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Miriam Rademacher

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Beschreibung

Eine Leiche im Moor. Und ein rätselhafter, Jahrzehnte zurückliegender Todesfall. Im Moor nahe einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Leiche des Kioskbesitzers Daniel Abrams entdeckt. Genau dort, wo vierzig Jahre zuvor sein Onkel tot aufgefunden wurde. Ein Zufall? Oder ist die Familie verflucht? Dorfkommissar Markus Sennenberger, mitten in einer Scheidungs- und Selbstmitleidskrise befindlich, nimmt sich missmutig des Falls an. Sein Team: ausgerechnet die Neulinge Derio Conte, Hamburger Jung mit Impulsivitätsproblem, und die unauffällige Fiona Sacher mit dem auffällig großen Hunger. Während sich Sennenberger nur nach Ruhe sehnt, stellen die beiden sein Leben auf den Kopf. Die Ermittlungen holpern, aber dann führen sie die Soko Sennenberger zu einem vermissten Mädchen, einer seltsamen Wissenschaftlerin und einem Mann, der nicht der ist, der er vorgibt zu sein. «Miriam Rademacher ist eine kühne Autorin: starke Dialoge und Protagonisten. Plus eine Plot-Idee, von der man unbedingt wissen will, wie sie ausgeht.» Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, Gerichts- und Kriminalreporterin und Chefin des Podcasts «ZEIT Verbrechen»

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Miriam Rademacher

Im Blut

Ein Fall für die Soko Sennenberger

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Leiche im Moor. Und ein rätselhafter, Jahrzehnte zurückliegender Todesfall.

 

Im Moor nahe einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Leiche des Kioskbesitzers Daniel Abrams entdeckt. Genau dort, wo vierzig Jahre zuvor sein Onkel tot aufgefunden wurde. Ein Zufall? Oder ist die Familie verflucht? Dorfkommissar Markus Sennenberger, mitten in einer Scheidungs- und Selbstmitleidskrise befindlich, nimmt sich missmutig des Falls an. Sein Team: ausgerechnet die Neulinge Derio Conte, Hamburger Jung mit Impulsivitätsproblem, und die unauffällige Fiona Sacher mit dem auffällig großen Hunger. Während sich Sennenberger nur nach Ruhe sehnt, stellen die beiden sein Leben auf den Kopf. Die Ermittlungen holpern, aber dann führen sie die Soko Sennenberger zu einem vermissten Mädchen, einer seltsamen Wissenschaftlerin und einem Mann, der nicht der ist, der er vorgibt zu sein.

 

«Miriam Rademacher ist eine kühne Autorin: starke Dialoge und Protagonisten. Plus eine Plot-Idee, von der man unbedingt wissen will, wie sie ausgeht.»

Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, Gerichts- und Kriminalreporterin und Chefin des Podcasts «ZEIT Verbrechen»

Vita

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.

Kapitel 1

August 1979: Ferdinand

Das Fernsehprogramm bot eine Reihe von Banalitäten, ganz wie man es von einem Samstagabend erwarten konnte. Ferdinand Abrams saß in seinem neuen Ledersessel und studierte lustlos die Programmzeitschrift. Er konnte sich weder für den Krimi noch für den abgeschmackten Liebesfilm und erst recht nicht für den Dokumentarfilm im Dritten begeistern. Stattdessen erwog er tatsächlich auszugehen, eine Art der Freizeitgestaltung, die ihn im Allgemeinen wenig reizte. Doch heute Morgen war er an einem dieser auffälligen Pappschilder vorbeigefahren, die ein Schützenfest am Rande der Stadt ankündigten, und seitdem war ihm diese Veranstaltung nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Ferdinand Abrams war in keinem Verein, schon gar nicht in einem Schützenverein, und tanzen konnte er auch nicht. Aber auf einem solchen Fest würde er einer unter vielen sein, würde sich herrlich durchschnittlich vorkommen und sein Bier nicht allein trinken müssen. Das war vielversprechend und klang nach einem Wagnis, das er eingehen konnte. Hier würde ihn ohnehin niemand vermissen, er lebte allein in seiner penibel aufgeräumten und immer gut geputzten Wohnung. Seinem Fernseher war es egal, ob Ferdinand ihm Aufmerksamkeit schenkte oder nicht.

Schon schwebte seine Hand über der Fernbedienung, um den Flimmerkasten auszuschalten, doch dann ließ er es bleiben. Einen Augenblick lang starrte er auf die kleinen Tasten und überlegte, ob es nicht klüger wäre, das Gerät laufenzulassen und die Lautstärke hochzuschalten, damit sogar seine schwerhörige Nachbarin später bestätigen konnte, dass er den ganzen Abend zu Hause verbracht hatte. Und vielleicht würde er ja doch noch so etwas wie ein Alibi brauchen, man konnte ja nie wissen.

Für einen kurzen Augenblick malte er sich den kommenden Abend noch einmal ganz anders aus. Dann vertrieb er diese Gedanken, schaltete hastig den Apparat ab und floh aus seinem eigenen Wohnzimmer und vor seinen eigenen Gedanken.

Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, sich passend zu kleiden. Was trug man auf einem Schützenfest? Ferdinand Abrams entschied sich für den braunen Anzug mit entsprechender Krawatte. Dann entschied er sich wieder um. Und schließlich lächelte ihm sein Spiegelbild tapfer in einem beigefarbenen Pullover, kombiniert mit einer nagelneuen Bluejeans, entgegen. Das war besser. Er sah sogar ganz gut darin aus, irgendwie locker und fast jugendlich.

Er war jetzt neununddreißig Jahre alt, von akzeptabler Größe, das blonde Haar lichtete sich noch nicht, und sein Bauch war noch immer flach. Eigentlich konnte er mit sich zufrieden sein. Vielleicht würden die Dinge ja heute für ihn ausnahmsweise so laufen, wie sie laufen sollten. Er könnte auf diesem Fest jemanden kennenlernen. Eine Frau, schlank, blond und selbstbewusst. Eine Frau genau des Typs, der ihn für gewöhnlich geflissentlich übersah und schlimmstenfalls sogar belächelte. Diese Frauen meinten es natürlich niemals böse. Es geschah einfach, weil sie seine Unsicherheit spürten und ihr Instinkt sie vermutlich vor ihm warnte. Ferdinand machte ihnen deswegen keinen Vorwurf. Und doch träumte er davon, eine Frau dieser Art an seiner Seite zu haben, dann wäre für ihn vieles einfacher. Zweifellos hätte er sich besser im Griff, und diese dummen Fehler würden ihm nicht mehr unterlaufen.

Er wandte sich von seinem Spiegelbild ab und dachte an das letzte Mal, als er einen Fehler begangen hatte. Hinterher tat es ihm eigentlich immer leid, aber er konnte niemanden wieder lebendig machen.

Ohne es eigentlich zu wollen, ging er jetzt zurück ins Wohnzimmer, schaltete wie selbstverständlich den Fernseher ein und drehte, während er dem ernst dreinblickenden Nachrichtensprecher, der auf der Mattscheibe erschienen war, keinen Funken Aufmerksamkeit schenkte, die Lautstärke höher. In der Garderobe griff er nach seinem Jackett, steckte fast beiläufig Wagenschlüssel, Klebeband, Fahrtenmesser ein und nahm den stabilen Strick aus der Schublade unter dem Spiegel. Er war bereit. Es würde ein schöner Abend werden.

Erst als er draußen auf dem Gehweg stand und seinen Wagen aufschloss, realisierte sein Verstand, was er da eigentlich alles bei sich trug, und mit einem Anflug des Entsetzens flüchtete er sich in seinen Golf GTI. Noch während er ins Polster sank, klappte er das Handschuhfach auf, räumte ein paar volle Bierdosen heraus, die er achtlos auf den Beifahrersitz warf, und verstaute stattdessen Klebeband und Strick darin. Dann schloss er das Fach, lehnte sich schwer atmend zurück und erkannte, dass er das verdammte Fahrtenmesser noch immer in der Hand hielt. Warum hatte er es nach dem letzten Mal nicht einfach weggeworfen? Mit zitternden Fingern steckte er das Messer in seine vordere Hosentasche, wo es ihn schmerzhaft drückte. Heute würde er es wegwerfen, so oder so.

Sein Blick fiel auf die Bierdosen neben ihm, die wie selbstverständlich den Beifahrersitz mit Beschlag belegten. Die erste öffnete sich zischend, als er den Ring abzog und aus dem Fenster warf. Er trank alles einem Zug aus und startete den Golf.

Eine Weile verbrachte er damit, durch die Straßen von Neustadt am Rübenberge zu fahren, während sein Radio fröhliche Schlager schmetterte. Gerade fühlte er, wie der Wunsch, heute Abend unter Menschen zu sein, nachließ, und er begann, sich an den Gedanken zu gewöhnen, einfach heimzufahren und dort vor seinem plärrenden Fernseher einzuschlafen. Da bemerkte er wieder eines der farbenfrohen Pappschilder, die auf das Schützenfest hinwiesen. Er musste dem Festplatz schon sehr nahe sein, denn auf dem Radweg, neben seiner Fahrspur, pilgerten kleine Gruppen angeheiterter Halbstarker, die versuchten, sich mit ihrem Gegröle gegenseitig zu übertönen.

Plötzlich hatte er wieder diese Vision seiner selbst, wie er lachend und scherzend in einer Menschenmenge stand und den Blick einer ihn freundlich anlächelnden Frau auffing. Entschlossen folgte Ferdinand den Wegweisern bis auf eine Wiese, die als Parkplatz für die nahe gelegene Veranstaltung ausgewiesen war. Im Schneckentempo zockelte sein Auto an den Reihen der parkenden Wagen entlang. Da entdeckte er ganz vorn in der ersten Reihe, nahe dem Gehweg, über den sich die Besucher dem Festplatz näherten, einen freien Platz. Sein GTI glitt in die Lücke, der Motor erstarb, und Ferdinand blieb einfach an Ort und Stelle sitzen. Eigentlich hätte er aussteigen und sich unter die Menschen mischen müssen, die dem Pfad bis unter die hohen Bäume folgten. Dort konnte er bereits die bunten Lichter ausmachen. Ein Festzelt, ein paar Fressbuden und wohl auch ein Autoskooter warteten schon auf die Besucher. Dort, wo die Musik laut dröhnte, wo die Lichter hektisch blinkten, wo das Leben pulsierte, dort gehörte er heute hin. Er würde einfach ein Teil der Herde sein: unauffällig und brav.

Unwillkürlich fielen ihm der Strick in seinem Handschuhfach, das Messer in seiner Hosentasche und der laufende Fernseher zu Hause ein. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken und die Zunge irgendwie pelzig an. Hastig nahm er eine weitere Bierdose vom Beifahrersitz und bemerkte beim Öffnen, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten.

Während Ferdinand das zweite Bier runterstürzte, beobachtete er die herausgeputzten Hausfrauen, die in langen Gewändern am Arm ihrer wohlgenährten Gatten an ihm vorbei zur Festwiese flanierten. Sie alle wirkten fröhlich und so beneidenswert normal. Laut johlend näherte sich nun auch eines der Teenagergrüppchen, welches er zuvor auf der Straße überholt hatte. Sie schienen angeheitert und bereits in bester Partylaune. Ferdinand schaute weg, versuchte, ihnen keine Beachtung zu schenken, weder den jungen Männern in den engen T-Shirts, noch den hübschen Blondinen in kurzen Jeans mit zu viel Make-up auf den kindlichen Gesichtern. Doch sosehr er sich auch bemühte, sein Blick wanderte immer wieder zurück zu den jungen Leuten und blieb dort hängen. Die Mädchen hatten sich einer bei der anderen eingehakt und kicherten fröhlich vor sich hin, während die Jungen um sie herumtollten wie übermütige Welpen. Ferdinand musste sie einfach anstarren, wie sie da vor seiner Motorhaube entlangliefen, und er konnte nicht verhindern, dass ihm gefiel, was er sah.

«Nicht schon wieder, hörst du?», ermahnte er sich selbst. «Keine Fehler. Es darf keine Fehler mehr geben. Das sind doch alles noch Kinder und nicht mal dein Typ.» Er atmete jetzt heftig und sagte sich weiter stur vor, was er glauben wollte. «Du willst eine Frau in deinem Leben, die schon eine gewisse Reife hat. Eine, die zu dir passt und dich vor den Fehlern bewahrt.»

Wieder und wieder sagte er diese Worte wie ein Mantra vor sich hin, bis jeder andere Gedanke schwand. Für einen Moment verspürte er Zuversicht. Er konnte es schaffen, sein Verstand war in der Lage, die Abgründe in ihm zu überwinden. Und Ferdinand wollte unbedingt, dass sein Verstand die Oberhand behielt, er wollte ein ganz normaler Mann sein, der normale Dinge tat, doch dafür musste er sich sehr viel mehr bemühen als andere.

Er hob den Blick und sah die jungen Leute gerade noch aus seinem Sichtfeld entschwinden. Sicher würden sie den ganzen Abend aufeinander achtgeben und das Fest auch gemeinsam wieder verlassen. Kluge Teenager waren so, sie hielten sich an die Regeln, die ihnen die Eltern mit auf den Weg gegeben hatten, und gingen auch ganz sicher nie mit einem Fremden mit. Eigentlich bestand unter diesen Vorzeichen gar keine Gefahr für ihn. Er konnte aus seinem Auto steigen, ebenfalls den Weg hinuntergehen und mit ihnen feiern. Natürlich konnte er das. Aber vorher sollte er besser noch ein Bier hier im Auto trinken. Oder besser zwei. Dann würden auch seine Hände endlich aufhören zu zittern.

Oktober 2019

«Mein Gott, Hans», brachte sie schnaufend heraus, und es klang, als sei Luise wieder mehrere Meter hinter ihm zurückgeblieben. «Lauf doch nicht immer so schnell. Das ist ein Spaziergang und kein Marathon.»

Hans Kummer verdrehte kurz die Augen und verlangsamte sein Tempo. Der gemeinsame Sonntagsspaziergang war ein festes Ritual für ihn und seine Frau. Hier, im Moor, ließ er den Alltagsstress des Schulbetriebs hinter sich. Und manchmal auch Luise, doch Letzteres war gar nicht von ihm beabsichtigt. Seine Frau war eben um einiges kleiner als er, ihre Beine waren kürzer und eher dafür geschaffen, übereinandergeschlagen neben einem Cafétisch zu posieren, als durch die Natur zu wandern. Dafür konnte sie nichts, aber es nervte ihn trotzdem manchmal.

«Hans, jetzt warte doch. Die ganze Woche über lässt du mich allein, da kannst du doch wenigstens für eine halbe Stunde an meiner Seite bleiben, oder?»

Er wandte sich zu ihr um und sah in ihr erhitztes Gesicht. Ihre Wangen glühten und gaben ihr den Charme eines jungen Mädchens zurück. Luise sollte viel öfter rennen, dachte er, behielt diesen Kommentar aber für sich. Es war auch gar nicht nötig, irgendetwas zu sagen. Luise sprach mal wieder genug für sie beide zusammen.

«Die Ehemänner meiner besten Freundinnen sind auch Lehrer, und von denen bekomme ich ständig zu hören, dass ihre Gatten nur zu Hause hocken und ihnen den letzten Nerv töten. Warum tötest du mir nie den letzten Nerv? Ich bekomme dich kaum noch zu Gesicht. Aber das wird sich ändern.»

Hans Kummer verkniff sich ein Seufzen und setzte sich langsam in Bewegung. Auf die ihm schon bekannten Vorwürfe würde jetzt wieder eine von Luises abstrusen Ideen folgen, die nur schwer abzuschmettern waren. Vermutlich hatte sie bereits einen Kurzurlaub in einer überfüllten Touristenhochburg gebucht.

«Nächsten Samstag veranstalten wir ein Krimidinner, Hans. Klingt das nicht großartig? Ich habe die Nachbarn schon eingeladen, und sie freuen sich, eine der Rollen auf unserer Party zu übernehmen. Wärst du gern der Kommissar?»

«Ich wäre liebend gern die Leiche», murmelte er und stellte sich vor, wie er während der Party schweigend auf dem Fußboden lag, statt alberne Konversation nach Drehbuch führen zu müssen.

«Das kommt überhaupt nicht in Frage», fuhr Luise etwas außer Atem fort. Sie hatte die leisen Worte ihres Mannes sehr wohl verstanden. «Du wirst dich amüsieren, hörst du? Das tust du nämlich viel zu selten. So ein Krimidinner ist eine spannende und lustige Sache. Stell dir nur vor: ein Mord in unserem Haus! Das wird großartig.»

Hans Kummer konzentrierte sich auf die Schönheit der Landschaft, den Frühnebel, der noch über dem Wasserspiegel hing, und die angenehm klare Luft des Herbstes. Er verschwieg seiner Frau, dass es in ihrer Ehe Tage gab, an denen ihm der Gedanke an einen Mord in seinem Haus durchaus verführerisch erschien, ging ihr zuliebe jetzt aber etwas langsamer. Tautropfen dekorierten Spinnennetze in den hohen Gräsern am Wegesrand. Der Morgen hätte so schön sein können. Ohne Luise.

«Als Hausherrin fällt natürlich mir die Rolle der Person zu, die über das Opfer stolpert. Meine markerschütternden Schreie sind schwer zu übertreffen, das müssen die anderen Damen einsehen.»

Ihm gefiel ihre Idee immer weniger. «Ich habe keine Lust auf Mord. Reicht nicht auch eine Partie Mensch ärgere dich nicht?» Es war ein schwacher Versuch, das nächste Wochenende zu retten, musste aber unternommen werden.

Luise war bei seinen Worten stehen geblieben, und als er sich zu ihr umwandte, bemerkte er, dass sie diese ganz besondere Haltung eingenommen hatte. Breitbeinig stand sie da, die Fäuste in die kaum noch vorhandene Taille gestemmt, bereit für ein zünftiges Streitgespräch am Sonntagmorgen. «Du gönnst mir also nicht mal einen Mord, ja?»

Jetzt nahm auch Hans Kummer Haltung an, reckte leicht das Kinn vor und verschränkte die Arme vor der Brust. «Mein lieber Schatz», begann er, «ich gönne dir viele Dinge von ganzem Herzen, aber was habe ich mit deinem Krimidinner zu tun? Ich werde das nächste Wochenende mit dem Korrigieren grausam verstümmelter Gleichungen verbringen, das finde ich persönlich amüsanter als Mord und Totschlag.»

«Du willst dich wieder einmal mit deiner Arbeit herausreden, dabei hast du es so viel einfacher als manch andere deiner Kollegen», rief Luise. «Deutsch- oder Geschichtslehrer müssen seitenweise sinnloses Gewäsch pubertierender Heranwachsender ertragen, aber du musst einfach nur überprüfen, ob die Lösung stimmt. Das kann doch nicht so schwer sein. Da muss doch ein bisschen Zeit für eine zünftige Mordermittlung mit viel Spaß und Cocktails übrig bleiben.»

Hans Kummer spürte, dass er drauf und dran war, die Freude an seinem Sonntagsspaziergang zu verlieren. Warum konnte seine Frau nicht akzeptieren, dass er nach einer Woche im Klassenzimmer ein gesteigertes Bedürfnis nach Ruhe hatte? Andere Ehefrauen, sofern man den Kollegen glauben durfte, brachten dieses Verständnis auf. Luise aber war eine Unbekannte in seiner persönlichen Gleichung und allem Anschein nach wieder einmal fest entschlossen, ihre Bedürfnisse über seine zu stellen.

«Ein Mord ist niemals ein großer Spaß mit Cocktails und Würstchen im Schlafrock, Luise. Dabei gibt es ein Opfer zu beklagen, Hinterbliebene müssen getröstet und ein Mörder gefunden werden. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, welche Tragödie sich oft hinter einer Gewalttat verbirgt, vergeht mir der Appetit. Und jetzt will ich diesen Spaziergang genießen und mich zumindest einen Moment lang mal von meinen nervigen und völlig unbegabten Schülern erholen.»

Luise, die einem Standbild gleich ihre Position nicht verändert hatte, schlug für einen kurzen Moment die Augen nieder. Er kannte das. Ihm stand ohne Zweifel ein Strategiewechsel ihrerseits bevor. «Sieh mal, Hans, die Einladungen sind doch schon raus, und alle freuen sich drauf. Kannst du am nächsten Samstag nicht wenigstens so tun, als ob es dir genauso viel Spaß machen würde wie allen anderen?»

«Luise!» Ihm riss endgültig der Geduldsfaden. «Ich habe wirklich keinerlei Interesse daran, Teil einer albernen Inszenierung zu sein, deren Ziel es ist, für einen vorgetäuschten Mord einen Täter mit nicht nachvollziehbarem Motiv zu finden. Halt mich da raus und lass mich meine eigenen Wege gehen.» Noch während er sprach, hatte er aus einem Impuls heraus den befestigten Weg verlassen und stapfte trotzig durch die unberührte Natur.

«Sei vorsichtig, Hans.» Endlich kam wieder Leben in Luise. Sie hastete ihm nach und hielt dann abrupt inne. «Du wirst dir nasse Füße holen, hörst du? Das hier ist ein Moor, hier sind überall schlüpfrige Löcher und matschige Stellen. Vielleicht versinkst du sogar. Komm sofort zurück!»

Er dachte nicht dran. Wenn sie das Moor zu sehr fürchtete, um ihm zu folgen, dann war ihm diese Marschroute gerade recht. Entschlossen marschierte er auf das Gewässer vor ihm zu, in dem sich der hellgraue Oktoberhimmel spiegelte. Tief sog er die klare Luft ein, als sein Fuß plötzlich gegen etwas Festes im niedrigen Dickicht stieß. Hans Kummer senkte den Blick und schaute herab. Vor der Spitze seines linken Wanderschuhs lag etwas, das aussah wie … wie …

«Hans, du hast nicht einmal Gummistiefel an, du wirst dich erkälten, und ich hab dich dann die ganze Woche krank zu Hause auf der Couch liegen. Das wäre dann doch zu viel des Guten!»

Er hatte ihr gar nicht richtig zugehört. Doch jetzt realisierte er, dass auch Luise mittlerweile den Weg verlassen hatte, um zu ihm zu eilen und ihn zurück auf sicheres Terrain zu zerren. Sein Verstand schlug Alarm. «Bleib, wo du bist», rief er und streckte ihr warnend einen Arm entgegen. «Komm nicht näher, geh zurück auf den Pfad.»

Alarmiert rannte Luise nur umso schneller auf ihn zu. «Was ist denn los, Schatz? Bist du eingesunken? Kannst du dich nicht befreien? Hast du …»

Und jetzt stand sie neben ihm, sah, was er sah, und, noch schlimmer, roch, was er roch.

«Du meine Güte», presste sie hervor. «Das erinnert mich an damals, als du aus Versehen den Stecker aus der Gefriertruhe gezogen hast und alle Grillwürstchen vergammelt sind.»

Irritiert hob Hans Kummer den Kopf. «Grillwürstchen? Luise, das hier ist ein toter Mensch. Und der will ganz bestimmt nicht, dass du eine Party für ihn schmeißt.»

«Großartig.» Luise klang außerordentlich befriedigt. «Viel besser als ein Mord nach Drehbuch. Unsere Freunde werden staunen, wenn wir ihnen einen echten Fall präsentieren können.»

«Ach sei still, Weib!» Das sagte er nur zu ihr, wenn er wirklich aufgebracht war. Also schwieg sie ihm zuliebe tatsächlich für einen Augenblick. «Wir wissen doch gar nicht, ob der Mann hier ermordet wurde. Es kann ja auch ein Wanderer oder Pflanzenkundler sein, den der Schlag getroffen hat.»

Einen Moment lang blieb es still, und er hörte nichts als das fröhliche Singen der Vögel um sie herum. Dann zog Luise scharf die Luft ein und fand ihre Sprache wieder. «Den hat ganz bestimmt kein Schlag getroffen, mein Lieber, sondern etwas Schlimmeres. Und zwar mitten in die Brust. Siehst du denn nicht das ganze Blut? Und wie das hier riecht. Oh, da werden die anderen vielleicht Augen machen, wenn ich das am Samstagabend beim ersten Cocktail erzähle.»

Jetzt sah auch Hans Kummer die von trägen Fliegen bevölkerten Blutflecken auf der Brust des Toten. Er unterdrückte ein Würgen. Nun, es konnte immer noch ein Unfall sein. Ein ahnungsloser Spaziergänger, ein unvorsichtiger Jäger, ein Schuss, der sich unbeabsichtigt löst. Ja es war noch immer möglich. «Wir brauchen einen Rettungswagen», murmelte er leise.

«Den rettet niemand mehr», stellte Luise erstaunlich sachlich fest. «Wir brauchen in erster Linie die Polizei. Hans, gib mir dein Handy.»

Ohne aufzusehen, kramte er in den Taschen seines Mantels nach dem nervtötenden Gerät, das er meist absichtlich zu Hause vergaß, heute aber glücklicherweise eingesteckt hatte.

Luise, die sein Kennwort kannte, tippte schon irgendeine Nummer ein. «Die werden mich verbinden, oder? Mit der Mordkommission, vielleicht? Und dann kommen sie alle hier raus, die Kommissare und die Leute von der Spurensicherung in ihren gruseligen Papieranzügen, hach!» Ein Ausruf des Entzückens begleitete ihre Worte.

Hans Kummer stand noch immer vor dem Toten und wusste nicht, was er tun oder lassen sollte. Mit einer gewissen Scheu bückte er sich und bog einige Gräser beiseite, um das Gesicht des Toten besser sehen zu können. Die Vorstellung, dass es sich um einen Bekannten handeln könnte, nagte an ihm.

«Fass nichts an!», rief Luise. «Schaust du denn keine Krimis? Wir dürfen hier auf keinen Fall etwas berühren. Hach, ist das alles spannend.»

Für einen kurzen Moment kamen ihm Zweifel, ob sie wirklich die Polizei oder nicht doch erst einmal ihre Freundinnen anrief. Doch Luises Gesicht mit dem Handy am Ohr wirkte so ernst, dass er ihr vertraute und sich wieder dem Toten vor seinen Füßen zuwandte. Noch immer brauchte er die Gewissheit, dass es sich wirklich um einen Unbekannten handelte, einen Fremden, der ihm völlig egal sein konnte. Dessen Schicksal ihn nicht berühren musste.

«Verdammt, warum geht denn da keiner ran? Ich denke, das ist ein Notruf. Hallo? Hallo!»

Hans Kummer bückte sich noch etwas tiefer. Diese Nase, diese etwas zu kurz geratene Nase und die auffällig geformten Ohren. Das war doch, das konnte doch nur … «Abrams!», rief er aus und sah aus den Augenwinkeln, wie seine Frau erschrocken zurücksprang. «Das ist Abrams! Oh mein Gott!»

«Abrams?», fragte Luise verwundert und ließ das Handy sinken. «Hans? Meinst du etwa diesen ermordeten Kerl, den sie vor einer halben Ewigkeit hier im Moor gefunden haben? Ferdinand hieß der doch, oder? Denkst du, die haben den hier damals einfach liegengelassen?»

Hans Kummer schüttelte heftig den Kopf. «Natürlich nicht! Das hier ist ein anderer Abrams. Ein weiterer toter Abrams im Toten Moor.»

«Und woher kennst du den Herrn, wenn ich fragen darf?»

Er antwortete nicht. Musste er auch nicht, denn in diesem Moment forderte eine quäkende Stimme aus dem Handy Luises ganze Aufmerksamkeit ein.

Kapitel 2

«Geh doch mal raus aus aufs Land, haben sie zu mir gesagt. Da brauchen sie Leute wie dich. Da kannst du Karriere machen, haben sie gesagt. Aber das hier, das hat keiner vorhergesehen, verdammt noch mal!» Fluchend tippte Kriminalkommissar Derio Conte eine Adresse in das Navi seines Wagens ein. Straße und Hausnummer hatte man ihm flüchtig auf einen herausgerissenen Zettel notiert und waren nicht leicht zu entziffern. Trotzdem würde er keinesfalls zurück in die Dienststelle gehen und seinen Vorgesetzten bitten, ihm diese Hieroglyphen zu übersetzen.

Derio riet ein paar der Buchstaben, und tatsächlich gab sein Navi vor, eine solche Straße im nahe gelegenen Wunstorf zu kennen. Perfekt. Er startete den Wagen und rollte vom Hof der Dienststelle. Mit etwas Glück würde ihn die freundliche Computerstimme jetzt direkt zur Haustür von Kriminalhauptkommissar Markus Sennenberger führen. Derio fragte sich, warum der Mann abgeholt werden musste und nicht selbst zum Fundort der Leiche kommen konnte.

«All die Büffelei im Studium, und jetzt liegt eine grandiose Karriere als Chauffeur des Chefs vor mir. Wirklich ganz toll.» Er hupte einen lebensmüden Radfahrer an und bog schwungvoll in eine Seitenstraße ein. Ob das Navi wirklich wusste, wo es langging?

Derio Conte war erst vor zwei Tagen an seinem neuen Arbeitsplatz eingetroffen und kannte hier nichts und niemanden. Er kam aus Hamburg, und so wie er die Dinge jetzt sah, hätte er dort auch besser bleiben sollen. In Hamburg fuhren die Kommissare selbst zum Einsatzort und ließen sich nicht von ihren Kollegen zu Hause abholen. Dass diese Vorgehensweise eine unfassbare Verschwendung wertvoller Zeit war, musste doch eigentlich jedem einleuchten, oder? Verdammt, das Kaff, in dem der Mann lebte, lag ja nicht einmal auf direktem Weg zum Tatort!

Conte ließ das letzte Ortsschild hinter sich und trat aufs Gaspedal. Sollten Kollegen von der Verkehrspolizei ihn anhalten, würde er die Gelegenheit nutzen, um sich gleich mal mit ihnen bekannt zu machen. Was für eine langweilige Gegend das hier doch war. Er hätte weiter in den Süden gehen sollen, wo es Berge gab. Stattdessen durfte er jetzt bei miesem Wetter in einem ekligen Moor herumstapfen, vielen Dank auch. Gut, wenn man es genau nahm, dann war das Wetter bei weitem nicht so trüb wie seine Laune. Aber seine Launen waren ja schon immer das Problem gewesen, er hatte sich eben nicht gut im Griff.

Derio drückte auf einen Knopf, und beruhigende Musik kam aus den Boxen seines Wagens. Der Kriminalkommissar schwor auf klassische Musik, wenn es darum ging, die Stimmung zu heben und den Blutdruck zu senken. Und sicher war es keine gute Idee, Kommissar Sennenberger gleich bei ihrer ersten Begegnung schlechtgelaunt gegenüberzutreten. Besser wäre, einen souveränen und gelassenen Eindruck auf den Mann zu machen. Ein kleiner Scherz zur Begrüßung, bevor man ein paar höfliche Floskeln zum Ernst der Lage wechselte, ja, so machte man sich Freunde.

Aber wie verdammt noch mal sollte er in eine heitere und gelassene Stimmung kommen, wenn der Kerl da vor ihm im Auto so provozierend langsam über die Landstraße kroch? Derio verzichtete auf die belehrende Hupe, das war einer seiner festen neuen Vorsätze, und zog an der lahmen Ente vorbei. Schließlich passierte er ein Ortsschild. Für eine angemessene Geschwindigkeit seinerseits flog es ein wenig zu rasch an seinem Seitenfenster vorbei, doch Derio war sich sicher, den Ortsnamen von seinem Notizzettel wiedererkannt zu haben. Nach einer Reihe unglaublich schlecht geschalteter Ampelkreuzungen hielt er in der Zufahrt eines langweiligen Einfamilienhauses, das in einer ebenso langweiligen Siedlung aus den neunziger Jahren stand. Der Vorgarten, den er zügig durchschritt, schien erst kürzlich von einer Lawine aus Kies getroffen worden zu sein, was ihn sicher praktisch, aber keineswegs ansprechend wirken ließ. Auf dem Klingelschild stand Sennenberger. Sein Glück schien ihn doch nicht ganz verlassen zu haben. Energisch drückte er auf den Messingknopf. Als im Innern Big Ben seine Ankunft meldete, fuhr sich Derio noch einmal hastig mit den Fingern durch das kurze, dunkle Haar. In der spiegelnden Scheibe der Haustür deutete sich auf seinen Wangen bereits wieder ein leichter Bartschatten an, dabei hatte er sich erst vor ein paar Stunden rasiert. Die Tür öffnete sich schon, noch während Derio seine neue Krawatte richtete und die Ärmel des Jacketts in Form zog.

Auf der Schwelle erschien eine hünenhafte Gestalt von imposanter Breite. Das hellbraune Haar auf dem quadratisch anmutenden Kopf war schon ein wenig schütter, und im Mundwinkel des etwa Fünfzigjährigen hing ein erloschener Zigarillo. Aus dem linken Halbschuh ragte eine mit Klettband am Unterschenkel befestigte Beinschiene aus hellblauem Plastik. Gut, das erklärte einiges. Damit ließ sich natürlich nur schlecht selbst Auto fahren. Derio schaffte es nicht, den Blick von dieser lächerlich kleinen Gehhilfe abzuwenden, die an diesem massiven Mann auffallend deplatziert wirkte.

«Bänderriss», brummte sein Gegenüber statt einer Begrüßung und schob den Zigarillo von einem Mundwinkel in den anderen. «Bin über einen Umzugskarton gestolpert. Blöde Geschichte.»

Derio warf einen Blick in den Hausflur, der sich hinter dem Kommissar bis in einen weiten und sehr leeren Wohnraum erstreckte. «Verstehe.» Derio nickte und lächelte. «Sie ziehen gerade erst ein. Das kenne ich.»

«Falsch.» Sennenberger humpelte auf ihn zu und zog dabei die Tür hinter sich ins Schloss. «Ich wohne schon zwanzig Jahre hier, aber meine Lebensumstände haben sich geändert. Und tun es gewissermaßen immer noch. Dazu gehören jede Menge Kartons, die leer ins Haus kommen, um es voll wieder zu verlassen, vorher aber gerne noch zur Stolperfalle werden. Aber damit ist jetzt bald Schluss.»

«Aha.» Derio wollte noch etwas ergänzen, unterließ es jedoch, als ihm klar wurde, dass er nicht den geringsten Schimmer hatte, wovon der Mann überhaupt sprach.

«Sennenberger heiße ich.» Der Mann bot ihm die Hand, und Derio schlug ein wenig zu schwungvoll ein.

«Ich weiß. Ich bin Derio Conte, der Neue aus der Großstadt. Ich soll Sie abholen und ins Tote Moor bringen. Nicht, dass ich ganz sicher wäre, wo das ist, aber mein Navi wird es schon finden.»

«Ist gar nicht weit vor hier.» Sennenberger öffnete die Beifahrerseite, zog den Kopf ein und ließ sich ächzend ins Leder sinken. «Das Moor ist ein hübsches Fleckchen Erde. Wenn man die Stille liebt.»

Derio, der für Stille nicht viel übrighatte, erwiderte nichts und setzte sich hinter das Steuer. «Nichtraucher», klärte er den Älteren auf.

«Hm?» Markus Sennenberger hob eine Augenbraue.

«Ich bin Nichtraucher, das hier ist mein Auto. Es ist ein Nichtraucherauto.»

Der Kommissar nickte verstehend. «Kein Problem.» Er nahm den Zigarillo aus dem Mundwinkel und verstaute ihn in der oberen Tasche seines Sakkos. Zeitgleich zauberte er von irgendwoher eine eingeschweißte Minisalami hervor. «Aber es wird ja wohl kein Nichtesserauto sein, oder? Ohne meinen Glimmstängel werde ich schnell hungrig.»

Noch während die Verpackung aufgerissen wurde und der Geruch von stark gewürztem Fleisch das Wageninnere erfüllte, legte Derio den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass eine Information über seine fleischlose Ernährung die Salami auch nicht zurück in ihre Hülle gezwungen hätte. Diese Duftnote würde er also wohl oder übel ertragen müssen, bis sie das Moor erreicht hatten, das vermutlich auch nicht gerade nach Rosen roch.

 

Der junge Polizist, der ihren Wagen anhielt, winkte sie nach einem kurzen Blick auf Sennenberger durch, und so ruckelte der Audi über eine ehemalige Teerstraße, die jetzt nur noch eine Aneinanderreihung verschieden großer Krater war. Kurz darauf endete ihr Weg auf einem von hohen Bäumen umstellten Parkplatz. In der Ferne sahen sie eine nicht unerhebliche Anzahl an Personen, die größtenteils tatenlos herumstanden.

«Mist, wir müssen zum Tatort laufen.» Der Kommissar starrte finster auf den Knöchel mit der farbenfrohen Plastikschiene hinab und tastete in der Brusttasche seines Sakkos nach dem Zigarillo. Noch ehe er sich mühsam aus dem Wagen gewuchtet hatte, hing der braune Glimmstängel wieder zwischen seinen Lippen.

Derio war sofort an seiner Seite. «Soll ich Sie vielleicht stützen?» Hilfsbereit bot er dem Kommissar seinen Arm an.

«Nun werden Sie mal nicht albern, Junge. Passen Sie lieber auf, dass Sie ohne lange Reden an der Dame mit den rot gefärbten Haaren vorbeikommen.» Dabei deutete er auf eine Frau in einem blauen Regenmantel, die ein wenig desorientiert am Beginn des Wanderweges stand und offensichtlich nichts mit sich anzufangen wusste.

«Ist das eine Kollegin?», fragte Derio und hätte sich im selben Augenblick für seine Dummheit ohrfeigen können. Als ob er eine geltungsbedürftige Zeugin nicht von einer ausgebildeten Polizistin unterscheiden konnte.

Während Sennenberger zielstrebig drauflos und an der Dame vorbeihumpelte, hatte er selbst weniger Glück.

«Ich habe ihn gefunden, wissen Sie.» Sie verstellte ihm den Weg und griff sich theatralisch an die Brust. «Luise Kummer ist mein Name. Mein Mann, der kann leider kein Blut sehen, dem ist ein bisschen schlecht geworden, also, mein Mann und ich, wir sind über den Toten gestolpert. Der lag einfach so da! Wie vom Himmel gefallen.»

«Soso. Dann warten Sie doch bitte hier, bis wir Zeit für Sie haben.» Derio nickte höflich und versuchte, sich an der Frau vorbeizuschieben, doch der Weg schien ihm plötzlich schmaler als zuvor, jetzt, wo Frau Kummer ihm auf die Pelle rückte.

«Mein Mann hat ihn erkannt, stellen Sie sich das mal vor. Das war natürlich ein Schock für ihn. Wo er bei ihm doch jeden Morgen seine Zeitung gekauft hat.»

Derio atmete tief durch und versuchte, nicht die Geduld mit dieser armen Frau zu verlieren, die gerade auf ihrem Sonntagsspaziergang einen Toten entdeckt hatte. «Frau, Kummer, ich werde mir gleich in Ruhe Ihre Geschichte anhören, aber erst möchte ich einen Blick auf den Ort des Geschehens werfen und mit dem Staatsanwalt und den Kollegen sprechen.»

«Ich könnte Ihnen ja alles zeigen, aber einer dieser besagten Kollegen hat mich weggeschickt.» Sie schniefte vorwurfsvoll. «Mich und meinen armen Mann. Hans erbricht sich gerade zum zweiten Mal hinter dieser Birke dort.»

Derio zählte innerlich bis fünf. «Frau Kummer, der Fundort der Leiche ist möglicherweise ein Tatort, und das bedeutet, dass wir hier jetzt das Sagen haben. Und Sie warten bitte, bis Sie dran sind, und lassen uns unsere Arbeit machen. Haben wir uns verstanden?»

«Aber wenn mein Mann recht hat und es sich wirklich um Daniel Abrams handelt, dann ist das doch eine Sensation!», rief Frau Kummer und versuchte tatsächlich, ihn festzuhalten. Derio spürte, dass er gleich die Geduld mit ihr verlieren würde, und wollte dann lieber nicht in Luise Kummers Haut stecken. «Der Tote, der hier vor vierzig Jahren gefunden wurde, hieß nämlich ebenfalls Abrams, verstehen Sie? Ferdinand Abrams. Vielleicht ist diese Familie verflucht.»

Derio ballte die Hände zu Fäusten und trat erfolgreich die Flucht an, bevor die Frau ihm noch weitere Märchen auftischen konnte. Beinahe schon rennend, erreichte er Kommissar Sennenberger, der jetzt abseits des Wanderwegs im hohen Gras stand und sich mit einem Mann unterhielt, der zu jung aussah, um als erfahren gelten zu können. Aber vielleicht lag es auch nur an seinen brandroten Haaren, den abstehenden Ohren und den vielen Sommersprossen, die ihn eher wie einen Jungen als wie einen Polizisten wirken ließen.

«Conte, kommen Sie her, und lernen Sie Viktor Kernig von der Spurensicherung kennen», rief der Kommissar und deutete mit seinem Zigarillo auf den Rotschopf. «Er ist zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, arbeitet aber so fleißig wie eine Honigbiene. Ein guter Mann.»

«Die Honigbiene versichert dir gerade, dass dies hier weder ein Unfall noch ein Selbstmord war», erwiderte der Mann namens Viktor und würdigte Derio keines Blickes. «Die arme Sau ist hingerichtet worden.»

«Genickschuss?» Sennenberger zog die Augenbrauen zusammen.

Der andere schüttelte den Kopf. «Nein, es waren mehrere Treffer mitten ins Herz, und zwar aus nächster Nähe. Er hat diese Schüsse definitiv nicht selbst abgegeben. Kleinkalibrige Pistole, aber das machte sie nicht weniger tödlich. Markus, das ist ein Fall für dich. Du weißt doch, dass Kollege Niesing noch immer an dieser anderen Geschichte dran ist, diesem toten Mädchen aus der Mülltonne. Der hat keine Zeit für eine zweite Mordsache.»

«Hat er wohl», behauptete Sennenberger und kaute auf seinem Zigarillo. «Die Spuren im Fall des toten Mädchens in Neustadt sind doch längst kalt. Niesing fischt seit Wochen im Trüben. Da kommt nichts mehr bei raus. Mit dieser frischen Geschichte hier kann er seinen Ruf gleich wieder aufpolieren.»

Der Mann namens Viktor verzog das Gesicht. «Dieser Fall interessiert dich wirklich nicht? Du willst ihn dem Niesing überlassen und dich auf deinem kaputten Knöchel ausruhen? Du bist echt ein fauler Hund, Sennenberger.»

«Ein Mord im Moor ist eben nichts für mich.» Sennenberger deutete auf seine Beinschiene. «Ich werde noch eine ganze Weile mit diesem Ding herumhumpeln müssen. Hey, wenn nicht alles optimal verheilt, winkt vielleicht sogar die Frührente, das hätte doch was. Außerdem gibt die Geschichte meines Erachtens nicht viel her. Vermutlich muss man nur mal kurz einen Blick auf den Lebenslauf dieses Kerls werfen und stellt fest, dass er sich in schlechter Gesellschaft befunden hat. Und zack, hast du auch schon irgendeinen cholerischen Hauptverdächtigen mit Knarre. Dann noch ein Volltreffer beim Gentest, und das war’s. So richtig spannend klingt das nicht gerade.»

«Hab ich da gerade das Wort Frührente gehört?» Der Rothaarige zog beide Augenbrauen hoch. «Wegen eines Bänderrisses? Gib doch einfach zu, dass du keinen Bock mehr auf den Job hast. Und was den Gentest angeht, wir befinden uns hier in einem verdammten Moor. Was meinst du wohl, wie viele Haare oder Hautschuppen des Täters sich hier wiederfinden lassen? Mit ein paar Fußspuren kann ich dir sicher bald aushelfen, aber beim Rest wird’s eng.»

«Und wenn es nicht nur Mord, sondern ein Familienfluch wäre?», warf Derio ein.

Viktor Kernig starrte ihn an, als käme er vom Mars, und auch Sennenberger wäre fast der Zigarillo aus dem Mundwinkel gefallen. Schnell fuhr Derio fort: «Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Unsere Zeugin hat gerade so was angedeutet. Sie meint, hier ist schon einmal ein Mann ums Leben gekommen, und der soll auch Abrams geheißen haben. Genau wie dieser Herr hier.»

Das Zucken im Gesicht des Kommissars war so unauffällig gewesen, dass Derio für einen Moment den Verdacht hatte, er müsse sich getäuscht haben. Doch nach der Nennung des Namens Abrams hatte sich Sennenbergers Körperhaltung irgendwie verändert, war wachsamer geworden.

«Abrams.» Die Stirn des Kommissars legte sich in nachdenkliche Falten. «Aber das ist doch eine Ewigkeit her. Das muss Anfang der Achtziger gewesen sein, ich war damals noch ein pickliger Teenager.» Für einen Augenblick haftete sein Blick an Derio, dann wandte er sich wieder Viktor zu. «Du bist doch auch hier in der Gegend aufgewachsen, weißt du, ob der damals ermordete Abrams vielleicht Kinder hatte? Wandelt hier sein Sohn auf den Spuren des Vaters und hat es dabei etwas zu genau genommen?»

Viktor Kernig rollte mit den Augen. «Anfang der achtziger Jahre? Soll das ein Witz sein? Da war ich noch nicht mal geboren. Wenn ich es mir recht überlege, ist es wohl doch in Ordnung, wenn du langsam in Rente gehst.»

Sennenberger ignorierte die Spitze und begann wieder, auf seinem Zigarillo herumzukauen. «Wenn der tote Abrams von damals einen Sohn gehabt hätte, müsste der so etwa in meinem Alter gewesen sein. Verdammt, das hätte ich doch irgendwie mitbekommen.»

«Also, der Kerl, der hier im Matsch liegt, ist nicht in deinem Alter Markus. Der ist mindestens fünfzehn Jahre jünger als du.» Viktor von der Spusi, wie Derio ihn jetzt schon insgeheim getauft hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. «Stell dir eine Soko zusammen und leg los, alter Mann.» Er deutete auf Derio. «Der Kleine hier kann dich doch bestimmt auch weiterhin durch die Gegend kutschieren, da brauchst du dein Bein doch gar nicht.»

Unwillkürlich drückte Derio den Rücken durch und hob das Kinn. Wen nannte diese Pfeife hier klein? Eine Menge berühmter Männer waren ebenfalls nie über die eins fünfundsechzig hinausgekommen, das hatte nichts zu sagen.

«Abrams», wiederholte Sennenberger leise und sah zur Leiche hinüber, die gerade vorsichtig in einen Plastiksarg verpackt wurde. «Wieder ein ermordeter Abrams im Toten Moor. Ich gebe zu, das könnte vielleicht doch ganz interessant werden.»

***

Als der Jungspund namens Conte mit der spitzen Nase und dem schwarzen Maulwurfsfell auf dem Kopf, das nur entfernt an Haar erinnerte, ihn endlich wieder zu Hause abgesetzt hatte, versank die Sonne bereits am Horizont, und die Kühle der Herbstnacht legte sich auf das Land. Markus Sennenberger humpelte durch den leeren Flur in ein fast leeres Wohnzimmer und ließ sich auf eine Matratze am Boden fallen. Sie ersetzte ihm das Sofa, welches einmal hier gestanden hatte, war aber auch immer häufiger sein nächtlicher Schlafplatz. Es gab nichts mehr, das ihn in den ersten Stock seines Hauses hinaufgetrieben hätte, kein Ehebett, in dem ein warmer Körper lag, an den er sich schmiegen könnte.

Ein Blick zur langen Fensterfront, hinter der sein Garten verwilderte, verriet ihm, dass Michaela diesmal auch die Rollos mitgenommen hatte. Jetzt gab es nicht mehr viel in ihrem ehemaligen Heim, das sie noch interessieren konnte. Sennenberger schnürte den Schuh auf und lagerte den lädierten Knöchel auf einem Stapel alter Pizzakartons.

Das Leben war nicht fair. Jahrelang hatte er sich abgerackert, um seiner Frau und auch sich selbst etwas bieten zu können. Sie hatten dieses Haus gekauft, es eingerichtet, die gemeinsame Tochter aufgezogen. Gut, wenn er es recht bedachte, hatte er in diesem Haus nur mal die Zimmerdecken gestrichen, und Jella war auch eher selten von ihrem Vater betreut worden. Aber alles zur selben Zeit ging eben nicht. Und so war neben der Karriere nach und nach die Familie auf der Strecke geblieben. Jetzt war beides im Eimer. Die Karriere interessierte ihn nicht mehr, die Familie gab es nicht mehr. Michaela hatte einen anderen Mann kennengelernt, Jella hatte ein Studium in Osnabrück begonnen und kümmerte sich nicht die Bohne um ihren Erzeuger. Die Scheidung war seit kurzem rechtskräftig, und er durfte hoffen, dass Michaela mit den Rollos nun das letzte bisschen Mobiliar fortgeschleppt hatte, auf das sie Anspruch erhob. Nein, das Leben war nicht fair.

Wenigstens den alten Röhrenfernseher hatte sie ihm gelassen, doch Sennenberger war nicht nach seichter Unterhaltung zumute. Er fragte sich, ob irgendwo noch ein paar Fotos aus seiner Jugendzeit existierten oder im Keller vielleicht noch ein paar alte Schülerzeitungen herumlagen. Irgendetwas, das ihm helfen konnte herauszufinden, ob dieser Abrams vor vierzig Jahren einen Sohn hinterlassen hatte. Doch dann erinnerte er sich daran, dass er heutzutage über andere Möglichkeiten verfügte, an Informationen zu gelangen, und rief auf dem Revier an. Zwei Minuten später kannte er den Namen der Kollegin, die früher am Tag die Aufgabe übernommen hatte, der Familie des Mordopfers die traurige Nachricht zu überbringen. Zwei weitere Minuten später besaß er auch ihre privaten Kontaktdaten. Kurz darauf wählte er die Nummer von Fiona Sacher, zu deren Namen er, wie er zugeben musste, kein Gesicht vor Augen hatte.

«Sacher?» Eine junge, wenn auch etwas müde Stimme meldete sich am anderen Ende.

«Sennenberger hier, Frau Sacher, Kriminalhauptkommissar Markus Sennenberger. Darf ich Ihnen ein paar Fragen zum Fall Abrams stellen?»

«Klar doch.» Sie unterdrückte ein Gähnen.

Sennenberger beschloss, es kurz zu machen, doch Fiona Sacher beantwortet alle seine Fragen geduldig und ausführlich. «Unser Toter heißt Daniel Abrams. Er wurde neununddreißig Jahre alt und war ledig. Er lebte bei seiner Mutter in Neustadt am Rübenberge. In derselben Stadt betrieb er einen kleinen Kiosk. Der Mann, der den Toten gefunden hat, Herr Hans Kummer, ist Mathelehrer an einer dem Kiosk nahe gelegenen Schule und erkannte den Toten wieder, weil er bei ihm regelmäßig seine Tageszeitung gekauft hat.»

«Ein Kioskbesitzer wird ermordet und hinterlässt nur seine alte Mutter», fasste Sennenberger nachdenklich zusammen und starrte in seinen Garten hinaus, wo die Sonne rotgolden hinter der Hecke versank.

«So alt ist die gar nicht», stellte Fiona Sacher richtig. «Elfie Abrams kann höchstens Mitte fünfzig sein. Sie hat es übrigens recht gefasst aufgenommen. Und das, obwohl ihr Onkel vierzig Jahre zuvor ebenfalls in jenem Moor zu Tode kam. Auch ermordet, wie sie mir sagte.»

Sennenberger hielt den Atem an. Jetzt hatte er erfahren, was er wissen wollte. Die beiden Toten aus dem Toten Moor waren also Großonkel und Großneffe, standen tatsächlich in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander. Konnte das Zufall sein? Sennenberger zerbiss seinen kalten Zigarillo. Das war nicht die Art Zufälle, an die er glaubte.

Möglichst lautlos spuckte er die Tabakkrümel in die hohle Hand, bedankte sich bei Fiona Sacher und beendete das Gespräch. Jetzt musste er dringend seinen Vorgesetzten anrufen und ein paar Dinge in die Wege leiten. Er wählte erneut eine Nummer, suchte gleichzeitig nach einem neuen Zigarillo und ermahnte sich, höflich zu bleiben, ganz egal, wie das Gespräch sich entwickeln sollte.

Leon Pauls, Leiter des Kriminaldienstes, klang um diese Zeit weit weniger freundlich als Fiona Sacher. «Und du traust dir das wirklich zu, Markus? Was macht dein Fuß? Hör mal, du musst dich nicht auf Teufel komm raus zum Dienst schleppen, so knapp sind wir derzeit gar nicht mit Leuten. Wir schaffen das auch ohne dich.»

Markus unterbrach die Aneinanderreihung von Plattitüden und rhetorischen Fragen nicht. Was den Personalstand betraf, so wusste er genau, dass sein Boss log. Es gab nie genug Leute. Trotzdem war davon auszugehen, dass Pauls, genau wie Sennenberger, insgeheim hoffte, dass der Bänderriss niemals heilen und sein Ruhestand unmittelbar bevorstehen würde. Ihr Verhältnis hatte sich in den letzten Jahren nicht gerade freundschaftlich entwickelt, und Markus wusste nur zu gut, dass er die Hauptschuld daran trug.

«Mich interessiert dieser Fall», gab er zu und schob den Zigarillo von einem Mundwinkel in den anderen. «Vor allem, weil er Parallelen zu einer anderen Geschichte aufweist.»

«Das hat doch nicht etwa was mit dem toten Mädchen zu tun, das sie in Neustadt aus der Mülltonne gezogen haben?» Pauls klang plötzlich beunruhigt. «In dem Fall wäre Kollege Niesing brennend interessiert und fände es gar nicht so witzig, wenn du dich da einmischst. Werd erst mal gesund, dann sehen wir weiter.»

Für einen kurzen Moment war Sennenberger versucht, sich tatsächlich aus allem rauszuhalten. Wie viel einfacher war sein Leben doch, seit das Schicksal ihm diesen Umzugskarton als Stolperfalle vor die Füße gelegt hatte. Wollte er sich denn wirklich genesen melden und sein Heim verlassen, nur um in einer Mordsache zu ermitteln, die ein wenig eigenartige Umstände aufwies? Was gingen ihn schon Großneffe und Großonkel Abrams an? Und wie groß würde die Enttäuschung sein, wenn sich die Parallelen zwischen ihren Toden doch noch als Zufall entpuppten? Aber wie wahrscheinlich war es, dass sich hinter den Abrams-Morden keine ungewöhnliche Geschichte verbarg? Nicht sehr wahrscheinlich, entschied er und tastete in seiner Hosentasche nach einem Feuerzeug. Er fand es, hielt die Flamme kurz in die Nähe des Zigarillos und legte dann beides rasch fort. Der Glimmstängel blieb auch jetzt ungeraucht. «Die Sache interessiert mich wirklich. Es gab da vor vierzig Jahren schon einmal einen Mord im Toten Moor, und das Opfer hieß damals interessanterweise ebenfalls Abrams. Der Fall wurde nie aufgeklärt.»

«Zweimal derselbe Nachname? Und nicht Müller oder Meier, sondern Abrams? Das klingt tatsächlich ungewöhnlich.» Sein Chef machte eine kurze Pause und schien überlegen zu müssen. «In Ordnung, Sennenberger. Aber dann bring auch zu Ende, was du anfängst, und schreib die Berichte zeitnah. Niemand hier hat Lust, hinter dir herzuräumen, verstanden? Außerdem sind die Einsatzbesprechungen täglich zu führen und nicht nur bei Gelegenheit. Wir entstauben nicht deinen Schreibtisch, der in letzter Zeit übrigens eine hervorragende Ablagefläche für noch zu bearbeitende Akten abgibt, nur damit du hier einen kurzen Gastauftritt hinlegst und dich dann wieder auf dein Sofa flüchtest.»

Sennenberger gab ein unwilliges Brummen von sich. Er hätte gern erwidert, dass er gar kein Sofa mehr besaß, verkniff sich diese Bemerkung aber.

«Außerdem wirst du widerspruchslos mit dem Staatsanwalt kooperieren.»

Sennenberger räusperte sich: «Ich habe mir gedacht, dass wir eventuell den alten Kröger als Staatsanwalt für diesen Fall bekommen könnten, der steht auch nicht so auf Einsatzbesprechungen, ist stattdessen auch mal mit einem längeren Telefonat zufrieden.»

«Markus …» Das Stöhnen seines Vorgesetzten hallte im Telefon nach. Es gab eine kleine Pause, bis Pauls fragte: «Wen willst du denn in deinem Team haben? Jemand, dem du noch nicht auf die Füße getreten bist, das ist mir schon klar. Viel kann ich dir da gerade nicht bieten, aber ich wäre für …»

«Fiona Sacher und Derio Conte», brach es aus Sennenberger heraus. «Ich habe ein gutes Gefühl bei den beiden. Und denen bin ich ganz sicher noch nie auf die Füße getreten, daran würde ich mich erinnern.»

Die nun folgende zweite Gesprächspause innerhalb kürzester Zeit zog sich bedenklich in die Länge. Dann hörte er seinen Chef sagen: «Markus, das sind zwei Küken, und Desiderio Conte hat darüber hinaus auch noch ein kleines Disziplinproblem. Verstehst du, der Junge kommt aus Hamburg zu uns und hat hier keine Freundin und keine Verwandten. Der ist nicht in erster Linie hierhergekommen, sondern von dort weggegangen. Der Unterschied ist dir klar, oder? Und Fiona Sacher … die ist fast noch ein Kind und nicht gerade clever. Ich weiß gar nicht, wie die ihre Prüfungen geschafft hat. Auf die muss man richtig gut aufpassen, damit sie keinen Mist baut, kriegst du das hin?»

«Klar», behauptete Sennenberger und fragte sich, was ihm einfiel, sich hier aus einer Laune heraus ein Team aus Frischlingen zusammenzustellen. «Vertrau mir. Das klappt schon.»

«Vielleicht solltest du doch noch mal einen Blick in die Personalakte des jungen Conte werfen. Ich könnte dir da was per Mail schicken.»

«Glaub ich nicht.» Sennenberger blickte auf das schwarze Kabel, das traurig und verlassen neben seiner Matratze lag. «Meine Exfrau hat auch den Laptop mitgehen lassen.» Rasch tastete er seine Kleidung nach seinem Handy ab, fand es nicht, erinnerte sich dann aber daran, den Akku schon seit Tagen nicht mehr aufgeladen zu haben. Nein, in den nächsten Stunden würde ihn keine Mail erreichen, so viel war sicher. Doch vielleicht war es ohnehin besser, keinen Blick in die Akten seiner neuen Untergebenen zu werfen. So hielt man sich schließlich auch Vorurteile vom Leib.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen stand Derio Conte mit einem rechteckigen Karton und einem Aktenordner unter dem Arm sowie mit einer Tüte Brötchen in der Hand erneut vor der Haustür des Kriminalhauptkommissars und drückte auf die Klingel. Kurz darauf erschien ein gähnender Markus Sennenberger im Türrahmen und ließ ihn eintreten.

«Ich bin seit Sonnenaufgang wach», erklärte der Kommissar. «Hat mit den Rollos zu tun. Lange Geschichte.»

Als Derio das Wohnzimmer betrat, das offensichtlich auch gleichzeitig Schlafzimmer und Büro seines neuen Chefs war, ahnte er, dass die lange Geschichte des Markus Sennenberger in Wirklichkeit kurz und erschreckend banal war.

«Scheidungsopfer?», fragte er und legte die Brötchentüte auf dem einzigen Stuhl im Raum ab, bevor er auf der Fensterbank neben der gluckernden Kaffeemaschine Platz nahm.

«Sieht man das?» Sennenberger sah sich im fast leeren Zimmer um. «Na gut, man sieht es. Aber reden wir nicht von mir. Was haben Sie denn da Schönes mitgebracht?»

«Frühstück», erwiderte Derio und deutete auf die Brötchen. «Und außerdem meinen aufrichtigen Dank, dass ich Teil Ihres Teams sein darf. Ich werde Sie ganz sicher nicht enttäuschen.»

«Nein, das werden Sie sicher nicht», erwiderte Sennenberger ein wenig unheilvoll und deutete auf den Karton und den Aktenordner. «Und was ist das?»

«Das ist alles, was ich seit der Nachricht, dass ich in diesem Fall mit Ihnen ermittle, über den ersten Abrams-Mord vor vierzig Jahren auftreiben konnte. Das Archiv des Kriminaldienstes scheint mir übrigens etwas schlampig geführt.»

«Sagen Sie das bloß nicht zu laut an falscher Stelle, Junge.» Um Sennenbergers Mundwinkel zuckte es.

Zum ersten Mal bemerkte Derio so etwas wie einen Hauch von Humor an dem älteren Kollegen. Es musste sich um den kümmerlichen Rest handeln, den die Scheidung nicht hatte vertreiben können.

«Ich heiße Derio», korrigierte er seinen neuen Chef ein wenig unwillig.

«Wirklich? Mir ist, als hätte da gestern Abend jemand den klangvollen Namen Desiderio erwähnt.» Um Sennenbergers Mundwinkel zuckte es erneut.

«Derio», wiederholte er gedehnt. «Alles andere ist eine Zumutung.»

«In Ordnung.» Sennenberger schien es gerade noch zu gelingen, sich ein Grinsen zu verkneifen. «Und ich bin Sennenberger, und dabei bleibt es, denn ich bin der Ältere.»

«Geht klar.» Derio erhob sich und deutete auf die Brötchentüte. «Finde ich in deinem Kühlschrank Butter und Käse, Sennenberger?»

«Ich merke schon, wir beide verstehen uns.»

Markus Sennenberger griff nach der Akte und begann, darin zu lesen, während Derio aus dem Kühlschrank zusammensuchte, was noch als essbar angesehen werden konnte. Nachdem er alles auf ein Tablett platziert und vor seinem Vorgesetzten abgestellt hatte, wagte er einen Vorstoß bezüglich der Frage, die ihn seit dem Betreten des Hauses beschäftigte. «Was ist mit der oberen Etage?»

«Hm?» Sennenberger hob den Kopf und sah ihn fragend an.

«Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht einen Mieter suchst, jetzt wo du allein hier haust. So ist es doch, oder?»

«Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.» Sennenberger legte die Akte beiseite und musterte ihn von Kopf bis Fuß, was Derio irgendwie nervös machte.

«Es ist nur so, dass ich ja gerade aus Hamburg hierhergekommen bin und derzeit in einem kleinen Bed and Breakfast hause. Aber natürlich brauche ich auf Dauer eine richtige Bleibe.» Unter Sennenbergers prüfendem Blick wurde Derio immer nervöser, begann sich zu verhaspeln und war sicher, dass er soeben eine unsichtbare Grenze berührt, wenn nicht sogar überschritten hatte. «Es muss ja nicht sofort sein, schließlich will man ja erst einmal wissen, wen man sich da ins Haus holt.» Gute Güte. Er begann zu faseln! «Ich dachte ja nur, weil du ja offensichtlich hier unten schläfst und mehr Platz hast, als du brauchst, und überhaupt und so.» Er verstummte und wünschte sich ein Erdloch herbei, in dem er verschwinden konnte. Notfalls hätte er jetzt auch einen Spaten aus Sennenbergers Händen entgegengenommen, um sich besagtes Loch im Garten selbst zu schaufeln.

«Wir werden sehen», murmelte Sennenberger und ließ seinen Blick über das Tablett und die darauf befindliche Kühlschrankausbeute gleiten. «Erst einmal werden wir essen und arbeiten. Dann sehen wir weiter.»

Erleichtert griff Derio nach einem Brötchen und schwor sich, dieses Thema nie wieder anzuschneiden. Stattdessen machte er sich mit hastigen Bewegungen über die steinharte Butter her. Irrte er sich, oder zuckte es im Mundwinkel seines Gegenübers gerade erneut?

Eine halbe Stunde später schien der Kommissar nicht nur satt, sondern auch halbwegs gut informiert zu sein. Laut rekapitulierte er die Informationen aus dem Fall Ferdinand Abrams für seinen jungen Assistenten. «Ferdinand Abrams wurde im Sommer 1979 im Toten Moor gefunden. Er wurde neununddreißig Jahre alt und hat vor seinem Tod als Angestellter bei der Post gearbeitet.»

«Der wurde auch nur neununddreißig?» Derio zog die Brauen hoch. «Ist das der Thirty-Niners-Club, oder was? Sollte keiner der Abrams-Männer die vierzig erreichen?»

Sennenberger runzelte die Stirn. «Ich nehme diese Parallele zur Kenntnis, messe ihr aber derzeit nicht allzu viel Bedeutung bei. Noch nicht, doch wir behalten die Information lieber im Hinterkopf.» Er strich sich über das Kinn. «Wo war ich? Ach ja. Ferdinand Abrams wurde erstochen. Mehrere Stiche in Hals und Brustkorb, einige davon tödlich. Das dazugehörige Messer ließ sich nach längerer Suche im Moor auftreiben. Es handelte sich um ein sorgfältig abgewischtes Fahrtenmesser. Die Untersuchungen ergaben, dass es Abrams selbst gehört hat. Eine Tante erkannte das Messer wieder. Ferdinand Abrams hatte es als junger Mann zur Konfirmation von ihr geschenkt bekommen. Unglaublich. Wer verschenkt denn bei einer solchen Gelegenheit ein Fahrtenmesser?»

«Was für ein Mensch war dieser Ferdinand Abrams überhaupt?» Jetzt war es Derios Stirn, die sich runzelte. «Steht in dieser Akte nichts, was uns etwas über seinen Charakter verrät?»

Sennenberger blätterte durch die Aktennotizen. «Er wurde in Neustadt am Rübenfelde geboren und galt als Einzelgänger. Keine Frau, keine Kinder, aber ein paar Verwandte, die alle hier in der Gegend lebten oder noch immer leben. Er ist nie auffällig geworden.»

«Enttäuschend», stellte Derio fest.