Im Bann des Bernsteins - Manuela Tietsch - E-Book

Im Bann des Bernsteins E-Book

Manuela Tietsch

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Beschreibung

Die Kraft eines magischen Bernsteins ist es, welche die junge Kindergärtnerin Amber ins faszinierende und zugleich gefährliche mittelalterliche Hamenln versetzt, direkt vor die Füße des Rattenfämgers Elriam, in das Jahr 1284. Die dramatischen Ereignisse führen sie zudem in die geheimnisvolle Welt der Innerirdischen. Einer Welt, die schon seit Urzeiten von uns unentdeckt, im Inneren der Erde besteht. Ist Amber trotz aller Widerstände dazu auserwählt die Entführung der 130 Kinder Hamelns zu verhindern, ohne ihre aufkeimende Liebe zu Elriam zu verraten? Wird es ihr gelingen den kleinen Lovis zu retten, der sich ihr als treuer Freund in der Not zeigt? Und wird sie es schaffen wieder in ihre eigene Zeit zurückzukehren?

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Manuela Tietsch

Im Bann des Bernsteins

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Im Bann des Bernsteins

Prolog

Die Legende

Im Nebel

Die Ratten sind weg

Lovis

Hans der Bunte

Quernhamelen

Elriam

Der Bürgermeister

Die Hexe

Auf der Flucht

Unter der Erde

Die Einhörner

Die Riesen

Verrat

Leid und Verlust

Der Bernstein

Zuhause

Epilog

Impressum neobooks

Im Bann des Bernsteins

Manuela Tietsch

Roman

Inschrift des Hamelner Rathauses:

Im Jahre MCCLXXIIII nach Christi Gebort,

tho Hamelen worden vothgefort,

hundert von drittig Kinder daselbst geborn,

durch eynen Piper daselbst verlohrn.

Prolog

Elriam saß vor dem Höhleneingang der Weisen, auf einem großen Findling, dessen glatteste Seite, mit Moos bewachsen, nach Westen zeigte. Der Wind rauschte in den großen Laubbäumen, ließ die Blätter zittern. In der Ferne sang eine Singdrossel ihr stellenweise eintöniges Lied. Er strich mit seinen nackten Füßen über die schon hoch ausgewachsenen Gräser, deren Samenkörner sacht nach unten fielen.

Immer wieder kreisten seine Gedanken um das blonde Mädchen aus der anderen Zeit. Er konnte ihren verständnislosen, erstaunten Blick einfach nicht vergessen. Nachdenklich blickte er an seinem herbstlaubfarbenen Wams herunter. Er war ganz sicher, dass ihn das Mädchen gesehen hatte.

Großvater Garredoin trat aus dem Höhleneingang. Elriam blickte ihn nur kurz an, sah sein rotes, langes Gewand aus den Augenwinkeln bei jedem Schritt schmeichelnd seine langen Beine umfließen. Noch ehe er einen Blick in sein Gesicht warf, wusste er was folgen würde, daher sah er fast trotzig, zur Seite ins Gras.

Auf Garredoins Zügen gruben sich tiefe Sorgenfalten. „Er wär schon wieder eyn Mal unterwegs gewesen?“ Garredoin sah seinen Enkel ernst an. Er war noch so jung, so ungestüm und leider auch viel zu gefühlsbetont für einen Innerirdischen. Elriam schwieg und schluckte schwer; Garredoin wusste wohl, dass er ihn an einem wunden Nerv getroffen hatte.

Was sollte Elriam auch sagen, sein Großvater wusste ja doch schon alles.

Eine Windböe ließ die Blätter erneut erzittern, sein Großvater ließ sich nicht beirren.

„Was verspräch er sich davon? So er nicht aufpasst, könnet er werden wie seyn Vater.“

Elriam zuckte die Schultern, halb schuldbewusst, halb trotzig. Garredoin konnte einen Seufzer, der aus tiefster Kehle kam, nicht unterdrücken. Elriam blickte ihn kurz an, ehe er sich wieder den Bäumen zuwandte. „Ich wollt alles wissen!“

„Aber dazu müsst er doch nicht in der Zeyt, noch auf der Erdoberfläche umherwandern. Viele von uns kennen das Oben, kennen die Menschen. wir könnten ihm wohl gar alles erzählen, was er wissen wollt!“

Elriams Blick wanderte von den Bäumen zur Erde. Seine gewellten Haare, deren Farbe eine seltsame Mischung aus braun, blond und rot war, fielen ihm über die Stirn in das Gesicht. Er schubste mit dem Fuß einen kleinen Stein zur Seite, ehe er seinen Blick, anscheinend ziellos, in die Ferne schickte.

Als hätte er seinen Großvater vergessen, sagte er zu sich selber:

„Wen könnet es schon stören? Selbst wenn ich wollt, mich könnt doch gar niemand wahrnehmen, oder?“ Als er Garredoin plötzlich ansah, blickte er frei und herausfordernd. „Gäb es eynen Weg um eynzugreyfen? Könnten sie uns unter gewissen Umständen sehen?“

Garredoin versuchte aus den Zügen seines Enkels zu lesen. In der Nähe krächzte eine Krähe, als lachte sie. Garredoin war misstrauisch. „Warum stellet er diese fragen?“

Elriam schüttelte unwirsch den Kopf, machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nur so“, er hielt eine gedankenschwere Pause, „hätt ich eyne Möglichkeyt?“ Er sah, dass sein Großvater nachdenklich den Kopf schüttelte.

„Halt er sich eynfach von den Menschen fern! Es stiftet nur Unruh, wenn er auf der Erdoberfläche sey.“ Er seufzte wieder schwer, während er Elriam müde ins Gesicht sah. Ihm war klar, dass seine Worte auf unfruchtbaren Boden fielen, deshalb sagte er: „Bleyb er zumindest im Hier und Jetzt!“

Elriam hörte seinen Großvater sprechen, doch den Sinn seiner Worte verstand er nicht. Er musste bereits wieder an das junge Mädchen denken, deren Unfall er verursacht hatte. Er hatte seinen Großvater fast vergessen, als er leise sprach: „Sie hätt mich gesehen, ich wär mir gar sicher!“ Plötzlich erinnerte er sich wieder Garredoins, er blickte ihn fragend an. „Was hätt meyne Mutter, dass meyn Vater die Verbannung gewaget hätt? Wie wär sie geweysen?“

Garredoin blickte sinnierend in die Ferne; ehe er sprach, versuchte er sich Ethelruths Gesicht wieder in Erinnerung zu holen. „Sie wär gar eyn hübsches Mädchen“, sagte er leise, „doch eben nur eyn Mensch!“

Elriam wagte einen zweifelnden Blick auf seinen Großvater. War das alles, was er über seine Mutter erfahren sollte?

Die Legende

Die Kinder saßen um Amber verteilt auf dem Sofa, nur Oli saß kerzengerade auf dem Sessel, um in den Fernseher zu gucken. Sie schlackerten unruhig mit den Beinen vor und zurück, waren aufgekratzt. Man sah ja auch nicht alle Tage den eigenen Großvater im Fernsehen, räumte Amber mitfühlend ein. Zwar gab es die Übertragung nur im Regionalprogramm, aber für die Kinder war auch das etwas ganz Besonderes. Becki drückte sich eng an sie, während sie mit einer Hand an ihrem Ohrläppchen spielte. Nur Nicki interessierte sich noch nicht für das ganze Schauspiel. Seine hellbraunen Locken kringelten sich um das runde, noch sehr kleinkindliche Gesicht. Seine Züge waren fein und zart.

„Wann kommt denn nun endlich Großvater?“, fragte Oli.

Amber zuckte die Schultern. „Bestimmt gleich!“

Die Ansagerin las gerade die letzten Zeilen zu dem vorangegangenen Bericht. Amber atmete erleichtert auf, als sie die Rundum-Aufnahme der Stadthalle erblickte. Endlich, sie konnte die Kinder auch kaum noch beruhigen. Die Kamera schwenkte einmal im Saal herum, zeigte die vielen Menschen, die sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen wollten, ehe sie auf dem Rednerpult hielt. Ihr Vater stand aufrecht, eine recht gute Figur machend, neben einem schlaksigen Berichterstatter, der ihm aufdringlich das Mikro in das Gesicht hielt.

„Da! Da, ist ja Großvater!“ Die Kinder stürmten auf den Bildschirm zu, als könnten sie ihren Großvater dadurch berühren und um dichter am Geschehen zu sein.

Die Kamera zog erneut eine Runde im Saal; Leon und Ellen waren einen Augenblick zu sehen, ehe sie schließlich erneut auf dem Rednerpult zum stehen kam. Oli wandte sich aufgeregt an Amber. „Hast du auch gerade Mami und Papi gesehen?“

Sie nickte bestätigend, unnützerweise, da Oli sich bereits wieder dem Bildschirm widmete.

Der Berichterstatter stellte seine erste Frage. „Herr Bürgermeister Wiederhold, wie erklären Sie sich den diesjährigen großen Ansturm auf unser jährliches Rattenfängerfest?“

Amber sah, wie ihr Vater bei dieser Frage vor Stolz fast platzte.

„Wir konnten schon seit einigen Jahren regen Zuwachs feststellen. Auch weltweit, worauf ich sehr stolz bin. Es kommt also nicht ganz überraschend für uns!“

Der Berichterstatter lächelte aufmunternd. „Dann können wir dem Rattenfänger ja sogar dankbar sein!“

Ihr Vater lachte etwas gezwungen, sie merkte, dass der Mann ihn aus der Fassung brachte.

„Und das, obwohl Ihr Vorgänger von 1284 ihm nicht einmal den versprochenen Lohn gab!“ setzte er noch hinterher.

Ihr Vater erstrahlte. Damit hatte ihm der Berichterstatter das richtige Stichwort gegeben. „Ein dunkler Fleck in Hamelns Vergangenheit! Aber heutzutage halten wir unsere Versprechen natürlich. Auch die unserer Vorgänger! Die einhundert Goldstücke liegen bereits seit vielen Jahren für den Rattenfänger bereit!“ Er freute sich ehrlich, dem Berichterstatter das erzählen zu können.

Der lachte leicht anzüglich. „Und Ihre Tochter?“

Amber hätte ihn erwürgen können. Was stellte der Kerl denn für blöde Fragen. Ihr Vater wurde rot, lachte verunsichert.

Der Mann wandte sich an die Zuschauer. „Damit beenden wir die Übertragung aus der Stadthalle zum Auftakt der Rattenfängerfestlichkeiten. Morgen senden wir live den Rattenfängerumzug, und ho...“

Amber drückte schwungvoll auf den Ausschalter der Fernbedienung. Diesen blöden Kerl wollte sie sich nicht noch länger ansehen.

Die Kinder entspannten sich sichtlich. Sina blickte sie mit Augen, treu wie die eines Hundes, an. Amber ahnte was kommen würde. Sie schaute nach draußen, es braute sich ein Gewitter zusammen.

„Bitte, erzählst du uns die Geschichte vom Rattenfänger?!“

„Ja...Bitte!“, fielen die anderen ein.

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist doch gar keine schöne Geschichte, und außerdem kennt ihr sie schon!“

„Bitteeeee.....!“

Sie wusste, sie hatte keine Gelegenheit mehr, jetzt nicht mehr, nachdem sie schon auf die Frage eingegangen war. Warum hatte sie nicht ganz einfach nur NEIN gesagt! „Na gut, ihr habt es so gewollt. Aber hinterher nicht wieder kommen, dass ihr nicht schlafen könnt, weil ihr solche Angst habt!“

Ein lauter Donnerschlag ließ die Luft erzittern. Die Kinder hüpften urplötzlich noch näher an Amber heran. Sie musste lachen, soviel zum Thema Angst. Oli, Nicki und Becki machten es sich währenddessen neben, und auf ihr gemütlich, Sina holte sich noch ein Glas Saft, dann setzte auch sie sich zu ihnen.

Amber begann gekonnt zu erzählen, denn das hatte sie als Kindergärtnerin gelernt.

„Als der Rattenfänger, namens Hans Bunting, die schöne Margret das erste Mal erblickte, war es um ihn geschehen. Er folgte ihr bis zum Hause ihres Vaters, des Bürgermeisters. Ihm war klar geworden, dass er das Herz dieser schönen jungen Frau nur erobern konnte, wenn er etwas Außergewöhnliches vollbrachte. So wollte er die Ratten vertreiben, denn das hatte bisher noch niemand geschafft. Als er jedoch vor den Ratsherren und dem Bürgermeister stand, hatte er doch ein sonderbares Gefühl im Bauch. Der Bürgermeister wollte ihm seine Tochter natürlich nicht ohne weiteres geben, und die einhundert Goldstücke erst Recht nicht. Aber was sollte der Geiz; erst einmal sehen, ob dieser Landstreicher in seinen bunten Kleidern überhaupt halten konnte, was er versprach und so sagte er zu. Der Rattenfänger machte sich am nächsten Morgen sogleich an die Arbeit. Mit seiner Zauberflöte, die ihm einst ein weiser Mann schenkte, lockte er alle Ratten aus der Stadt und in die Weser.“

Becki starrte sie mit großen Augen an. „Das war aber nicht sehr nett von ihm. Da haben die Ratten bestimmt um Hilfe gerufen.“

Amber nickte. „Ja, das haben sie wohl, aber Ratten können gut schwimmen, ganz sicher konnten sie sich retten.“

Becki strahlte wieder glücklich, damit war sie zufrieden.

Amber erzählte weiter. „Wie tobten und jubelten da die Bürger von Hameln, als endlich die Ratten fort waren. Hans Bunting sah sich das Treiben eine Weile an, ließ sich von den Bürgern feiern, ehe er in das Rathaus ging, um seinen Lohn abzuholen. Er sollte jedoch eine böse Überraschung erleben, denn das Versprechen wurde gebrochen, und noch schlimmer, man jagte ihn mit Schimpf und Schande fort. Das hätten die Leute lieber nicht tun sollen. Hans war sehr wütend. So wütend, dass er ihnen Rache schwor, und er hielt sein Wort. Am Johannistag kam er wieder. Er trug dieses Mal ein anderes Gewand und sah auch anders aus, aber es bestand kein Zweifel, dass er mit seiner Flöte seinen Lohn einklagte. Die Kinder waren wie von Sinnen, folgten ihm tanzend und singend aus der Stadt. Niemand konnte sie aufhalten. Und so verschwanden 130 Kinder, unter ihnen auch die schöne Tochter des Bürgermeisters, Margret, auf Nimmerwiedersehen, im Koppenberg. Nur ein kleiner blinder Junge und ein stummes Mädchen kamen nach vielen Wochen zurück. Doch der Blinde hatte nichts gesehen und die Stumme konnte nicht darüber reden. So erfuhr nie ein Mensch, was mit den armen Kindern geschah.“ Amber genoss die Schweigeminute, die entstand, nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte. Jeder dachte für sich an die Legende, machte sich nach eigener Fantasie Bilder dazu. Lächelnd blickte sie auf Nicki hinunter, der mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen war.

Schließlich brach Becki, natürlich Becki, das Schweigen. „Opa hätte ihm doch den Lohn gegeben, oder?“

„Ganz bestimmt!“

Oli legte eine nachdenkliche Miene auf. „Meinst du, Opa würde dich an den Rattenfänger versprechen, wenn dieser jetzt hier wäre?“

Amber lachte. „Das läuft heutzutage Gott sei Dank etwas anders. Ich kann mir meinen Mann immer noch selber aussuchen.“

Oli war noch nicht zufrieden. „Und warum hast du noch keinen Mann?“

Amber lächelte, obwohl sie das Gefühl hatte, ihr hätte jemand einen Tiefschlag verpaßt. Warum nur mussten Kinder ihre kleinen bohrenden Finger immer genau in die tiefsten Wunden stecken?! „Ich habe eben einfach noch nicht den richtigen gefunden, mein Schatz.“ Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. „Hm, wer weiß, vielleicht warte ich einfach bis du groß bist!“ sagte sie lächelnd.

Oli strahlte über das ganze Gesicht. „Das wäre toll, dann könntest du uns immer Geschichten erzählen!“

Amber lachte. Kinderfolgerung. Sie blickte erneut durch das Fenster des Wohnzimmers nach draußen, wo sich noch immer das Gewitter austobte.

Ein dicker, gezackter Blitz durchzuckte die Nacht, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Sie würde die Kinder bei diesem Wetter nicht ins Bett bekommen, sie brauchte es gar nicht erst versuchen. Also blieben sie sitzen.

Als Leon und Ellen etwa eine halbe Stunde später zur Tür hereinkamen, schliefen die Kinder bereits alle auf dem Sofa, und auf Amber. Leon lachte gutmütig und Gemeinsam brachten sie die Kinder in ihre Betten. Amber ging in den Flur, sie war irgendwie müde, wollte nach Hause. Das Gewitter war weitergezogen, es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Sie nahm ihre Tasche von der Kommode. Ihr Bruder tauchte in der Wohnzimmertür auf, während sie sich die Jacke anzog. Er sah abgespannt aus.

Amber lächelte ihn an. „Ich will los, Leon. Bin ziemlich müde.“

Er nickte. „Bist du sicher, dass ich dich nicht bringen soll?“

„Ja, ich gehe gern ein Stück zu Fuß.“

Leon gab sich noch nicht geschlagen. „Danke fürs Aufpassen! Hast du dein Handy dabei?“

„Ach Leon! Es sind noch nicht einmal fünf Minuten bis zu mir.“ Sie gab ihm einen schwesterlichen,  wohlmeinenden Kuss auf die Wange.

Ellen erschien hinter Leon.

Amber winkte ab, als sie sah, dass ihre Schwägerin sie dasselbe fragen wollte wie eben Leon. „Wirklich, ich bin doch kein Kleinkind mehr. Was soll denn passieren?“

Leon lächelte entwaffnend. „Warte mal: Erstens der Himmel könnte dir auf den Kopf fallen, zweitens du könntest bis zum Mittelpunkt der Erde stürzen, drittens dir könnte wieder ein Geist begegnen.“

Zack. Das saß. Aber sie machte gute Miene zum schlechten Gefühl. „Hör endlich auf!“ Ihr fröstelte ein wenig, als sie die Haustür öffnete.

Leon versuchte sie noch einmal mit Blicken zu überzeugen.

„Leon, wenn du sehen würdest, wie müde du aussiehst, dann würdest du mir nicht vorschlagen, mich nach Hause zu bringen. Grüßt die Kinder morgen von mir.“

„Du könntest doch zum Essen kommen!“ sagte Ellen.

Amber schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, bin ich auch mal froh, wenn ich keine Kinder sehe.“

Leon wirkte ungläubig. Er wusste, wie sehr sie Kinder und ihre Arbeit im Kindergarten liebte und wie sehr sie darunter litt, durch ihren Unfall nicht mehr fähig zu sein, eigene Kinder zu bekommen. Trotzdem nickte er.

Amber trat einen Schritt hinaus. Sie atmete die Nachgewitterluft tief ein. Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Bruder und Ellen um. Sie umarmten sich herzlich, ehe sie weiterging. Sie hob noch einmal den Arm zum Gruß, ehe sie noch einen tiefen Zug der würzigen Luft einsog.

Leon blickte ihr einen Augenblick nachdenklich nach, derweil sie die Stufen der Treppe hinunterging, um fast wie eine Elfe vom dichten Nebel verschluckt zu werden. Er schloss die Tür.

Im Nebel

Amber genoß den feuchten Sommerabend. Die Luft war lau. Der Nebel zum Schneiden dick. Das Gewitter hatte die Natur schon vergessen, den Regen dankbar aufgenommen. Sie schlenderte nachdenklich weiter. Die Geschichte des Rattenfängers ging ihr nicht aus dem Sinn. Wie konnten die Leute das einfach so hinnehmen? Was war wohl wirklich geschehen im Jahre 1284? Die Hacken ihrer Sandalen hinterließen eine leise, eintönige Weise auf dem Asphalt. Eine Weile ließ sie sich von dem Geräusch dahintreiben. Hätte der damalige Bürgermeister dem Rattenfänger seinen versprochenen Lohn nur gegeben, dann wäre das Unglück doch nie geschehen. Außerdem stand es ihm zu. Sie musste über ihre Gedanken lachen. Es hieß nicht umsonst Rattenfängerlegende.

Wie schnell konnten Gerüchte in Umlauf sein, wie schnell bekam man einen guten oder auch einen schlechten Ruf! Wie auch immer, sie dankte Gott aus tiefstem Herzen, dass sie im Hier und Jetzt lebte und nicht im Mittelalter.

Sie schob gedankenverloren ihre Hand in ihre Hosentasche. Plötzlich fühlte sie den Stein wieder. Sie hatte ihn dort total vergessen. Mit einem gemischten Gefühl holte sie ihn heraus, um ihn auf der ausgestreckten Hand liegend zu betrachten. Unerwartet leuchtete er wieder. So wie heute Nachmittag, als sie und die Kinder ihn gefunden hatten. Als würde im tiefsten Inneren eine Flamme lodern. Klopfend, wie ein Herz.

Und wieder fühlte sie sich ganz eigenartig, traurig, glücklich, verloren und doch wiederum behütet. Das war zu sonderbar mit diesem Ding. Nachdem sie ihn in der Gosse hatte leuchten sehen, hatte sie alles dafür getan, um an ihn heranzukommen. Mit Mühe und Not war es Oli gelungen, ihn aus dem Schacht zu ziehen. Doch in dem Augenblick, da sie ihn in die Hand nahm, hörte das Leuchten augenblicklich auf. Sie hatte sich gefragt, was sie veranlaßte, solch einen häßlichen Klumpen aufzuheben. Sie war sicher, sich getäuscht zu haben, etwas anderes hatte geleuchtet. Eine Sonnenspiegelung vielleicht. Die Kinder waren jedoch fest überzeugt, einen magischen Schatz entdeckt zu haben, der auf jeden Fall zu Amber wollte, so dass sie sich gezwungen sah, ihn in ihre Hosentasche zu schieben, obwohl sie ihn eigentlich wegschmeißen wollte.

Nun lag er in ihrer Hand und leuchtete, hätte sie geschienen, mit der Sonne um die Wette. Das Licht wurde immer stärker, flackerte auf wie ein Feuer, welches neue Nahrung bekam.

Eigenartigerweise bemerkte sie jetzt erst, hatte sich auch die Oberflächenstruktur des Steines verändert. Er fühlte sich glatt wie Seide an. Sachte strich sie mit dem Daumen darüber. Nur an einer Seite war er uneben, als wäre er an dieser Stelle zerbrochen. Ja, als gäbe es irgendwo noch eine zweite Hälfte. Sie sollte das nächste Mal mit den Kindern nachschauen, ob sie nicht noch dort lag. Mit einem Mal hatte sie das starke Bedürfnis, den Stein wie schützend in ihrer Hand zu verbergen und ihn dicht an ihr Herz zu drücken.

Die Faust mit dem gelben Stein fest an ihre Brust gedrückt, richtete sie das erstemal wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung. Der Nebel hatte sich inzwischen gehoben; es lag nur noch ein feiner Dunstschleier in der Luft. Schließlich musste sie hier irgendwo abbiegen. Ihr Blick suchte die dunkle Straße nach der richtigen Abzweigung ab.

Irgendetwas beunruhigte sie, wenn sie auch nicht hätte sagen können was. Sie fühlte sich seltsamerweise fremd, wie jemand, der ein ihm unbekanntes Land besucht. Auf ein Aha-Erlebnis wartend, blickte sie an den Häusern hoch. Es war jedoch alles wie immer.

Dort stand Oma Lieses kleines Fachwerkhaus, dort die Villa von...Wo in Gottes Namen war die Villa? Sie verfluchte lautstark die Laternen, die schon wieder einmal kaputt waren. Wie sollte sie bei diesem Licht erkennen, wo sie sich befand. Vielleicht hatte sie sich ja völlig im Nebel verlaufen. Mit einem mürrischen Blick versicherte sie sich erneut des Standortes von Oma Lieses Haus. Dennoch verunsicherte sie irgend etwas. Sie trat einen Schritt auf die Häuserwand zu, begutachtete diese genauer. Das wars! Die Fenster, Türen, ja sogar das Mauerwerk schienen gerade erst wieder bewohnbar gemacht worden zu sein. Wann war denn das geschehen? Sie hatte weder Gerüste noch Arbeiter bemerkt. Das Haus war doch ihres Wissens mindestens siebenhundert Jahre alt, jetzt sah es aus wie frisch erbaut. Unmöglich, sie musste sich täuschen.

Dies konnte nicht das geheimnisvolle, gefährliche Haus sein, indem sie mit ihrem Bruder und ihren Freunden Verstecken spielte. Gerade als sie ungläubig die feuchten Steine berühren wollte, hörte sie das leise Stöhnen.

Ängstlich blickte sie die Straße entlang. Eine große, gekrümmte Gestalt lehnte an der Wand des Nachbarhauses. Sehr vorsichtig, sich hilfesuchend nach allen Seiten umblickend, ging sie ein paar Schritte auf die Gestalt zu. In ihrem Magen tobten indes irgendwelche Wesen, von deren Vorhandensein sie bisher noch gar nichts wusste, oder doch; schon einmal in ihrem Leben hatte sie diese eigenartigen Schmetterlinge in sich gefühlt. Ebenso wie die feuchten Hände und das empfindliche Schlucken und Räuspern.

Sie schloss die Augen, um die Gedanken an dieses Erlebnis zu verscheuchen, erreichte damit jedoch genau das Gegenteil. Wieder sah sie den jungen Mann. Wieder das schreckliche Geschehen, das sie seit dem nie wieder ganz losließ. Und wieder sah sie die bernsteinfarbenen Augen, die sie unbeirrt beobachteten, während mehrere Autos durch seinen Körper fuhren, als stünde dort niemand.

Unerwartet zuckte sie zusammen, wie damals, als sie verstört durch den Geistermann, ohne aufzupassen, über die Kreuzung gelaufen war und die folgenschwerste Bekanntschaft mit einem Lastwagen machte, die sie je hatte. Wieder spürte sie den heftigen Stoß und Schmerz in ihrem Unterleib. Wieder hörte sie die Leute aufschreien, ehe ihr schwarz vor Augen geworden war.

Sie merkte, wie ihr der kalte Schweiß die Wirbelsäule hinunterlief. Konnte sie nicht endlich vergessen! Wütend öffnete sie die Lider und blickte unvermittelt in zwei bernsteinfarbene Augen!

Ihre Knie wurden butterweich. Eben noch war der Himmel wolkenverhangen, hatte keinen Strahl durchgelassen, doch jetzt riss die Wolkendecke auf, ließ den Mond sein fahles, dennoch starkes Licht hinunterstrahlen.

Sie konnte den Blick nicht abwenden von diesem auffallenden, von herbstblattbunten Haaren umrahmten Gesicht. Von diesen magisch wirkenden, seltenen Augen, mit dieser außergewöhnlichen Farbe. Ihr stockte der Atem, indes ihr ein Stöhnen des Unfassbaren über die Lippen entfloh. Ein Alptraum!

Sie wollte sich abwenden, den Blick lösen, doch sie konnte sich nicht entziehen, obwohl ihre Haut kribbelte, als säßen tausend Ameisen auf ihr. Ihre Körperhaare stellten sich auf.

Dieser Mann, Geist, wer auch immer, übte eine ungeheure Anziehungskraft auf sie aus, gleichzeitig war er der unheimlichste Mensch, dem ihr je begegnet war. Schweigend blickten sie sich an. Die Zeit flog dahin, doch sie hätte nicht sagen können, ob sie dort schon seit Stunden standen oder erst seit wenigen Minuten. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, trotz des lauen, warmen Wetters draußen.

Der Mann schien ebenso beunruhigt wie sie. Ja, sie glaubte auf seinen Zügen sogar dasselbe Erstaunen über ihr Zusammentreffen zu erkennen, wie sie es in sich spürte. Unerwartet wanderte sein Blick zur Seite, als befürchtete er einen Feind.

Damit gab er ihnen endlich die Gelegenheit ihre Blicke zu befreien.

Aus rauher Kehle rief er aus. „Ihr?!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie seyd ihr hier her gelanget?“

Amber lachte trocken auf. Das war ja wohl die Höhe. Wieso stellte er ihr solch eine Frage, noch dazu in dieser seltsamen Mundart. Der Bann war für einen Augenblick gebrochen.

Sie schob den Stein unbewusst wieder in ihre Hosentasche, während sie ihm patzig antwortete. „Und du! Zufällig wohne ich hier, in dieser Stadt!“

Er zauberte, trotz seiner offensichtlichen Schmerzen, ein wissendes, fast überhebliches Lächeln auf seine Lippen. „Ich weyß,“ sagte er,“ aber nicht in dieser, meyner Zeyt!“