Im Berg ist ein Leuchten - Andri Perl - E-Book

Im Berg ist ein Leuchten E-Book

Andri Perl

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Beschreibung

Mit »Im Berg ist ein Leuchten« erscheint neun Jahre nach seinem letzten Roman »Die Luke« endlich ein neues Buch von Andri Perl. Die konzentierte und subtile Erzählung führt uns in den sechs Kapiteln immer tiefer in einen verlassenen Bergstollen. Dabei verknüpft Perl elegant Historie und Gegenwart, Engadiner Dorf und weite Welt, Landwirtschaft und Industrialisierung und schafft ein literarisches Denkmal für die, die nicht mehr hier sind. »Im Berg ist ein Leuchten« Lisa, die Erzählerin, forscht in Sulvaschin und auf der Insel nach ihrem seit Jahren vermissten Vater. Sie folgt seiner Spur in Gesprächen mit der Dorfbevölkerung. Jedes Kapitel führt uns gedanklich tiefer in den Berg. So wird »Im Berg ist ein Leuchten« zu einem Memento für das Verschwindende und die Verschwundenen und wird durch die brillanten Illustrationen von Adina Andres erweitert.

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ANDRI PERL

IM BERG IST EIN LEUCHTEN

Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Andri Perl

Im Berg ist ein Leuchten

Erzählung

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

[email protected]

www.elstersalis.com

Lektorat

Philipp Stolz

Korrektorat

Gertrud Germann

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer / Adina Andres

Umschlagbild und Illustrationen

Adina Andres

1. Auflage 2022

© 2022, Elster & Salis AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN E-Book 978-3-03930-042-6

ISBN Print 978-3-03930-041-9

INHALT

1. DIE ESEL

2. DIE NYMPHEN

3. DAS BERGWERK

4. DER ALTE STUPPAN

5. DIE WARNUNG

6. DER RISS

DANK

ZUM AUTOR

1. DIE ESEL

Wo die Esel hin sind damals, möchte ich wissen.

»Das ist lange her, Lisa«, antwortet Mattia Bischoff, der Buchbinder. Ich besuche ihn in seiner Altstadtwohnung, die er zur Miete nimmt. Er sitzt auf einem weinrot gepolsterten Sessel. Die Regale hinter dem Sessel quellen über. »Sechzig Jahre. Mehr sogar.«

Es war in einem Sommer, den sie einen griechischen Sommer nannten, weil er die Bäche trockenlegte und die Wiesen versengte. Mattia arbeitete hier in der Stadt bei der Großdruckerei und wartete auf das Ende des zweiten Lehrjahres. Darauf, dass endlich der Urlaub anfangen und er nach Hause fahren würde zu den Eltern. Zu den Freunden, die im Tal geblieben waren. An einem der letzten Arbeitstage rief ihn der Lehrmeister ins Büro. Telefon. Für ihn.

Seine Tante Dorina schilderte ihm aufgeregt, wie sich nun alles zum Guten wenden würde. Wie sie wieder jemanden kennengelernt habe, verwitwet wie sie und ein Lieber und ein Lehrer und einer, der nicht nur mit den Schülern könne, sondern auch mit seinem Dorf. Einem Dorf, das zwar drei Autobusstunden entfernt liege, aber sehr einladend sei. Bald ziehe sie zu ihrem Lehrer. Es gebe noch vieles zu tun wegen des Verkaufs des Hofs und der Tiere.

Deshalb müsse sie außer Haus. Und da sie von Mattias Mutter gehört habe, dass er die folgende Woche wieder im Tal sei, frage sie ihn also, ob er zu ihren Eseln schauen könne, für die sie bereits einen Käufer gefunden habe. Besonders auf die trächtige Stute müsse man schauen. Drei bis vier Tage. Danach komme der Transporter, und die Esel kämen auf den Hof des Käufers. Sie habe die Tiere schon von der Alp geholt. Mattia Bischoff sagte Ja.

Seine Eltern empfingen ihn besorgt. Noch nie hatten sie die Rinnen unter ihrem Haus so staubig gesehen. Die Regentonnen neben den Gemüsegärten lagen leer. Eine Feuerwache ging durch die Gassen des Dorfkerns. Als Gemeindekanzlist hatte Mattias Vater bereits vor Wochen die Bevölkerung angeschrieben, dass die Brunnen auf den Plätzen abgestellt würden. Alle sollten von nun an sparsam mit Leitungswasser umgehen. Als Mattia am Abend seiner Rückkehr zum ersten Mal nach den Eseln sah, versiegte der Zufluss zur Tränke. Der Stall lag außerhalb des Dorfs, gleich nach der Abzweigung vom alten Saumweg. Wasser herbeikarren? Viel zu aufwendig. Außerdem: welches Wasser? Die Bauern, die er um Hilfe bat, hatten selber kaum mehr Wasser für die Tränken.

Der erste Bauer bedauerte Mattia. Der zweite bedauerte, dass Mattias Tante wegzog, und dann sich selbst. Der dritte lachte Mattia aus. Alle empfahlen sie ihm, die Esel unten am Fluss zu tränken.

»Kennst du Sulvaschin ein wenig?« Der Buchbinder schaut aus dem Fenster, als er mich fragt, und fährt weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. Er weiß, dass ich im Dorf aufgewachsen bin. Der Abstieg von der Stallung hinunter zum Fluss ist steil und mühsam.

Doch die Esel brauchten Wasser bei dieser Hitze, besonders die trächtige Stute. Also führte er sie zum Fluss. Sechs Tiere insgesamt, darunter ein Wallach, der lahmte, weil ihn die Hufe plagten. Die jüngeren Stuten scherten immer wieder aus, um unter den Zäunen hindurchzugrasen. Es dauerte eine Stunde, bis Mattia die Tiere zum Fluss und über die Brücke getrieben hatte, hinüber auf die Insel, zur Stelle, wo das Ufer abflacht.

»Warum man die Insel Insel nennt?« Mattia Bischoff überlegt. »Vielleicht weil sie nur über das Wasser zu erreichen ist. Im Westen liegt der Fluss; gegen Osten ist sie vom Fels eingekesselt. Ich glaube nicht, dass man von oben her auf die Insel kommt. Ein seltsamer Ort.«

Ein seltsamer Ort, aber offensichtlich gefiel er den Eseln weit besser als die ausgedorrte Weide um den Stall. Der trächtigen Stute gefiel die Insel so gut, dass Mattia sie nicht mehr zur Rückkehr über die Brücke bewegen konnte. Rasch gab er es auf. Ohnehin hatte er keine Lust, die Esel auch die folgenden Abende mühsam zum Fluss hinunter- und dann wieder zum Stall hochzutreiben. Ihm kam eine Idee, wie er die Tiere einhegen konnte für die Zeit, da Tante Dorina außer Haus war. Einhegen musste er die Esel. Denn selbst ohne Brücke, selbst bei höherem Wasserstand wäre der Fluss für sie nur ein kleines Hindernis gewesen.

Zwar nicht zurück über die Brücke, aber mit etwas Zucker konnte Mattia die Tiere vom Ufer durch eine Böschung locken und gelangte so auf den Weg, der zur Bergbausiedlung auf der Insel führte. Die Siedlung war bereits im 19. Jahrhundert aufgegeben worden. Zunächst kam er an der Steinkirche vorbei. Die Tiere folgten ihm. Sie folgten ihm zwischen den verfallenen Schmelzen hindurch bis zum Knappenhaus, wo einstmals die Bergleute gewohnt hatten. Es stand damals noch, wenn auch beinahe alle Fenster eingeschlagen waren. Mattia Bischoff staunte: Im Gegensatz zu den Dorfbrunnen führte der Brunnen vor dem Knappenhaus Wasser. Umso besser also. Nachdem Mattia selber getrunken hatte, rief er nach dem alten Stuppan.

Der wohnte da. Ganz allein. Ohne viel Kontakt zum Dorf. Noch ein paar Jahre zuvor hatte er sommers auf der Alp die Ziegen gehütet, doch nun war er nicht mehr gut zu Fuß. Man sah ihn deshalb auch weniger im Wirtshaus. Mattia rief nach ihm, weil er hoffte, Stuppan könnte ein Auge auf die trächtige Stute werfen oder sogar die Esel zum Brunnen führen, sodass er selbst nicht zu oft vorbeikommen müsste. Die breite Tür zum Knappenhaus stand offen. Mattia rief hinein. Doch Stuppan schien nicht da zu sein.

Direkt hinter der Bergbausiedlung lag ein militärisches Übungsgelände, das die Armee kaum jemals brauchte. Vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Die Gebirgsinfanterie simulierte dort und in der Bergbausiedlung wohl den Häuserkampf. Jedenfalls gab es da einen kleinen Schießplatz, Kurzdistanz, sogar mit einem Munitionsdepot. Vor diesem wuchs etwas Gras für Mattia Bischoffs Esel. Bergseitig stieß der Schießplatz an den Fels, auf den anderen Seiten hatten die Soldaten ihn zur Sicherheit mit Stacheldraht eingezäunt. Ein dürftiges Schloss hing vor einem Tor. Ein Warnschild wollte vom Betreten abhalten. Doch neben dem Tor konnte man den Stacheldraht mit ein wenig Geschick zur Seite beugen. Und schon hatte Mattia eine Weide für seine Esel.

»Den Schießplatz gibt es schon lange nicht mehr, nein«, bestätigt mir Mattia. »Er lag auf dem Gebiet des späteren Kieswerks. Wobei, das gibt es ja auch schon nicht mehr.«

Einerlei. Er hatte nun einen Platz für die Esel. Auf dem Heimweg rief er noch einmal nach dem alten Stuppan und erhielt wiederum keine Antwort. Stuppan kannte Tante Dorinas Esel, aber er hätte Mattia nie verpfiffen. Sollte die Armee den Platz brauchen, würde sie wie immer zuerst im Dorf Quartier beziehen, also einen Quartiermeister voranschicken und bei Vater Bischoff die Schlüssel für die Schutzanlagen abholen. Genug Zeit für Mattia, die Tiere unbemerkt wegzubringen. Er musste nur aufmerksam sein die nächsten Tage.

So jedenfalls hatte er sich das ausgedacht auf die Schnelle. Doch dann begegnete er am nächsten Morgen vor dem Haus Peider. Peider war im gleichen Alter wie er und ganz aufgedreht, weil er irgendwo zwei Kisten Wein ergaunert hatte und gerade die Dorfjugend zu einem Fest zusammentrommelte. Und so versammelten sich alle an jenem Samstag – es muss ein Samstag gewesen sein – unter der Linde neben dem Saumweg und tranken Peiders Wein.

Einer hatte ein Akkordeon dabei. Irgendwann setzte sich Annatina, mit der Mattia zur Schule gegangen war, zu ihm. Es war ein sehr schöner Samstag. Aber natürlich hatte er von der Linde aus weder den Dorfplatz noch den unteren Dorfausgang zum Fluss im Blick.

Den hatte Mattia erst im Blick, als Annatina und er sich etwas von der Gruppe entfernten. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihnen etwas geworden … Sie saßen da und hatten noch kaum ein Wort gewechselt, als er die vier Militärfahrzeuge bemerkte. Das war nun ganz dumm gelaufen. Er sprang sofort auf und rannte los. Auf dem Dorfplatz lieh er sich das Fahrrad der Wirtin aus, die er mit irgendeiner Geschichte abspeiste.

Für ein Fahrrad war der Weg zum Fluss jedoch denkbar ungeeignet. Unbeholfen holperte Mattia nach unten und wusste, dass er es unmöglich schaffen würde, die Militärfahrzeuge einzuholen. Immerhin hatte er Zeit, sich alle möglichen Ausreden einfallen zu lassen. Und sie wieder zu verwerfen.

Vor der Brücke waren bereits zwei Wachen postiert. Der Zufall wollte es, dass Mattia einen der Soldaten aus der Großdruckerei kannte: Waldenberger, der dort als Maschinist angestellt war. Mattia entschied sich, Waldenberger die Wahrheit zu sagen. Dass es ihm wirklich leid täte, falls sie wegen ihm Unannehmlichkeiten hätten. Er würde sofort zum Schießplatz fahren und seine Esel mitnehmen. Waldenberger beriet sich mit seinem Kameraden. Die beiden waren unsicher, wie zu verfahren sei. Schließlich entschied Waldenberger, den unglücklichen Bischoff nicht einfach passieren zu lassen, die Angelegenheit aber seinem Vorgesetzten zu erklären. Die beiden Wachen hatten jedoch kein Funkgerät, Waldenberger eilte zu Fuß davon.

Mattia wartete. Und wartete. Waldenbergers Kamerad wollte, dass der junge Eselshirte Abstand zur Brücke hielt. Also legte Mattia sein Fahrrad an den Wegrand und setzte sich. Mit der Zeit befiel ihn ein ungutes Gefühl. Die Abklärung konnte doch nicht so lange dauern – außer Waldenbergers Oberleutnant wäre einer der besonders mühsamen Art gewesen. Als er endlich zurückkam, wirkte Waldenberger verärgert. Sein Vorgesetzter habe keine Esel auf dem Schießplatz gesehen, und auch sonst wo grasten keine Esel. Er habe auf dem Weg zurück eigens ein paar Umwege eingeschlagen, um nachzuschauen. Es tue ihm leid, aber er dürfe Mattia nicht über die Brücke lassen. Die Übung sei in vollem Gang.