu halten.

Mama und ich hatten in den letzten Tagen jeden Winkel des Hauses geputzt und lauter Kleinigkeiten in Ordnung gebracht: Hier hing ein Bild schief, dort saß eine Fußleiste locker, eine Lampe flackerte, ein Stückchen Tapete hatte sich gelöst, eine Tür quietschte … Die kleinen Reparaturen nahmen kein Ende.

An diesem Wochenende wollte ich mir endlich den Vorgarten vornehmen. Dort wuchs inzwischen so viel Unkraut, dass von der durchdachten Bepflanzung meiner Oma fast nichts mehr übrig war.

Außerdem blätterte die Farbe in großen Schollen von dem Holzzaun ab. Wenn ich es schaffte, wollte ich ihn in den nächsten Tagen abschleifen. Meine Mutter hatte bereits mehrere Dosen grünen Lack gekauft und in den Schuppen gestellt. Nach dem Gartenzaun würden wir uns die Fensterläden vornehmen und sie in demselben Grünton streichen. Und wenn wir mit dem Garten und den Malerarbeiten fertig wären, würde unser Häuschen aussehen, als wäre es einem Bildband über idyllisches Landleben entsprungen. Ich konnte es kaum erwarten anzufangen.

Also zog ich meinen ältesten Jogginganzug und meine schäbigsten Sneakers an und holte mir alle nötigen Gartengeräte aus dem Schuppen.

Begeistert machte ich mich an die Arbeit, schnitt hier, grub dort und zog unerwünschte Triebe aus der Erde. Ich hatte meiner Oma unzählige Male bei dieser Arbeit geholfen, also wusste ich ungefähr, was ich zu tun hatte. Und da, wo ich es nicht wusste, ließ ich mein Bauchgefühl entscheiden. Wenn es um Pflanzen ging, hatte mich das noch nie getrogen. Also wütete ich im Garten, bis ich total erschöpft, total dreckig und total gut gelaunt war.

Und in genau dieser Verfassung traf ich den vermutlich süßesten Typen des Ortes, Lance, der mir »Toller Garten!« über den Zaun zurief, und blamierte mich gründlich.

***

Den Rest des Tages ließ ich unser Gespräch Revue passieren und ärgerte mich über mich selbst. Darüber, dass ich immer so einsilbig war. Darüber, dass ich mich nie um mein Äußeres kümmerte. Darüber, dass ich blöd gekichert und nichts verstanden hatte. Da war mir auf dem Silbertablett die Chance serviert worden, eine interessante Bekanntschaft zu machen – und ich hatte es rundherum verbockt.

Wann lernte man denn schon einen Typen kennen, der sich ernsthaft fürs Gärtnern interessierte? Und wann schneite einem ein solcher Typ auch noch in den eigenen Garten?

Himmel, ich hätte Lance doch mal fragen können, was er so machte. Wie lange er schon hier wohnte. Ob er noch mehr Geschwister hatte. Wo die Gärtnerei seiner Eltern lag. Es hätte 1001 Möglichkeiten gegeben. Oder ich hätte ihm etwas zu trinken anbieten können. Immerhin lag ausnahmsweise sogar eine Flasche Cola im Kühlschrank.

Bis in den späten Abend hinein kam es vor, dass ich mir beim Lesen plötzlich vor die Stirn schlug, weil mir wieder einfiel, wie selten dämlich ich mich benommen hatte.

Aber abgesehen von diesen stetig wiederkehrenden Gedanken an die missglückte Begegnung mit Lance ging es mir erstaunlich gut. Ich war körperlich erschöpft, aber sehr zufrieden mit dem, was ich geleistet hatte. Diese angenehme, zufriedene Erschöpfung war mir neu. Durch meinen Alltag hatte ich mich bisher eher chronisch schlapp und chronisch unzufrieden geschleppt.

Kein Zweifel: Exzessive Gartenarbeit tat mir gut! Vielleicht bekam mir auch einfach die neue Umgebung hervorragend. Hier gab es keine Automassen, keine lauten Güterzüge und keine schlecht gelaunten Menschen, die einander ignorierend über die Bürgersteige hasteten. Hier gab es keine Betonwüsten, keinen Vandalismus und keine dummen, aggressiven Graffitis. Hier gab es nur Ruhe und Frieden und Blumen und Wald und jede Menge saubere Luft. Paradiesisch, oder?

***

Obwohl ich zum ersten Mal allein im Haus war, schlief ich in dieser Nacht tief und lange. Als ich aufwachte, war es schon später Vormittag und die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich sprang gut gelaunt aus dem Bett, ging hinunter in die Küche und machte mir eine Schüssel mit Müsli fertig. Mit meiner Müslischüssel setzte ich mich auf die Bank vor dem Haus und bewunderte mein Werk von gestern. Der Vorgarten sah unglaublich aus! So bunt und üppig und trotzdem gepflegt. Ich konnte es kaum erwarten, ihn meiner Mutter zu zeigen und ihr Gesicht zu sehen!

Vielleicht schaffte ich es sogar noch, den Zaun zu streichen, bevor sie heimkam. Obwohl … Die Arbeit an vielen Metern Gartenzaun schien mir auf einmal nicht mehr so verlockend zu sein. Der Tag würde warm werden, wollte ich da wirklich stundenlang den Zaun abschleifen und lackieren?

Nein. Lieber wollte ich mich weiter mit dem lebendigen Teil des Gartens befassen. Genauer gesagt: mit den Beeten und den wilderen Bereichen im hinteren Teil des Grundstücks.

Mit der Müslischüssel in der Hand wanderte ich barfuß zur Rückseite des Hauses und betrachtete die vielen Bäume und Sträucher, die dort wuchsen. Kauend überlegte ich, was mir an diesem Bild nicht gefiel. Wenig, entschied ich. Klar, alles musste wahrscheinlich irgendwann zurückgeschnitten werden, aber soweit ich wusste, machte man so was eher im Herbst, oder?

Ich spazierte ein paar Schritte und mein Blick blieb an der Grenze zum Nachbargrundstück hängen. Dort fand sich eine große unkrautbewachsene Brachfläche. Bis zum vorletzten Herbst hatten hier noch drei Fichten gestanden, aber ein Sturm hatte eine von ihnen umgeworfen. Da sie im Fallen beinahe das Nachbarhaus erwischt hatte, hatte der Nachbar darauf bestanden, dass alle drei Fichten sofort gefällt wurden.

Mein Blick wanderte hinüber zum Wald. Ob ich einfach ein Stück Wald auf diese hässliche Lücke holen sollte? Ich könnte zwei oder drei winzige Bäumchen, die falsch standen und ohnehin eingehen würden, ausgraben und hier einpflanzen. Ihnen beim Großwerden zuschauen. Und wenn ich schon mal auf Beutezug ging, würde ich vielleicht auch ein paar wilde Erdbeeren finden, denen ich bei den Johannisbeersträuchern ein neues Zuhause geben könnte.

Und wer weiß, auf welche Ideen ich noch kam, wenn ich bei einem schönen Waldspaziergang die Augen offen hielt.

***

Bewaffnet mit einer kleinen Schaufel und einigen Tüten stapfte ich wenig später los. Mein Wohlfühl-Outfit, bestehend aus Jogginghose und ausgelatschten dreckigen Sneakers, hatte ich in letzter Sekunde doch verworfen. Stattdessen war ich kurz unter die Dusche gesprungen und trug jetzt saubere Jeans und einigermaßen modische Boots. Man konnte ja nicht wissen, wem man im Wald über den Weg laufen würde.

Es fühlte sich jedes Mal an wie nach Hause kommen, wenn ich in das lichte Grün eines Buchenwaldes oder in die würzige, moosige Kühle eines Nadelwäldchens eintauchte. Sobald ich Waldluft schnupperte und federnden Boden unter meinen Füßen spürte, war meine Welt in Ordnung.

Auch heute fiel schon nach wenigen Schritten unter den Bäumen jede Anspannung von mir ab und Ruhe und Freude durchströmten mich.

Seit wir hierhergezogen waren, war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht mindestens einen kleinen Streifzug durch den Wald unternommen hatte. Manchmal war ich kilometerweit gegangen und hatte nach und nach sämtliche Forstwege erkundet. Manchmal war ich aber auch nur ein paar hundert Meter gegangen und hatte mir dann fernab des Weges ein besonders schönes schattiges Fleckchen zum Lesen gesucht.

Heute lief ich zunächst den breiten Forstweg entlang, der irgendwann zum Nachbardorf führte, bog aber nach der zweiten Kreuzung in einen schmalen, kaum erkennbaren Pfad ab, den ich schon öfter gesehen hatte. Ich hoffte über diesen Pfad meinen Lieblingsweg zu erreichen, der an einem Bachlauf abwechslungsreich unter schönem Laubwald entlang führte.

Ich kam zunächst nur langsam voran. Man merkte, dass der Pfad wenig genutzt wurde. Immer wieder musste ich Äste zur Seite schieben und an etwas lichteren Stellen durch Brennnesseln waten. Gut, dass ich trotz der Wärme lange Jeans trug!

Ziemlich unvermittelt endete der Pfad vor einem dunklen Kieferndickicht. Brombeerranken und Holunderbüsche wuchsen mannshoch vor den eng nebeneinander gepflanzten Bäumen. Auf den ersten Blick sah ich, dass ich hier wohl nicht weiterkam.

»Mist!«, fluchte ich leise.

Ich war so kurz vorm Ziel! Meinem Empfinden nach konnte der Bachlauf nur noch wenige hundert Meter Luftlinie entfernt sein. Seufzend suchte ich den Boden vor mir nach Trittspuren von Menschen oder Tieren ab. Wenn es irgendwie ging, würde ich mich durchs Gebüsch kämpfen. Ich hatte keine Lust umzukehren und durch die Brennnesselfelder zurück zum Forstweg zu waten.

Hier waren die Brombeerranken platt getreten. Und da hinten auch. Entweder hatte vor mir bereits jemand einen Weg durch diesen Dschungel gesucht und gefunden oder ich würde es nur noch wenige Meter weiter schaffen und eben dann umkehren müssen.

Einen Versuch war es auf jeden Fall wert! Ich stakste mühsam von einer platt getretenen Stelle zur nächsten und fluchte dabei leise vor mich hin. Die Dornen der Brombeeren blieben immer wieder im Stoff meiner Hose hängen. Immerhin fand ich weitere deutliche Fußspuren und kam irgendwie voran.

Schließlich stand ich vor einer Ansammlung sehr dicht gepflanzter Buchen, die dankenswerterweise noch nicht von den pieksigen Brombeerranken erobert worden war. Ich sah nach oben. Hinter den jungen Buchen im Vordergrund erkannte ich die mächtigen Stämme uralter Bäume.

Jackpot! Hinter diesem grünen Gewirr begann ganz bestimmt der Waldabschnitt, nach dem ich gesucht hatte!

Hoch motiviert schlug ich mich ins Dickicht. Ab jetzt kam ich recht gut voran. Zwischen den jungen Buchen konnte ich mich problemlos hindurchquetschen. Mein Lieblingspfad war nahe!

Nach und nach wurde das Gehen wieder angenehmer. Je weiter ich ging, desto mächtiger wurden die Buchen. Es gab jetzt praktisch keinen Bodenbewuchs mehr und ich hätte bequem ausschreiten können. Stattdessen jedoch verlangsamte ich meine Schritte und legte immer wieder den Kopf in den Nacken, um an den gewaltigen Baumstämmen entlang in die Baumkronen zu sehen.

Ich hatte mich verschätzt, denn hier erwarteten mich weder der Bachlauf noch mein Lieblingspfad. In diesem Abschnitt des Waldes war ich noch nie gewesen. Ich hatte nicht gewusst, dass es in unserem Wald überhaupt so alte Baumriesen gab! Beglückt über meine Neuentdeckung blieb ich stehen und atmete tief ein und aus. Die Bäume waren hier so hoch, die Kronen so dicht und der Boden war so eben, dass fast eine Raumwirkung entstand. Es war, als würde der Wald eine riesige Kathedrale formen.

Die Atmosphäre war unglaublich eindrucksvoll. Irgendwie neu. Irgendwie besonders. Ich wandelte langsam unter den Bäumen umher und fragte mich, was ich fühlte. Die übliche Freude, die mich im Wald überfiel, war es nicht. Jedenfalls nicht nur. Es kam eine gewisse Spannung hinzu, die mich irgendwie antreiben wollte. Mich kribbelig machte. Aber auf eine gute Art und Weise.

Inspiration, entschied ich schließlich. Ich fühlte mich inspiriert. Als wäre dies der Ort, an dem ich ein ganzes Buch schreiben oder ein fantastisches Bild malen oder Geige spielen lernen könnte. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und auf einmal drehte ich mich im Kreis. Schneller und schneller. Wie wundervoll, dass ich jetzt in der Nähe eines solchen Ortes wohnte!

Im Drehen schloss ich kurz meine Augen und als ich sie öffnete, sah ich goldene Funken aus meinen Fingerspitzen rieseln. Was war das? Spielte mein Kreislauf verrückt? Abrupt blieb ich stehen und kniff die Lider fest zusammen. Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Funken verschwunden.

Erschrocken ließ ich mich neben meiner Tasche an einem Baumstamm nieder und rieb mir die Augen. Was war das gerade gewesen? Wirklich nur der Kreislauf? Eine Sinnestäuschung? Oder ein Anfall von Augenmigräne? Ich hatte davon gehört, eine Bekannte meiner Mutter hatte regelmäßig ein Flimmern vor ihren Augen, das erst verschwand, wenn sie sich eine Weile hinlegte.

Wenn ich genau in mich hineinhörte, fühlte ich mich tatsächlich ein wenig erschöpft. Vielleicht brauchte ich eine kleine Auszeit? Vielleicht hatte ich mich gestern zu sehr verausgabt? Nur weil ich mich fitter fühlte, seit wir hierhergezogen waren, hieß das nicht, dass ich auf einmal über die Ausdauer eines normalen Menschen verfügte, oder?

Ich angelte nach meiner Wasserflasche, die ich zum Glück eingesteckt hatte, und trank ein paar Schlucke. Dann streckte ich die Beine auf dem trockenen Waldboden aus und lehnte mich gemütlich an den Buchenstamm. Wenn mein Körper mir zu verstehen gab, dass er eine Pause brauchte, würde ich ihm eben eine Pause gönnen. Nur zu gern blieb ich noch eine Weile hier, unter den mächtigen alten Buchen.

Und wenn ich nach meiner kleinen Rast immer noch goldene Funken sah, musste ich eben notfalls in den sauren Apfel beißen, meine Tante Ilse anrufen und ihr den Weg durch die Brombeerranken und die Buchenhecke hindurch beschreiben. Immerhin hatte ich mein Handy dabei, es konnte also gar nichts schiefgehen.

***

Stimmen rissen mich aus dem Schlaf, in den ich zu meiner Überraschung gefallen war. Jugendliche Stimmen, eine weiblich, die andere männlich. Ein Pärchen, dachte ich. Hoffentlich hatten die sich nicht durch die Büsche geschlagen, um hier, in der Waldeinsamkeit, in Ruhe übereinander herzufallen. Ich hatte keine Lust, Zeugin ihrer Aktivitäten zu werden und genauso wenig wollte ich hinter meinem Baum hervorspringen und ihnen die Laune verderben.

Hoffentlich gingen die beiden einfach nur spazieren und verschwanden so sang- und klanglos, wie sie aufgetaucht waren!

Ich gähnte noch einmal herzhaft, überprüfte mein Befinden – bestens erfrischt, zufrieden, keine goldenen Funken in Sicht – und rappelte mich auf, um hinter meinem Stamm hervor zu schielen.

Ja, da waren die beiden. Ein Mädchen, vielleicht in meinem Alter, in engen Jeans und Tanktop, und ein Kerl mit kinnlangen dunkelbraunen Locken. Sie gingen bepackt mit Rucksäcken in einem ordentlichen Tempo hintereinander her. Das sah eher nach einer sportlichen Wanderung als nach einem Stelldichein aus.

Ich sah genauer hin und japste nach Luft. Das war nicht irgendein Kerl. Das war Lance. Obwohl er nicht in meine Richtung sah, zog ich mein Shirt gerade und ordnete mit den Fingern meine Haare. Musste der Typ ausgerechnet dann wieder auftauchen, wenn ich gerade wie ein Freak allein im Wald herumsaß? Hätte ich ihn nicht einfach beim Einkaufen wiedersehen können? Oder in irgendeiner anderen Situation, in der sich normale Menschen so trafen?

Ob die Dunkelhaarige seine Freundin war? Sie würde jedenfalls toll zu ihm passen, ihre Bewegungen strahlten die gleiche Selbstsicherheit aus wie Lance’. Kein Wunder, sie war eins dieser Mädels, an denen einfach alles stimmte. Nicht zu groß, nicht zu klein. Sportlich durchtrainierter und trotzdem graziler Körper. Wallende glänzende dunkle Haare. Kleidung, die gleichzeitig lässig und total angesagt wirkte. Und das, was ich von ihrem Gesicht zu sehen bekam, ließ ahnen, dass sie einfach wunderschön war, obwohl sie im Moment eher finster dreinblickte.

Genau wie Lance, erkannte ich. Ob die beiden sich gerade gestritten hatten? Die beiden gingen an meinem Baum vorbei, was mir eine kleine Schrecksekunde bescherte. Einige Meter von mir entfernt blieben sie plötzlich stehen und warfen fast synchron ihre Rucksäcke auf den Boden.

»Dann mal los«, hörte ich das Mädchen sagen.

»Ja doch«, sagte Lance mürrisch. »Gib mir die Kristalle.«

»Spinnst du? Du wolltest sie einstecken!«, rief das Mädchen empört. »Ich weiß genau, dass du gerufen hast: Ich hole die Kristalle!«

»Ich habe gerufen Hol die Kristalle, du taube Nuss!« Lance schlug energisch gegen den Baumstamm neben sich. »So eine Scheiße! Jetzt stehen wir hier ohne die Dinger!«

»Mist«, sagte das Mädchen. Sie klang eher bedrückt als wütend. »Und jetzt?«

Lance zuckte die Schultern. »Nichts. Wir machen es trotzdem. Die Zeit drängt. Und es ist sowieso niemand hier.«

Bis auf mich, dachte ich. Was die wohl vorhatten? Und wozu sie Kristalle brauchten? War das hier vielleicht ein Kunstprojekt, zu dem die Schule die beiden verdonnert hatte? Zumindest klang es nicht danach, als wollten sie sich romantischen Aktivitäten hingeben. Glück gehabt!

Lance kramte in seinem Rucksack herum und holte zwei Gegenstände daraus hervor, die ich nicht erkennen konnte. Sie hatten etwa die Größe von Cola- oder vielleicht auch Bierdosen. Mit diesen Gegenständen drehte er sich einige Male langsam im Kreis, als suchte er etwas.

»Nun mach schon«, maulte das Mädchen. Obwohl die beiden recht weit von mir entfernt waren, konnte ich mühelos jedes Wort verstehen. Vielleicht, weil es fast windstill war.

Lance stellte beide Gegenstände sorgfältig auf dem Waldboden ab. »Ich mache ja«, sagte er. »Aber hetz nicht so! Wenn ich sie nicht richtig platziere, können wir es gleich lassen. Spürst du schon was?«

Wie bitte? Was sollte sie denn spüren?

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Vielleicht. Möglicherweise.«

Lance ging zu ihr hinüber. »Wir müssen aufhören uns so anzufauchen, Luna. Das Ganze fällt uns auch ohne negative Blockaden schwer genug.«

Luna? Die Luna, mit der ich zur Schule gehen würde? Dann war Superwoman dort drüben seine Schwester? Jetzt verstand ich die Szene noch weniger.

»Aber ich bin stocksauer auf dich!«, fauchte Luna. »Wie konntest du dich nur mit diesem Idioten einlassen! Du hättest wissen müssen, welchen Ärger du dir einhandelst!«

»Es ist nun mal passiert«, fauchte Lance. »Ich kann es nicht mehr ändern. Können wir uns jetzt endlich auf die Phiolen konzentrieren?«

»Wenn du meinst …« Luna trat näher an die Gegenstände heran, die Lance auf dem Waldboden platziert hatte. Sie nahm ihre Arme auseinander und lockerte sie. Schließlich hüpfte sie auf der Stelle und schüttelte Arme und Beine. Sogar dabei sah sie irgendwie gut aus. Irgendwann blieb sie wieder stehen. »Ich bin total verspannt«, jammerte sie.

Lance trat zu ihr und stellte sich ihr gegenüber. »Ich auch, glaub mir. Aber leider muss ich trotzdem liefern.«

Gespannt verfolgte ich den Dialog. Liefern? Was musste er liefern? Und wem? Ging es hier um Drogen? Wollten die beiden irgendwelche Waldpilze mörsern? Aber wozu dann das Gefasel von Kristallen? Und von negativen Blockaden und Verspannungen? Ich hätte zu gern gesehen, was da zwischen den beiden stand, aber dafür hätte ich näher kommen müssen, was nicht infrage kam. Auf keinen Fall würde ich die Deckung meines Buchenstammes verlassen.

»Los?«, fragte Lance.

»Los.« Luna nickte.

Die beiden streckten ihre Hände in den Raum zwischen sich und schwiegen. Was sollte denn das jetzt? War das eine Art Meditation? Oder eine gymnastische Übung?

Inzwischen starrte ich ziemlich hemmungslos hinter meinem Baumstamm hervor. Sie sahen sowieso nicht in meine Richtung. Sie schienen schwer auf ihr seltsames Tun konzentriert zu sein. Ich glaubte sogar, dass sie die Augen geschlossen hielten. Und wenn sie mich sahen – na und? Mittlerweile wäre das für die beiden mindestens so peinlich wie für mich, oder?

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Luna ihre Hände sinken und trat einen Schritt zurück. »Fuck!«, sagte sie.

Auch Lance bewegte sich. »Keine Chance, oder?«

»Nein, gar keine.« Luna schüttelte ihre Hände. »Ich konnte noch nie besonders gut Energie bündeln, aber wenn ich dann auch noch Stress hab … Sorry, Lance.«

»Fuck!«, fluchte auch Lance. »Sollen wir hierbleiben? Es später noch mal versuchen? Wir könnten … Ich weiß nicht … Wir könnten was singen. Oder tanzen. Alles, was uns hilft, unsere Blockaden loszuwerden. Uns zu verbinden.«

Bizarr. Hatte ich das wirklich richtig verstanden? Der coole Schönling Lance forderte seine Schwester auf, im Wald mit ihm zu singen? Um Blockaden loszuwerden? Waren die beiden Angehörige einer Sekte oder was?

»Ich glaube nicht, Lance.« Luna zuckte die Achseln. »Hör mal, ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute noch was wird. Ich stehe total neben mir, seitdem du mir erzählt hast, in was für einer Scheiße du steckst. Vielleicht ist es morgen besser. Oder übermorgen. Ich muss das erst mal verarbeiten!«

»Fuck!« Lance verbarg sein Gesicht kurz in seinen Handflächen. Dann beugte er sich über den Waldboden. Wahrscheinlich sammelte er die Gegenstände wieder ein. »Glaub mir, ich könnte mich ohrfeigen. Besonders, weil ich dich jetzt mit reinziehen muss.«

Luna legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast ja keine andere Wahl. Wir schaffen das schon, Lance!«

»Hoffentlich. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr.«

Luna sagte leise etwas, das ich nicht verstand. Der Sprachmelodie nach war es etwas Tröstliches. Lance jedenfalls legte danach seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich.

Als er sie losließ, griff Luna nach ihrem Rucksack und schwang ihn auf ihren Rücken. »Haben wir alles?«, fragte sie, jetzt wieder in normaler Lautstärke.

»Das Wichtigste auf jeden Fall!« Lance klopfte auf seinen Rucksack und schwang ihn ebenfalls auf den Rücken. Schon setzten die beiden sich in Bewegung und trotteten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Und der leider in meine Richtung führte. Hastig zog ich meinen Kopf zurück und rutschte so leise ich konnte mit meinem Rucksack noch ein wenig um den Baumstamm herum, sodass sie mich auch dann nicht sehen würden, wenn sie direkt an mir vorbeigingen.

***

Ich wagte erst wieder richtig zu atmen, als die beiden sich ein gutes Stück entfernt hatten. Wie seltsam das alles gewesen war! Was hatte ich da gerade eigentlich gesehen? Oder vielmehr – nicht gesehen. Was hatten die beiden vorgehabt? Was sollte das Gefasel von liefern müssen? Was waren das für rätselhafte Gegenstände, auf die sie sich konzentrieren wollten? Und in was für einer riesengroßen Scheiße steckte Lance? Das alles musste doch mit Drogen zusammenhängen! Aber selbst wenn ich meine ganze Phantasie zusammenkratzte, fand ich keine Erklärung für das Gesehene.

Vielleicht ging ich das Ganze auch falsch an? Vielleicht wollten die Geschwister keine Drogen produzieren, vielleicht hatten sie welche konsumiert und litten jetzt unter Wahnvorstellungen? Vielleicht war auch einer von den beiden – Luna? – psychotisch und total paranoid. Und der andere – Lance? – ging einfach nur darauf ein, so gut er konnte. Aber auch das wollte zu dem Gesehenen nicht so recht passen.

Ich blieb noch einen Moment sitzen und rappelte mich erst auf, als die Geschwister völlig außer Sichtweite waren. Das fehlte noch, dass ich die beiden einholte!

Aber darüber hätte ich mir ohnehin keine Sorgen machen müssen. Ich fühlte mich immer noch ein bisschen benommen und jeder Schritt fiel mir schwer. Widerwillig beschloss ich daher, dass es vernünftig war, wenn ich den gleichen Weg zurücknahm, den ich gekommen war.

Der Akku meines Handys war mal wieder leer und ich hatte heute keine Energie mehr für einen mehrere Kilometer weiten Umweg. Der Weg durchs Gebüsch mochte unbequem sein, aber es war immerhin ein Weg, den ich kannte.

***

Reichlich schmutzig und zerkratzt erreichte ich eine gefühlte Ewigkeit später unseren Garten. Erst als ich die Gartenpforte durchschritten hatte, merkte ich, dass ich meinen ursprünglichen Plan, nämlich Pflanzen für den Garten auszubuddeln, total vergessen hatte.

***

Abends stand ich am Herd, kochte Nudeln mit Tomatensauce und wartete darauf, dass meine Mutter zurückkahm. Sie hatte mir eben geschrieben, dass sie unterwegs war, und ich wollte sie mit einem warmen Essen empfangen. Ich muss gestehen: Ich freute mich auf ihre Rückkehr. Nachdem ich fast zwei Tage die volle Freiheit einer sturmfreien Bude genossen hatte, war mir allmählich wieder nach Gesellschaft.

Ich war mir immer noch unsicher, ob ich meiner Mutter von Lance und Luna und ihrem merkwürdigen Ritual erzählen sollte. Meine Mutter war immerhin hier aufgewachsen. Vielleicht kannte sie die Eltern der beiden von früher und wusste zum Beispiel, ob Geisteskrankheiten in der Familie lagen.

Andererseits würde meine Mutter es gar nicht gerne hören, dass ich mal wieder stundenlang allein im Wald herumgelungert hatte. Und über die goldenen Funken, die ich gesehen hatte, verlor ich besser kein Sterbenswort. Wenn ich ihr das erzählte, hatte ich garantiert gleich wieder einen Arztbesuch am Hals und nichts könnte aus meiner Sicht unnötiger sein.

***

Das Essen war schon lange fertig und die Tomatensauce bereits wieder kalt. Ganz allmählich machte ich mir Sorgen. Meine Mutter hätte längst ankommen müssen! So lang war die Strecke nun auch nicht. Ob sie noch irgendwo angehalten hatte? Oder hatte sie hier im Dorf jemanden getroffen? Eine alte Schulfreundin? Vielleicht hatte sie ja auch einen Platten und wartete irgendwo am Straßenrand auf einen Abschleppwagen?

Aber warum ging sie dann nicht an ihr Handy? Ich hatte schon drei Mal versucht sie anzurufen.

Na ja, beruhigte ich mich, wahrscheinlich war ihr Handy wieder einmal stummgeschaltet. Und falls es so etwas wie ein platter Reifen war, hatte sie gerade wahrscheinlich anderes zu tun, als mir Nachrichten zu schreiben.

Ich machte meiner Mutter einen Teller mit Spaghetti fertig, räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr. So nett war ich sonst nie, Mama würde begeistert sein, dass ich gekocht und gespült hatte.

Immer noch kein Motorengeräusch in der Einfahrt.

Allmählich wurde ich wirklich unruhig. Sie hätte vor einer guten Stunde hier sein müssen. Was war da nur los?

Ich nahm mein Smartphone und tippte:

Wo bleibst du??

Aber auch auf diese Frage erhielt ich keine Antwort.

***

Als unser Festnetztelefon eine Viertelstunde später klingelte, wusste ich, dass meiner Mutter etwas passiert war, noch bevor ich den Hörer abnahm. Es war nicht ihre Art, sich so zu verspäten und mir keinen Grund dafür zu nennen.

Mit klopfendem Herzen nahm ich den Anruf entgegen und hörte eine mir unbekannte Stimme sagen:

»Guten Abend! Ich bin Gisela Munch vom Heilig-Geist-Hospital. Spreche ich mit Greta Hansen?«

Diese Worte reichten, um mich in einen Schockzustand zu versetzen. Alles, was folgte, vernahm ich wie in Trance.

Meine Mutter war von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Man vermutete einen Wildunfall. Vielleicht war ein Reh vor ihr auf die Fahrbahn gerannt. Sie hatte mehrere verhältnismäßig harmlose Brüche. Und eine Kopfverletzung. Sie lag im Koma. War nicht ansprechbar. Wurde künstlich beatmet.

Wie lange sie verletzt im Auto gelegen hatte? Vermutlich nicht lange, die Straße war recht gut befahren.

Nein, sie hatte keine Schmerzen. Garantiert nicht.

Immerhin, sie lebte, oder?

»Ja«, murmelte ich schwach. »Immerhin.«

Lebte sie? War im Koma zu liegen nicht schon so etwas wie scheintot zu sein? Waren es nicht die Koma-Patienten, denen man Organe entnahm, damit andere Menschen leben konnten?

»Wie alt bist du?«, wurde ich gefragt.

Ich sagte es ihr und dann wollte sie wissen: »Ist eine erwachsene Person in der Nähe, die sich um dich kümmern kann? Deine Großmutter? Dein Vater?«

»Mein Vater ist tot«, informierte ich sie. »Meine Großmutter auch.«