Die flüsternde Mauer - Manuela Tietsch - E-Book
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Die flüsternde Mauer E-Book

Manuela Tietsch

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Beschreibung

Immer wieder zog es Alanis an dieselbe Stelle und jedesmal hatte sie das Gefühl, es käme ein Flüstern aus der Mauer. Bis zu dem Tag, an dem ihre Neugier siegte und sie, die vor Jahren gefundene geheinmisvolle neuneckige Holzscheibe, in die passende Öffnung schob. Dass es Magie wirklich gab, hätte sie sich niemals träumen lassen, doch sie muss mit Haut und Haar erleben, wie sie sich anfühlt.

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Seitenzahl: 350

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Manuela Tietsch

Die flüsternde Mauer

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Gedanken

Prolog

Allein im Dunkel

Sorgen

Nicht allein

Die geheime Tür

Unauffindbar

Nicht von dieser Welt

Seyd gegrüsset

Ein Scherz?

Neue Welt

Sarwiga

Das Schwein

Wo bist du?

Falsche Richtung

Unterwelt

Ein Rätsel

Neun Steine

Wieder in der Höhle

Was für ein Leben?

Der Magier

Auf dem Weg zu Sarwiga

Die wilden Schweine

Sarwigas Rache

Was für eine Frouwe?

Kein Hinweis

Sunhild

Askwins Burg

Misstrauen

Hoffnungslos

Genugtuung

Das zweite Leben

Das Zeichen

Über Manuela Tietsch

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Impressum neobooks

Gedanken

Solange Menschen denken,

dass Tiere nicht fühlen,

müssen Tiere fühlen,

dass Menschen nicht denken.

(Verfasser unbekannt)

Prolog

Askwin hielt einen Augenblick inne, nahm die Hand von der Holzbank fort. Er täuschte sich nicht, sie war hinter ihm her und sie würde ihn finden, egal wo er sich versteckte. Wenigstens war der Stein in der Holzscheibe hier sicher versteckt, so sicher, wie er eben in der Eile versteckt sein konnte. Die Bank war das Beste, was er auf die Schnelle finden konnte und es war so offensichtlich, dass niemand ein Versteck darin vermuten würde! Er lehnte sich an die Mauer und starrte auf die Tür zur Halle.

Sein Körper zuckte zusammen, als Sarwigas Stimme vermeintlich zärtlich neben ihm zu säuseln begann. Wie war sie unbemerkt neben ihn getreten? Er wandte sich erschrocken um und starrte in die kalten Augen der schönsten Frau, die er jemals gesehen hatte. Unwillkürlich begann sein Körper zu zittern. Hatte sie gesehen, wie er die Scheibe versteckt hatte? Er betete inständig es möge nicht so sein.

„Nun, Askwin, wollet ihr mir nicht zumindest meynen Steyn wiedergeben? Wenn ihr meynen Reyzen nicht geneyget seyd, gut, das könnt ich gar nicht ändern, doch meyn Eygentum, das wollt ich zurückhaben!“

Wenn er ihr den Stein zurückgab, hatte er kein Druckmittel mehr. Er musste ihr viel bedeuten, viel mehr, als er geglaubt hatte. Um sein Leben zu retten, musste er ihn hüten wie seinen Augapfel. Er schüttelte den Kopf verneinend.

„Ihr meynet ihr könnet mich eynschüchtern?“ Sie lächelte höhnisch, überheblich. „Das hätten schon mehr getan und fraget nicht, wo diese sich inzwischen befinden!“

Sicher waren sie tot, daran zweifelte er nicht einen Augenblick! Nur mit Mühe brachte er schließlich die Worte heraus: „Ich werde ihn gar verwahren. Ihm sollt nichts geschehen, doch zu meyner Sicherheyt, sollet ihr ihn erst wieder zurückerhalten, wenn ich sicher seyn könnt, dass ihr mir keynen Schaden mehr antun wollet!“

„Euch Schaden? Askwin, ich wollt doch ganz anderes von euch, das wisset ihr doch?“ Sie trat noch näher, dass er ihren kalten Atem an seinem Hals spürte und strich mit ihrem Daumen, dessen Fingernagel beinahe halb so lang war wie der Daumen selber, unter seinem Kinn entlang. Er fragte sich in diesem Augenblick, weshalb ihr Atem kalt war und nicht heiß, wie er hätte sein müssen.

Ein kalter Schauer überlief seinen Rücken und seine Hände wurden eiskalt. Und wenn sie noch so schön war, einen noch so anziehenden Körper besaß, er würde ihren Reizen nicht erliegen. Er schüttelte erneut den Kopf.

Ihre Gesichtszüge, die bis eben noch schmeichelnd, freundlich gewesen waren, veränderten sich schlagartig. Ein gefährlich drohender Ausdruck erschien in ihren Augen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. Sie hob drohend den Arm und spreizte ihre Finger.

Die Tür zur Halle öffnete sich, Farald und seine Mutter traten in den dunklen Gang. Farald hielt die Fackel nach vorne, um seiner Mutter zu leuchten. Askwin überfiel Angst. Wenn Sarwiga ihnen etwas antun würde, er würde es nicht ertragen. Doch er versuchte seiner Gefühle wieder Herr zu werden, so schnell wie sie gekommen waren, damit Sarwiga ihn nicht durchschaute.

Sarwiga war einen winzigen Augenblick verwirrt, doch sie fing sich schnell wieder. Sie sah zu den beiden, dann wieder zu ihm, und ein gemeines Grinsen überzog ihre Lippen.

„Glaubet ihr gar, die beyden könnten euch helfen?“ Sie lachte auf.

Askwin schaute zu seiner Mutter und seinem Bruder, die inzwischen beinahe bei ihnen angekommen waren. Farald lächelte und fragte nach: „Askwin?“

Sarwiga wandte sich wieder um. Sie hob beide Arme und spreizte die Finger der linken Hand, während sie die rechte zur Faust ballte, als hielte sie etwas darin. Sie wischte in der Luft herum, wedelte mit den Armen umher.

Ihm wurde schlecht. Er sah wie sein Bruder und seine Mutter die Augen kurz verdrehten und daraufhin die Lider schlossen, ehe sie nebeneinander auf den Boden fielen. Was hatte Sarwiga ihnen angetan? Er versuchte an ihre Kehle zu kommen. Er würde sie mit seinen bloßen Händen erwürgen! Plötzlich musste er innehalten. Seine Hände und seine Arme, sein ganzer Körper gehorchten ihm nicht mehr. Erschrocken sah er in Sarwigas gehässiges Gesicht.

„So du nicht tuest, was ich wollt, wirst du fühlen, was es heißt, Sarwiga zu trotzen!“ Sie spreizte die Finger beider Hände erneut, soviel nahm er noch wahr, unfähig zu einer einzigen Bewegung. Am Boden lagen Farald und seine Mutter. Sein Herz klopfte heftig.

„Du wirst slafen, solange ich es wollt! Und du wirst slafen unter den Augen derer Menschen, die dir wichtig seyn und denen du wichtig seyst! Doch glaub mir, meyn Guter, niemand wird dich gar sehen, noch erretten können, soviel der Liebe gäb es gar nicht!“ Sie kreischte ohrenbetäubend. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch seltsamerweise spürte er trotzdem, was sie ihm antat. Er spürte jeden Stein, der sich um ihn festigte, als würde er damit beworfen werden. Trotzdem brachte er nicht einen einzigen Schreckensschrei über die Lippen. Die Einsamkeit umfing ihn.

Allein im Dunkel

Ein eisiger Lufthauch zog durch die Dunkelheit. Ich umarmte mich zitternd, trotzdem wurde mir nicht wärmer. Ich musste mich in einem Keller befinden oder in einem geheimen Gang? Völlige Finsternis, ich konnte nichts erkennen, nicht einen winzigen Lichtstrahl. Die Luft roch – und schmeckte muffig, abgestanden. Ich brauchte die Pilze, Sporen und Keime nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie da waren. Selbst der Fußboden war glitschig feucht und stank. In diesem Raum hatte sich sicher seit Jahrhunderten kein menschliches Wesen mehr aufgehalten. Ich befühlte die Beule an meinem Kopf.

Der Sturz war heftig und die Landung noch mehr. Wie lange war ich wohl bewusstlos gewesen? Das Zeitgefühl war wie weggeflogen.Verdammmt, warum hatte ich mein Handy im Zelt gelassen? Meine Knochen taten weh, morgen hatte ich sicher überall blaue Flecken. Vermutlich hatte ich sie auch jetzt schon? Ich legte den Kopf in den Nacken, oben müsste doch die Öffnung zu sehen sein, durch die ich gefallen war? Nichts, nur Dunkelheit und Stille. Unheimliche Stille. Ich streckte die Arme aus und tastete suchend nach meinem Rucksack, er lag neben mir. Schritt für Schritt ging ich weiter vorwärts. Da stieß ich schon an eine Mauer. Meinen Ekel vor dem Unüberschaubaren überwindend tastete ich mich weiter an der Wand entlang bis zu einer Ecke. Und zur nächsten. Langsam ging es weiter, eins, zwei, drei, vier und beinahe fünf Schritte. Also etwa vier Meter, denn meine Schritte waren nicht ganz einen Meter lang. Weiter und wieder zählen. Eins, zwei, drei, vier. Ein viereckiger Raum, etwa vier Meter auf jeder Seite. Zur Sicherheit ging ich auch noch die nächste Wand entlang bis zur Ecke und weiter. Plötzlich war die Wand weg, ich stürzte beinahe nach vorn ins Leere, fing mich, hielt inne und atmete tief ein und aus. Das konnte nur bedeuten, dass hier ein Gang war und er weiter führte. Der Raum war also nur Teil oder Abschluss eines Ganges. Ich kniete mich vorsichtig auf den glitschigen Boden und tastete den Türbogen ab. Tatsächlich eine Tür. Und es gab auch einen Boden auf der anderen Seite, ich würde nicht in die dunkle Tiefe stürzen. Auf den Knien rutschte ich weiter, die Arme und Hände nach vorn gerichtet, eine auf dem Boden entlangtastend, die andere nach vorn ausgestreckt. Noch langsamer als zuvor kroch ich auf dem Boden vorwärts, zwischendurch fasste ich mit einer Hand die Wand an, die andere blieb am Boden. Die Zeit war nicht einzuschätzen. Schließlich gelangte ich an das Ende des Ganges. Meine Hand tastete ins Leere. Ich folgte der Wand um die Ecke und weiter bis zur nächsten. Es musste sich um einen weiteren Raum handeln, so groß wie der andere. Ich kroch weiter im Viereck, bis ich zum Eingang des Ganges zurückkam.

Also zwei Räume etwa vier mal vier Meter, verbunden durch einen beinahe zehn Meter langen Gang. Wie eigenartig. Handelte es sich um einen vergessenen oder unbenutzten Flur der Burg? Allmählich drang die Erkenntnis durch: Es gab keine Tür! Ich war gefangen. Niemand hatte gesehen, wie ich die runde Holzscheibe in die Wand gedrückt und sich die Tür darin geöffnet hatte, geschweige, dass ich dahinter verschwunden war. Niemand würde mich hier suchen. Wusste denn jemand von diesem Gang, der geheimen Tür und dem geheimnisvollen Scheibenschlüssel aus Holz?

Ich musste an den Augenblick denken, als ich ihn vor vielen Jahren gefunden hatte. Nur weil ich näher an die Wand getreten war, um das Flüstern deutlicher zu hören und um wahrzunehmen, woher es kam, war ich an die Holzbank gestoßen, und nur deshalb war der Schlüssel aus seinem Versteck gefallen. Hätte ich ihn bloß niemals eingesteckt! Ich hatte ihn viele Jahre als meinen geheimen Schatz behalten und nie jemandem davon erzählt! Es wäre wohl doch besser gewesen, ich hätte ihn schon damals, als ich ihn gefunden hatte, zurück an die Burgbesitzer gegeben!

Hatte ich womöglich mit meinem ausgeprägten Erkundungssinn und meiner Neugier etwas entdeckt, was seit Jahrhunderten niemand mehr betreten hatte? Mir war, als greife eine eisige Hand nach mir. Ich setzte mich trotz des Ekels an die Wand neben dem Gang und versuchte mich zu beruhigen. Im Kopf ging ich den Weg nach, den ich durch die Burg gelaufen war und mit einem Mal kam die Erinnerung zurück. Ich musste an meinen ersten Besuch auf der Burg denken, als meine Mutter, mein Vater und mein Bruder noch glücklich und lebendig waren. Auch damals war ich unbefangen durch die Gänge und Flure gelaufen. Ich hatte damals wie heute, wie jedes Mal, wenn ich hier zur Burg kam, alles gierig aufgesogen. Nur leider hatte ich dabei vergessen, mich nach geheimen Gängen zu erkundigen!

Zuerst die große Halle, dann den kleinen Gang entlang und nach rechts in den breiteren. Er hatte einen Knick gemacht und war, wenn ich meinem Ortssinn trauen durfte, beinahe wieder zurück in Richtung Halle verlaufen. Also müsste auch dieser Gang noch nahe der Halle sein. Jäh fiel mir auf, was ich längst hätte bemerken müssen, doch ich hatte es völlig verdrängt. Als ich damals die Scheibe gefunden hatte, lag diese bei der Geheimtür. Nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einer geheimen Tür, oder davon, dass dieses Holzstück mit den geheimnisvollen Zeichen darauf und dem eingefassten Stein darin ein Schlüssel dafür war.

Wenn ich gegen die Wand schlug und laut rief, vielleicht hörte mich jemand mit guten Ohren? Mir war ganz mulmig zumute. Und wenn ich viel länger ohnmächtig dort gelegen hatte? Womöglich war die Besuchergruppe längst wieder draußen im Hof. Und selbst wenn Mattes und Luisa mich vermissten, so wussten sie doch nicht, wo sie suchen sollten. Schließlich war ich wie vom Erdboden geschluckt. Vermutlich glaubten sie, ich wäre zum Lager zurückgekehrt? Ich schloss die Lider, meine Beule pochte. Wenigstens war es keine Platzwunde. Ich war doch nicht zum ersten Mal hier in der Burg zu Besuch, ich war zu neugierig. Dieses Wispern hatte mich verrückt gemacht. Jedes Mal, wenn ich vor der Wand in dem Gang gestanden hatte, hörte ich es, wie ein Raunen. Selbst wenn ich zu Hause war, ließ mich das Flüstern nicht los, ich musste immerzu daran denken. Und warum nur zog mich diese Burg so stark an? Und warum diese Wand? Hätte nicht jemand anderes den Schlüssel finden können? Einer, der ihn brav zum Burgführer getragen hätte!

Es gab viel schönere Burgen, weshalb wollte ich immer nur wieder hier her? Ich rieb meine Oberarme, wenn es nur nicht so kalt wäre. Mein Magen knurrte und ich hatte Durst. Wie lange musste ich wohl hier ausharren? Wann würden sie auf den Gedanken kommen, mich hier zu suchen? Mir blieb anscheinend viel Zeit zum Nachdenken! Würden sie womöglich niemals darauf kommen?

Es war mir ein Leichtes im Geiste den Weg durch die Burg zu gehen. Ich lächelte, während mir die Tränen in die Augenwinkel schossen. Nie wieder würde ich mit meinen Eltern oder meinem Bruder diese Burg besuchen und auch keine andere mehr. Ich vermisste sie so sehr! Beinahe konnte ich die warme Hand meiner Mutter spüren oder die starken Arme meines Vaters.

Ich hatte ihnen niemals von dem Ritter auf dem Bild erzählt oder von der flüsternden Mauer oder der merkwürdigen Holzscheibe, die sich als Schlüssel entpuppt hatte. Hätte ich es bloß getan, nun war es zu spät! Und trotzdem, jedes Mal, wenn ich hier herkam, führte mein Weg zuerst zum Bild des jungen Ritters ohne Namen und noch immer schien er mir etwas sagen zu wollen.

Wahrscheinlich hatte ich mich schon im ersten Augenblick in ihn verliebt. So lächerlich das auch war, sich in das  Bildnis eines Mann zu verlieben, der dazu noch in eigentümlicher mittelalterlicher Art gemalt war. Er war schon seit Jahrhunderten tot. Hatte vermutlich niemals wirklich gelebt. Ich war ein verträumtes, sehr junges Mädchen mit verklärten Vorstellungen gewesen. „Ritter ohne Namen“ war der Titel unter dem Bild. Seltsam, ich konnte mir dieses Bild so genau ins Gedächtnis rufen, als stünde ich vor ihm. Der Ritter ohne Namen hatte dunkelrotbraune Haare und grüne Augen. So grün, wie ich niemals zuvor Augen gesehen hatte. Sicher hatte sich der Maler daran ausgetobt, niemand konnte in Wahrheit so grüne Augen haben. Der Ausdruck des Ritters war das schlimmste an dem Bild. Er sah so traurig aus, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Und jedes Mal, wenn ich von dem Bild fortging, hatte ich das schreckliche Gefühl, ihn, den Ritter ohne Namen, zu verraten! Lächerlich, ich kannte ihn nicht einmal und er hatte sicher zu einer Zeit gelebt, von der ich nur träumte.

Inzwischen war ich nicht mehr verträumt, sondern abgeklärt und trotzdem lief es mir heiß den Rücken hinunter und Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch, wenn ich in die gemalten Augen des Ritters blickte. Wie gut, dass ich den geheimen Gang nicht schon damals entdeckte, hatte wahrscheinlich wäre ich gleich gestorben vor Angst.

Ich war müde, nicht müde genug allerdings, um schlafen zu können. Und mit meinen Gedanken trieb ich die Angst vor dem Eingesperrtsein nicht davon, ich drängte sie nur zur Seite. Mir fiel ein, die Mitte des Raumes hatte ich noch nicht erkundet. Vielleicht war ja keine zwei Meter von mir entfernt eine Treppe oder ein Aufgang? Vorsichtig schob ich mich von der Wand weg, immer die Hände suchend und den Boden abtastend nach vorn gestreckt. Es dauerte nicht lange, bis ich auf die Wand gegenüber stieß. Es gab nichts in der Mitte, außer Leere. Ich konnte doch nicht so untätig darauf warten, dass sie mich suchten und hoffentlich fanden! Ich musste etwas unternehmen. Aber was? Ich beschloss, wieder in den anderen Raum zu gehen und auch diesen einmal zu durchkreuzen. Schritt für Schritt ging ich den Gang wieder zurück.

Als ich gefühlt etwa die Hälfte erreicht hatte, hörte ich es wieder, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da war es wieder, das Flüstern. Es war ganz deutlich wie bei meinem ersten Besuch in der Burg. Ich zitterte, kroch dennoch näher an die Wand, von wo ich das Flüstern zu hören glaubte. Es hörte sich unglaublich leidend an. Und so unerwartet, wie ich es hörte, war es auf einmal wieder weg. Ich lehnte mich an die Wand. Ich würde durchdrehen, noch bevor ich verhungerte oder verdurstete, soviel war sicher. Ich wandte mich um, der Mauer zu und legte die Hand tastend darauf. Als meine Finger über die kühlen Steine und die Fugen wanderten, spürte ich, wie sich der Mörtel löste. Leise fiel er bröckelig auf den Boden. Mein Herz begann zu rasen. War hier eine lockere Stelle? Ein Ausgang oder wenigstens die Gelegenheit, Hilfe zu rufen? Lose Steine! Das konnte meine Rettung sein. Befand sich auf der anderen Seite der Gang in die Freiheit?

Ich begann mit den Fingern den feucht krümeligen Mörtel fortzukratzen. Das Gefühl war schaurig und trieb mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Ähnlich einem Fingernagel, der über eine Tafel kratzt. Doch das Geräusch des herunterfallenden Mörtels gab mir andererseits auch Hoffnung. Meine Fingerspitzen taten schon nach kurzer Zeit furchtbar weh. Da erst fiel mir mein Taschenmesser ein, mit ihm würde ich es leichter haben. So kratzte und kratzte ich, bis schließlich der erste Stein so locker war, dass ich ihn herausziehen konnte. Er war schwer und fiel mir beinahe aus den schmerzenden Händen. Ich tastete mich nach vorn an das entstandene Loch im Mauerwerk. Mutig trotzte ich meiner Angst und schob die Hand hinein. Was würde ich auf der anderen Seite finden? Rettung? Einen weiteren Gang?

Meine Enttäuschung war riesig. Es hatte nichts gebracht. Hinter der Mauer war noch eine. Wie viele Steine musste ich wohl herauskratzen, bevor ich Rettung fand? Es war hoffnungslos. Ich ließ mich an der feuchten Wand heruntergleiten und blieb sitzen. Ich konnte nichts gegen die Tränen tun. Ich war so enttäuscht. Alles umsonst, die Arbeit, die Schmerzen! Na und! Ich spürte den Trotz in mir wachsen. Na und, ich hatte heute nichts Besseres vor, oder? Ich schniefte, während ich aufstand. So schnell würde mich so eine blöde Wand nicht fertigmachen. Ich schabte weiter! Und schabte und kratzte und schabte und hob schwere Steine aus der Wand. Nach dem siebten schien mir das Loch groß genug, um an der Mauer dahinter weiter zu kratzen. Ich tastete mich durch das Loch und befühlte die zweite Mauer. Sie schien frischer, fester als die erste. Womöglich würden mir eher der Schlüssel und die Finger brechen, als dass ich dort auch nur einen einzigen Stein lösen könnte? Es half nichts, ich hatte keine Wahl. Ich war mir sicher, keiner kannte den geheimen Gang, den ich durch meine Neugier und mit Hilfe der Holzscheibe entdeckt hatte. Dass ich es gewesen war, welche diese seltsame Scheibe, diesen Schlüssel, gefunden hatte, nach all den Jahren, die sie dort vermutlich gelegen hatte, grenzte schon an ein Wunder. Ich würde hier verrotten, wenn ich mir nicht selber half.

Ob meine Finger schon blutig waren? In der Dunkelheit konnte ich das nicht sehen, und das war gut so. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den ersten Stein soweit gelockert hatte, dass ich ihn ein wenig, eine Winzigkeit bewegen konnte. Gleichwohl bewegte er sich und das gab mir erneut Hoffnung. Die aufkommenden Ängste überging ich tapfer und kratzte immer weiter und weiter. Nach einer Ewigkeit schaffte ich es tatsächlich den Stein herauszuziehen. Ich spürte trotz des Schlüssels meine Finger kaum noch. Müde ließ ich den kleineren Stein fallen und setzte mich gleich daneben. Ich wollte schlafen und zu Hause wieder erwachen. Ein böser Traum hatte Besitz von mir ergriffen und schien sich über mich lustig zu machen. Ich versuchte, mich auszuruhen und Kraft zu tanken und vermied an irgendetwas anderes zu denken, als daran, Steine aus Mauern zu lösen. Ich holte meine Wasserflasche und trank langsam ein paar Schlucke. Wer wusste schon, wann ich wieder an Wasser kam? Ich holte die Brottüte hervor und starrte ins Dunkle, eigentlich auf meine Hände. Hatte ich heute Morgen schon eine Ahnung gehabt oder weshalb hatte ich mir Brote geschmiert? War der Hunger schon so groß oder sollte ich lieber warten. Ich holte umständlich, ohne zu sehen, eine Klappstulle heraus und verstaute die restlichen wieder im Rucksack. Jeden Bissen kaute ich bedächtig. Schließlich fühlte ich mich wieder fähig, weiter zu arbeiten und stand auf. Viel Zeit verging, bis ich einen zweiten – und endlich auch einen dritten Stein hatte heraushebeln können. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie viele Steine ich herausholen musste, um mir ein Loch zu schaffen, durch das ich hindurchpassen würde.

Ich machte mich daran auch den vierten Stein zu bearbeiten, als mich ein schreckliches Gefühl beschlich. Ich war nicht mehr allein im Raum. Jemand oder etwas stand in meiner unmittelbaren Nähe. Und warum war ich darüber nicht glücklich? Schließlich bedeutete dies, dass einer von dem Gang wusste und ich hier herauskam. Doch die Freude darüber wollte sich nicht einstellen.

Ich hatte Angst. Es war unheimlich. Ich hielt unvermittelt die Luft an und lauschte in die Dunkelheit.

Und da hörte ich es. Als würde jemand nach einem tiefen Tauchgang Luft holen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben. Da stand jemand, irgendwo, ganz in meiner Nähe. Sollte ich ihn einfach ansprechen? Warum sagte er oder sie nichts? Im Gegensatz zu mir kannte sich dieser Jemand bestimmt hier in der Dunkelheit in diesem Raum aus. Und warum hatte dieser Jemand keine Taschenlampe an? Meine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, geschärft. Doch was konnte ich tun, wenn derjenige mir wirklich Böses wollte. Vielleicht hatte ich auch schon den Verstand verloren? Ich versuchte ganz flach zu atmen, damit er mich nicht hörte. Möglicherweise wusste er nicht, wo ich stand? Und wenn es ein Geist war? Das Gespenst des Schlosses? Ein spukender Urahn, der sich durch List Frauen in diese Kammer lockte, um ihnen beim langsamen Sterben zuzusehen?

Da war es wieder. Dieses Mal war der Atemzug kürzer und ein weiterer folgte. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Ich spürte, wie mein Körper unwillkürlich zitterte. Es gab keinen Ausweg! Oder doch? Vorsichtig schob ich meine Hand weiter in das Loch, welches ich in den letzten, vermutlich, Stunden geschaffen hatte. Vielleicht lag dahinter die Rettung und Freiheit, die ich jetzt brauchte? Ich versuchte ganz leise zu sein und weiterhin jedes Geräusch wahrzunehmen. Da war nur das Atmen, das inzwischen gleichmäßiger geworden war. Konnte ich mich nicht in Luft auflösen? Ich sollte ihn oder sie einfach ansprechen, was konnte schon passieren? Alles, schoss es mir durch den Kopf! Ich hatte nichts zu verlieren, schob meine Hand weiter durch das Loch. Dahinter war nichts. Tatsächlich also ein Hohlraum, wie ich es mir erhofft hatte. Meine Hand befühlte die Umrandung des Lochs in der zweiten Mauer. Mein Herz schlug so laut, dass jeder es hören musste, egal wo er stand. Ich gestattete meinen Händen, die schützende Wand zu verlassen und weiter in die Leere, den Hohlraum, hineinzufühlen. Was würde ich wohl finden? Eine weitere Wand? Nichts? Ich hatte solche Angst!

Sorgen

Luisa hatte den Markt schon zum zweiten Mal abgesucht. Alanis war unauffindbar. Sie hatte mit Mattes und Leonhard die Burg von oben bis unten durchkämmt, nichts. Allmählich machte sie sich doch Sorgen. Das sah Alanis nicht ähnlich, sie verschwand nicht einfach ohne ein Wort. Irgendetwas musste geschehen sein. Sie trat aus dem Zelt. Den Markt schaffte Luisa auch ohne sie, wenn Mattes oder Leo ab und zu halfen, aber wie konnte sie einfach so verschwinden? Sie überlegte scharf, was hatte Alanis ihr erzählt? Sie kannte diese Burg schon länger, war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie erfahren hatte, dass dieses Jahr ausgerechnet hier ein mittelalterlicher Markt veranstaltet wurde. Und was hatte sie alles angestellt, um bloß dabei sein zu können! Vielleicht sollte sie doch noch einmal zur Burgverwaltung gehen und ein weiteres Mal mit dem Burgführer alles absuchen?

Mattes kam ihr entgegen. „Schon was Neues?“

Luisa schüttelte den Kopf. „Sollten wir mal nachfragen, ob es irgendwelche geheimen Gänge gibt, die nicht für Besucher zugänglich sind?“

Mattes nickte. „Wer geht zum Stand?“

Luisa überlegte kurz. „Geh du, ich suche noch mal nach ihr.“

Während Mattes zum Zelt ging, sagte er: „Ich zieh mich um, bis gleich.“ Er verschwand im Zelt.

Luisa schritt mit zügigen Schritten die Treppe, die vom großen Hof zum kleinen Vorhof führte, hinauf und weiter zum Eingang, in dem sich das Kartenhäuschen befand. Sie trat an die offene Scheibe. „Ich bin es schon wieder. Meinen Sie, es wäre noch einmal möglich mit dem Burgführer zu reden?“

Die Kassiererin blickte nicht sehr begeistert zu ihr auf, nickte ergeben. „Ich werde ihn rufen, Augenblick.“ Sie griff nach dem Telefonhörer, wählte eine Nummer und horchte. Nach einem Augenblick sagte sie in die Sprechmuschel: „Hier ist noch einmal die Frau wegen der Vermissten.“ Sie horchte auf das, was am anderen Ende gesagt wurde und nickte, während sie auch schon wieder auflegte. „Gehen Sie bitte durch die Halle und warten dort auf Herrn Lesinski, er kommt gleich.“

Luisa bedankte sich und ging zum Ende der Halle. Sie musste nicht lange warten, sie hatte ihn wohl beim Essen gestört. „Tut mir leid, ich mach mir Sorgen, das entspricht nicht ihrer Art, ohne ein Wort zu verschwinden.“

Herr Lesinski kniff die Lippen zusammen. „Wir haben doch schon alles abgesucht.“

„Ich dachte mir, dass es noch irgendwelche Geheimgänge gibt, wo die Besucher sonst nicht hin dürfen. Alanis ist neugierig und sie war schon öfter hier auf dieser Burg, deswegen.“

„Es gibt keine Gänge und auch keine Verstecke oder Verliese, jedenfalls nichts, wo neugierige Besucher einfach so hineinspazieren könnte.“

Luisa versuchte ihn flehentlich anzusehen. „Fällt Ihnen nichts ein?“

Er schüttelte schon ungehalten den Kopf. „Ich sagte es bereits. Wenn Sie wollen, gehen wir noch einmal durch die Burg, das ist mein letztes Angebot.“

Luisa nickte dankbar. „Das ist nett, wirklich, danach bin ich bestimmt beruhigter.“

Sie folgte ihm durch die Gänge und er schloss sogar den einen oder anderen Raum auf, damit sie hineinsehen konnte. Von Alanis fehlte jede Spur. Am Ende erreichten sie die große Halle von einem anderen Gang aus. Luisa bedankte sich noch einmal und machte sich auf den Weg zum Stand. Sie verstand nicht, was hier geschah. War Alanis womöglich nach draußen gegangen und den Berg herunter gestürzt? Sollten sie einen Suchtrupp auftreiben und den Berg um die Burg absuchen? Mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend ging sie zum Markt. Vermutlich war es das Beste, wenn sie noch wartete? Wie viele Stunden waren inzwischen vergangen, sechs oder schon sieben, acht? Sie hatte den Überblick verloren. Wahrscheinlich rief Alanis bald an und entschuldigte sich, weil sie nicht Bescheid gegeben hatte. Luisa glaubte selber nicht, was sie dachte. Ein Unglück war passiert, Alanis war die Zuverlässigkeit in Gestalt. So etwas hatte Luisa noch niemals erlebt. Sie beschloss, Mattes und Leo loszuschicken, um einen Suchtrupp zusammenzustellen. Sie mussten sich beeilen, denn in ein, zwei Stunden wurde es bereits dunkel.

Nicht allein

Ich hielt die Luft an, als sich meine Hand weiter in der dunklen Leere umsah. Jäh stieß ich auf Widerstand. Die Leere war gar nicht so leer wie gedacht. Es fühlte sich an wie Stoff. Das Gewebe eines Stoffes, der auseinanderzufallen drohte, als ich darüber strich. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als mir klar wurde, dass der Stoff sich warm anfühlte. Und da war es wieder, das Atmen, ganz nah. Meine Hand lag noch auf dem Stoff in der Dunkelheit, ich spürte, wie der Stoff sich in gleicher Regelmäßigkeit wie der Atem hob und senkte. Meine Hand lag offenbar auf einem Brustkorb und der Atem, den ich die ganze Zeit vernommen hatte, kam aus dem Loch. Dort auf der anderen Seite stand ein Mensch und dem Brustkorb nach ein Mann. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste meine Hand herausziehen, sofort! Noch bevor ich meinem Trieb nachgeben konnte, wurde sie plötzlich gegriffen und festgehalten. Ich schrie laut auf. Ich hatte solche Angst. War das der Geist? Ich konnte die langen gekrümmten Fingernägel spüren, wie Krallen.

Der Mann auf der anderen Seite schrie ebenfalls auf. Ich versuchte meine Hand wegzuziehen, doch er hatte Kraft und hielt mich fest. Leise, beschwörend begann er zu sprechen:

„Helfet mir, wer auch immer ihr seyn möget.“

Er ließ los, allerdings nur, um seine Hände an meinem Arm entlang zu führen bis zur Öffnung des Loches. Ich zog erneut, doch er hielt mich.

„Bitte,“ rief er mit verzweifelt klingender Stimme, „bitte gehet nicht fort, lasset mich nicht alleyn!“

Noch während ich am Zerren war, um meinen Arm loszubekommen, drang der Sinn seiner Worte zu meinem Bewusstsein durch. Er hatte Angst, wie ich. War er womöglich wie ich hier heruntergefallen und wartete auf Hilfe? Das würde bedeuten, meine Hoffnung einen Weg nach draußen zu finden, war umsonst gewesen. Er hatte die gleiche Angst, hier in der Dunkelheit allein zu sein, wie ich. Warum wusste ich nicht, doch mein Widerstand wurde bedeutend schwächer. Ich rang mich durch, ihn anzusprechen.

„Wer sind Sie und was machen Sie da drinnen? Wo gibt es einen Weg nach draußen?“

„Wo ihr stehet, da gäb es keynen Weg nach draußen?“, fragte er nach.

Ich schüttelte den Kopf und wurde mir erst im zweiten Augenblick bewusst, dass er das nicht sehen konnte. Er war also so eingesperrt wie ich. „Nein, hier gibt es nicht einmal eine Tür!“

„Ihr seyd eyne Frouwe oder gar eyn Frouwelin?“, fragte er in die Dunkelheit.

Ich spürte wie er zitterte, noch stärker als ich selbst. Er musste vom Markt sein, der Sprache nach. Es war jedoch ganz schön abgefahren, in solch einer schrecklichen Lage, die Marktsprache zu benutzen. War er ein Irrer?

„Mein Name ist Alanis“, antwortete ich ihm.

„Könnet ihr mir gar helfen?“ Ein Zittern lag in seiner Stimme, die ansonsten angenehm wohltönend klang, als hätte er Angst ich würde mich plötzlich in Luft auflösen oder ihn dort stehen lassen und gehen.

„Ich weiß nicht,“ hörte ich mich sagen, „ich kann versuchen die Steine weiter zu lockern, bis Sie hindurchpassen.“

Seine Finger wanderten tastend wieder nach unten bis zu meinem Handgelenk, los ließ er mich nicht.

Mit einer Hand hielt er sie fest und es kostete ihn unendlich viel Kraft dies zu tun, auch weil seine Nägel im Weg waren. Doch wenn er sie losließ, dann ging sie womöglich und das konnte er nicht wagen. Nicht jetzt, nachdem sie ihn aus seinem Schlaf geweckt hatte. Er würde jämmerlich zugrunde gehen. Spürte sie seine Angst? Wer war sie? Er erkannte ihre Stimme nicht. War sie eine der Bedienerinnen? Oder eine Hofdame, die bei seiner Familie zu Besuch war? Er suchte mit seiner freien Hand vorsichtig nach dem Dolch. Wenn er nach unten fiel, war alles verloren. Schließlich bekam er ihn zwischen die Finger und zog ihn heraus. Wenn er ihn ihr übergab, dann war er jegliche Hoffnung los. Hatte er eine Wahl? Sie war seine einzige Möglichkeit in die Freiheit zu gelangen. Er legte ihr den kalten Dolch in die Hand. Sie zuckte zurück und fragte erschrocken:

„Was, was ist das?“

„Eyn Dolch, der helfet euch, da ihr so gnädig seyd die Steyne freyzukratzen.“

„Warum haben Sie es denn nicht selber schon gemacht?“ Sie war misstrauisch.

„Das hätt ich, doch die Steyne wären gar viel zu fest gewesen. Ich hätt es nicht geschaffet. Außerdem hätt ich eyne lange Zeyt geslafen.“

Er hielt mich noch immer fest. Wie lange war er schon hier unten eingesperrt gewesen? Ich konnte ihm schon nach dieser kurzen Zeit nachfühlen, wie schrecklich es war.

„Wenn ich helfen soll, müssen Sie mich erst einmal loslassen“, sagte ich nachdrücklich. Seine Hände zuckten und ich konnte fühlen, wie er mit sich rang. Schließlich ließ er meine Hand los. Er atmete erregt, als rechnete er mit allem, auch, dass ich ihn hier zurückließ.

„Ich helf euch von meyner Seyte aus“, sagte er leise.

„Gut, vereint schaffen wir das schon.“ Ich begann mit dem großen Dolch zu kratzen. Es ging bedeutend leichter als mit dem Klappmesser und auch schneller. Stein um Stein lockerte sich, und ich legte sie neben mich auf den Boden der Kammer.

„Ich glaube, wir könnten den Rest zum Einsturz bringen!“

„Ich könnt mich nicht groß rühren, es sey gar eng hier.“

„Ich werde versuchen zu ziehen.“

Gesagt getan, ich zog mit Kraft an dem etwa kniehohen Rest der ersten Mauer. Ich wollte nicht daran denken, dass dahinter noch eine weitere auf mich wartete. Mit einem lauten Krachen fielen die Steine schließlich auf meiner Seite auf den Boden, einer auf meinen Zeh. Ich schrie auf.

„Verdammt!“

„Was sey euch widerfahren?“, fragte er ängstlich.

„Mein Zeh, so ein blöder Stein.“ Ich hielt und rieb mir den Zeh, bis der Schmerz nachließ. „Ich mache jetzt weiter.“

„Ich dank euch von Herzen, edles Frouwelin.“

Wie gestelzt er sich ausdrückte. Trotz der Lage, in der wir uns befanden, musste ich darüber schmunzeln. „Bist du vom Markt?“

„Wie meynet ihr? Welcher Markt?“

„Ist schon gut, hilf lieber weiter mit.“ Er hatte `ne Macke, bestimmt, aber er schien nicht bösartig zu sein, sondern eher zurückhaltend. Ich strengte mich an, ich hatte die Nase gestrichen voll vom Maueraufkratzen, und ich hatte verdammt noch mal schrecklichen Hunger! „Wie lange bist du schon hier unten?“

„Ich könnt es nicht mit Bestimmtheyt sagen.“

„Verstehe, so geht es mir auch und ich bin wahrscheinlich nur ein paar Stunden hier.“ Ich spürte, dass die Steine so gelockert waren, dass ich den Versuch wagen konnte, sie umzureißen. „Ich versuch es jetzt.“ Ich zog mit letzter Kraft an dem Mauerrest. Es dauerte viel zu lange, kostete mich meine ganze Überwindung, doch es gelang endlich. Auch diese Mauer brach nach innen ein. Ich tastete den Rand ab. Es war zwar kein Loch für Riesen, indes ein Mensch mit üblicher Größe würde hindurchpassen.

„Ich glaube, du kannst durchgehen!?“

„Ich könnt nicht“, kam es flüsternd aus der Öffnung.

Ich war verwirrt. Hatte er nicht darum gebeten, dass ich ihm helfen sollte? „Wieso nicht?“

„Meyne Beyne zittern gar zu heftig.“

Seine Stimme klang brüchig, als würde er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Ich streckte den Arm aus, ertastete seine Hände. Er zitterte wie Espenlaub. Es war seltsam, obwohl ich ihn nicht kannte, noch irgendetwas von ihm wusste, so verband uns doch die Einsamkeit und die Angst. Ich zog ihn mit leichtem Druck in meine Richtung. Er streckte einen Arm aus und stützte sich schwer auf meine Schulter. Er schien tatsächlich Beine aus Gummi zu haben. Langsam stieg er durch die entstandene Öffnung über den knapp kniehohen Mauerrest, bis er neben mir stand. Doch er ließ mich nicht los, sondern stützte sich weiterhin schwer auf mich.

„Setz dich doch erst mal auf die Steine.“ Ich versuchte ihm stützend nach unten zu helfen. „Warst wohl doch ein bisschen zu lange dort? Wie bist du da eigentlich reingefallen?“

„Ich sey nicht gefallen, ich glaub, ich wär schon eynige Wochen hier.“

Ich musste auflachen, konnte nichts dafür. „Dann wärst du längst verdurstet oder hattest du Wasser?“

An seiner Körperbewegung konnte ich spüren, dass er den Kopf verneinend schüttelte.

„Ihr habet wohl Recht, Frouwelin, doch meyn Gefühl saget mir anderes.“

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch jegliches Zeitgefühl verloren.“

„Wo seyen wir hier, wisset ihr das?“

„Ich habe keine Ahnung. Nur, dass es sich um zwei Räume handelt, die keine Tür haben und durch einen Gang verbunden sind.“ Ich kratzte mich am Kopf. „Und in diesem Gang sind wir gerade.“

„Hm. Und wie seyd ihr hier hereyn gelanget?“, fragte er nach.

„Ich habe einen Schlüssel aus Holz gefunden, ihn in eine passende Öffnung in die Wand gedrückt und plötzlich gab der Boden unter mir nach.“ Zu dumm, dass ich den Schlüssel noch mitgerissen hatte, sonst hätte ihn vermutlich jemand gefunden und nachgesehen oder die Tür wäre gar nicht zugefallen.

„Eyne Falltüre! Und von wo seyd ihr gefallen?“

„Wie von wo?“

„Von welchem Gang aus?“

Ich überlegte. Ich war im oberen Stockwerk gewesen. „Ich glaube der Gang über dem Gang in dem die Bilder hängen.“

„Von welchen Bildnissen redet ihr?“

„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht war es auch woanders? Irgendwie weiß ich gerade gar nichts mehr.“ Ich lehnte mich an die Wand und ließ mich daran heruntergleiten. Er saß neben mir auf den Steinen.

„Ich würd´ gar so gern eynen Schluck Wasser trinken, hättet ihr welches dabey?“

Ich holte meinen Rucksack hervor und die Flasche heraus. „Hier, lass noch was drinnen.“ Ich tastete nach ihm und bekam seine Hand zu fassen, in die ich die Flasche drückte.

Er schien zu zögern. „Wie, wie sey sie zu öffnen?“

Ich schüttelte den Kopf, was wusste der eigentlich? Ich nahm ihm die Flasche wieder ab, öffnete und reichte sie ihm erneut. Ich hörte, wie er trank und schluckte, ganz zaghaft und bedächtig. Er trank höchstens fünf Schlucke, dann reichte er mir die Flasche zurück. Ich bemerkte, dass einige seiner Fingernägel abgebrochen zu sein schienen.

„Das war´s schon?“, fragte ich nach.

„Es sey schon eyne Weyle her, ich glaub gar, es sey besser nicht zu viel auf eynmal zu trinken.“

„Ich glaube, wenn ich solchen Durst hätte, könnte ich nicht warten!“

„Das sey jahrelange Übung. Den eygenen Körper und seyne Triebe zu beherrschen ist das erste, was eyn Ritter lernen müsst!“

Ein Ritter? Er hielt sich also für einen Ritter. Nun gut, solange er ritterliche Ehre besaß! Mir sollte es recht sein. Ich fühlte mich schlecht. Ich hatte noch die Brote und einen Apfel im Rucksack. Ich räusperte mich. „Möchtest du auch etwas zu essen?“

Ich hörte, wie er die Luft einzog. Es dauerte allerdings eine Weile, bis er sich zu einer Antwort durchrang.

„In meynen kühnsten Träumen hätt ich nicht gewaget daran zu denken. Was könnet ihr mir denn anbieten?“

Ich zog die Brotdose heraus. „Hier, eine Scheibe Brot oder einen Apfel, was dir lieber ist.“

„Vielleycht gar eyne Hälfte des Apfels?“

„Du kannst auch den ganzen haben.“

„Neyn, das bekäm mir nicht und so hättet ihr auch noch eyne Hälfte für euch.“

Ich suchte den Apfel heraus und brach ihn in zwei Hälften. Die eine Hälfte legte ich in die Brotdose, auch wenn mir der Magen knurrte und die andere reichte ich ihm. Wieder hörte ich in der Dunkelheit, wie er den Apfel aß und das allein schien mir so sinnlich wie nichts sonst. Noch niemals hatte ich einen Menschen erlebt, der so genussvoll und gleichzeitig zaghaft einen Apfel aß. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis er ihn aufgegessen hatte.

„Das wär eynes der kostbarsten Geschenke gewesen, die ich erhalten hätt. Ich danke euch.“ Er atmete entspannt ein und aus. „Ich wollt gleych eyn wenig den Raum auskundschaften.“

„Wo kommst du eigentlich her? Gehörst du zu den Marktleuten?“

„Ich sey hier in dieser Burg geboren worden.“

Na bestens, dann kannte er sich ja aus. Wieso steckte er dann in einer Mauer? Ich verstand das nicht. Meine Frage nach den Marktleuten beachtete er nicht. „Wenn du die Burg hier seit deiner Kindheit kennst, dann müsstest du doch auch diesen geheimen Gang kennen?“

„Ich bitt euch, seyd nicht böse Frouwelin, ich könnt mich an diesen Raum gar nicht erinnern.“ Er seufzte, als ärgerte er sich selber darüber.

„Und wenn wir keinen Weg nach draußen finden?“

„Dann kämpften wir uns durch die Mauer, so wie ihr es begonnen habet.“

Das wollte ich gar nicht hören. Dazu hatte ich nicht die geringste Lust. „Es gibt doch zumindest die Falltür!“

„Seyd ihr groß genug, um an die Decke zu reychen? Ich sey eyn großer Mann, doch so groß nicht.“ Er erhob sich. „Ich geh jetzt eynmal herum.“

Ich beeilte mich ebenfalls aufzustehen und ihm hinterher zu gehen, eine Hand immer an der Wand. Er wirkte angestrengt, legte immer wieder Verschnaufpausen ein. Es schien mir wie eine Ewigkeit, bis wir zu unserem Ausgangspunkt, dem Loch in der Mauer, zurückkehrten. Unser Erkundungsgang blieb erfolglos. Auch er hatte keinen Ausweg oder eine Tür finden können. Wir blieben eingeschlossen und gefangen. Ich spürte durch die Dunkelheit wie erschöpft er durch den Weg geworden war. Er setzte sich wieder auf die Steine.

„Seyd mir nicht böse, doch ich müsst eyne Rast eynlegen.“

Ich setzte mich neben ihn. Er roch gut. Ich lachte kurz auf. Wie konnte ich in so einem Augenblick, in so einer Lage, wahrnehmen, dass er gut roch? Das war doch verrückt. Ich konnte den Geräuschen, die er verursachte, entnehmen, dass er in meine Richtung sah. Was konnte ich ihm sagen, weshalb ich gelacht hatte? Wohl kaum, dass er für meine Nase angenehm nach Mann, männlichem Schweiß und Holzfeuer roch! Allerdings, das musste ich mir eingestehen, vermischte sich sein Geruch auch mit muffigem Modergeruch. Er wartete auf eine Entgegnung. Ich räusperte mich. „Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich lachen musste. Ich glaube, ein bisschen um nicht zu weinen.“

„Ich verstehe“, sagte er und verstand doch gar nichts. Wo kam diese Frau her? Warum sprach sie so seltsam? Und sie benahm sich nicht, wie er es von Frauen gewohnt war. Jedenfalls hatte sie ihn gerettet. Sie hatte ihn aus seinem Schlaf erlöst und ihm zu trinken und zu essen gegeben und sie saß neben ihm. Er verstand nichts mehr. Wie lange war er eingesperrt gewesen? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er versuchte sich das gehässig grinsende Gesicht der Dame von Feuerberg vorzustellen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Und er war sich nicht sicher, ob er einen Ausweg finden würde. Niemand würde ihn suchen, dafür hatte die Zauberin von Feuerberg gesorgt. Sie war eine mächtige Zauberin, das musste er ihr lassen, ihn unter den Augen seiner Familie in eine Wand einzumauern war eine Leistung! Wenn auch eine schreckliche! Allerdings, offensichtlich hatte sie einen Fehler gemacht, denn sonst hätte er nicht nach so kurzer Zeit wieder erweckt werden können. Wahrscheinlich hatte sie vergessen ihn zu umzubringen!? Oder wollte sie ihn nicht töten, sondern lebendig einmauern und langsam sterben lassen? Das schien wahrscheinlicher. Wie hatte ihn diese Frau finden und befreien können? Und seltsam, wenn er sie sich in der Dunkelheit vorstellte, hatte er ganz klar ein Gesicht vor sich. Als würde er sie kennen und doch wieder nicht. Er fragte sich, von was für einem Schlüssel sie gesprochen hatte, er musste sie noch einmal danach fragen. Handelte es sich womöglich um den Schlüsselstein?

„Verehrtes Frouwelin, seyd mir nicht gram, doch ich legte mich gern, bevor ich versuchte eynen Ausweg zu finden, noch eyn wenig slafen.“ Denn obwohl er gerade erst erwacht war, spürte er doch große Müdigkeit.

Jetzt wo er es sagte, spürte ich ebenfalls eine bleierne Müdigkeit. Ich hatte nichts gegen ein Schläfchen einzuwenden. „Mir geht es genauso.“

„Ich nehme nicht an, dass ihr eyne Decke bey euch traget?“

„Leider nicht.“ Mir war auch kalt. Ich wusste, wenn wir näher zusammenrücken würden, wäre uns wärmer. Traute er sich zu fragen? Wahrscheinlich musste ich es tun. Ich hoffte, er verstand dies nicht als Einladung zu anderen Dingen.

„Wenn wir uns näher zusammenlegten, wäre uns wärmer.“