Im Bund der Lebenden - Valérie Zenatti - E-Book

Im Bund der Lebenden E-Book

Valérie Zenatti

0,0

Beschreibung

Zwischen Aharon Appelfeld und Valérie Zenatti, der Übersetzerin seiner Romane aus dem Hebräischen ins Französische, entwickelt sich durch Sprache und Schweigen, Stimme und Gesten eine intensive Verbundenheit, die auch nach seinem plötzlichen Tod nicht abreißt. Tief hat sie mit ihm ins Dunkel seiner Kindheit und Jugend geblickt und in das Leben anderer Juden während und nach der Shoah. Jetzt reist sie an den Ort, wo Aharon einst als Erwin geboren wurde: Czernowitz. So schließt sie den Verstorbenen in den Zusammenhang der Lebenden, den Bund der Lebenden, ein - wie ein Segensspruch auf vielen jüdischen Grabsteinen lautet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 185

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VALÉRIE ZENATTI

Im Bund der Lebenden

Aus dem Französischen von Cordula Unewisse

OKTAVEN

Wenn du jemanden triffst, heißt das, dass du ihn treffen musstest, und dann gibt er dir etwas, was dir fehlt. Man darf keine Begegnung ignorieren. Jede Begegnung mit einem anderen Menschen enthält eine Botschaft.

Aharon Appelfeld

Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und Lasten heben

und möchte kämpfen und lieben und hassen

und möchte den Himmel mit Händen fassen

und möchte frei sein und atmen und schrein.

Ich will nicht sterben. Nein!

Nein.

Das Leben ist rot.

Das Leben ist mein.

Mein und dein.

Mein.

Selma Meerbaum-Eisinger

Möge seine Seele eingebunden sein in den Bund der Lebenden.

Jüdischer Segensspruch

Teil I

Am 31. Dezember war ich im Theater von Versailles, ein befreundeter Geiger und Sänger gab ein Konzert, zum letzten Mal konnte man ihn und sein Ensemble dort mit Musik aus Osteuropa hören – in seinem Geigenspiel fanden Belgrad, Warschau und Kiew zusammen, und in seinem Gesang mischten sich Jiddisch, Serbokroatisch und Rumänisch. Ich war 1999 bei einem seiner ersten Konzerte dabei gewesen, da war mein Sohn schon geboren, und ich konnte meinen Blick damals nicht abwenden von dem Sänger und Geiger, der mit derselben Vitalität zu tanzen verstand, mit der seine Finger über die Saiten sprangen, er war der meisterhafte Virtuose und Unterhalter auf der Bühne und im Saal, denn er spielte auf seinem Instrument und er spielte mit uns, er machte eine versunkene Welt wieder lebendig, die nicht die Welt meiner Eltern und nicht die meiner Großeltern war und deren Verschwinden mich umtrieb, denn, so dachte ich immer wieder, vor diesem Verschwinden, da hatte es Lebensgeschichten gegeben, so viele Lebensgeschichten, und ich war begierig noch nach der kleinsten Spur, die von ihnen Zeugnis ablegen konnte.

Als das Konzert zu Ende war, gingen wir nach oben, um die Musiker in ihren Künstlergarderoben zu umarmen, und tranken Champagner aus Plastikbechern, wir wussten nicht recht, ob wir unseren Freunden gratulieren sollten oder unser Bedauern bekunden, da wir erfahren hatten, dass sie nicht mehr auftreten würden. Es war spät geworden, wir hatten noch nicht zu Abend gegessen und warfen hungrige Blicke auf die Schälchen und das, was von den China-Nudeln übrig geblieben war, die die Regieassistenz am Nachmittag bestellt hatte. Wir beschlossen, zurück nach Paris zu fahren und dort den Rest des Abends zu verbringen, nicht um Silvester zu feiern, sondern nur, um noch gesellig beisammen zu sitzen, und so quetschten wir uns in das Auto einer Freundin.

Schlag Mitternacht fuhren wir am Eiffelturm vorbei und lachten: Wir, die wir auf gar keinen Fall Silvester feiern wollten, waren in der Höhle des Löwen gelandet. Dutzende Autos parkten am Rand der Uferstraße, jenseits der Autoscheiben umarmten sich die Menschen in stummer, unwirklicher Ausgelassenheit, es war eine Fröhlichkeit, die uns natürlich künstlich vorkam, aber vielleicht war sie es gar nicht, ich glaube, im Auto sagte einer: Fuck 2017.

Eine Stunde später tranken wir herrlichen Champagner und teilten uns ein Päckchen Industrietoast aus dem Lebensmittelladen und ein Stück Käse sowie ein Schälchen Trüffel-Ravioli, offenbar die Restposten in einem tadellos sauberen und sonst völlig leeren Kühlschrank. Die Unterhaltung drehte sich zunächst um das Konzert, dann wechselten wir zu dem Jahr, das hinter uns lag, und aus Gründen, die nicht zur Sprache kamen, war unser Thema Verlust. Wir sprachen von den Kindern, die unseren Schutz brauchten, die wir aber auch wappnen mussten, damit sie gut mit Verlusten fertig würden. Wir stießen auf die Freundschaft an und auf das Leben, und das war nichts Floskelhaftes, sondern etwas, was uns zutiefst am Herzen lag. Für mich war das zurückliegende Jahr das Jahr gewesen, in dem ich meine Geige wieder ausgegraben hatte, ein Wiedersehen, das mit meiner Aufnahme in ein Orchester besiegelt worden war.

Nach Jahrzehnten fast ganz ohne Geigenspiel hatte ich wieder hinter einem Notenständer meinen Platz eingenommen, und jeden Montagabend war mir das Stimmen der Instrumente, die sich in tastenden Versuchen dem Ziel eines harmonischen Zusammenklangs annäherten, der Indikator dafür, dass ich in einen Raum eintrat, in dem die Musik das Sagen hatte, nicht mehr die Worte, meine Brust wurde weit und ich atmete ganz anders. Auch eine tiefgreifende innere Veränderung hatte ich erlebt, die mir einen neuen Blick auf mein Leben gab. Mir gefiel, wie auf rätselhafte Weise ein anderes Leben plötzlich meinen Weg kreuzte und mein Leben in ein neues Licht stellte, ich versuchte nicht, die Gründe dafür zu verstehen, es genügte mir, die Auswirkungen dieses Ereignisses in den Blick zu nehmen. Meine Ohren lauschten auf andere Weise, meine Augen schauten anders, durch einen Filter, der mehr Verständlichkeit, Freude und Klarheit in die Welt brachte.

Was erwartete ich von dem Jahr, das in jener Nacht begann, als ich mich auf den Heimweg machte? Schreiben, meine Wahrnehmung der Menschen und ihres Tuns vertiefen, lieben, mich lieben lassen, mit dem Rauchen aufhören. Ich spürte auch eine taube Furcht. Seit 2015 lastete auf den ersten Januartagen die Erinnerung an einen Schock, durch den die guten Vorsätze auf einen Schlag ihren Sinn verloren hatten, sie waren verschwunden in dem Riss, der sich auftat zwischen dem, was man sich für die Welt wünschte, und ihrer realen Verfasstheit.

Am 1. Januar habe ich die Nummer von Aharon Appelfeld gewählt, um ihm viel Gesundheit zu wünschen und ein ruhiges, mit Schreiben ausgefülltes Jahr, und ich erfuhr, dass er seit zwei Tagen im Krankenhaus lag, er würde aber wahrscheinlich bald wieder entlassen werden. Er schlief und ich konnte nicht mit ihm sprechen.

Als die Ärzte sich am Mittwoch, dem 3. Januar, nicht zu seinem Zustand äußern konnten, habe ich für den nächsten Morgen einen Hin- und Rückflug Paris – Tel Aviv gebucht.

Die ganze Nacht lag ich ausgestreckt auf dem Bett, mein Körper war ganz starr, ich konnte keinen Schlaf finden, ich hörte seine Stimme und sprach mit ihm, es war ein so vielschichtiges Gespräch, dass es mir einen Schreck versetzte und mich zugleich ganz glücklich machte. Aus unseren Sätzen entstand ein Gewebe, in dem mit großer Deutlichkeit, lebendig und leidenschaftlich, die Gesamtheit dessen erkennbar wurde, was unsere Verbindung ausmachte. Erst eine Stunde, bevor der Wecker ging, konnte ich einschlafen, und als ich im Taxi saß, das mich zum Flughafen brachte, tauchte um sieben Uhr und vier Minuten eine Eilmeldung der israelischen Tageszeitung Haaretz auf dem Display meines Handys auf, sie lautete: «Der Schriftsteller Aharon Appelfeld, Träger des israelischen Literaturpreises, ist heute Nacht im Alter von fünfundachtzig Jahren verstorben.»

*

Im Shuttlebus auf dem Rollfeld von Orly-Süd hatte ich das Gefühl, in einer synkopierten Bewegung zu stecken: Ich würde trotz der Todesnachricht nach Tel Aviv fliegen, ich machte mich auf zu jemandem, den ich gar nicht treffen würde, der Zweck dieser Reise war schon hinfällig, ich würde zu spät kommen und ich brach dennoch auf. Weil ich nicht geschlafen hatte, war ich wackelig auf den Beinen und mir war übel, und der Geruch des Kerosins, den ich einatmete, hinterließ in meiner Kehle eine säuerliche Spur, die meine Übelkeit noch schlimmer machte.

Ich schloss die Augen, suchte unter der Schwärze meiner Augenlider nach einer Ruhe, die sich nicht einstellen wollte, und als ich sie wieder aufschlug, spürte ich einen Blick auf mir ruhen. Eine junge Frau sah mich so eindringlich an, dass ich glaubte, sie würde mir zum Vorwurf machen wollen, dass ich mich auf einen Sitz gelümmelt hatte, während sie, mit einem kleinen Mädchen im Tragetuch, stehen musste. Ich fragte sie auf Französisch, ob sie meinen Platz haben wollte, aber sie starrte mich weiter an. Da ich annahm, dass sie meinen Vorschlag nicht verstanden hatte, stellte ich die Frage noch einmal auf Hebräisch, aber sie fragte dann ihrerseits auf Französisch, ob ich nicht Valérie Zenatti sei, und ich bejahte. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, sie redete über meine Romane, ihre Stimme war sehr sanft. Dann fügte sie noch hinzu: Ich schätze Ihre Übersetzungen von Aharon Appelfeld wirklich sehr. Ich konnte nicht einfach zuhören, wie sie diesen Namen aussprach, ohne etwas zu erwidern, konnte nicht einfach nur nicken und mich mit einem geschmeichelten und bescheidenen Lächeln bedanken, also sagte ich mit wenigen Worten – ich hatte nicht gedacht, dass ich sie so schnell parat haben müsste – Ich fliege nämlich nach Israel, es ist bei mir noch gar nicht richtig angekommen, aber Aharon ist von uns gegangen, erst vor wenigen Stunden. Sie erwiderte ganz leise, Das tut mir sehr leid für Sie, dann, ganz und gar überzeugt und unendlich freundlich, schöpfte sie aus einem Wissen, über das sie nur zu verfügen schien, um es an diesem Morgen an mich weiterzugeben: Sie müssen nach Czernowitz fahren, ich bin sicher, das wird Ihnen guttun, Sie werden sehen, es wird Sie für etwas ganz Wichtiges empfänglich machen, die Stadt gibt außergewöhnliche Impulse.

Im Flugzeug versuchte ich dann, eine Frau loszuwerden, die unser Gespräch mitgehört hatte und nun wissen wollte, wie man denn Schriftsteller wird, ob ich ein besonderes Studium absolviert hätte oder ob es eher familiär bedingt sei. Normalerweise antworte ich gern auf solche Fragen und nehme mir Zeit dafür, denn es macht mir Spaß über dieses Verb, schreiben, nachzudenken, darüber, wie ich jetzt schon seit Jahren immer neue Facetten seiner Bedeutung für mich entdecke, aber in dem Augenblick wusste ich überhaupt nicht mehr, wie ich es zu verstehen hatte, ich ahnte wahrscheinlich, dass es gerade im Begriff war, sich zu verändern, und genau hier, hoch oben in der Luft zwischen Paris und Tel Aviv, in der Schwebe zwischen den zwei Ländern, die mir beide ihre Sprache geschenkt haben, ging es los mit meiner Aphasie, oder genauer, mit meinem Bedürfnis nach Aphasie und nach Taubheit. Ich wollte nicht angesprochen werden, ich wünschte mir die Stille der Nacht, die gerade vorbei war, wieder zurück, diese beispiellosen halluzinierten Stunden. Mir schien es, als hätte das Gespräch zwischen Aharon und mir auf Hebräisch und auf Französisch stattgefunden, wir hatten uns alles gesagt, wir hatten alles voneinander erfahren und begriffen, wir hatten dem anderen den verborgensten Teil unserer selbst zugänglich gemacht, aber ich mochte die Augen noch so nachdrücklich schließen und alle Energie aufbieten, um mich zu entsinnen, ich konnte mich nicht an einen einzigen Satz erinnern, sei es, dass ich ihn gehört oder selbst ausgesprochen hatte, und als das Flugzeug zum Landeflug ansetzte, presste ich mein Gesicht an das Bullauge, um zu erkennen, wo das Krankenhaus lag, ich stellte mir vor, wie sich eine kristalline Volute im Himmel über Tel Aviv in Luft auflöste, während ich mich mitten in der Nacht an Aharon wandte und hörte, wie seine Stimme mir antwortete, ich fragte mich, wie das denn möglich gewesen war, dieses Zwiegespräch zwischen einem Mann, der im Sterben lag, und seiner Übersetzerin, Tausende von Kilometern entfernt.

Am Flughafen Tel Aviv habe ich mir ein israelisches Leihhandy besorgt, nach Unterzeichnung der Dokumente hielt ich es nun in der Hand, ohne zu wissen, welche Nummer ich wählen sollte. Am Vorabend, als ich Judith Appelfeld über mein Kommen informierte, hatte sie mir gesagt, ich solle sie vom Flughafen aus anrufen – Ich sage dir dann, wie du zum Krankenhaus kommst, oder einer von uns holt dich ab –, da wussten wir beide noch nicht, dass es zu spät sein und ich nicht wagen würde, sie anzurufen, und ich blieb minutenlang in der Ankunftshalle stehen, sah mir die Heliumluftballons an, die alle in ihrem Aufflug unweigerlich von der hohen Decke gebremst wurden, rote Herzen und Smileys, quer darüber das Wort Willkommen! Ich weiß nicht, ob es sonst wo auf der Welt noch einen Flughafen gibt, der die Menschen so begrüßt, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Mir wurde schwindelig, ich wusste nicht, wohin ich gehen, was ich machen sollte, es war ein massives, allumfassendes Nichtwissen, wie in jenen Momenten, wenn einem klar wird, dass jede Bewegung einer Entscheidung gleichkommt und dass eine Entscheidung gar nicht mehr möglich ist. Mit einem Mal fiel mir David ein, der israelische Produzent, dem ich gerade die erste Fassung der Drehbuchadaptation von Blumen der Finsternis zugeschickt hatte. Ich wählte seine Nummer, sagte, Du hast die Neuigkeit gehört, oder, du weißt von Aharon? Ich bin am Flughafen Ben Gurion, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, wohin ich fahren soll, hol mich bitte ab, und er antwortete, Bleib, wo du bist, ich sage meine Treffen ab, ich bin in spätestens dreißig Minuten da; und ich bin geblieben, wo ich war, und nach dreißig Minuten durchpflügte seine große Eisbären-Gestalt eine neue Menge von Fluggästen, die auch wieder Heliumballons in der Hand hielten. Er war da, nahm mich in den Arm, drückte mich, brachte mich zu seinem Auto, und schon fuhren wir unter schwarzen Wolken dahin, die über uns herzufallen schienen, wie magnetisiert von unserer Anwesenheit, und als wir ausstiegen, um auf einem neu hergerichteten Platz in Tel Aviv einen Kaffee zu trinken, ist das Gewitter losgegangen, dunkel, gewaltig, mit prasselndem Regen. Sie hatten für heute und morgen ein Unwetter angekündigt, sagte David. Das gibt’s doch nicht, dachte ich, ein abgenutzteres Klischee ist ja wohl kaum möglich, Aharon ist tot und die Himmel tun sich auf, und doch geschah es genau so.

*

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag fand ich wieder keinen Schlaf.

*

Am Freitagmorgen habe ich mich getraut, Judith anzurufen, die sehr beunruhigt war, weil sie nichts mehr von mir gehört hatte, sie hatte mehrmals in Paris angerufen, um zu erfahren, wo ich abgeblieben sei, und ich schämte mich, dass ich mich bei meiner Ankunft nicht bei ihr gemeldet hatte, und fragte mich zugleich, wo sie die Kraft hergenommen hatte, in diesem Moment noch an mich zu denken. Ich bekam es mit der Angst: Hatte ich denn keine Ahnung mehr vom Leben, wusste ich nicht mehr, was zu tun war, was der Höflichkeit geschuldet war und was von Gleichgültigkeit zeugte? Vielleicht wurde ich ja wieder zum Kind.

*

Ist schon in Ordnung, er hatte ein langes Leben, meinte ein Taxifahrer, der mich zur Wohnung von Aharon und Judith brachte, er wurde neugierig, weil ich so verstört aussah, und er wollte nicht, dass ich im Präsens von meiner Verbundenheit zu Aharon sprach. Du kannst sagen, ich liebte ihn, aber nicht, ich liebe ihn. Ich wollte wissen: In grammatischer Hinsicht?

Nein, das ist eine Frage der Religion.

Ich kam nicht dahinter, was er damit sagen wollte, aber ich gab ihm zur Antwort, ich würde so sprechen, wie es mir gefiel. Als guter israelischer Taxifahrer legte er größten Wert darauf, das letzte Wort zu haben, und so wiederholte er, untermalt von einem Kopfschütteln, Nein, das tut man nicht, das kannst du nicht machen. Und ich meinerseits gab auch nicht nach, es schien mir wichtig, diesem Mann gegenüber nicht nachzugeben, den ich nicht kannte, der die Neuigkeit irgendwie im Radio mitbekommen hatte und mir vorschreiben wollte, welches Tempus ich verwenden sollte, um von der überwältigenden Liebe zu sprechen, die ich empfand, und dem Kummer, der in sie einsickerte.

Ein kleiner Schreibtisch, eine letzte Seite Text, die Kappe des Federhalters liegt noch daneben, Worte, in der mir so vertrauten Schrift aufs Blatt geschrieben, die Linien kippen leicht von rechts nach links. Die letzten Worte eines Schriftstellers sind schon Reliquie, sie wenden sich an die, die am Leben bleiben, sie sind wahrscheinlich ebenso wichtig wie die Millionen von Worten, die er im Laufe seines Lebens geschrieben hat, aber sie gewinnen die alles verändernde Bedeutung dessen, was unterbrochen wurde und für immer unvollendet bleibt.

Judith lässt mich wissen, dass die Bestattung in Anbetracht des Gewitters am Sonntag stattfinden soll.

Ich bin zu meinen Eltern gefahren, runter nach Beer-Sheva. Sie hatten alle Nachrichten seit der Kurzmeldung von Donnerstagmorgen aufgenommen. Ich konnte sie mir in etwa vorstellen, die Zusammenstellung von Fotos, die Interviewausschnitte, die Auflistung der Literaturpreise, die Äußerungen von Schriftstellern, Verlegern und Literaturkritikern, die sich an ihn erinnerten, ich wollte nichts sehen und nichts hören, ich wollte nicht, dass dieses mir so teure Leben in einer Zusammenfassung präsentiert wurde, ich wollte nicht hören, wie von diesem Tod gesprochen wurde, als sei es eine Nachricht unter vielen, die von der kolossalen Gegenwärtigkeit gar nichts zu sagen wusste, die für mich in seinem Rückzug zu spüren war. Ich musste mich gewaltig zusammennehmen, um nicht von allen um mich herum zu verlangen, dass sie schweigen sollten, damit ich einfach nur in mich hineinhorchen konnte, ich wollte in meinem Inneren den kleinsten Nachhall seines Ablebens auffangen, um mich an Bruchstücke des gemurmelten Gesprächs zu erinnern. Wahrscheinlich habe ich auch deshalb beinahe die ganze Nacht von Freitag auf Samstag und auch von Samstag auf Sonntag wieder wach gelegen, mit der Stille der Nachtstunden kamen die geraubten Sätze nicht zurück, aber sie war von einer Art, dass ich wach bleiben wollte, um ihr zu lauschen, und tagsüber lief ich durch die Wüste, wo der Boden vom Gewitter aufgeweicht war. Die Wüste, midbar – im Hebräischen gehen «Wüste» und «Wort» auf dieselbe sprachliche Wurzel zurück –, hier, wo Abraham und Jakob entlanggelaufen sein sollen, hier, wo das Schweigen den inneren Schrei offenbart, in der Nähe von Beer-Sheva, was «Brunnen des Sieben-Schwurs» bedeutet. Ich taumelte, gewöhnte mich an das Zittern, das nicht aufhörte, und nachts, wenn ich auf meinem Teenager-Bett lag, hatte ich das Gefühl, aufrecht zu stehen. Am Sonntag verströmte der Himmel klares Licht über die Stadt, es war mild, noch nie war mir im Januar in Jerusalem so warm gewesen. Angesichts des zartgliedrigen Leichnams, der in einen Gebetsschal gewickelt war, sind Tränen geflossen, ich konnte meinen Blick nicht abwenden von dem Zypressenzweig, der sich zum frischen Grab hinneigte. David begleitete mich zurück zum Flughafen Ben Gurion, und als er mich in die Arme nahm, sagte ich, Weißt du, ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt weiterleben soll, ich habe keine Ahnung, wie ich ohne Aharon leben soll.

*

Fiebrig und übernächtigt kehrte ich nach Paris zurück, das Zittern hatte von mir Besitz ergriffen und es wurde stärker. Mir gefällt es, dass mein Körper so im Einklang mit meiner Seele ist, er enttäuscht mich nicht, er verhält sich dem Ereignis angemessen. Mir kommt Erwin aus Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen in den Sinn, seine verletzten Beine, die aufeinanderfolgenden Operationen, die ihm wieder zum Laufen verhelfen sollen, und am Ende des Buches läuft er dann endlich und gleichzeitig gelingt es ihm zu schreiben, er richtet das Wort an seine Mutter, die schon seit mehreren Jahren tot, in seinen Nächten aber gegenwärtig ist: Ich habe als Kind so viele Bilder gesehen, ohne zu wissen, dass es Wunder waren, deshalb werde ich von einem Ort zum anderen ziehen, an alle Orte, an denen wir zusammen waren oder von denen man mir erzählt hat, und an dem Tag, als ich diese Sätze übertragen habe, wusste ich, dass die Bewegung der Beine beim Laufen und die Bewegung der Hand beim Schreiben für Aharon derselben Suche entspringt, derselben Freiheit. Vorläufig finde ich nur Kraft zum Schreiben, meine Beine wissen nicht, wo es hingehen soll. Werde ich im Senderaum eines Radios gefragt: Wie war Ihre erste Begegnung mit Aharon Appelfeld?, dann ist mein Kopf immer leer und ich antworte, Es ist nicht leicht, nach einem Menschen das Wort zu ergreifen, dem die Worte so viel bedeutet haben und der gerade verstummt ist, und da liegt das Problem für mich, momentan ist es nicht zu lösen. Mir ist bewusst, dass ich eine Erfahrung mache, die in mir ein bislang unbekanntes Verlangen nach Stille auslöst und eine unerhörte Erregtheit, ich schließe mich in meinem Zimmer ein, umgebe mich mit den Büchern, die ich übersetzt habe, und jenen, die noch darauf warten, in denen die Widmung In Liebe steht, Zettel, auf denen ich Notizen gemacht habe, wenn wir zusammen auf einer Festivalbühne saßen oder in einem Radiostudio, ich möchte ebenfalls an allen Orten gewesen sein, an denen wir zusammen waren. Ich übersetze alles noch einmal, da ist der Atem wieder, der Rhythmus, die Intonation, das Lächeln mitten in einem Satz, meine Ohren horchen auf, sie sind gespitzt, ich vernehme die Stimme, die verstummt ist, klarer und deutlicher, als würde ich eine Aufnahme hören, sie verkörpert sich neu in mir, ich verharre unbeweglich, versuche zu begreifen, wo genau das geschieht. Welches Wunder bewirkt, dass ich sie so klar und deutlich höre?

Ich trage eine Gewissheit in mir: Diese Stille ist eine Gabe von dem, der sich jetzt zurückgezogen hat, sie wurde geduldig übermittelt, Schritt für Schritt wurde ich auf die ersten Tage meines Lebens ohne ihn und die, die folgen sollten, vorbereitet, ohne es zu bemerken. Ich wusste es damals nicht, aber er, da bin ich mir sicher, er wusste es oder er hatte es geahnt, und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass seit Donnerstagmorgen Tag und Nacht keine Gegensätze mehr sind, sondern ineinander übergehen, im Licht liegt Dunkelheit und im Dunkel ist Licht, Tag und Nacht werden in mir eins, Freude und Leid ebenso, das eine ist nicht der Gegensatz des anderen, sondern seine vollkommene Ergänzung, die Freude, dass ich ihn gekannt habe und von ihm geliebt wurde, der Kummer, ihn verloren zu haben, aber wahrscheinlich werde ich auf diesem Weg noch ein anderes Wort finden, vielleicht ein Bild, mit dem ich das ausdrücken kann: diese Spur, die in mir zurückbleibt, dieses mein Leben in seiner Abwesenheit.

Der Abstand zwischen Leben und Tod ist geringer, als man glaubt, hat er gesagt, und das spüre ich jetzt.

*

Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, war ich von der Macht der Worte berauscht, er dagegen misstraute ihnen, er betonte, sie könnten trügerisch sein, lügen, die Wahrheit entstellen und sie auf Scheinworte reduzieren, selbst wenn diejenigen, die sie in den Mund nehmen, die besten Absichten hegen, er sagte es eindringlich, Die Sprache wurde von den Ideologien pervertiert, gibt es eine größere Lüge als die Worte Arbeit macht frei über dem Eingang von Auschwitz? Ich schüttelte den Kopf, ich übersetzte, Schweigen ist der denkbar treffendste Ausdruck