Im Bett des adligen Verführers - Helen Dickson - E-Book

Im Bett des adligen Verführers E-Book

HELEN DICKSON

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Beschreibung

Sinnliche Sehnsucht, verzehrendes Verlangen: Beim Blick in Alex Goldings Augen weiß die unschuldige junge Schneiderin Lydia nicht, wie ihr geschieht. Wie verzaubert gibt sie sich dem faszinierenden Landedelmann in einer Nacht der Leidenschaft hin. Aber der Rausch des Glücks endet jäh am nächsten Morgen. Während Lydia unrettbar ihr Herz verloren hat, überrascht Alex sie mit einem so eiskalten wie unmoralischen Angebot. Zutiefst verletzt, will Lydia ihn niemals wiedersehen! Doch dann entdeckt sie die ungeahnt süßen Folgen ihrer gemeinsamen Nacht …

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Seitenzahl: 364

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IMPRESSUM

HISTORICAL MYLADY erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2017 by Helen Dickson Originaltitel: „Carrying the Gentleman’s Secret“ erschienen bei: Mills & Boon, London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 620 4/2022 Übersetzung: Eleni Nikolina

Abbildungen: Lee Avison / Trevillion Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 4/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751511292

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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1. KAPITEL

1852

Nervös, voller Selbstzweifel und wachsender Unruhe, so schnell war alles geschehen, stand Lydia neben Henry Sturgis, dem Mann, mit dem sie in nur wenigen Minuten verheiratet sein würde. Wieder erschrak sie über ihren eigenen Wagemut und fragte sich, ob sie das Richtige tat.

Als Henry sie das erste Mal darum gebeten hatte, ihn zu heiraten, war sie eine ganze Weile nicht ganz sicher gewesen, ob sie es überhaupt wollte. Die kurze Zeit, die sie ihn kannte, war aufregend gewesen, aber Lydia wollte sich noch zu nichts entschließen. Ihre Mutter war vor einem Jahr gestorben, und nachdem Lydia und sie sich ein Leben lang aus eigener Kraft durchgeschlagen hatten, war es ihr schwergefallen, sich mit einem anderen Menschen so eng zu verbinden.

Doch warum fällt es mir so schwer? hatte sie sich gefragt. Warum war es für sie ein so schwieriger Schritt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen? Andere Leute hatten doch auch keine Probleme damit. Warum war es bei ihr so anders?

Sie hatte Angst. Aber Angst wovor? Lydia konnte nur vermuten, dass es ihr Angst machte, einen anderen Menschen in ihr Leben zu lassen und ihm zu versprechen, ihn für immer zu lieben. Sie hatte nicht gewusst, ob sie es wirklich wagen sollte. Es war ein so großes Risiko – wie ein Sprung ins Leere, bei dem sie nicht wissen konnte, wohin er sie führen würde.

War sie denn überhaupt zu einer solchen Beziehung fähig? Das war die Frage. Und da sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie Henry heiraten sollte oder nicht, hatte sie beschlossen, zunächst einmal wie gewohnt mit ihrer Arbeit fortzufahren und zu sehen, wie die Dinge sich entwickelten. Doch Henry hatte nicht mehr warten wollen und nicht aufgehört, sie zu bedrängen. Und danach war noch ein unwillkommenes Gespenst aus ihrer Vergangenheit aufgetaucht – ein Gespenst in der Gestalt ihres Vaters, der sie als Kind grausam im Stich gelassen hatte und jetzt plötzlich wieder Teil ihres Lebens werden wollte. Lydia war entschlossen, das um jeden Preis zu verhindern. Also hatte sie Henrys Drängen nachgegeben und versucht, sich davon zu überzeugen, dass er alles war, was sie sich wünschte, und sie vor ihren Ängsten schützen konnte. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht hier und jetzt. Und am liebsten nie wieder.

Kaum hatte sie zugestimmt, hatte Henry alle nötigen Schritte eingeleitet – mit fast unziemlicher Hast, wie Lydia fand. In zwei Tagen würden sie von Liverpool aus das Schiff nach Amerika nehmen. Henry lebte dort, und da sein Vater sehr krank war, wollte Henry so bald wie möglich zu ihm gelangen. Aus diesem Grund waren sie in dieses schottische Dorf gekommen, das Gretna Green hieß und dafür bekannt war, dass verliebte Paare sich auch ohne elterliche Zustimmung dort trauen lassen konnten.

Jetzt standen sie vor dem Priester, der für eine beträchtliche Summe zugestimmt hatte, die Zeremonie vorzunehmen. Zwar hätte Lydia eine kirchliche Hochzeit vorgezogen, aber die Stille im Raum und die zwei vorgeschriebenen Zeugen, verliehen dem Ganzen all die Feierlichkeit, die sie sich nur wünschen konnte.

Sie trug ein Kleid in lebhaftem Himbeerrot, von schlichtem Schnitt und ohne Schnörkel und mit einem Mieder, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Der dazu passende breitkrempige Hut war mit rosafarbenen und weißen Rosenknospen geschmückt, und ihre schwarzen Locken lugten darunter hervor und umschmeichelten ihr Gesicht.

Der Priester beugte sich vor. „Sind Sie bereit, liebes Brautpaar?“

Lydia nickte und Henry meinte mit unverhohlener Ungeduld: „Ja, natürlich. Fangen Sie schon endlich an.“

Der Mann richtete sich leicht pikiert wieder auf und fragte, ob sie in heiratsfähigem Alter seien. Beide bejahten. Plötzlich wurde die Tür im Hintergrund des Raumes aufgerissen und jemand kam herein. „Unterbrechen Sie sofort die Zeremonie!“

Lydia glaubte, sich verhört zu haben. Hatte da jemand verlangt, die Zeremonie solle unterbrochen werden? Verblüfft drehte sie sich im selben Moment um wie Henry. Zwei Männer waren eingetreten. Der Größere von beiden hatte gesprochen und schritt jetzt auf sie zu. Lydia musterte ihn offen. Seine hochgewachsene Gestalt mit den breiten Schultern strahlte Kraft und Autorität aus und stellte alle übrigen Anwesenden in den Schatten.

„Kann das nicht warten?“, meinte der Priester verärgert. „Sie stören die Zeremonie, Sir.“

„Aus gutem Grund, glauben Sie mir.“

Plötzlich herrschte eine unheimliche Stille. Lydia erschauderte unwillkürlich und konnte den Mann nur ungläubig anstarren.

„Was für ein Grund kann das denn sein, der Ihnen das Recht gibt, hier hereinzuplatzen und eine Hochzeit zu unterbrechen?“, fragte sie dann gereizt und bedachte den Eindringling mit kühler Verachtung.

Der Mann sah von Henry zu ihr und betrachtete sie mit einem Hochmut, der eindeutig Teil seines Charakters sein musste. Er kniff drohend die Augen zusammen, und sein Mund verzog sich zu der Karikatur eines Lächelns, das eindeutig dazu gedacht war, sie zu beleidigen.

„Ich entschuldige mich für die Umstände, die ich Ihnen bereiten mag, aber ich habe sehr wohl einen Grund – worin Sie mir schon bald zustimmen werden, da bin ich sicher. Dieser Mann ist nicht, wer er behauptet zu sein. Wäre ich nicht rechtzeitig gekommen, hätte er ein Verbrechen begangen.“

Lydia runzelte die Stirn. „Sind Sie von der Obrigkeit?“

„Nein.“ Der harte Ton seiner Stimme und die straffe Haltung überzeugten Lydia davon, dass er ihr die Wahrheit sagte, welchen Grund er auch für seine Einmischung haben mochte. Und sie ahnte, dass es nichts Angenehmes sein würde. Wie versteinert stand sie neben Henry und wagte kaum zu atmen, während sie darauf wartete, dass der Mann fortfuhr.

„Es ist meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass der Mann, den Sie gerade heiraten wollten, bereits verheiratet ist.“

Verständnislos starrte Lydia ihn an, unfähig, zu sprechen. Niemand sagte etwas. Es herrschte einen Moment lang atemlose Stille. Henrys Gesicht war weiß geworden wie ein Laken, aber er war der Erste, der sich von dem Schock erholte. Er presste grimmig die Lippen zusammen, und sein Blick wurde wachsam – wie der eines kleinen Jungen, der etwas angestellt hatte und plötzlich feststellen musste, dass man ihn erwischt hatte.

„Was soll das?“, verlangte er zu wissen. „Und was zum Teufel tust du hier?“

„Das muss ich dir ja wohl nicht erst erklären“, antwortete der hochgewachsene Fremde mit gefährlich leiser Stimme. „Von allen hirnrissigen, skrupellosen … Hast du völlig den Verstand verloren? Das ist selbst für deine Verhältnisse zu viel.“

Der zornige Angriff erschreckte Henry sichtlich, aber nur für einen Moment. „Zum Henker mit dir“, knurrte er hasserfüllt.

Lydia riss mühsam den Blick von dem Fremden los und musterte den Mann, den sie fast geheiratet hätte. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Das alles war wie ein Albtraum. Aber der Fremde machte nicht den Eindruck eines Mannes, der nicht wusste, wovon er sprach, und Lydia wusste instinktiv, dass er die Wahrheit sagte.

„Kennst du diesen Gentleman, Henry? Und woher kennt er dich? Antworte mir.“

Henry legte eine so deutliche Abneigung gegen diesen Mann an den Tag, dass er ihn nicht nur kennen musste, sondern auch kurz davor zu sein schien, gewalttätig zu werden. Ohne auf die Frau zu achten, die er eben noch zu seiner Gattin hatte machen wollen, trat er einen Schritt auf den Fremden zu, die Schultern gestrafft, die Hände zu Fäusten geballt.

„Du bist mir gefolgt. Zum Teufel mit dir, Golding!“, schnauzte er ihn an. „Zum Teufel mit dir und deiner ewigen Einmischung!“

„Das könnte dir so passen, dass ich zum Teufel gehe, was? Ich dachte nicht, dass es zu viel verlangt wäre von dir, Miranda treu zu bleiben. Nach allem, was ich für dich getan habe. Wäre ich nicht gewesen, wäre dein vornehmes Gemäuer schon längst zusammengefallen und du müsstest mit dem mickrigen Einkommen von eurem Familiengut dein Leben fristen. Stattdessen darfst du das adlige Leben führen, für das du geboren wurdest. Aber du jagst noch immer den Frauen hinterher.“

„Woher wusstest du, wo du mich finden würdest?“

Der Mann zuckte nicht mit der Wimper. „Das war nicht schwierig. Du hast meine Schwester allein gelassen. Ihr wurde langweilig, und sie folgte dir nach London. Als sie dich nicht finden konnte, kam sie zu mir. Und ich suchte zuerst in deinem Club nach dir, wo ich deine Freunde schnell zum Reden gebracht habe. Was für eine lahme Ausrede hattest du dir für deine Abwesenheit ausgedacht? Was hättest du deiner Frau gesagt?“

„Mir wäre schon etwas eingefallen“, blaffte Henry.

„Daran zweifle ich nicht. Du beweist wahrlich großes Geschick im Lügen. Zum Henker, Henry, fast wärst du zum Bigamisten geworden! Ich brauche keine Erklärung. Die Situation spricht für sich selbst. Aber was hast du dir gedacht, wie du dich vor Gericht hättest rechtfertigen können? Ich bin sehr versucht, dir den Hals umzudrehen, aber meiner Schwester zuliebe werde ich mich zurückhalten. Jede andere Frau hätte kein Vertrauen mehr zu ihrem Mann gehabt, nachdem er sie wieder und wieder betrogen hat. Eigentlich sollte sie sich von dir scheiden lassen, aber ich bezweifle sehr, dass sie es tun wird. Leider hat sie einen eisernen Willen, und dein schändliches Benehmen, seit ihr verheiratet seid, hat sie nur noch härter werden lassen. Jetzt ist sie Lady Seymour of Maple Manor, ein Mitglied der Aristokratie, und was du ihr auch antust, sie ist entschlossen, ihren Platz in der hohen Gesellschaft zu behalten. Du hast sie zutiefst verletzt, und ich weiß nicht, ob du das je wiedergutmachen kannst.“

Plötzlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf Lydia. Sie hielt unwillkürlich den Atem an unter seinem finsteren Blick. Sein dichtes dunkelbraunes Haar mit einem Hauch von Silber an den Schläfen glänzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster drang. Unter seinem dunklen Gehrock und der hellen Hose zeichneten sich deutlich die muskulösen Schultern und schmalen Hüften ab. Als wäre ihm bewusst, dass sie ihn fasziniert musterte, verzog er den Mund zu einem verächtlichen Lächeln, doch sein Blick blieb kühl und unfreundlich.

„Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?“, fuhr er sie zornig an, „sich mit einem berüchtigten Wüstling herumzutreiben und mit ihm ausgerechnet nach Gretna Green zu kommen?“

Lydia fühlte sich sehr zu Unrecht angegriffen. Schließlich war sie ebenso Henrys Opfer wie die Schwester des Fremden. Verärgert funkelte sie ihn an. „Nichts von allem ist meine Schuld“, erwiderte sie gereizt. „Ich ahnte nicht, dass Henry bereits eine Frau hat oder dass er ein berüchtigter Wüstling ist. Ich lebe nicht in seiner Welt. Ich bewege mich nicht in den vornehmen Kreisen der Aristokratie, Sir. Und ich wusste auch nicht, dass sein wahrer Name Seymour lautet. Ich kannte ihn nur als Henry Sturgis.“

Der Mann hatte die Hände in die Hüften gestützt. Seine sonnengebräunte Haut betonte noch die faszinierenden blauen Augen. „Ich beschuldige Sie nicht, Miss …“

„Brook. Lydia Brook“, antwortete sie steif und versuchte, ihre Wut zu zügeln. „Und wer sind Sie, Sir?“

„Alexander Golding.“

Lydia reckte in einer unbewusst stolzen Geste das Kinn, schenkte dem Mann noch einen letzten verächtlichen Blick und wandte sich dann wieder Henry zu. Sie war noch ganz betäubt von allem, was sie gerade erfahren hatte. Ihr wurde ein wenig schwindlig, und sie straffte entschlossen die Schultern.

Henrys Miene verriet mehr über seine Gedanken, als er wahrscheinlich ahnte. Von einem Moment zum nächsten hatte er sich von einem liebenswerten, zärtlichen Mann, der es kaum erwarten konnte, sie zu seiner Frau zu machen, in einen eigennützigen, gerissenen Menschen verwandelt, der ganz offensichtlich darüber nachgrübelte, was er tun konnte, um eine Situation zu seinen Gunsten zu verändern, mit der er ganz und gar nicht gerechnet hatte. Lydia konnte regelrecht sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.

Sie kniff kurz die Augen zusammen und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr die Kehle zuschnürten. Es war, als hätte sich plötzlich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Wie leichtgläubig sie doch gewesen war, Henrys leidenschaftlichen Küssen und schmeichelnden Worten zu glauben. Er hatte nicht wirklich sie gewollt, und die Leidenschaft, die er ihr gezeigt hatte, hätte er genauso gut jeder anderen Frau entgegengebracht, zu der er sich hingezogen fühlte. Da sie sich aber ohne Ehering nicht von ihm hatte verführen lassen, war sein Verlangen nach ihr gewachsen, und er hatte ihr vorgemacht, er würde sie heiraten. Als sie glaubte, wieder sprechen zu können, sah sie Henry mit erhobenem Kopf an.

„Sag mir, warum du das getan hast.“

„Wenn du nur wüsstest“, sagte er kaum hörbar. „Ich wollte dich so sehr …“

„Aber nicht als deine Frau“, unterbrach sie ihn heftig, und ihr entging nicht, dass er es nicht wagte, ihr in die Augen zu sehen.

„Nein, aber du bedeutest mir sehr viel …“

„Man ruiniert keine Frau, die einem viel bedeutet.“

„Ich wollte dich schon seit dem ersten Mal, als ich dich sah. Ich konnte nichts dagegen tun. Lydia, ich habe so lange auf diesen Augenblick gewartet. Mein Verlangen nach dir hat mich alles vergessen lassen – meine Ehre, meinen Stand, meine Ehe. Glaube mir, ich bin gewiss nicht stolz auf mein Verhalten.“

„Nein, wie solltest du auch? Du solltest dich vielmehr zutiefst schämen. Du hast mich getäuscht und mich in dem Glauben gelassen, du würdest mich heiraten. Wir würden nach Amerika reisen, wo dein Vater krank sei, wie du behauptetest. Das war doch auch angeblich der Grund, weswegen wir nicht drei Wochen warten konnten mit der Hochzeit. Aber alles war gelogen. Was für ein leichtgläubiger Dummkopf, was für eine blinde Närrin ich doch gewesen bin. Wie sehr du dich amüsiert haben musst. Was du getan hast, ist hinterlistig und verachtenswert. Wie konntest du es wagen, mich so abscheulich zu behandeln?“

„Lydia, wenn du nur wüsstest …“

„Wenn ich was wüsste?“, herrschte sie ihn an und hielt sich nur mühsam zurück, ihm keine Ohrfeige zu verpassen. „Dass du schon eine Frau hast? Was hattest du später mit mir vor? Mich nach der Hochzeitsnacht in Schottland im Stich zu lassen, mit stolzgeschwellter Brust nach London zurückzukehren und mit deiner Eroberung zu prahlen? Du widerst mich an, Henry. Wie konntest du es wagen, mich ruinieren zu wollen?“

„Was wirst du jetzt tun?“

„Was ich immer getan habe. Mein Leben führen. Seien wir ehrlich, Henry. Du hast mich ebenso wenig geliebt wie ich dich.“

„Du meinst, du hast kein tendre für mich entwickelt?“, fragte er sarkastisch.

„Du hattest die Absicht, mich zu verführen, und als das nicht funktionierte, wurdest du nur noch entschlossener. Statt dich anständig zu verhalten und mich in Frieden zu lassen, nutztest du mein Unwissen und meine Schutzlosigkeit aus und gabst vor, mich heiraten zu wollen – obwohl du kein Recht dazu hattest. Du bist ein Lügner und Betrüger, und das Schlimmste an der Sache ist, dass ich auf deine Lügen hereingefallen bin. Ich wusste nicht, was du vorhattest. Deine Absicht war, mich zu entwürdigen, aber ich lasse mich nicht entwürdigen. Bestimmt nicht von dir, und gewiss nicht auf diese Weise.“

Es war fast mehr, als Lydia ertragen konnte, zu wissen, wie er mit ihr gespielt hatte. Sie musterte ihn wütend – sein lockiges blondes Haar und den schlanken, athletischen Körper. Er war ein gut aussehender Mann mit schweren Lidern und sinnlichen Lippen, den zweifellos die meisten Frauen sehr attraktiv fanden. Und es schien noch immer derselbe Mann zu sein, der ihr Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte und immer so zuvorkommend gewesen war. Aber jetzt erkannte sie, dass dieser Mann eigentlich gar nicht existierte. Vielmehr war Henry in Wirklichkeit ein gefühlsarmer Mensch, gelangweilt und gierig, selbstsüchtig und verächtlich gegenüber einer Frau wie ihr, die er gewiss nicht als ebenbürtig betrachtete. Jetzt versteckte er seine wahren Gefühle nicht mehr und sah sie voller Überheblichkeit und Unverschämtheit an.

In diesem Moment hasste Lydia ihn. Hin- und hergerissen zwischen Zorn und Demütigung, glaubte sie, es nicht länger aushalten zu können.

„Wie könntest du auch?“, höhnte er jetzt. Ihre Worte hatten ihn offenbar ebenfalls verärgert. „Du, meine liebe Lydia, könntest einem Mann eine wundervolle Geliebte sein, wenn du nicht so kalt wärst wie Eis. Schön wie eine Rose, aber voller Dornen. Mancher mag deine Tugendhaftigkeit bewundernswert finden. Ich persönlich halte es für eine tragische Verschwendung einer wunderschönen Frau – und meiner Zeit. Es ist wirklich sehr bedauerlich, da unter dem Eis sehr viel Temperament steckt. Ich habe mir Hoffnungen auf sehr viel Spaß mit dir gemacht – bis mein Schwager sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angehen. Aber du hältst dir jeden Mann, der sich für dich interessiert, rigoros vom Leib. Wenn er dir nicht vorher einen Ring verspricht.“

„Nimm dich zusammen, Henry, und bleib bei der Wahrheit“, warf sein Schwager jetzt scharf ein, als er sah, dass die junge Dame noch blasser wurde.

Henry hob hochmütig die Augenbrauen. „Ja, ich gebe es zu. Ich begehrte sie – über alle Maßen, zu meinem Pech –, und war bereit, alles zu tun, um sie zu besitzen.“

„Sogar Bigamie zu begehen. Du bist eine Schande für deinen Stand, Henry, und deswegen schreckst du jetzt auch nicht davor zurück, Miss Brook anzugreifen.“

„Gut, ich leugne ja nicht, dass ich sie haben wollte. Aber deswegen heirate ich doch keine Frau, die in jeder Hinsicht weit unter mir steht und keinen einzigen Penny besitzt.“

„Es wird deinem Stolz nicht helfen, wenn du wieder zu deinen Freunden in die Stadt zurückkehrst und zugeben musst, dass du die Wette verloren hast. Genau wie die fünfhundert Guineas.“

Lydia erstarrte. Sie war wie betäubt, aber sie wusste, dass sie mehr fühlen würde, als ihr lieb war, sobald ihr gänzlich bewusst geworden sein würde, dass es kein Albtraum war, aus dem sie erwachen konnte, sondern eine grausame Wirklichkeit, die ihr ganzes Leben beeinflussen würde. Doch in diesem Moment hingen Henrys beleidigende Worte und die Enthüllung des Fremden wie ein übler Geruch in der Luft. Noch nie war sie so gedemütigt worden, und es war mehr, als ihr Stolz ertragen konnte. Jetzt erkannte sie die ganze Wahrheit.

Der Zorn schnürte ihr die Kehle zu, und ihr Herz klopfte heftig. Sie war empört und entsetzt, doch die fürchterliche Wahrheit ließ sich nicht leugnen.

Henry hatte mit seinen Freunden gewettet, dass er sie verführen würde, und wenn er gewonnen hätte, wäre er um fünfhundert Guineas reicher gewesen. Es war zu viel für Lydia. Ihre Wangen brannten vor Scham. Was immer sie für ihn empfunden haben mochte, hatte sich Luft aufgelöst. Die Entdeckung seines Verrats hatte all ihre Illusionen zerstört.

„Wie konntest du es wagen?“ Ihre Stimme zitterte vor Wut. „Wie konntest du es wagen, mir so etwas anzutun? Ich verdiene es nicht, dass man sich über mich lustig macht. Noch dazu ein ehrloser Mann, der nicht einmal zu begreifen scheint, welches Leid er mir damit angetan hätte.“

„Miss Brook“, warf der Fremde ein. „Bitte glauben Sie mir, dass es mir leidtut. Ich hätte es nicht vor Ihnen erwähnen dürfen …“

Sie wirbelte zu ihm herum. „Was? Die Wette? Warum sollte Ihnen das leidtun? Schließlich haben Sie nur die Wahrheit gesagt. Und ich habe das Recht zu erfahren, wie weit Henry gegangen ist, um mich in sein Bett zu bekommen.“ Sie sah Henry an. „Was du getan hast, ist jämmerlich. Von Anfang an war es dein Plan, mich auf die schändlichste Weise zu erniedrigen. Ich gebe zu, dass ich zunächst auf deinen Charme hereingefallen bin. Du bist es sicher gewohnt, dass Frauen so auf dich reagieren. Obwohl du bereits eine Frau hast. Wie sehr würde ich mich freuen, wenn es dich ruinieren würde, dass du jetzt für die verlorene Wette fünfhundert Guineas zahlen musst. Aber ich bezweifle es.“

Henry machte einen Schritt auf sie zu. „Um Himmels willen, Lydia, es war doch nur eine Wette – ein verrückter Augenblick. Ich hatte niemals wirklich vor, dir wehzutun“, versuchte er, sich zu rechtfertigen, aber Lydia ließ sich nicht beschwichtigen.

„Ein verrückter Augenblick?“, brauste sie auf. „Es gibt keine Entschuldigung für das, was du getan hast. Was für die meisten Wüstlinge gilt, gilt ganz besonders für dich. Du hättest mich leichten Herzens ruiniert, mich ohne Rücksicht auf meine Gefühle geschändet und dann einfach abgeschüttelt wie lästiges Ungeziefer, du widerlicher, verachtenswerter Lustmolch!“

„Lydia, hör mich an …“

„Ich bin nicht daran interessiert, noch irgendetwas von dir zu hören. Aber du kannst mir zuhören, Henry Sturgis oder Seymour oder wie immer du heißt“, fiel sie ihm voller kalter Verachtung ins Wort. „Was du getan hast, ist unverzeihlich. Komm mir nicht wieder in die Nähe, wenn du dir keine Ohrfeige einfangen willst. Hörst du?“ Und damit drehte sie sich um und ging. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ihn anzusehen. Der Mann und die Frau, die als Zeugen der Zeremonie hatten beiwohnen wollen, standen ohne sich zu rühren nebeneinander, die Mienen ausdruckslos, während Lydia an ihnen vorbeirauschte.

Was er ihr angetan hatte und was es für sie in Zukunft bedeuten würde, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen, mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt. Hass, Abscheu, Enttäuschung und tiefe Demütigung schnürten ihr so die Kehle zu, dass sie glaubte zu ersticken.

Er war mit ihr den ganzen Weg bis hierher gefahren, um eine vorgetäuschte Hochzeitszeremonie abzuhalten und damit eine Wette zu gewinnen. Ihr war zumute, als hätte er sie mit einem Messer in kleine Stücke geschnitten. Ohne zu überlegen, lief sie aus dem Raum, den sie noch vor so kurzer Zeit voller Hoffnung betreten hatte. Jetzt sah sie nichts mehr und hörte nichts, außer dem heftigen Pochen ihres Herzens, während sie das Haus verließ und auf die Straße hinausstolperte, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollte. Aber das war ihr gleichgültig, solange sie nur nicht wieder zu den Menschen zurück musste, die ihre Demütigung miterlebt hatten.

Lydia wusste, dass sie sich besser fühlen würde, wenn sie erst Abstand zwischen sich und ihn gebracht hatte. Und sie wollte nicht innehalten, weil sie so auch ihren schwarzen Gedanken davonlaufen konnte. Zwar hatte sie Henry nicht geliebt – sie wusste nicht, was es hieß, jemanden zu lieben –, aber das minderte ihre Scham und ihren Schmerz über einen so öffentlichen Verrat nicht.

Sie eilte weiter und ließ schließlich das Dorf hinter sich. Was sie tun würde, sobald sie stehen blieb, wusste sie noch nicht. Jetzt war es erst einmal wichtig, fortzukommen. Jemand rief ihren Namen. Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort, obwohl das Herz ihr bis zum Hals klopfte und sie heftiges Seitenstechen bekam.

„Warten Sie, Miss Brook!“, hörte sie eine Männerstimme rufen.

Lydia schnappte nach Luft. Die Straße verschwamm ihr vor den Augen, aber sie eilte trotzdem weiter. Schritte waren hinter ihr zu hören, und wieder rief jemand ihren Namen. Doch erst als ihr jemand die Hand auf den Arm legte, blieb sie schwer atmend stehen. Lydia war wie betäubt, die gelegentlichen Kutschen, die an ihr vorbeifuhren, waren nicht mehr als ein Wirrwarr von Farben und Geräuschen. Ihre Verwirrung nahm nur noch zu, als sie in ein Paar strahlend blauer Augen blickte, umsäumt von dichten schwarzen Wimpern, die tiefe, wohlklingende Stimme hörte und einen angenehmen Duft nach Eau de Cologne bemerkte. Noch immer ihren Arm festhaltend, führte Alexander Golding sie zum Rand der Straße, wo sie nicht in Gefahr war, von einer Kutsche umgefahren zu werden.

Seine Augen waren so durchscheinend und strahlend wie Sonnenlicht auf einer Wasseroberfläche, doch sein nachdenklicher Blick schien ihr bis ins Innerste schauen zu können.

„Geht es Ihnen gut? Sie sind ganz aufgelöst.“ Er sprach ganz nüchtern, ohne Mitgefühl. Offenbar berührten ihn ihre missliche Lage und der Grund dafür nicht besonders.

„Natürlich bin ich aufgelöst“, antwortete sie wütend, versuchte aber, sich in den Griff zu bekommen. „Was Henry getan hat, ist ungeheuerlich. Was bin ich für ihn nur gewesen? Nicht mehr als ein kleiner Leckerbissen, mit dem er sich eine oder zwei Nächte vergnügen wollte? Als wäre ich kein Mensch, als hätte ich keine Gefühle! Wie sehr es ihn amüsiert haben muss, dieses schäbige kleine Spielchen mit mir zu spielen. Und wie enttäuscht muss er jetzt sein, da er seine Wette verloren hat.“

Seine Miene blieb nichtssagend, aber der Ausdruck in seinen Augen wurde finster. „Es tut mir leid, dass Sie es so herausfinden mussten“, sagte er leise.

„Ja, mir auch. Aber dem Himmel sei Dank, dass ich es herausfand, bevor es zu spät war. Würden Sie jetzt bitte meinen Arm loslassen?“ Er folgte ihrer Aufforderung sofort.

Ihre Wut ließ ein wenig nach. Lydia sah den dunkelhaarigen Fremden nachdenklich an. Er strahlte eine hochmütige Förmlichkeit aus, die nicht einnehmend war. Seine Haltung war die eines selbstbewussten, starken Mannes, der alles erreichte, was er sich vornahm. Und man sah ihm an, dass er sich dessen bewusst war. Als sie sich vorstellte, was Henry ihr angetan hätte, wäre dieser Fremde nicht gewesen, war ihr, als würde alles in ihr erstarren.

„Ich … ich …“ Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken und drohten sie zu ersticken. Plötzlich fühlte sie sich zutiefst erschöpft und verletzlich – noch dazu unter den wachsamen Augen dieses Fremden. Gewöhnlich war Lydia ausgeglichen und hatte ihre Gefühle unter Kontrolle, aber jetzt fühlte sie sich unerträglich gedemütigt. Als sie Alexander Golding das erste Mal gesehen hatte, war ihr nicht entgangen, dass er ein Mann war, der sich nicht leicht erweichen ließ. Deswegen überraschte es sie auch, dass er ihr gefolgt war. „Bitte, verzeihen Sie. Es kam nur alles so plötzlich und ist sehr … verwirrend.“

Zum ersten Mal sahen sie sich in die Augen. Und etwas geschah. Beide spürten, dass dieser Moment von enormer Bedeutung war, dass sie am Anfang einer Entwicklung standen, die sie beide nicht begriffen. Lydia schluckte mühsam. Am liebsten wäre sie davongerannt, aber sie blieb regungslos. Alles um sie herum war vergessen, während sie sich ansahen. Der Blick dauerte gewiss nicht länger als wenige Sekunden, aber Lydia kam es wie eine Ewigkeit vor, bevor sie ihn schließlich als Erste senkte, während ihr Herz wild klopfte und sie von Gefühlen überwältigt wurde, die ihr völlig unbekannt waren.

Vollkommen überrumpelt von der Wirkung, die diese junge Frau auf ihn ausübte, musste Alex sich bemühen, nicht die Fassung zu verlieren. Er konnte sehen, dass sie noch ganz erschüttert war von der Wahrheit über Henry. Sie trug ein geschmackvoll geschnittenes himbeerrotes Kleid, das ihren hochgewachsenen, schlanken Körper betonte. Ihr Gesicht unter dem vollen, glänzenden schwarzen Haar war bemerkenswert schön. Die leicht schräg stehenden grünen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Die Tropfen, die sich in ihren Wimpern verfangen hatten, glitzerten wie Diamanten. Alex’ Blick glitt unwillkürlich zu ihrem schönen Mund mit der vollen Unterlippe. Ihre Haut schimmerte golden im Sonnenlicht. Noch nie hatte er eine so fesselnde Frau gesehen wie sie und stellte erstaunt fest, dass er den Blick nicht von ihr nehmen konnte.

Als er in den Raum gestürzt war, um die Hochzeit zu verhindern, hatte er sich nur auf seinen Schwager konzentriert. Er hatte erfahren, dass Henry nach Schottland reisen wollte und auch den Grund dafür. Die junge Frau in seiner Begleitung hatte er natürlich für eine jener lockeren Personen gehalten, die ihr ganzes Leben der Jagd nach frivolen Vergnügungen widmeten und auf ihre Art versuchten, den Regeln der Gesellschaft zu trotzen. Warum hätte sie sonst einer solch verrückten Eskapade zugestimmt?

Ihre Wut auf Henry schien inzwischen ein wenig nachgelassen zu haben. Alex musste die selbstbewusste Art bewundern, mit der die junge Frau ihm die Stirn bot. Außerdem rührte ihn ihre Jugend. Trotzdem ließ er sich nichts von seinen Gedanken anmerken, genau wie bei seinen Angestellten, wenn er sie in ihre Schranken weisen wollte. Sein Blick blieb hart und undurchdringlich, und nichts deutete darauf hin, dass die junge Frau sein Herz berührt hatte.

„Ja, verwirrend ist es gewiss“, antwortete er schließlich, und als ihm bewusst wurde, wie sie sich gefühlt haben musste, wurde seine Miene doch weicher. „Das kann nicht leicht für Sie sein. Sie wussten nicht, dass Henry verheiratet ist.“

Lydia wünschte, sie könnte im Erdboden versinken. Sie hasste sich für diese Schwäche, die so gar nicht zu ihr passte. „Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nicht hier. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass er mir so etwas angetan hat. Wie konnte er nur so tief sinken?“

Sie klang fast verzweifelt und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment wie ein wildes Pferd durchgehen. Sie war angespannt, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Alex hatte plötzlich den seltsamen Wunsch, sie sanft zu behandeln, sie zu trösten. Aber er kannte sie nicht und wusste nicht, warum sie so tief getroffen war, und er konnte auch nicht wissen, was für eine Beziehung sie wirklich zu dem Mann seiner Schwester hatte.

„Er befand sich bereits ziemlich tief unten. Wenn ich auch zugebe, dass ich ihn einer solchen Schurkerei nicht für fähig gehalten hätte. Und ich glaube Ihnen, dass Sie keine Ahnung hatten. Ich gebe Ihnen keine Schuld an allem.“

Sie schien nicht überzeugt davon zu sein. Heftig wischte sie sich die Tränen fort. „Aber das werden Sie noch.“ Sie versuchte, verachtungsvoll zu klingen, aber stattdessen klang sie furchtsam. Der Fremde würde ihre Schwäche erkennen, und Lydia nahm ihm dieses Wissen übel. Herausfordernd hob sie das Kinn. „Ich danke Ihnen jedoch, dass Sie rechtzeitig eingegriffen haben.“

„Das ist nicht nötig.“

Alex entging ihre Haltung nicht – die straffen Schultern, die zu Fäusten geballten Hände. Ihr Gesicht war weiß wie Alabaster, ihre Augen funkelten ihn an, und er konnte nicht anders, als sie anzusehen. Sie war einfach hinreißend und erinnerte ihn an die Stahlklinge eines Degens. Zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, stand sie würdevoll vor ihm. Sie hatte keine Angst mehr, das war deutlich – ebenso deutlich wie die Tatsache, dass die Wut sie wieder gepackt hatte. Geduldig wartete er, bis sie den Kampf, den sie mit sich ausfocht, beendet hatte, bevor er so zurückhaltend wie möglich sagte: „Ich stelle mir vor, Sie hatten sich darauf gefreut, nach Amerika zu reisen.“

„Ja. Ich kann es nicht leugnen. Es wäre ein neuer Anfang geworden – wie ich gehofft hatte.“

„Sie müssen enttäuscht sein.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Man muss lernen, mit Enttäuschungen zu leben.“

„Wirklich? Sind Sie nicht noch zu jung, um bereits viele Enttäuschungen erlebt zu haben?“

„Niemand weiß, wie alt man sein wird, wenn das Leben einem etwas versagt.“

Alex versuchte, ihre Miene zu deuten, aber es gelang ihm nicht. Er vermutete, dass dieser schönen jungen Frau sehr viel Mut und Stolz eigen war, und beides würde ihr dabei helfen, die Situation zu überstehen, so erschüttert sie im Moment auch sein mochte.

Lydia sah sich um. Was sollte sie nur tun? Bis jetzt war Henry bei ihr gewesen, erfahren und entschlossen, sie zu leiten, die Reise in den Norden und die Hochzeitszeremonie zu organisieren. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie jetzt ganz allein war. Ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft hatten sich in Luft aufgelöst. Aber so Gott wollte, war noch nicht alles verloren.

„Ich werde dort nicht mehr hineingehen“, sagte sie entschlossen. „Ich will Henry nie wiedersehen.“

Alex fiel der ruhige Ton ihrer Stimme auf und dass sie ihm direkt in die Augen sah. „Das erwartet auch niemand von Ihnen. Kehren Sie ins Gasthaus zurück. Ich werde dafür sorgen, dass Henry Sie nicht belästigt. Es war falsch von mir, nicht an Ihre Situation zu denken. Ich bitte Sie aufrichtig, mir zu vergeben. Normalerweise bin ich nicht so unmanierlich, und mir ist auch bewusst, wie unfair ich vorhin zu Ihnen war. Ich bitte Sie um Verzeihung.“

„Da er mit Ihrer Schwester verheiratet ist, war Ihr Zorn nur allzu verständlich. Glauben Sie mir, Sir, als er mich bat, ihn zu heiraten, dachte ich sehr lange darüber nach, bevor ich ihm meine Antwort gab.“ Sie lächelte bitter. „Wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, bin ich gewiss nicht impulsiv. Aber offenbar hätte ich in diesem Fall noch etwas länger nachdenken müssen.“

„Sie konnten nicht wissen, dass er bereits verheiratet ist. Wie sollten Sie auch? Kommen Sie, Miss Brook. Erlauben Sie mir, Sie zum Gasthaus zu begleiten.“

„Ich danke Ihnen.“ Sie ging neben ihm weiter und sah ihn verstohlen von der Seite an. „Sie haben sich große Mühe gegeben.“

Er zuckte mit den Schultern. „Mir blieb keine Wahl. Sie können mir glauben, Miss Brook, ich hätte Ihre Hochzeit nicht ohne guten Grund verhindert. Sie können sich wirklich glücklich schätzen, dass ich entdeckte, was er vorhatte, bevor es zu spät war. Natürlich tut es mir leid, dass ich Sie bekümmert habe, aber Sie müssen einsehen, dass ich Ihnen eigentlich einen Gefallen getan habe.“

„Ja, natürlich sehe ich das.“ Sie nickte. „Ich nehme morgen früh die Kutsche nach London.“

Sie hatten das Gasthaus erreicht und blieben stehen. Alex bemerkte zum ersten Mal ein kaum merkliches Grübchen in ihrem Kinn. Sie besaß Ausstrahlung und Haltung, und ihre Stimme und die Art, wie sie ihren Kopf hielt, deuteten darauf hin, dass sie eine gebildete Frau war und vielen Frauen, die Alex kannte, weit überlegen. Sie machte den Eindruck, eine Frau von Charakter zu sein. Im strahlenden Sonnenlicht blendete ihre Schönheit ihn regelrecht und zog ihn mit einer Kraft an, die ihn verblüffte. Er spürte plötzlich ein Verlangen nach ihr, das weit über das rein Körperliche hinausging.

Er selbst war am verwirrtesten über diese heftigen Gefühle, denen er keinen Namen geben konnte. Er wusste nur, dass er noch nie so empfunden hatte, und es hatte ihn so plötzlich überrumpelt, dass er einen Moment innehielt. Sein erster Gedanke war, dass er sich nicht von ihr trennen konnte – und es auch gar nicht wollte.

„Auch ich werde in diesem Gasthaus absteigen, und es würde mir große Freude machen, wenn Sie heute Abend mit mir speisen wollten.“

Sie überlegte kurz. Eigentlich hätte sie ablehnen sollen nach allem, was geschehen war. Aber sie war unruhig und bedrückt und hatte nicht den Wunsch, allein zu sein. Also nickte sie zustimmend.

„Ich danke Ihnen, Sir. Das wäre sehr nett.“

Alex kehrte zu dem Gebäude zurück, in dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen, und machte sich auf die Suche nach seinem Diener Harris, auf den er sich sowohl bei seinen Geschäften als auch in seinem Privatleben vorbehaltlos verließ.

„Wo ist mein verfluchter Schwager, Harris?“

„Noch immer drinnen. Er tut, was er kann, um den Priester zu beschwichtigen. Wenn man ihm glauben wollte, trifft ihn nicht die geringste Schuld an irgendetwas.“

„Was mich nicht im Geringsten überrascht, Harris.“

„Er wollte der jungen Dame folgen, aber ich sagte ihm, er solle hier warten.“

„Das war richtig. Er ist der letzte Mensch, den sie jetzt sehen möchte. Ich habe sie zum Gasthaus gebracht. Es schmerzt mich sehr, es zu sagen, aber der Mann meiner Schwester ist ein Schurke mit einem üblen Sinn für Humor, und sein Urteilsvermögen ist, um es milde auszudrücken, beklagenswert. Seine Frau zu betrügen, ist für ihn ein Grund, stolz zu sein, und er hätte über seine Eroberung geprahlt, wenn sie ihm gelungen wäre. Sein Ruf oder gar Miss Brooks Ruf hätten von ihm aus ruhig zum Teufel gehen können. Und auch der Schmerz meiner Schwester hätte ihn kaltgelassen.“

„Nun, Sie haben ja versucht, Ihre Schwester vor dieser Heirat zu warnen, Sir.“

„Wann hätte Miranda je auf mich gehört?“, erwiderte Alex seufzend. „Ich muss mich oft über die Familie wundern, in die sie eingeheiratet hat. Die Seymours scheinen mir alle irgendwie mit Makeln behaftet zu sein. Wie Sie wissen, hat mir Henry niemals gefallen, aber ich ahnte nicht, wie tief er sinken würde. Auch sein Vater war ein Spieler und Frauenheld gewesen und hat nichts als einen Haufen Schulden hinterlassen. Die Hinterhältigkeit muss dieser Familie im Blut liegen, und ich kann nur beten, dass meine noch ungeborenen Neffen oder Nichten nicht nach ihnen geraten werden.“

„Das bezweifle ich sehr“, meinte Harris.

„Wollen wir es hoffen. Ich wollte Miranda davor beschützen, aber wenn sie sich auf etwas versteift, gibt sie nicht auf, bis sie bekommt, was sie will. Sie weiß, dass er eine andere Frau hofiert, konnte aber nicht ahnen, wie weit er gehen würde. Schon ihr zuliebe würde ich die ganze Sache gern im Sand verlaufen lassen. Sollte es sich herumsprechen, würde es meiner Schwester unermesslichen Kummer bereiten.“

Alex betrat das Gebäude, gerade als Henry es verlassen wollte. Alex war ein ernster Mann und bei seinen Angestellten bekannt für seine Unnachgiebigkeit. Er war ebenfalls ein skrupelloser Geschäftsmann, der in der Schifffahrt und im Bergbau im Norden von England ein Vermögen gemacht hatte – und ein sogar noch größeres durch kluge Investitionen im Eisenbahnwesen im Inland ebenso wie im Ausland. Er hatte Miranda mit einer mehr als großzügigen Mitgift versehen, wenn ihm auch klar gewesen war, dass sie für Henrys Schulden und sein heruntergekommenes Gut ausgegeben werden würde. Jetzt musterte er Henry verächtlich.

Sein sonst so hochmütiger Schwager schien tatsächlich etwas kleinlaut zu sein.

„Und?“, sagte Alex abrupt. „Die Dinge sind so gekommen, weil du dich verschätzt hast, weil Miranda nicht in Surrey geblieben ist und weil deine Freunde nur allzu bereit waren, dich zu verraten. Es war ein dummer Fehler, und er könnte dich deine Ehe kosten. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Mann?“

„Was kann ich schon sagen? Du scheinst ja bereits alles zu wissen“, murrte Henry.

„Genau. Dich kümmert nur deine Zügellosigkeit. Wie konntest du es wagen, meine Schwester so abscheulich zu behandeln? Du widerst mich an.“

„Hör zu, Alex. Lass mich erklären …“

Alex bedachte ihn mit einem Blick, der jeden anderen hätte zusammenzucken lassen. „Halt den Mund! Mir ist im Moment nicht danach zumute. Ich würde Miranda gern die Einzelheiten ersparen, aber ich sehe nicht, wie das bewerkstelligt werden könnte. Sie wird zutiefst verletzt sein über deinen Verrat, aber zweifellos wird sie dir am Ende dennoch verzeihen. Närrisches Mädchen, das sie ist. Du hast ihre Liebe nicht verdient. Wie ich vermute, hast du eine Kutsche gemietet, um bis nach Gretna zu kommen?“

Die Lippen fest zusammengepresst, die Miene finster, nickte Henry nur.

„Ich möchte, dass du ohne Verzögerung abreist, selbst wenn es bedeutet, dass du bei Nacht unterwegs sein musst. Du wirst direkt nach Hause zu deiner Frau fahren, der du beichten wirst, was du getan hast, und sie um ihre Vergebung anflehen. Hast du verstanden, Henry?“ Henry zuckte zusammen. „Zum Henker, Henry. Ich werde nicht länger mit dir reden, sonst gewinnt meine Wut noch die Oberhand, und dann weiß ich nicht, ob ich mich noch beherrschen kann. Ich selbst bleibe noch einige Tage im Norden. Sobald du Surrey erreichst, wirst du dort bleiben – an der Seite deiner Frau – und versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren. Was deine Freunde angeht, wirst du diskretes Schweigen an den Tag legen. Ich verlasse mich in dieser Sache auf deine Zusammenarbeit. Du und ich, wir haben noch wichtige Dinge miteinander zu besprechen.“

„Lydia … Miss Brook. Sie …“

„... hat nicht den Wunsch, dich jemals wiederzusehen. Du wirst nicht versuchen, dich ihr zu nähern. Hast du verstanden?“

Henry nickte abermals und schluckte mühsam. „Jawohl.“

Alex drehte sich um und ließ seinen Schwager ohne ein weiteres Wort stehen.

Allein in ihrem Zimmer im Gasthaus und endlich sicher vor neugierigen Blicken, spürte Lydia, wie die Anspannung in ihr nachließ und sie den Tränen der Enttäuschung und Verzweiflung freien Lauf lassen konnte. Sie weinte, weil ihre Träume und Wünsche von einem Moment zum nächsten zerstört worden waren, und sie weinte, weil ihre Zukunft leer und finster aussah.

Henrys Erscheinen in ihrem Leben und sein Antrag hatten bedeutet, dass sie endlich aus einem Dasein, das sie an Alistairs Werkstatt gekettet hielt, hätte ausbrechen können. Alistair war der Liebhaber ihrer Mutter gewesen und jetzt Lydias Arbeitgeber, und er ließ sie so schwer arbeiten, dass sie sich danach sehnte, sich von ihm zu befreien und einen eigenen Laden zu eröffnen, wo sie dann Kleider nach ihren eigenen Entwürfen fertigen würde. Ihr Traum war auch der Traum ihrer Mutter gewesen. Bevor sie gestorben war, hatte sie Lydia versichert, dass es ihr nichts ausmachte, ihre Wünsche nicht erfüllt zu haben, weil ihre Tochter sie eines Tages verwirklichen würde.

Henry war Lydias Hoffnung gewesen, diesem Leben zu entkommen.

Als seine Frau hätte Lydia eine Freiheit genossen, von der sie immer geträumt hatte. Ihr Leben hätte sich vollkommen verändert. Also war er im Grunde ein Mittel zum Zweck für dich, gestand sie sich grimmig ein. Wenn es auch nicht immer so gewesen war. Im Nachhinein sah sie jetzt, dass er sie die ganze Zeit, die sie ihn kannte, geschickt manipuliert hatte. Entschlossen, sie zu besitzen, hatte er Geduld, List und Rücksichtslosigkeit angewendet, um ihr Vertrauen und ihr Herz zu gewinnen und sie am Ende zu seiner Geliebten zu machen.

2. KAPITEL

Von seinem Platz im Speiseraum des Gasthauses aus sah Alex Lydia sofort. Sie stand an der offenen Tür und ließ den Blick langsam durch den Raum wandern. Als Alex sich von seinem Stuhl erhob, ging sie auf ihn zu. Statt der blassen, gedemütigten Frau, die er schon befürchtet hatte wiederzusehen, hatte sie nicht das Geringste von ihrer ruhigen, majestätischen Haltung eingebüßt, die ihm am Anfang aufgefallen war. Sie war die Verkörperung der Gelassenheit. Man sah ihr nicht an, was sie erst vor Kurzem durchgemacht hatte – ebenso wenig wie die Tränen, von denen er nichts wissen konnte. Alex’ Bewunderung für sie wuchs. Zu seiner Verlegenheit reagierte sein Körper sofort heftig auf sie – was wahrscheinlich nicht besonders erstaunlich war nach einer zu langen Zeit selbst auferlegter Enthaltsamkeit.

Das schimmernde schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt, und eine Überfülle von Korkenzieherlocken umrahmte ihr makelloses Gesicht. Ihre großen leuchtend grünen Augen zogen Alex in ihren Bann. Sie war Dunkelheit und Licht, Schatten und Mondschein. Vollkommen verzaubert kam Alex um den Tisch herum und zog den Stuhl für sie heraus. Als sie sich setzte und ihm dankte, atmete er ihren berauschenden Duft ein. Sie war die aufregendste Frau, der er je begegnet war. Es wunderte ihn nicht, dass Henry unfähig gewesen war, ihr zu widerstehen. Wie könnte irgendein Mann aus Fleisch und Blut ihr widerstehen?

„Ich gratuliere Ihnen“, sagte er leise und ließ den Blick genießerisch über sie schweifen. „Sie sehen großartig aus. Ich hoffe, es geht Ihnen jetzt besser.“

Lydia wurde ganz heiß, und sie erschauerte leicht, als sie seinen anerkennenden Blick bemerkte. Aber auch sie bewunderte sein attraktives, vornehmes Gesicht und seinen starken, muskulösen Körper, der Kraft und Sinnlichkeit ausstrahlte. Sie lächelte ihn an.

„Es geht mir sehr gut, wenn man bedenkt, was heute alles passiert ist“, erwiderte sie und ärgerte sich über ihre leicht bebende Stimme. „Wo ist Henry jetzt?“

„Sie werden erleichtert sein zu hören, dass er Gretna verlassen hat.“

„Ja, ich bin unendlich erleichtert. Ich hoffe, er ist zu seiner Frau zurückgekehrt?“

„Ja, davon gehe ich aus.“

„Und der Gentleman, mit dem Sie vorhin zusammen waren? Ich habe ihn doch nicht Ihrer Gesellschaft bei Tisch beraubt?“

„Sie meinen sicher Harris. Er ist mein Kammerdiener oder Sekretär oder was ich gerade im Augenblick brauche. Er steht länger in meinen Diensten, als ich mich erinnern kann, und ist absolut unentbehrlich. Ich bin ein viel beschäftigter Mann, Miss Brook, und Harris kümmert sich um alle meine Bedürfnisse. Heute Abend darf er sich endlich ein wenig Zeit für sich selbst nehmen.“