Im Dienst der Hoffnung - Brigitte Liebelt - E-Book

Im Dienst der Hoffnung E-Book

Brigitte Liebelt

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Beschreibung

Es ist das Verdienst von Friederike und Theodor Fliedner, dass ledige Frauen vor gut 200 Jahren mit verheirateten Frauen gleichgestellt wurden, indem sie eine Berufsausbildung und ein regelmäßiges Gehalt für ihre Arbeit erhielten. Mit der Erfindung des Diakonissenamtes fanden sie eine stimmige Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen des beginnenden Industriezeitalters. Und mit ihrem Spagat zwischen der Sorge für ihre eigene Familie und ihrer Berufstätigkeit stand die "Mutter aller Diakonissen" damals vor denselben Herausforderungen, wie viele moderne Frauen heute. Sorgfältig und unterhaltsam zeichnet Brigitte Liebelt das Leben und Wirken von Friederike Fliedner nach und ermöglicht es dadurch, tief in eine vergangene Zeit einzutauchen. Sie inspiriert dazu, den Herausforderungen von heute mit derselben Liebe und demselben Glauben zu begegnen, wie Friederike Fliedner damals - dem Glauben, der durch die Liebe tätig ist.

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Über die Autorin

Brigitte Liebelt ist ausgebildete Diplom-Bibliothekarin und Krankenschwester. Seit 30 Jahren engagiert sich die sechsfache Mutter und Pastorenfrau ehrenamtlich in verschiedenen Arbeitszweigen ihrer Gemeinde. „Im Dienst der Hoffnung“ ist ihr erster Roman.

Inhalt

Auf Friederike Fliedners Spuren – Mai 2021

Vorwort

Wilhelm – Januar 1816

Mutter – März 1816

Neubeginn – 1816

Aufbruch und Umbruch – 1824

Erste Erfahrungen im Dienst – 1826

Ein neuer Weg – 1828

Brautzeit – 1828

Theodor

Ein neues Leben – 1830–1832

Finsternis – 1833

Ein Haus für haftentlassene Frauen – 1833

Die unversorgten Kinder – 1834

Der Agendenstreit – 1835

Die Diakonissenanstalt und das Krankenhaus – August 1836

Die erste Konferenz – 12. Dezember 1836

Das erste Weihnachtsfest in der Anstalt – 23. Dezember 1836

Vorsteherin gesucht – Erste Jahreshälfte 1837

Die Arbeit wächst – Zweite Jahreshälfte 1837

Die Pocken – Frühjahr 1838

Die Dienstordnung – 1838

Es geht aufwärts – 1838

Ein Tag im Krankenhaus Kaiserswerth

Das Bürgerkrankenhaus in Elberfeld – 1839

Johanna Deters – 1839

Das Frankfurter Versorgungshaus – Herbst 1839

Georg – Mai 1840

Kleine Füchse im Weinberg – 1840

Das Wilhelmshospital in Kirchheim – Herbst 1840

Typhus – 1841

Saarbrücken – Oktober 1841

Trauer und zunehmende Arbeitslast – Winter 1841/42

Kinder in Not – März 1842

Das Waisenhaus – April 1842

„… Gottes Lieb in Ewigkeit“ – 22. April 1842

Nachwort

Was wurde aus …

Anmerkungen

Quellen

Auf Friederike Fliedners Spuren

~ MAI 2021

Ich stehe am Fähranleger in Kaiserswerth. Es ist noch frisch, Dunst liegt über den Pappeln und Weiden auf der anderen Rheinseite.

Der Rhein ist hier noch ganz ursprünglich, mit Uferwiesen, an denen Leute mit ihren Hunden spazieren laufen. Auch Jogger sind unterwegs. Langsam schiebt sich ein vollbeladenes Containerschiff flussaufwärts. Der Frachter mit Kohle flussabwärts dagegen kommt zügig voran.

Es gibt keine Brücke über den Rhein bei Kaiserswerth. Eine Fähre verkehrt etwa alle zehn Minuten für die vereinzelten Fußgänger, Radfahrer und die wenigen Autos an diesem Morgen. In den Pausen wäscht der Fährmann mit Hingabe sein Auto auf dem Deck.

Von hier aus ist Friederike Fliedner nach Kirchheim aufgebrochen, um mit zwei Diakonie-Schwestern das neu errichtete Wilhelmshospital einzuweihen. Ich kann mir auch gut vorstellen, wie Familie Fliedner vielleicht an einem Sonntagnachmittag mit den Kindern in den Uferwiesen spazieren gegangen ist. Ich sehe vor mir, wie die Mädchen Kieselsteine ins Wasser werfen, lachen und herumtollen. Wie die Diakonissen Lina Jöckel, Mathilde Major und Amalie Andreas sich auf ihren Ausflug freuen. Wie sie am Abend, wenn sie verspätet heimkamen, am Kittelbach entlang, der hier in den Rhein fließt, in Richtung Wall eilen. Es ist nicht weit bis ins Städtchen.

Kaiserswerth ist einen Besuch wert, eine idyllische, gepflegte, kleine Stadt. Sie strahlt Wohlstand und Behaglichkeit aus. Ein Ort, an dem man – außerhalb des Verkehrsgewühls der Großstadt – gut leben oder auch beschaulich seinen Lebensabend verbringen kann. Die verarmte, marode Stadt, die Kaiserswerth einmal war, gibt es nicht mehr. Das Kopfsteinpflaster heute ist sicher nicht vergleichbar mit dem Pflaster von damals. Das kommt mir in den Sinn, als ich am Rathaus vorbeikomme und dort auf einer Tafel lese, dass man 1828 das damalige Rathaus verkaufte, um von dem Geld die Straßen pflastern zu können. Das klingt eher nach dem Kaiserswerth zu Fliedners Zeiten. Das Krankenhaus in der früheren Wallstraße, das ehemalige Wohnhaus des Fabrikanten Petersen, erkenne ich gleich. Die großen Fenster und die Treppe, die das Erdgeschoss wegen der Hochwassergefahr erhöhte. Heute ist es ein Altenzentrum.

Ich gehe in die Fliednerstraße und laufe an den Häusern entlang: Hier waren das sogenannte Asyl, die Kleinkinderschule, das Pfarrhaus und daneben die evangelische Kirche. Es gibt hier kein Museum; die Häuser sind nach wie vor bewohnt, schön erhalten, weiß leuchtend in der Sonne, mit Körben und Töpfen voll bunter Stiefmütterchen auf den Vortreppen. Ich kann mir vorstellen, wie Kinderfüße sie eilig hinauf- und hinabsprangen, wie Friederike täglich viele Male zwischen ihrem Zuhause und dem Krankenhaus hin- und herlief, und auch, wie schlecht es ihr gegangen sein muss, wenn sie mit geschwollenen Füßen und hochschwanger den eigentlich kurzen Weg nicht mehr bewältigen konnte.

Noch ein Weg, den sie nicht gehen konnte: die Strecke zum Friedhof, zu dem man ihre Tochter Simonette vom Gartenhaus aus hinaustrug. Ich sehe Friederike am Fenster stehen und wie gelähmt ihrem Kind hinterhersehen.

Der Friedhof liegt außerhalb des Walls, hinter der Bahn. Es gibt einen ganzen Bereich mit Gräbern von Diakonissen: viele gleich gestaltete Steinplatten im Gras mit einer eingravierten Taube, die den Sternen entgegenfliegt, und dem jeweiligen Namen und den Lebensdaten der Verstorbenen. Ich laufe an ihnen entlang. Vertraute Namen springen mir ins Auge: Sophie Wagner, Anna Sticker. Diese Frauen sind für mich nicht nur Geschichte. Sie waren Menschen, die mir begegnet sind. Es berührt mich, ihre Namen hier zu lesen.

Bald 200 Jahre ist es her, dass Friederike Fliedner starb. Auch ihren Grabstein finde ich. Ein großes rechteckiges Grab mit ein paar Eisbegonien und etwas Efeu. Die Platte ist nur wenig vermoost und die Schrift gut lesbar. Ich schaue auf dieses Grab und denke an die Frau, die hier begraben wurde mit sieben ihrer so früh verstorbenen Kinder. Sieben! Undenkbar für mich. Das Grab ihres Mannes ist ein Stück entfernt, daneben das seiner zweiten Frau Caroline. Es gibt am Friedhofstor keinen Hinweis auf die beiden. Sie werden nicht als Helden verehrt. Es wird ihrer gedacht, aber die Geschichte der Diakonie Kaiserswerth ist seit ihrer Zeit nicht stehen geblieben.

Als ich die Straße weitergehe, stoppe ich neben der Buchhandlung vor einem großen Schaukasten. Hier sind einzelne Häuser gekennzeichnet, in denen Menschen sich um Kranke, Alte, Kinder, Behinderte und Flüchtlinge kümmern. Man hat den Häusern Namen gegeben, die mir inzwischen vertraut sind: Sophie Wiering finde ich, die das Kapital für das Krankenhaus vorstreckte. Mina Enders, die erste haftentlassene Frau, die in Kaiserswerth ein neues Leben beginnen sollte. Simonette Fliedner, eine der früh verstorbenen Töchter, und das moderne Florence-Nightingale-Krankenhaus. Diese Frauen sind nicht vergessen, aber nicht in einem Museum eingemauert, sondern in ein lebendiges Werk integriert. Die Kaiserswerther Diakonie würdigt ihre Geschichte. Aber sie ist nie dabei stehen geblieben. Dieser Umgang mit der eigenen Historie passt zu Theodor Fliedner und genauso zu Friederike. Wahrscheinlich würden sie sich wundern, dass jemand nach so langer Zeit ihre Gräber aufsucht.

Und das ist auch das Geheimnis von Kaiserswerth. Nicht die besondere Lage oder die finanzielle Sicherheit. Vielmehr Treue, Hingabe, viel Zähigkeit und Fleiß, bis heute. Und der Segen Gottes, der schon auf den Anfängen dieses Werkes lag und dessen Spur sich durchzieht – erfahrbar für jeden, der im Vertrauen auf diesen Gott lebt und handelt.

Vorwort

Warum im Jahr 2022 ein Buch über eine Frau, die bereits vor 180 Jahren starb? Und: Ist die Zeit der Diakonissen nicht eigentlich vorbei?

Die Geschichte, die Persönlichkeit und vor allem der gelebte Glaube von Friederike Fliedner haben mich gefesselt. Ihre Liebe zu Jesus, zur Bibel, ihre Treue und ihr lebenslanges Ringen darum, sich von allem Eigenen loszusagen und für Gott nach seinem Willen zu leben, sind zeitlos. Die Sprache ihrer Tagebucheinträge und Gebete mag veraltet sein, aber sie sind mit dem Herzen mühelos zu verstehen und berühren den Leser.

Als Grundlage für diesen Roman haben mir hauptsächlich die Bücher ihrer Biografin Anna Sticker gedient, die zum einen sehr akribisch Material zusammengetragen und recherchiert hat und zum anderen auch die Ergebnisse verständlich gemacht, analysiert und zum Teil auch gedeutet hat.

Die geschilderten Personen haben tatsächlich gelebt, bis auf die Magd Lina und die Freundin Veronika im ersten und zweiten Kapitel. Die Sprache in der Anrede habe ich dem heutigen Gebrauch angepasst. Friederike Fliedner hat ihre Eltern und Schwiegermutter grundsätzlich gesiezt und mit „Mutter“ bzw. „Vater“ angeredet. Wenn sie über ihren Mann schrieb, benutzte sie fast immer seinen Nachnamen.

Den Lesern und Leserinnen wünsche ich ein gewinnbringendes Eintauchen in eine vergangene Zeit mit dem Ziel, den Herausforderungen von heute mit derselben Liebe und demselben Glauben zu begegnen, wie Friederike Fliedner damals – dem Glauben, der durch die Liebe tätig ist! (Galater 5,6) Oder – um es mit einem Ausspruch des französischen Historikers Jean Jaurès zu sagen –: „Einer Tradition treu zu sein, heißt, der Flamme treu zu sein und nicht der Asche.“

Wilhelm

~ JANUAR 1816

Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit;

es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid.

Ihm sei es heimgestellt;

mein Leib, mein Seel, mein Leben

sei Gott, dem Herrn, ergeben;

er schaff’s, wie ihm gefällt!

(LUDWIG HEIMBOLD)

„Riekchen! Riekchen!“ Beim Klang der vertrauten Kinderstimme flog Friederikes Kopf herum.

Ihre Blicke glitten suchend über das Gedränge auf dem Marktplatz. Es war die Stimme ihrer kleinen Schwester Luise, ja, aber sie klang nicht wie sonst. Sie war atemlos, schrill und verängstigt.

Friederikes Freundin Veronika schnitt eine Grimasse. „Da kommt Luise, um dich zu holen. Armes Riekchen, nie Zeit für einen kleinen Schwatz!“ Veronika hatte recht. Aber was war passiert?

Inzwischen hatte Luise sich einen Weg durch die Marktbesucher gebahnt. Ihre braunen Haare hatten sich aus den Zöpfen gelöst und hingen ihr in das vom Laufen gerötete Gesicht. Friederike drehte sich ganz zu ihr herum und streckte ihr die Arme entgegen. Immer ging ihr das Herz auf, wenn sie die kleine Schwester sah, die zehn Jahre nach ihr geboren worden war. Aber Luise schüttelte atemlos den Kopf und zeigte nur in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Wilhelm“, keuchte sie. „Du musst … komm schnell … er …“

Friederike warf Veronika noch einen kurzen Blick zu und verzog den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln. „Tut mir leid, Vroni. Ich erzähl’s dir dann.“

Luise zerrte schon an ihrer Hand. Die beiden Schwestern liefen an den Ständen vorüber, an denen die Marktleute begannen, ihre restliche Ware zusammenzupacken, und schlugen den Weg nach Hause ein. Zum Glück war es nicht weit. Vom Marktplatz aus wandten sie sich rechts, vorbei an der Hochzeitslinde, deren kahle Zweige in den Himmel ragten, durch die Hinterthäler Pforte. Der zertretene Schnee machte das Kopfsteinpflaster rutschig, und sie hatten Mühe, vorwärtszukommen. Friederike wartete, bis Luises Atem ruhiger ging, dann drückte sie die verschwitzte Hand: „Was fehlt Wilhelm denn? Was ist passiert?“ „Ich weiß auch nicht. Aber ich glaube, er ist richtig krank jetzt. Er …“ Luises Lippen zitterten und die Tränen rollten ihr über die Wangen. „Mama hat gesagt: Schnell! Hol Friederike! Und ich hab dich gesucht und …“ Ihre Nase lief und sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Das schlechte Gewissen überfiel Friederike wie eine heiße Woge. Als Älteste von sieben Geschwistern waren Treffen mit Freundinnen in ihrem Alter für sie nur sehr selten möglich, und sie hatte sich so gefreut, Veronika auf dem Markt zu sehen – sie hatte einfach die Zeit vergessen.

Ihr Bruder Wilhelm hatte sich schon am Morgen beim Frühstück nicht wohlgefühlt. Er hatte nichts essen wollen, was höchst ungewöhnlich war, und nur müde am Tisch gesessen, den Kopf in die Hände gestützt. Er hatte nicht – wie sonst – Luise und den kleinen August geneckt oder mit dem Vater über die täglichen Arbeiten geredet. Aber dass in einer so großen Familie in diesen Zeiten – und zumal im Januar – alle wohlauf waren, war sowieso selten, und so hatte sie sich keine besonderen Gedanken gemacht, sondern sich darauf gefreut, auf den Markt gehen zu können und so einmal der nie abreißenden Arbeit zu entkommen.

Friederike wechselte den schweren Korb auf den anderen Arm und versuchte, die Sechsjährige zu trösten. „Du hast es genau richtig gemacht, Luischen. Wir können eine gute Suppe kochen. Die macht den Wilhelm schnell wieder gesund.“

Der Tag hatte schön begonnen. Zwar kalt, aber klar und sonnig und nicht so trüb wie oft, wenn Nebel aus dem Lahntal aufstieg. Der Atem der beiden Mädchen stand ihnen in weißen Dampfwölkchen vor dem Mund. Aber ihre Schritte wurden trotzdem immer schneller, und Luise hatte Mühe, mit der großen Schwester Schritt zu halten, bis sie vor dem schönen Fachwerkhaus im Burgweg standen, in dem die Familie Münster lebte.

Wie so oft streiften Friederikes Blicke die Inschrift auf dem Eichenbalken:

„Die erste Wohnung bauwt auf Erd

In zweyter ligstu in der Erd

Die dritte Wohnung droben ist

Bey unserm Heyland Jesus Christ“

„Komm, Luise, stampf mal. Deine Stiefel sind noch ganz voller Schnee. Sonst schimpft die Lina.“ Mit dem Ellbogen drückte Friederike die Holztür auf und schob sich, den Marktkorb voran, in den engen Flur. Luise schlüpfte unter ihrem Arm durch und rannte in die Küche: „Mama! Nicht böse sein! Ich musste sooo lange suchen und …“ Aber nur Lina, die Magd, stand am Herd, das Gesicht rot und heiß, die Augen voller Sorge: „Endlich! Riekchen, er ruft die ganze Zeit nach dir und will sich nicht beruhigen!“

Friederike stellte den Korb achtlos auf den Tisch. Jetzt hörte sie es auch: Stöhnen drang von oben aus der Kammer, in der die fünf Brüder der Familie schliefen. Eine Tür wurde aufgestoßen. „Mama?“ Mit fliegendem Rock und drei Sprüngen stürzte die Sechzehnjährige die Treppe hinauf.

„Gut, dass du da bist.“ Das sonst heitere Gesicht ihrer Mutter war wie versteinert. Hastig schob sie die Tochter vor sich her an das Lager des Kranken. Wilhelm lag stöhnend auf seinem Strohsack, drei Decken über ihm, in die er die Hände krallte und zugleich versuchte, sie mit den Füßen von sich zu stoßen. Seinen Kopf warf er hin und her, die zerzausten Haare klebten an der fieberheißen Stirn. Gleichzeitig klapperten seine Zähne. Ein dünner Spuckefaden lief über sein Kinn.

Friederike war genauso erschrocken wie Luise und ihre Mutter. Sie hatte mit einer normalen Erkältung gerechnet. Ja, Fieber, klar, aber Wilhelm schien kaum noch bei sich zu sein.

Sie schob ihr Kopftuch zurück und legte ihrem Bruder vorsichtig die Hand an die glühende Wange.

Die Winterkälte schien ihn kurz zu sich zu bringen. Er schlug die Augen auf und krächzte: „Riekchen, Lob und Dank, ich …“ Vor Zähneklappern konnte er nicht weitersprechen. Während ihr Bruder sich stöhnend herumwälzte und ihre Hand umklammerte, überfiel sie die Angst eiskalt. Bilder stiegen in ihr auf. Immerhin war es erst drei Jahre her seit der großen Fleckfieberepedemie hier in der kleinen Stadt Braunfels.

Jeder Dreizehnte, so sagte man, sei damals dieser furchtbaren Krankheit zum Opfer gefallen, die die Soldaten eingeschleppt hatten, die über Jahre in jedem Haus einquartiert waren. Das Fürstentum Solms-Braunfels gehörte zum Rheinbund, ein an Frankreich gebundenes Militärbündnis. Napoleon erhob nicht nur hohe Steuern, sondern rekrutierte vor allem hohe Kontingente an wehrfähigen Männern für seine ständigen Feldzüge. Gott sei Dank waren Lehrer sowie Pfarrer vom Wehrdienst ausgenommen. Vater Münster hatte daheimbleiben dürfen. Die Nachrichten vom katastrophalen Ausgang des Russlandfeldzuges waren bis zu ihnen gedrungen. Unzählige Soldaten, auch aus den deutschen Ländern, waren gefallen. Nur ein geringer Teil kehrte zurück – und in welchem Zustand! Es war den Männern wochenlang aufgrund der Kälte und der ganzen Umstände nicht möglich gewesen, ihre Uniformen abzulegen, und so schleppten sie die infizierten Kleiderläuse, die sich darin eingenistet hatten, mit in die Häuser derer, die sie beherbergen und versorgen mussten.

Nie würde Friederike das vergessen können: die Angst, die weinenden Frauen, die Karren, die mit den Toten über das Kopfsteinpflaster holperten … Damals war ihre Mutter eine Heldin für sie gewesen. Natürlich hatte auch Friederike mitgeholfen, viele, viele Mahlzeiten zuzubereiten, hatte am Herd gestanden, Gemüse geputzt, stundenlang abgewaschen, bis ihre Hände rau und die Beine schwer waren, aber die Mutter war nicht müde geworden. Für jeden hatte sie ein gutes Wort und ein Lächeln gehabt …

Dann kam es zur Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813. Napoleon und seine Truppen wurden geschlagen und anschließend war auch der Rheinbund aufgelöst worden.

Und in all diesen politischen Wirren war ihre Familie von größerem Elend verschont geblieben! Selbstverständlich hatten sie Gott gedankt, dass es so war. Aber ein kleines bisschen war da doch der Gedanke in Friederike hochgekrochen: Wenn ich immer fleißig bin, wenn ich gehorsam bin, wenn ich immer bete …, dann lässt Gott das Unheil an uns vorüberziehen. Und wir haben ja schließlich alles getan, allen geholfen, alles geteilt.

Bis jetzt. Die Einquartierungen waren gerade erst vorbei. Endlich! Keine Soldaten mehr, die einfach kommen und ein Bett und das Beste zum Essen fordern konnten. Und nun …?

Friederike fuhr sich energisch mit dem Handrücken über die Augen. Gott würde sie nicht verlassen. Wilhelm war doch jung und kräftig.

Wenn sie sich um ihn kümmerte, würde das ihr Herz leichter machen. Vorsichtig löste sie ihre Hand aus der verschwitzten ihres Bruders und stand auf. Seine Augen, fiebrig glänzend, folgten jeder ihrer Bewegungen. Sie konnte Angst in seinem Blick lesen. „Ich gehe nicht weg,“ sagte sie rasch beruhigend. „Ich rufe nur nach Lina oder Luise, ob sie uns etwas bringen können, damit du dich besser fühlst.“

Schon ein paar Minuten später schob sie einen in Tücher gewickelten, wunderbar wärmenden Backstein unter die Decken an Wilhelms Füße und breitete ihre eigene Bettdecke auch noch sorgfältig über ihn. Dann setzte sie sich vorsichtig auf den Bettrand und wischte mit einem feuchten Lappen über das Gesicht ihres Bruders. Es schien ihm wohlzutun. Seine Züge entspannten sich ein wenig, und der verkrampfte Griff, mit dem er die Decken festkrallte, lockerte sich. Mühsam öffnete Wilhelm die Augen. „Hast du Durst?“, wollte Friederike wissen.

Neben dem Bett stand ein Becher Wasser, den vermutlich schon die Mutter mit hinaufgebracht hatte. Friederike hob behutsam den Kopf ihres Bruders und hielt ihm den Becher an den Mund. „Hier, Wilhelm, versuch mal zu trinken.“ Er schluckte so mühsam, dass das meiste danebenrann. Friederike tupfte ihm sanft das Gesicht ab und versuchte es noch einmal. Schließlich war der Becher leer. Für den Moment war der Kranke ruhiger geworden. Friederike zog ihr wollenes Umschlagtuch fester um sich, legte ihre Hand auf die ihres Bruders und versuchte, sich zu entspannen.

Bilder stiegen in ihr auf: Wilhelm – die große Schwester von fünf Brüdern zu sein, war nicht immer nur vorteilhaft gewesen, aber in diesem Moment spürte sie nichts als Erbarmen und Zärtlichkeit für diesen immer munteren, aufgeweckten, ständig hungrigen und äußerst erfinderischen Jungen da vor ihr. Er war ein Energiebündel mit immer neuen Ideen, die sofort in die Tat umgesetzt werden mussten – auch, wenn sie durchaus nicht immer von Erfolg gekrönt waren, des Öfteren daheim zu Ärger führten oder Wilhelm und die anderen Brüder von ihren eigentlichen Aufgaben und Pflichten abhielten.

Wilhelm: immer am Tüfteln, ein geschickter Bastler, dünn – wer war das nicht in diesen Zeiten –, aber zäh und mit einer ansteckenden Fröhlichkeit. Vaters Sohn, keine Frage.

Wenn ihr Vater, Andreas Münster, an langen Abenden in der Stube von seiner Jugend erzählte, glänzten seine Augen ebenso wie die von Wilhelm. Trotz aller Widrigkeiten und Entbehrungen war es dazu gekommen, dass er jetzt schon seit fast 20 Jahren Lehrer sein durfte; er, der völlig ungebildet, aber unendlich wissensdurstig aufgewachsen war. Der Vater hatte mit unglaublicher Zähigkeit an seinem Traumberuf festgehalten.

Wilhelms Ziel war ein anderes, aber für einen Jungen aus einer Kleinstadt kein geringeres: Er wollte einmal Ingenieur werden. Ja, und nicht etwa hier in der Abhängigkeit vom Fürsten zu Solms-Braunfels. Das ferne Berlin war die Stadt seiner Träume und die Artillerie- und Ingenieursschule dort. Der Vater würde alles dafür tun, dass Wilhelm sein Ziel erreichte. Er legte viel Wert auf Eigenschaften wie Beharrlichkeit, Fantasie und Fleiß.

Vater. Noch hielt er Unterricht. Aber eigentlich sollte gleich Mittagspause sein. Vielleicht hatte sie in der Aufregung das Läuten der Schulglocke überhört. Ihr Magen knurrte, jetzt, wo sie so still dasaß. Sicher würde Vater gleich nach Wilhelm sehen wollen, wenn er aus dem Unterricht kam.

Wie es wohl weitergehen würde? Wenn es tatsächlich das bekannte und gefürchtete Fleckfieber war, dann war es mit der Schule im Haus erst mal vorbei, zumindest mit dem Privatunterricht, den Andreas Münster gab, um das Einkommen der großen Familie aufzubessern. Friederike dachte an das Geld, das sie auf dem Markt dem Fleischhändler in die Hand gezählt hatte. Schon wieder mehr als das, was die Mutter zu Hause einkalkuliert hatte, als sie ihr das Geld für den Markteinkauf herausgegeben hatte.

Hinter ihr wurde die Tür leise geöffnet. „Wilhelm, mein Großer! Was machst du denn für Sachen?!“ Andreas Münster war mit zwei Schritten am Bett seines Sohnes und beugte sich über den Kranken.

Wilhelms schwere Lider öffneten sich. „Papa!“, flüsterte er und versuchte zu lächeln. Gleichzeitig lief ein Zittern durch seinen Körper, und wieder schlugen seine Zähne aufeinander. Schweiß trat auf seine Stirn. Andreas Münster nahm Friederike den Lappen aus der Hand. „Geh hinunter und iss etwas, Riekchen. Ich habe schon gegessen und bleibe jetzt bei deinem Bruder.“ Als sie aufstand, drückte sie einen Moment ihre Stirn an die breite Schulter ihres Vaters. Vater war da. Er würde Rat wissen. Vater wusste immer alles. Aber als sie ihm ins Gesicht sah, konnte sie trotz des Dämmerlichtes in der Kammer in seinen dunklen Augen die gleiche Sorge sehen, die sie selbst empfand. Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, lächelte er seine Älteste liebevoll an. „Vergiss nicht, mein Riekchen, Gott sagt: ‚Ich bin der Herr, dein Arzt. Alle eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch.‘“ Damit nahm er ihren Platz am Bett ein.

Während Friederike, steif vom langen Sitzen, sich die Treppe hinuntertastete, klangen die Worte ihres Vaters in ihr nach. „Denn er sorgt für euch.“ Ganz gewiss war doch der Vater im Himmel nicht weniger vertrauenswürdig als ihr Vater hier. Solange sie denken konnte, hatte es um sie herum immer Grund für Sorgenfalten gegeben, aber immer hatte ihr Vater alles dafür getan, dass es seinen geliebten Kindern an nichts Nötigem fehlte.

Und jetzt hatte sie einfach Hunger. In der Küche war der große Esstisch der Familie schon abgeräumt. Aber hinten auf dem Herd köchelte es leise in einem halb leeren Topf. Friederike nahm einen Steingutteller vom Bord, holte sich einen Löffel und schöpfte sich von der Suppe. Es war seltsam still im Haus. Nicht einmal die alte Großmutter saß in ihrem Stuhl am stets warmen Küchenherd. Während sie noch aß, öffnete sich die Tür und ihre Mutter kam herein, in der Hand das Garn, das Friederike am Morgen auf dem Markt besorgt hatte. Das Schwätzchen mit Veronika schien ihr jetzt schon eine Ewigkeit her zu sein!

„Riekchen? Wie geht es ihm jetzt?“ Mutters Stimme klang zittrig und gepresst. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihre große Tochter. Friederike legte behutsam ihre Hand auf die feste, etwas raue ihrer Mutter. Kräftige Hände, geschickte Hände, die Arbeit in einem großen Haushalt gewohnt waren. Heute waren sie eiskalt. Friederike schwieg.

„Ich weiß auch nicht“, sagte die Mutter schließlich. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, und das Mädchen sah im Dämmerlicht, das in der Küche herrschte, dass sie rot vom Weinen waren. „Ich habe Angst, Rieke. Vorhin, als du noch nicht da warst … er war wie von Sinnen. Das Fieber stieg rasend schnell – ich glaube, er wusste gar nicht, wo er war.“ Sie versuchte zu lächeln, aber es war ein verzerrtes Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. „Meinst du – denkst du, es könnte das Blutfaulfieber sein?“ Die Mutter verstummte. Dann straffte sie ihre Schultern und atmete tief. „Wilhelm ist ein kräftiger Junge. Vielleicht hat er auch Hunger. Ich bringe ihm einen Teller Suppe.“

Friederikes Teller war leer. Sie stellte ihn zu den anderen und begann, Wasser für den Abwasch zu erwärmen. Lina erschien, in jeder Hand einen vollen Wassereimer. „Ich habe die Kleinen zu den Kaninchen geschickt“, sagte sie. „Aber es ist wirklich kalt draußen. Deine Mutter hat gesagt, ich solle schon einmal anfangen, die Wäsche einzuweichen. Wenn es morgen wieder so klar ist, ist ein guter Tag für die Wäsche.“ Friederike nickte ihr zu. Das Leben ging weiter, die Arbeit auch.

Der kurze Winternachmittag war schnell vorbei. Wilhelms Fieber stieg noch immer, er fror und schwitzte und schien starke Schmerzen zu haben. Ein wenig hatte er getrunken, von der Suppe hatte er nur ein paar winzige Löffelchen Brühe geschafft.

Als es dämmerte, versammelte sich nach und nach die ganze Familie in der Küche. Das Talglicht flackerte, dazu der rötliche Schein des Herdfeuers. Friederike liebte diese langen Abende. Jeder hatte seine Beschäftigung. Die Kleinen, Luise und August, der mit seinen vier Jahren das Nesthäkchen war, durften Garn wickeln oder sich schließlich bei der Großmutter auf den Schoß kuscheln. Friederike, Lina und die Mutter waren stets mit Handarbeiten beschäftigt. Entweder sie widmeten sich dem immer vollen Stopfkorb, hatten etwas zu ändern oder klapperten leise mit dem Strickzeug. Wilhelm und die jüngeren Brüder Christian, Karl und Friedrich reparierten sonst häufig unter Vaters Anleitung die Griffe der Werkzeuge oder schnitzten. Wilhelm war es, der gern tüftelte und die anderen damit ansteckte. Vater las vor, manchmal kam Besuch vorbei. Es war viel Zeit, sich nebenbei zu unterhalten, eine Geschichte zu erzählen oder zu singen.

Vor dem Abendbrot nahm der Vater dann die Bibel vom Regal und las. Und obwohl an diesem Abend sich die friedliche Stimmung nicht einstellen mochte, tat er das auch heute. Er las fortlaufend aus dem Neuen Testament, im Moment aus dem Evangelium nach Lukas. Friederike war sehr müde. Aber sie horchte doch auf: Sie hörte die Geschichte ganz neu. Es ging um einen aussätzigen Mann. Als er Jesus entdeckte, fiel er vor ihm auf sein Angesicht und bat den Herrn, ihn zu reinigen. Und sogleich tat Jesus dies. Von überallher kamen die Leute mit ihren Krankheiten. Noch nie hatte diese Geschichte sie so angesprochen wie heute. Sie stellte sich vor, sie wäre dort. Jesus käme vorbei, und sie würde ihren Bruder dann zu ihm bringen. Ja, Jesus würde nicht zögern, sich über ihren leidenden Bruder zu erbarmen.

Sie spürte, wie die Tränen kamen und schluckte. Jetzt betete Vater: „Herr, du bist derselbe, damals, heute und in alle Ewigkeit. Wir bringen unseren lieben Wilhelm vor dich. Herr, schenk du doch Heilung. Aber wir wollen auch beten, wie du es uns gelehrt hast – dein Wille geschehe.“

Als die Mutter die Graupensuppe austeilte, war es lange sehr still am Tisch. Selbst Gusti löffelte stumm, den Kopf mit dem dunklen Haar über die Tischplatte gebeugt. Schließlich räusperte sich Andreas Münster: „Christian, Friedrich, ihr beide helft mir gleich, in der Stube umzuräumen. Es ist besser, wenn Wilhelm hier unten liegt. Es ist wärmer und einfacher, ihn zu pflegen. Und wir hören ihn tagsüber besser. Wir wollen auch abwechselnd die Nacht bei ihm bleiben.“ Louise, die Mutter, nickte. „Ich möchte heute bei ihm wachen. Friederike, kannst du mein Bettzeug aus der Kammer bringen?“ „Natürlich, Mama.“

Aber sie wusste schon, dass auch sie in ihrem Bett, eingekuschelt neben der kleinen Luise, auf alle Geräusche lauschen würde, und dass auch Linas vertrautes Schnarchen auf der anderen Seite der kleinen Dachkammer das gequälte Stöhnen von unten nicht übertönen könnte.

Die nächsten Tage verrannen wie in einem zähen Nebel. Wilhelms Befinden verschlechterte sich zusehends. Von Schmerzen am ganzen Körper geplagt, wälzte er sich auf seinem Bett und konnte in keiner Lage Ruhe finden. Aus bald glänzenden, bald trüben Augen sprach die blanke Qual. Die rissigen, geschwollenen Lippen konnte er kaum weit genug öffnen, dass sie ihm tröpfchenweise zu trinken einflößen konnten. Er sprach kaum, aber sein Stöhnen ging durch Mark und Bein, sodass, auch wenn sie bei den Mahlzeiten nebenan in der Küche beieinandersaßen, nur das Nötigste im Flüsterton geredet wurde. Das Schlimmste – wenn man so sagen konnte – waren seine Fieberträume. Denn nur so war es zu erklären, dass er völlig außer sich geriet, sobald die Mutter die Krankenstube betrat. Wer konnte sagen, was er da vor sich sah anstatt der Frau, die ihn als ihren ältesten Sohn mit tiefer Freude und Dankbarkeit willkommen geheißen hatte; anstatt der Frau, der der kleine Wilhelm sein erstes Lächeln geschenkt hatte; anstatt der Frau, die all die Jahre ihre Kinder klug und liebevoll versorgt hatte?

Louise Münster war völlig verzweifelt. Wie viel fast übermenschliche Kraft es sie kostete, die Krankenstube nicht zu betreten! Wie sie in der Küche auf jedes Geräusch lauschte! Auch nachts kam sie nicht zur Ruhe.

Nur den Vater und die große Schwester ertrug Wilhelm an seinem Lager. Sie wechselten sich ab, und wenn Friederike in die tief in den Höhlen liegenden, rot geränderten Augen ihres Vaters sah, erkannte sie trotz des Lächelns, mit dem er sich ihr zuwandte, seine Angst und Verzweiflung. In den langen Stunden an Wilhelms Bett versuchte sie immer wieder, die Hände zu falten und zu beten, aber ihr kam nur ein Satz: „Erbarme dich, Herr! Hilf doch meinem geliebten Bruder!“ Sie wusste dabei nicht einmal, ob sie glaubte, wofür sie betete. Einen Satz konnte sie aber nicht sprechen: „Herr, dein Wille geschehe!“ Es war ihr, als würde ihr dieser Satz noch die letzte Kraft nehmen, die sie in ihr Gebet um Heilung legen wollte. Nicht aufgeben!

Es war nicht so, dass Friederike in ihrem Leben noch keine Erfahrung mit Tod und Sterben gemacht hatte. Da war die Epidemie vor drei Jahren gewesen, die vielen, vielen Toten in der Nachbarschaft und unter den Soldaten. Natürlich hatte sie das berührt und erschreckt. Vor zwei Jahren dann war der Großvater Münster, der mit im Hause gelebt hatte, gestorben. „Heimgegangen“, wie der Vater es ausdrückte.

Heim, nach Hause in den Himmel. Konnte man das denn so genau wissen, dass, wenn man hier die Augen schloss, sie bei Gott wieder öffnete? In seiner ewigen Herrlichkeit? Wenn Friederike nur an sich dachte: Ja, sie war ernsthaft, fleißig, wollte gehorsam sein, wollte das Richtige tun, aber sie war ehrlich genug, um zu erkennen, dass sie in ihrem Herzen oft nicht besonders geduldig, liebevoll und rücksichtsvoll war und auch nicht immer bereit, auf etwas zu verzichten. In ihrer lebhaften Art war ihr schnell mal ein Wort herausgerutscht, das sie spätestens am Abend, wenn sie zur Ruhe kam und den Tag überdachte, bereute.

Und Wilhelm? Sie wusste es nicht, wie es in seinem Herzen aussah. Sie wusste nur, dass sie diesen Jungen mit dem verzerrten, eingefallenen Gesicht liebte wie noch nie in ihrem Leben. Viele Dinge fielen ihr ein: der kleine Wilhelm, den sie herumgeschleppt hatte, als sie eigentlich selbst noch zu klein dafür war; die Geschichten, die sie sich erzählt hatten; die Fantasiespiele, die nur sie beide gekannt hatten; klar, auch manche Kabbeleien, aber wie unwichtig und bedeutungslos die jetzt schienen …

In den Nächten, in denen Friederike nicht an Wilhelms Bett saß, sondern einfach schlafen durfte, schmiegte sich Luise trostsuchend an sie. Die beiden Schwestern kuschelten sich aneinander, dann versank Friederike in einen brunnentiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung.

In der zweiten Krankheitswoche war die Angst besonders groß. Mehrere Male sah es so aus, als würde Wilhelm den Kampf verlieren. Die Eltern und Friederike kamen kaum noch aus den Kleidern. Die Mahlzeiten wurden schnell hinuntergeschlungen, und oft hätte Friederike nicht mehr sagen können, was sie gerade gegessen hatte. Sie hatte auch keinen Appetit, aber sie aß, was die Mutter oder Lina ihr hinstellten, weil sie wusste, dass sie irgendwie bei Verstand und Kräften bleiben musste.

Sie bekam auch kaum mit, wie das Wetter war. Dass es noch einmal so viel geschneit hatte, dass ihre Brüder Christian und Friedrich den ganzen Tag geschippt hatten, hatte sie nicht mal bemerkt. Nur ganz selten trat sie an die Hintertür und atmete die klare Winterluft ein, bevor sie wieder zum Elend in der Stube zurückkehrte.

Und dann, an einem neuen Morgen, kam ihr Vater, der seine Nachtwache beendet hatte, müde, aber doch mit einem echten Lächeln in den Augen, entgegen. „Riekchen! Gott ist gut. Es gibt Hoffnung. Das Fieber ist nicht mehr so hoch.“ Vergessen alle Müdigkeit. „Wirklich, Papa?“ Und dann stürzten ihr die Tränen aus den Augen, als ob plötzlich alle Dämme gebrochen wären. Der Vater drückte sie an sich, und sie merkte, dass auch er weinte. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihren starken Vater weinen. Ein paar Augenblicke, dann schob er sie ein bisschen von sich, und sie lächelten sich an.

Wilhelms langes Krankenlager war trotz der hoffnungsvollen Anzeichen allerdings noch nicht überstanden. Er konnte seine Glieder nicht mehr gebrauchen und litt arge Schmerzen. Dieser Zustand dauerte Wochen, mittlerweile neigte sich schon der Februar dem Ende zu.

Wieder einmal saß Friederike an Wilhelms Bett und war dabei, im Schein des Talglichtes einen Flicken auf den durchgescheuerten Ellbogen von Friedrichs Jacke zu setzen. Plötzlich erwachte der Kranke aus unruhigem Schlaf und sah sie ängstlich an. „Rieke?“ Die Stimme war nur ein Krächzen. Die große Schwester griff nach dem Becher Tee, der neben dem Lager stand.

Er trank, dann versuchte er, sich bequemer hinzulegen und stöhnte dabei unwillkürlich auf: „Was glaubst du, werde ich je wieder laufen können? Muss ich jetzt so bleiben, so ein Krüppel? Oh, Rieke!“ Seine Lippen zitterten. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber schließlich gab er es auf und ließ sie rollen. Friederike beugte sich vor und drückte die magere Gestalt an sich. „Hab Mut, Willi! Papa sagt, das gibt es öfter bei dieser heimtückischen Krankheit. Aber das wird wieder. Wenn es wieder warm wird und der Frühling kommt, dann wirst du wieder in den Garten gehen.“ Er schniefte, drückte ihre Hand und schloss wieder die Augen. Friederike deckte ihn gut zu, dann blies sie das Talglicht aus und verließ leise die Stube.

Mutter

~ MÄRZ 1816

Mach End, o Herr, mach Ende

mit aller unsrer Not;

stärk unsre Füß und Hände

und lass bis in den Tod

uns allzeit deiner Pflege

und Treu befohlen sein,

so gehen unsre Wege

gewiss zum Himmel ein.

(PAUL GERHARDT)

Der März kam und mit ihm die Hoffnung auf Frühling. Aber noch war der Wind, der durch die Gassen fegte, eisig und die Nächte frostig. Die Gesichter der Menschen, denen Friederike auf dem Weg zum Markt begegnete, waren blass und eingefallen. Die Kinder husteten und hatten laufende Nasen. Der Winter war hart gewesen. Die Vorräte an Eingemachtem gingen zur Neige, und was die Händler anboten, war an jedem Tag teurer als am vorigen.

Und doch lockte die Sonne ein Lächeln auf alle Gesichter. Mittags musste Friederike mit Luise und August schimpfen, weil die ohne Schal und Tuch mit offener Jacke im Hof herumjagten. „Seid ihr verrückt? Wollt ihr auch noch krank werden?“ Luise rannte zu ihr und schlang die Arme um ihre Taille: „Riekchen! Sei doch nicht so böse! Schau, die Vögel kommen schon zurück und hier: Wir haben Leberblümchen gepflückt für Mama! Sie soll nicht immer so traurig sein.“

Friederikes Herz schmolz. „Ach, ihr Süßen! Danke! Ihr habt ja recht. Aber trotzdem warm einpacken, ja? Und sammelt auch noch was für die Hasen! Wenn es Leberblümchen gibt, dann kriegen sie auch endlich mal wieder frisches Futter.“ Sie sah den beiden Kleinen nach, die Hand in Hand davonliefen. Luise schwenkte den Korb.

Ihre Augen waren noch ganz geblendet vom Sonnenlicht, sodass es einen Moment dauerte, bis sie die zusammengesunkene Gestalt am Küchentisch erkennen konnte. Mit einem Satz war sie bei ihrer Mutter. „Mama! Was ist los? Was hast du?“ Louise Münster stöhnte, den Kopf in den Armen vergraben. „Oh, Riekchen“, flüsterte sie. Die Tochter erschrak. Ihre Mutter glühte vor Fieber. Sie zitterte am ganzen Körper. „Mama! Komm, ich helfe dir ins Bett. Arme Mama, jetzt bist du krank.“ Noch in den Kleidern sank die Mutter ins Bett, zog sich die Decke über die Schultern und drehte sich stöhnend zur Wand. Schnell nahm Friederike die Decke ihres Vaters und legte sie noch über sie.

Mehr Decken, Backstein in den Ofen, Tee – Friederike machte jeden Handgriff automatisch, wie fremdgesteuert. Nicht Mama. Nicht jetzt! Nein! Es ist nicht wahr. Gott, ich ertrage das nicht! Ich kann nicht mehr …

Endlich hörte sie Schritte im Flur. Christian! „Chrissi! Schnell, hol Papa! Lauf! Beeil dich!“

Der Ton ihrer Stimme sagte anscheinend alles, denn wenige Minuten später wurde die Tür aufgerissen: „Rieke? Nein! Louise!“ Als Andreas Münster sich über seine Frau beugte, versuchte sie, sich ihm zuzuwenden und zu lächeln. Es misslang. Friederikes Kehle schnürte sich zu, als sie sah, wie behutsam er der Kranken schlückchenweise das Wasser einflößte. Das Fieber schüttelte sie. „Papa? Soll ich den Doktor holen?“

Friederike war schon aus der Tür. Ihre Beine wollten sie kaum tragen. Sie hatte das Gefühl, gar nicht vorwärtszukommen, wie in einem Albtraum. Mama. Sie war doch noch nicht so alt. Erst 46 Jahre. Und Gusti und Luischen noch so klein.

Der Arzt sei nicht zu Hause, würde aber gegen Abend vorbeischauen, erklärte die Magd, der sie völlig außer Atem und in abgehackten Sätzen ihre Bitte vortrug. Friederike wanderte wieder zurück. Ihr ganzer Körper fühlte sich schwer wie Blei an. Sie hatte das Gefühl, selbst zum Denken zu müde zu sein.

„Grüß dich, Rieke! Da bist du ja mal wieder! So lange habe ich dich nicht gesehen!“ Sie schaute auf und blickte in das fröhliche Gesicht ihrer Freundin Veronika. Sie hatte die Haare schön geflochten und hochgesteckt und sah einfach so adrett und hübsch aus, dass Friederike sich unwillkürlich ihrer eigenen zerzausten Frisur, ihres verweinten und verschwitzten Gesichts und des unordentlich gebundenen, abgetragenen Schultertuches bewusst wurde. Sie fuhr sich über die Augen. Veronika war ernst geworden. „Geht es deinem Bruder noch nicht besser? Ich habe davon gehört, dass er seine Glieder noch immer kaum gebrauchen kann.“ Teilnehmend legte sie ihre Hand auf den Arm der Freundin. „Warte, bis der Frühling richtig kommt. Er erholt sich wieder, wirst schon sehen. Das Schlimmste hat er doch überstanden.“

Ihre freundliche Stimme gab Friederike den Rest. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Vroni, jetzt ist es Mama. Ich war gerade beim Doktor. Sie fiebert so hoch. Ich hab es gesehen, auch Papa hat Angst um sie.“ Veronikas Gesicht wurde starr. Ihre Hand fiel herab, und sie wich einen Schritt zurück, einen Zipfel ihres schönen Tuches vor den Mund gepresst. „Nein! Du meinst, das Fleckfieber?! Entschuldige mich, Rieke, ich …“ Schon hatte sie sich weggedreht und hastete in der entgegengesetzten Richtung davon. Friederike schämte sich. Sie hätte es gleich sagen sollen. Natürlich hatten alle Angst vor einer neuen Epidemie. Niemand hier hatte vergessen.1

Wahrscheinlich würde morgen der ganze Ort wissen, was im Schulmeistershaus los war.

Sie musste sich zusammenreißen. Sie wurde gebraucht.

Tatsächlich saßen Luise und August schon weinend auf der Treppe, als sie heimkam, und klammerten sich trostsuchend an die große Schwester. Aber auch sie selbst empfand es als tröstlich, die Kleinen in den Arm zu nehmen und Angst und Schmerz miteinander zu teilen. Lina stand mit roten Augen am Herd. Einfach tun, was als nächstes dran war. Abendbrot vorbereiten, einen warmen Tee für die Eltern oben und einen für Wilhelm kochen, der immer noch in der Stube lag.

Es kam Friederike seltsam vor, aber sie hatte doch das Gefühl, das Richtige zu tun, als sie alle um den Tisch saßen. Sie kündigte an, dass sie jetzt mit ihren Geschwistern beten wolle, wo der Vater doch oben bei Mutter im Krankenzimmer war. Sie dankte für das Essen, so wie sie es gewohnt waren, und dann betete sie für ihre Mutter. Als sie geendet hatte, fiel auf einmal mit zittriger Stimme die alte Großmutter, die fast immer nur zusammengesunken in ihrem Stuhl saß, ein und betete das Vaterunser. So tröstlich waren die altvertrauten Worte. Das empfanden alle, und danach konnten sie tatsächlich auch essen, die Kleinen ins Bett bringen, aufräumen und auch dem Doktor, der endlich noch gekommen war, die Tür öffnen.

Er stapfte sofort die Treppe hinauf, kam aber gleich wieder herunter, den Kopf gesenkt und so abweisend brummend, dass Friederike an Veronikas Reaktion denken musste. Fleckfieber! Seuche! Niemand, nicht einmal der Doktor, wollte so etwas im Haus haben.

Sie blieb am Tisch sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, gleichzeitig todmüde und doch zum Bersten angespannt. „Dein Wille geschehe“, so hatte Großmutter gebetet. Gottes Wille. Konnte es Gottes Wille sein, ihnen die Mutter zu nehmen? All das Elend, Krieg, Seuche, Wilhelms langes Krankenlager, und jetzt das? Die Traurigkeit lag wie ein Felsbrocken auf Friederikes Brust. Nicht einmal weinen konnte sie. „Jesus“, flüsterte sie, „Jesus, hilf! Erbarm dich über uns!“

Vor ihrem inneren Auge sah sie das schlichte Kreuz in der Kirche. Leid – ohne Schuld. Jesus, der auch so gebetet hatte in Todesangst in Gethsemane: „Dein Wille geschehe.“ Zwar war die Passionszeit dieses Jahr durch die Pflege ihres Bruders mehr an ihr vorbeigegangen als sonst, aber Vater hatte den Text über Jesu Weg nach Jerusalem während einer Andacht aus der Bibel vorgelesen. Jesus hatte gelitten, obwohl er doch ganz ohne Schuld war – aus Liebe, um den Weg in Gottes Vaterhaus und in die Ewigkeit freizumachen. Liebe, die leidet. Er musste verstehen, was sie durchmachten. Und er konnte noch eingreifen und alles zum Guten wenden. Wilhelm war schon auf dem Wege der Besserung. Egal, wie lange es dauerte. Sie, die älteste Tochter, würde ihre Schultern mit unter die Last schieben, sie würde den Kleinen die Mutter ersetzen. Sie würde Mama pflegen, Papa helfen. Sie konnte arbeiten, ja, sie würde alles tun, alles, und nicht einmal daran denken, mit Freundinnen zu schwatzen oder …

Die Küchentür wurde leise geöffnet. Ihr Vater kam herein. Friederike sprang auf. „Papa?“ Sie stand schon am Herd. „Warte, ich bringe dir einen Teller. Setz dich, Papa. Schläft Mama? Soll ich ihr etwas bringen? Hat der Doktor etwas gesagt?“ Andreas Münster ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Er schüttelte langsam den Kopf. „Danke, meine Große. Ja, gib mir schnell etwas, dann gehe ich wieder hinauf. Du kannst etwas Suppe in den Becher füllen, vielleicht gelingt es mir, Mama ein wenig einzuflößen. Ach, mein Riekchen, mein gutes Riekchen. Das Fieber steigt noch immer.“ Er seufzte. „Nein, es gibt nichts, was der Doktor ausrichten könnte. Da muss Gott eingreifen. Ein anderer kann uns nicht mehr helfen.“

Friederike hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als jemand sie an ihrer Schulter rüttelte. „Rieke, wach auf! Mama ist doch krank. Du musst uns Frühstück machen.“ Es war tatsächlich Morgen, ein grauer Morgen, aber Luise und August waren schon beide wach. Friederike fühlte sich wie zerschlagen. Aber sie dachte an gestern Abend. Ja, sie wollte doch alles tun, stark und tüchtig und tapfer sein, die Kleinen sollten nichts vermissen. Sie lauschte, aber nebenan bei den Eltern war nichts zu hören. Als sie Luise die Zöpfe flocht, hörte sie Lina unten in der Küche mit den Wassereimern klappern.

In der Küche saß Wilhelm, fertig angezogen, auf einem Stuhl, neben sich die beiden holzgeschnitzten Krücken, die der Großvater in seinen letzten Lebensjahren gebraucht hatte. Er schaute seine Schwestern an, grimmig entschlossen: „Schluss jetzt mit Kranksein. Heute gehe ich zu Mama. Sie hat sich so sehr Sorgen gemacht um mich, dass sie auch krank geworden ist. Damit ist jetzt Schluss. Bitte hilf mir, Rieke!“ Eine warme Welle überspülte Friederikes Herz mit Dankbarkeit. Schnell beugte sie sich vor und umarmte ihren Bruder. „Kommt, wir gehen alle gemeinsam zu ihr.“

Inzwischen waren alle Geschwister munter. Wilhelm humpelte zur Treppe, stellte eine Krücke ab und fing an, sich mit einer Hand mühsam am Geländer hochzuziehen. Mit der anderen die zweite Stütze nachrückend, tastete er nach einem Halt auf den schmalen Stufen. Christian, Fritz, Karl und Friederike blieben ihm dicht auf den Fersen, um ihn zu schieben und zu stützen. Oben wurde die Kammertür geöffnet, und der Vater, unrasiert und müde, schaute über das Geländer.

„Wilhelm! Kinder! Ja, kommt nur. Mama ist wach.“

Nie mehr würden sie alle diese halbe Stunde vergessen. Die ganze Familie Münster war noch einmal vereint. Niemand sprach es aus, aber als sie das Gesicht ihrer Mutter sahen, trotz Fieber und Krankheit zittrig lächelnd, ahnten alle, dass sie dieses Lächeln tief in ihrem Herzen aufnehmen mussten, weil sie es schon bald nicht mehr sehen würden. Wilhelm humpelte zuerst an ihr Bett. Die Mutter war zu benommen und zu schwach, als dass sie hätte etwas anderes tun können, als ihre Namen zu flüstern. Einer nach dem anderen streichelte vorsichtig ihre Hand.

Als der kleine August an der Reihe war, tat er es zuerst den anderen nach, dann aber brach er plötzlich in Schluchzen aus und stürzte sich in Friederikes Arme, das Gesicht in ihrer Schürze vergraben. Sie nahm ihn auf den Arm, strich noch einmal sanft über die Hand der Kranken und flüsterte heiser: „Ruh dich aus, liebe Mama. Ich kümmere mich, ich verspreche es dir.“ Dann wandte sie sich zur Tür, Luise, die sich an ihrem Kleid festhielt, auf den Fersen. Die Brüder folgten ihr. Nur Wilhelm und der Vater blieben am Bett sitzen.

Unten in der Küche war es warm. Lina stand wie gewohnt am Herd, die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Fenster und zeichneten goldene Muster auf den Fußboden. Friederike streichelte beruhigend Augusts weiches Haar. Der Kleine schniefte und klammerte sich weiter an ihren Hals. Auch Luise liefen die Tränen über die Wangen und sie warf ihre Arme um die große Schwester. Friederikes Kehle wurde eng. Sie sind viel zu klein, dachte sie. Mama, bleib bei uns. Ich schaffe das nicht. Wir brauchen dich.

„Auf, Friederike“, krächzte die Großmutter aus ihrer Ecke. „Jetzt ist nicht die Zeit, herumzuheulen. Dein Vater braucht sein Frühstück. Die Arbeit wartet nicht.“