Im Dienst der Volksmarine III - Dieter Flohr - E-Book

Im Dienst der Volksmarine III E-Book

Dieter Flohr

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Beschreibung

Der dritte Band der erfolgreichen Buch-Reihe „Im Dienst der Volksmarine“ wartet mit dutzenden neuen Zeitzeugenberichten auf, in denen die Matrosen der kleinsten Teilstreitkraft der Nationalen Volksarmee aus ihrer Dienstzeit erzählen. Authentisch, kritisch, aber auch mit dem nötigen Humor geben sie Auskunft über den oftmals schweren Dienstalltag, über das Zusammenwirken mit den befreundeten Streitkräften der Warschauer Vertragsstaaten oder die Freizeitgestaltung innerhalb der Truppe. Über 120 historische Fotos und Abbildungen, viele darunter mit Seltenheitswert, ergänzen und vertiefen den Inhalt anschaulich. Ein Zeitzeugnis deutscher Marinegeschichte.

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Seitenzahl: 326

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2015 (entspricht der 1. gedruckten Auflage von 2014)

© Steffen Verlag / Steffen GmbH

Berliner Allee 38, 13088 Berlin

Tel.: (030) 41935008, www.steffen-verlag.de, [email protected]

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 9783957990099

Dieter Flohr (Hrsg.)

Im Dienst der Volksmarine III

Zeitzeugen berichten

steffen verlag

Das Bergungs- und Taucherschiff „Ottovon Guericke“ der Volksmarine während der Schulschiff-Reise 1981 nach Sewastopol in der Biskaya

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Von den Anfängen

Kapitän auf Großer Fahrt i. R. Gerd Stange

Ich werde Blauer Kommissar

Kapitän zur See (Ing.) a. D. Richard Lösche

Als Offiziersschüler in Parow und Kühlungsborn

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Peter Kucik

Spritztour

Kapitän zur See (Ing.) a. D. Richard Lösche

Spieß Egon

Obermeister a. D. Rolf Ulrich

Klar zum Kohle bunkern

Kapitän zur See a. D. Dr. Fritz Minow †

Wie die Marine nach Rostock kam – Die wahre Geschichte bis 1990

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Voraus Treibmine

Von Korvettenkapitän (lng.) a. D. Jürgen Machetanz †

Die MLR-Schiffe, Projekt KRAKE

Fregattenkapitän a. D. Gerhard Struck

Erstes DDR-offenes Hunderennen auf Schulschiff S-61

Stabsmatrose a. D. Günter Buschendorf

Der gestohlene Funkwagen

Korvettenkapitän a. D. Peter Seemann

Der Admiralsritt von Zingst

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Die „Main-Affäre“

Kapitän zur See a. D. Hans Steike

Bombe an Bord!

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Panzerplatten

Stabsmatrose a. D. Günter Buschendorf

Das Fahrrad

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Oberbootsmann Kurt Füldner

Korvettenkapitän a. D. Holger Neidel

Raketenstart mit Folgen

Stabsmatrose a. D. Roland Ambos

Bordgewisper vom Schulschiff S-61 – Die verflixte Stelling

Obermaat a. D. Billeb

Silvester an Bord 1979/80

Vizeadmiral a. D. Hendrik Born

Ein hochdotierter Platzanweiser

Fregattenkapitän a. D. Ewald Tempel

Der Protokollverstoß

Stabsmatrose a. D. Günter Buschendorf —

Ein Abend in der Waldeslust

Stabsmatrose a. D. Günter Buschendorf

In Seenot auf dem Strelasund

Von Kapitän auf Großer Fahrt i. R. Gerd Stange

Endspurt an der Schwedenschanze

Kapitän auf Großer Fahrt i. R. Gerd Stange

Schatten voraus

Kapitän auf Großer Fahrt i. R. Gerd Stange

Vom „Kampfkern“ nach Hause

Leutnant (Ing.) a. D. Günter Haselow

Kollision auf Vorposten

Von Admiral a. D. Dr. Wilhelm Ehm †

Die Hauswerft der Volksmarine

Korvettenkapitän a. D. Helmut Dähnicke, Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr

R-Boote nach Sansibar

Vizeadmiral a. D. Hendrik Born

Als Alarmfahrer im Einsatz

Kapitän zur See a. D. Dr. Gerd-Erich Neumann

Den weißen Nächten entgegen Mit dem Schulschiff „Wilhelm Pieck“ nach Murmansk

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr, Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dr. Ingo Pfeiffer

Vizeadmiral H. Neukirchen 1915–1986. Ein deutsches Lebensbild an wechselnden Fronten

Konteradmiral Dr. jur. Friedrich Elchlepp †, Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Das China-Experiment

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr

Sporthochburg Volksmarine

Fregattenkapitän a. D. Jürgen Kahl

Unser Hobby: Automobil-Turnier-Sport

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr

Flugschicht

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dipl.-Päd. Hans Beyer

Der Maschinenleitstandstrainer der Volksmarine

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr

Hey, Göteborg

Fregattenkapitän a. D. Manfred Usczeck

Wie ich ein Kampfschwimmer wurde

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Flohr

Admiral Dr. phil. Wilhelm Ehm

Fregattenkapitän a. D. Peter Brand Kapitän auf Großer Fahrt.

Der letzte Auftrag

Fregattenkapitän (Ing.) a. D. Dieter Gelhaar

Was aus den Schiffen der Volksmarine wurde

Kapitänleutnant a. D. Knut Richter (Barcelona)

Besuch auf dem Zerstörer „Bayern“

Stabsbootsmann a. D. Dieter Ballwanz

Sorgen eines Versorgers

Fregattenkapitän a. D. Gerd Kleinschmidt

Der heimliche Übungspartner

Quellennachweis

Bildnachweis

Weitere Bücher zur Volksmarine und Seefahrt aus dem Steffen Verlag

Autor

Feierliche Indienststellung des Küstenschutzschiffes (Projekt 1159) „Berlin“ im Stützpunkt Hohe Düne (4. Flottille)

Vorwort des Herausgebers

Die beiden ersten Bände der Reihe „Im Dienst der Volksmarine“ haben ein vielfältiges Echo hervorgerufen. Leser in Ost, aber auch in West bekundeten ihr Interesse an weiteren Erlebnisschilderungen von Ehemaligen der Volksmarine und möchten darüber informiert werden, wie diese kleine deutsche Marine im Innersten funktionierte, wie ihre Angehörigen dachten und nicht zuletzt fühlten. Als Autor und Herausgeber freue ich mich sehr, in diesem Buch 46 interessante Beiträge, zum Teil mit Überraschungscharakter, vorlegen zu können. Mein Dank gilt den fleißigen Autoren und dem Steffen Verlag, der sich der dankenswerten Aufgabe verpflichtet fühlt, die Erinnerung an eine vom Kalten Krieg bestimmte Zeit wachzuhalten und auf das Thema Marine aufmerksam zu machen. Es ist auch für mich immer wieder verblüffend, wie detailliert sich die Autoren an ihren Marinedienst zurückerinnern können. Offenbar hat der Dienst an Bord mit all seinen Besonderheiten, der Enge beim Zusammenleben, der großen Verantwortung, die jeder Einzelne auf seiner Station zu tragen hatte und die für das Wohl und Wehe der gesamten Besatzung unverzichtbar war, tiefe Spuren für das spätere Leben hinterlassen. Nicht umsonst existieren heute noch, nach über 25 Jahren, viele Marinekameradschaften, Bordkameradschaften und Marine-Offizier-Messen, die den maritimen Gedanken pflegen und bemüht sind, diesen an die jüngeren Generationen weiterzureichen. So mag auch dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass auch in der gegenwärtigen Lage die maritime Sicherheit unserer Heimat gewährleitet wird.

Dieter Flohr im November 2014

Fregattenkapitän a. D. Dieter Flohr

Von den Anfängen

Berlin am 25. Juli 1950. Im Tiergarten endete eine Großkundgebung. Anlass war der III. Parteitag der SED. Überraschend forderte Wilhelm Pieck auf ihm die Bevölkerung der jungen DDR auf, angesichts erhöhter Kriegsgefahr nunmehr an der Seite der Sowjetunion zum Schutz des Friedens bereit zu sein. Etwa 5000 Uniformierte in den blauen Uniformen der VP-Bereitschaften marschierten danach am Abend durch die Trümmerstraßen Berlins. Die ein dichtes Spalier bildenden Menschen wurden dabei auf einige Marschblöcke aufmerksam, die gemessenen Schritts und in nagelneuen Uniformen vorüberdefilierten. „Mensch, Marine!“, hörte man erstaunte Rufe. Beifall brandete auf. Angeführt von sechs VP-Kommandeuren mit je vier goldenen Kolbenringen auf den Ärmeln marschierten – nur fünf Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg – wieder Blaue Jungs durch die zerstörte Millionenstadt. Sensationell. Offiziell gehörten sie der am 16. Juni 1950 vom Ministerrat beschlossenen und publik gemachten See-Polizei an. Zwischen den Politikeraussagen, „niemals wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen“ und diesem militärischen Aufmarsch musste politisch etwas Entscheidendes passiert sein. Und das war kurz gesagt: In Ostasien, speziell in Korea herrschte der heiße Krieg. In Berlin-West war durch die Einführung der Westmark und die Berlinblockade der Sowjetarmee ein Unruheherd entstanden. Und so wurden – trotz des Potsdamer Abkommens – wieder deutsche Soldaten durch die Siegermächte gebraucht. Und zwar in Ost, wie auch in West. Die Verbündeten der Antihitlerkoalition lagen längst im Streit. BRD und DDR waren entstanden. Europa litt unter dem Kalten Krieg. Stalin aber setzte energisch auf die militärische Karte. Streng geheim, versteht sich. So gibt es auch keine Dokumente über die ersten Schritte zu bewaffneten Kräften der DDR in den Archiven. Nur Wilhelm Pieck hatte sich Notizen gemacht. Sie besagen, dass die Ostzone schon 1948/1949 mehr als 50 000 Mann kasernierte Bereitschaftskräfte der Volkspolizei aufzustellen hatte. Denen sollten dann auch See- und Luftstreitkräfte folgen.

Am 28. Februar 1950 entstand die so genannte HA z.b.V. (See) bei der Hauptverwaltung Ausbildung (HVA) des Ministeriums des Innern in Berlin. Im Verwaltungsgebäude von Bergmann Borsig unter den Ersten: VP-Inspekteur Felix Scheffler, Handelsmatrose, Feldwebel, Partisan und Friedrich Elchlepp, ehemaliger Oberleutnant zur See der Kriegsmarine. Am 1. April 1950 wurden beide von der SMAD nach Karlshorst einbestellt.

Kapitän zur See Jurin der Sowjetmarine nannte die Aufgabe, die der ehemalige U-Bootfahrer Elchlepp später noch einmal als ein Protokoll in sein Arbeitsbuch schrieb. Das handschriftliche Dokument blieb erhalten. Es besagt, dass sofort mit der Marine-Ausbildung von Seeoffizieren, Unterführern und Mannschaften in Parow bei Stralsund zu beginnen sei.

Aufmarsch der Seepolizei am 1. Mai 1952 in Berlin (Marx-Engels-Platz)

Das Nahziel: Beginn des scharfen Minenräumens vor den Küsten Mecklenburgs durch deutsche Räumkräfte. Denn trotz des jahrelangen Suchens und Räumens von englischen und deutschen Minen durch die Sowjetmarine waren große Seegebiete noch immer von dieser heimtückischen Waffe verseucht. Zu werben, so Jurin, sei erfahrenes Personal, also in der Kriegsmarine „gediente“ Männer. Sie müssten aber der DDR zugetan sein. Es gälte, Dienstvorschriften, eine Dienstflagge, eine Werft, Häfen und Kasernen, ein Materiallager und vor allem eine Uniform zu schaffen, wie sie Marineleute in aller Welt tragen. Jurin versprach sechs alte deutsche Räumboote aus der sowjetischen Kriegsbeute und sagte, dass auf der Yachtwerft in Berlin-Köpenick bereits Patrouillenboote vom Typ „Seekutter“ (später KS-Boot) gebaut würden.

Am 29. Mai 1950 wurde dann schon in Parow eine erste Räumflottille aufgestellt und am 1. August 1950 wurde die Seepolizeischule gegründet.

Freiwillige Marine-Spezialisten folgten alsbald den Aufrufen in der Presse. Manche kamen direkt aus sowjetischer Gefangenschaft. Darunter waren rund 50 Marine-Offiziere, jedoch kein Admiral. Die Mehrzahl der Neueingestellten waren ehemalige Unteroffiziere der Kriegsmarine, denen sich nun große Aufstiegschancen in der Offizierslaufbahn boten. Sie bildeten später zum großen Teil den Kommandeursbestand der jungen DDR-Marine. Natürlich kam auch eine ganze Reihe von SED-Funktionären im Parteiauftrag. Sie wurden zumeist Politoffiziere, mussten sich aber erst mühsam in die maritime Fachwelt einarbeiten. Und es meldeten sich Hunderte begeisterte FDJler, die der Wunsch beseelte, zur See zu fahren, Seeoffiziere, Maate oder Matrosen auf Zeit zu werden. Ende September 1950 unterstanden dem Stab in Berlin und Generalinspekteur Waldemar Verner, dem ehemaligen 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Stralsund, bereits 2280 Mann (320 Offiziere, 302 Unteroffiziere, 410 Mannschaften, 1039 Kursanten und 209 zivile Mitarbeiter). Vorhanden waren nun auch sechs – allerdings werftreife – Räumboote, die ersten Seekutter (KS-Boote), einige im Krieg versenkte und wieder gehobene Kriegsschiffe, die Kasernen in Parow, das Gelände der Zementfabrik in Wolgast und eine Reihe beschlagnahmter Hotels auf Usedom bzw. in Kühlungsborn. Um weitere Liegenschaften wie Sassnitz, Stralsund-Schwedenschanze, Kühlungsborn, Peenemünde, Tarnewitz und Warnemünde Hohe Düne begannen Verhandlungen. Es griff das Prinzip: Alle ehemaligen Objekte des Reichsfiskus, soweit sie nicht von der Sowjetarmee beansprucht wurden, mussten freigeräumt und den bewaffneten Kräften übergeben werden.

Heinz Hoffmann und Waldemar Verner auf der Tribüne des III. Parteitages der SED 1950

Von polizeilichen Aufgaben war bei den Gesprächen in Karlshorst allerdings niemals die Rede. Den endgültigen Klartext gab es dann nach Ablehnung des Friedensvertrags-Vorschlages Stalins durch Konrad Adenauer. Stalin ließ am 7. April 1952 Wilhelm Pieck in das Notizbuch schreiben, was nun kommen müsse: „Militärische Ausbildung für Infanterie, Aviation, Marine, Unterseeboote.“ Das war faktisch die Aufgabenstellung für die nach der II. Parteikonferenz der SED neu zu formierende Kasernierte Volkspolizei (KVP/VP-Luft/VP-See).

Die KVP-Führung wurde unverzüglich am 19. April in die neue Aufgabe eingewiesen. Am 9. Juni 1952 erschien dann auch die „Verordnung über weitere Maßnahmen zum Schutz der DDR“. So hieß ab 1. Juli 1952 die kleine DDR-Marine „Volkspolizei-See“. Am 17. Juni 1952 wurden dann auch acht KS-Boote von der VP-See an die Deutsche Grenzpolizei übergeben. Die Besatzungen unterstanden damit dem DDR-Innenministerium und dem Ministerium für Staatssicherheit. Die nachfolgende II. Parteikonferenz der SED, die vom 9.– 12. Juli 1952 in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle tagte, setzte dann neben dem Aufbau der Grundlagen des Sozialismus auch als Fernziel die Schaffung Nationaler Streitkräfte. Eine Werbeaktion der VP-See brachte im September auf Anhieb mehr als 1200 Freiwillige. Die Ausbildung von Offizieren, Maaten und Matrosenspezialisten in allen Laufbahnen lief trotz der Geschehnisse am 17. Juni 1953 und reduzierter Schiffbaupläne im großen Maßstab in Stralsund an. Im Jahr 1954 waren z. B. allein 1488 Kursanten in der Offiziersausbildung. Die Personalstärke der Marine stieg bis 1955 auf 9990 Mann an.

Kapitän auf Großer Fahrt i. R. Gerd Stange

Ich werde Blauer Kommissar

Es muss Ende März oder Anfang April 1952 gewesen sein, ich glaube an einem Donnerstag, und ich habe vergessen, warum ich an jenem Tag nicht zur Arbeit war. Mein Vater hatte mich gezwungen, einen Aufnahmeantrag für die ABF (Arbeiter- und Bauernfakultät) auszufüllen. Da ich mit elf Jahren in Sondershausen die Penne bestreikt hatte, sollte ich wenigstens jetzt, nach der Lehre, das Abitur nachholen, um zu studieren. Ich wusste nur nicht was. Und mein Vater konnte mir kein Studienziel zeigen. Wir Jungen sollten studieren, um es einmal besser machen zu können als sie, die alten Kader, die das Regieren und Wirtschaften ja nicht gelernt hatten. Als wir dann später studiert hatten, kriegten wir von denen, die es besser machen wollten, wieder etwas hinter die Ohren und hörten den Vorwurf, die Position des Klassenfeindes zu vertreten. Sie gaben ihre Macht nicht an uns Jüngere ab und verharrten in ihrer festgefahrenen Klassenideologie. Sie förderten die, die ihnen zum Munde redeten oder zu allem „ja“ sagten.

Ich war jedenfalls den ganzen Tag mit dem Antrag in der Tasche herumgeradelt, ohne mich entschlossen zu haben, ihn abzugeben. Besorgt fuhr ich schließlich wieder nach Hause, schon die Tiraden des Alten in den Ohren, wenn er das erführe.

Zwei Häuser weiter in Oberweimar wohnte die Rosel M., zu der ich ein gutes, freundschaftliches Verhältnis hatte. Ihr Mann Herbert arbeitete, glaube ich, in Suhl als FDJ-Natschalnik und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Dieser hatte einen Bruder in meinem Alter, der sich als „Assi“ ohne Arbeit und Wohnsitz in der „Weltgeschichte“ herumtrieb. Rosel lauerte mir öfters auf, wenn ich von der Arbeit kam. Heute hielt sie mich an: „Gerd, weißt du schon das Neuste? Mein Schwager hat sich zur Polizei gemeldet. Zur Seepolizei will der.“ Es lief damals eine große Werbekampagne für die Kasernierte Volkspolizei und auch mich hatte man schon mal angesprochen. Aber da war ich noch in der Lehre. „Quatsch, kann nicht sein, der ist doch noch ein halbes Jahr jünger als ich, den nehmen sie doch noch gar nicht.“ Ich war erst siebzehneinhalb. „Doch die haben ihn genommen. Ich wollt’ es ja auch nicht glauben, aber es stimmt.“ „Und wo hat der sich gemeldet?“ „Bei der Kreisleitung der Partei, die haben da so eine Meldestelle.“ „Wenn die den nehmen, müssen sie mich auch nehmen!“ Ich drehte mein Rad herum und jagte in die Stadt zurück. Diesen Schwager habe ich allerdings bei der Polizei nicht angetroffen. Vermutlich ist er nach Westberlin gegangen.

Zehn Minuten vor Feierabend betrat ich die entsprechende Meldestelle in der SED-Kreisleitung. Zwei Genossen saßen da und schoben mir auch gleich ein Antragsformular hin. „Sag mal, wie alt bist du eigentlich“, fiel es einem ein, zu fragen. „17“, antwortete ich resignierend. „Bist du Stange Hermann sein Sohn“, fragte der andere und ich nickte. „Na, der kann je nix dagegen haben“, kommentierte er dann und lachte. Mein Vater war nämlich ein Jahr zuvor noch sein Chef gewesen. Ich atmete erleichtert auf und schrieb oben rechts in die Ecke ganz dick mit Rotstift: „HVS“ (Hauptverwaltung Seepolizei) und unterstrich das noch einmal. Damit waren für mich die Würfel gefallen und ich fühlte mich schon ein ganz kleines Stück meinem eigentlichen Ziel näher und war erleichtert. Zum dritten Mal hatte ich mich jetzt in meinem jungen Leben mit meiner selbständigen Entscheidung gegen die Absichten meiner Eltern durchgesetzt und mit dieser so gut wie vom Elternhaus abgenabelt.

Am 3. April 1952 rückte ich mit meiner blauen Aktentasche aus Pappe, mit der ich zuvor zwei Jahre zur Arbeit bei Malermeister Willy Eismann in Weimar gegangen war, in Erfurt in die Kaserne „auf der Henne“ ein. Ich wurde jetzt ein „Blauer Kommissar“ (in Anspielung auf unsere blaue Polizei-Uniform und die durchgehend blauen Schulterstücken ohne Dienstgrad). Offiziell hieß das „Polizei-Anwärter in der HVA“, der Hauptverwaltung Ausbildung.

Wir hatten damals auf der „Henne“ sogar schon ein oder zwei Übungspanzer vom Typ T 34 sowie auch Pak-Geschütze. Wenn damit auf dem Drosselberg oder anderswo geübt werden sollte, schlüpfte die Bedienung außerhalb des Objekts in sowjetische Uniformen. Offiziell verfügten wir ja über solche Waffen noch gar nicht wieder. Unter uns „Neueinstellungen“ war auch ein etwas älterer Panzerfahrer aus der Wehrmacht, der darauf brannte, wieder einen Panzer besteigen und fahren zu können. Ein dreiviertel Jahr später traf ich ihn noch einmal in Weimar auf dem Bahnhof, da hatte er schon einen Dienstgrad und fuhr angeblich schon wieder einen Kommandeurspanzer. Unser Dienst sah zunächst so aus, dass wir marschieren lernten, um am 1. Mai in Erfurt eine eindrucksvolle Parade hinlegen zu können. Die sollte sicher unsere Gegner einschüchtern und unseren führenden Genossen Mut machen. Das sahen wir ja auch noch ein. Als wir aber nach der Parade noch weitere sechs Wochen keinen Ausgang erhalten sollten, streikten wir eines Abends. Wir zogen geschlossen unsere Uniformen aus, zivil wieder an und schickten uns an, das Objekt zu verlassen. Man holte den Dienststellenleiter, der bis über Mitternacht mit uns diskutierte und uns bis auf 20 Mann überredete, doch da zu bleiben. Wir alle waren freiwillig gekommen und bisher noch nicht verpflichtet worden. Es war ja auch eine ganze Reihe „Ungelernter“ darunter. 1950 konnte auch der Arbeiter- und Bauernstaat noch nicht jedem eine Lehrstelle geben. Wir anderen bekamen hier immerhin mit 333,– Mark mehr Gehalt, als wir „draußen auf der Kläche“ verdienten. Außerdem würden sechs Wochen auch vergehen und ich durfte mein Ziel nicht aus den Augen lassen. Kurz darauf wurden wir auf drei Jahre verpflichtet und zogen in blauen Arbeitsanzügen mit dem Karabiner 98 auf den Drosselberg zur Infanterieausbildung.

Gerd Stange noch als Blauer Kommissar der Volkspolizei-Bereitschaft

Die offizielle Anrede war zur Zeit unserer Einstellung noch „Herr“ und es wurden Witze darüber gerissen: „Wo es Herren gibt, da gibt’s auch Knechte.“ Bald wurde die Anrede in „Kamerad“ geändert. Noch trugen alle ausnahmslos Polizeidienstgrade wie Wachtmeister, Kommissar, Rat, Inspekteur usw.

Eines Tages wurde ich zum ersten Mal „kommissioniert“. Das verlief auf der „Henne“ noch ziemlich leger und kameradschaftlich. Ich durfte vor einem Schreibtisch platznehmen. Ich weiß nicht mehr, ob ein weiterer Offizier dabei anwesend war. Mit mir verhandeln wollte aber nur der eine.

„Genosse Stange“, redete er mich an. Ich war schließlich schon Kandidat der Partei und so fiel mir das noch nicht weiter auf. „Sie haben sich zur Seepolizei beworben.“ Ich nickte „Dafür haben wir hier 300 Bewerbungen vorliegen. Sie werden verstehen, dass wir hier auch noch Leute brauchen und daher diese Wünsche nicht alle berücksichtigen können. Wie wäre es, wenn wir ihnen eine andere interessante Ausbildung und Tätigkeit anbieten? Würden sie dann bei uns bleiben?“ Es kam das Angebot einer Offiziersausbildung. In Erfurt wurden auf dem Petersberg angeblich Verwaltungsoffiziere ausgebildet. „Wenn ihr dahin geht, kommt ihr nie wieder von der Fahne weg“, hatten die Buschtrommeln schon gewarnt. „Unsere neu aufzubauende HVX braucht Kader. Sie werden sicher schon davon gehört haben, dass es sich dabei um die Fliegerei handelt. Vorläufig darf das allerdings noch nicht publik werden – sie verstehen?!“ Sicher war gerade letztes Angebot für technisch interessierte Jungen meines Alters sehr reizvoll. Die Technik lag mir aber nicht so besonders, obwohl ich in Physik besser war als in Mathematik. Meine Zukunft sah ich auf dem Meer. Ich wollte fremde Länder kennenlernen. Dazu bot in der damaligen Zeit noch einzig die Seefahrt Gelegenheit. Es war auch noch nicht absehbar, ob und wann wir überhaupt mal wieder internationale Gleichberechtigung erlangen würden. Und ich blieb standhaft.

Etwa 14 Tage später bekam ich dann den Befehl, meine BA-Ausrüstung abzugeben und mich in Zivil zum Transport zu melden. Nun hatte ich aber meine Zivilsachen schon mit nach Hause genommen. Weimar war zwar nicht weit, aber es stand mir keine Zeit mehr zur Verfügung, hin und wieder zurückzukommen. Wir fuhren noch keine eigenen Pkws und waren auf die Fahrpläne der Reichsbahn angewiesen. Mein Bettnachbar borgte mir seinen Anzug, der mir allerdings eine Nummer zu groß war. Er kam später nach Kamenz zur Luftwaffe.

Mit 60 Mann wurden wir auf Sammelfahrschein mit der Bahn nach Kühlungsborn in Marsch gesetzt.

Als „See-Molli“ in Kühlungsborn

„Gott schuf in seinem Zorn die Schiffsstammabteilung Kühlungsborn“, stand zwar nicht in Lettern über unserem Lagertor, wurde aber bald zur geflügelten Losung. Darin lag schon ausgedrückt, dass hier ein anderer Wind wehte als auf der „Henne“. Rechts hinter dem Eingang das Stabsgebäude, links gegenüber die Wache mit dem „Knast“ ein kleiner Appellplatz, ein Wirtschaftsgebäude mit Küche und Speisesaal. Es gab auch ein Krankenrevier, Kleider- und Waffenkammer. Unterkünfte waren nicht vorhanden. Man führte uns in die Dünen. Ich sah zum ersten Mal die Ostsee, damals für mich schon das Meer. Hatte ich Deutschland schon von Köln bis Köslin und von dort bis Konstanz durchmessen, meine Mutter war mit mir übers Schwabenmeer nach Bregenz gefahren, das Meer von dem ich träumte, aber hatte ich noch nie gesehen. Ich fühlte mich beinahe schon am Ziel, fehlte nur noch ein „Kahn“ unter den Füßen. Beglückt sog ich die salzige Seeluft ein und lauschte auf das Rauschen der Wellen, die sich am Strand hinter den Dünen brachen. Ein Unterkommissar Braun stellte sich als unser neuer Kompaniechef vor. Wir sollten die ganze Grundausbildung noch einmal absolvieren. Prost Mahlzeit! Wir bildeten zusammen mit einer Gruppe, die aus einer anderen Gegend ebenfalls mit dem „Molli“ (Kleinbahn Bad Doberan nach Kühlungsborn, der Herausgeber) angereist war, die zweite Kompanie. Eine erste Kompanie lagerte schon in drei Zelten hinter dem Deich. Zugstärke betrug hier 40 Mann, auf der „Henne“ waren wir nur 30 gewesen. Als Zugführer wurde uns ein Oberwachtmeister Stubbe vorgestellt. Ein stets geschniegelter, schlanker blonder Typ. Die anderen Zugführer waren lediglich ein paar Wochen früher eingestellt worden und hatten genau wie wir noch keinen Dienstgrad. Die hatten es natürlich mit uns schwer, fühlten wir uns doch auch nicht mehr ganz neu. „Langsam, du bist auch nicht mehr wie wir, wir haben das auch schon alle einmal durch.“ Stubbe musterte uns Hänflinge mit seinen wasserklaren blauen Augen. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, wippte er ein paarmal auf seinen Fußsohlen, bevor er den Nacken hob und dabei seine keck auf dem linken Ohr sitzende Bändermütze von hinten weiter in die Stirn schob: „Also Männer, wenn ihr die Nacht nicht hier im Freien kampieren wollt, dann mal ran und das Zelt aufgebaut, ein bisschen zackig, wenn ich bitten darf.“ Matratzen waren auf dem Sandboden schon für uns ausgelegt. Die 1. Kompanie hatte schon alles soweit für uns vorbereitet. Am nächsten Tag sollten auch wir für die nachfolgende 3. Kompanie die Zelte vorbereiten und aufbauen. Die ersten drei Kompanien waren die einzigen, die von der KVP überstellt worden waren, die nachfolgenden waren schon Direkteinstellungen. Jemand machte denn auch eine Bemerkung bezüglich unseres Anzugs. Stubbe schielte uns zuerst von unten an, hob dann seine Mütze und schwenkte sie über dem Kopf, den er dabei wieder in den Nacken warf, sodass die Mützenbänder auswehten. Er kontrollierte ihren Sitz, indem er die Linie Nase-Kokarde mit dem Zeigefinger bildete. Die Arme wieder auf dem Rücken kam er näher auf uns zu und schritt noch einmal die Front ab. Dabei erläuterte er uns: „Ja also, Klamotten gibt’s noch nicht. Weil – es sind keine da!“

Gerd Stange als Matrose der Seepolizei

Nachdem er sich ein wenig an unseren verdatterten Gesichtern geweidet hatte, fuhr er fort: „Es ist eine neue Uniformordnung herausgekommen, nur die Uniformen sind noch nicht da. Sollen aber jeden Tag eintreffen. Solange müsst ihr schon mal so durchhalten.“ Bis dahin trug die Seepolizei khakifarbene Bordpäckchen und dazu schwarze Barette. Sie sahen eher aus wie britische Parachutes. Jetzt sollte es wieder traditionelle „Kieler-Knabentracht“ geben. Stubbe war angeblich von Bremen aus auf einem Klütenewer gefahren. Davon spann er uns später immer gerne etwas vor. Wie und warum er herübergekommen war, haben wir nicht herausgekriegt. Interessierte uns damals auch noch nicht so sehr. Wenn wir seinem Seemannsgarn ehrfürchtig lauschten, fühlte er sich in seinem Element. Er kommandierte gerne und laut im Barras-Jargon, war aber ansonsten sehr kameradschaftlich. Am nächsten Morgen wie auch die nächsten Wochen mussten wir uns mit Ostseewasser im Freien die Zähne putzen und waschen. Über einen Feuerlöschschlauch wurde das Wasser aus der See in eine hölzerne Rinne gepumpt. Eine Trinkwasserleitung gab es für uns noch nicht. Allerdings war die Ostsee damals noch nicht so verschmutzt wie 30 Jahre später. Dixi-Klos kannte man damals auch noch nicht, so mussten wir über einen „Donnerbalken“ in die Grube kacken. Ungefähr nach einer Woche wurden wir eingekleidet. Am nächsten Morgen zur Arbeitsverteilung standen wir auf dem Deich hinter unseren Zelten in neuen blauen Bordpäckchen angetreten. Plötzlich wurde mir aus heiterem Himmel schwarz vor den Augen und ich kippte mitsamt meiner Schaufel aus dem Glied, vornüber dem Stubbe vor die Füße. Kurz vor dem Krankenrevier kam ich wieder zu mir. Vier Mann schleppten mich an Armen und Beinen dorthin. Ich fühlte mich sofort wieder völlig normal und bedeutete meinen Kameraden: „Lasst mich los, ich bin schon wieder ganz da.“ „Nix da, wir haben Befehl, dich im Revier abzuliefern, also bringen wir dich dahin!“ Es schien ihnen offensichtlich Spaß zu machen. „Hier Schwester bringen wir einen, der ist umgekippt.“

Es kam auch gleich ein Arzt, der mich abhorchte und Blutdruck maß. Er konnte aber nichts feststellen und zuckte nur mit den Schultern. Da auch mir nichts weiter zu fehlen schien, bat ich, mich wieder laufen zu lassen. EKG und so war damals noch nicht.

Der Sommer war lang und heiß. Wir schleppten wieder mit dem K98 rum. Die Umrüstung erfolgte erst wesentlich später bei der VP-See. Für 9 Kompanien, also über tausend Mann, waren die Übungsplätze meistens knapp. Musste doch auch Unterricht, Waffenkunde und Politunterricht im Freien abgehalten werden. Eine unserer Nachbarkompanien sahen wir manchmal am Strand auf Knien rumrutschen, dabei den Karabiner auf ausgestreckten Armen vor sich haltend. Dort regierte Hauptwachtmeister Schönrock. Er selbst machte das alles vor und mit, sich hin und wieder umblickend, feuerte er seine Truppe an: „Höher die Flinten, waagerecht hab’ ich gesagt, ihr Schlappschwänze. Der Feind lacht sich ja kaputt, wenn er euch traurige Gestalten sieht – Meier, Lehmann. nicht zurückbleiben, vorwärts!“ Die 1. Kompanie führte der rotblonde, kugelrunde Oberkommissar Müller. Er überschrie sich immer mit seiner Stimme, wenn er kommandierte: „Kompaniiiiii – stistah! Daaaas Gwäh üh!“ Für uns war das ein lustiges Schauspiel. So gesehen hatten wir mit unseren Vorgesetzten ein gutes Los gezogen.

Eines Nachts gab es Alarm! Die Küche brannte. Als wir hinkamen, war aber schon alles vorbei. Unser Dienststellenleiter, der dicke Oberrat Gerber, rannte in total bespritzter Uniform herum. Mit einem CO2-Schneelöscher hatte er das Feuer gelöscht. Nach späteren Erkenntnissen könnte er es auch selbst gelegt haben. Jedenfalls war der Löschschaden größer als der Brandschaden.

Zwei Wochen später scheuchte er uns erneut nachts raus. Wir sollten einen „Agenten“ fangen! Wir haben natürlich keinen gesehen. Wir wussten ja nicht, dass er das selbst war. Danach hielt er uns eine Rede über das verbrecherische Wesen des westdeutschen Revanchismus, dass selbst die überzeugtesten Kommunisten beeindruckt gewesen sein mussten. Ein halbes oder dreiviertel Jahr später, als sich der inzwischen „Genosse Oberst Gerber“ mit Kriegskasse und Akten nach Westberlin abgesetzt hatte, erfuhren wir, dass er in die Rolle eines umgekommenen KZ-Häftlings geschlüpft sei. Er sollte es sogar verstanden haben, das persönliche Vertrauen unseres „Vize“ Waldemar Verner zu erwerben.

Der Speisesaal im Wirtschaftsgebäude war natürlich viel zu klein für uns alle und daher nur den Offizieren und Dienstgraden vorbehalten. Für uns hatten wir Essenzelte errichten müssen. Wie schon erwähnt, lagen unsere Matratzen unmittelbar auf dem Sandboden. Der Sommer war trocken und heiß, unsere Stiefel wühlten den feinen Sandstaub auf, der beständig wie eine Dunstwolke über dem Lager schwebte. Der Wind tat gelegentlich sein Übriges dazu. Der lästige Sand quälte uns überall, in den Haaren, zwischen den Zähnen und vor allem in den Stiefeln. Wir trugen noch Fußlappen darin. In Strümpfen wäre es uns wahrscheinlich noch schlechter ergangen. Dazu das Waschen mit dem Salzwasser. Ständig Salzgeschmack im trockenen Mund. Salz auf der Haut. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, groß wund geworden zu sein. Wie man eigentlich die Getränkefrage gelöst hatte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

Eines Tages kreuzte Generalinspekteur Waldemar Verner mit seinem Gefolge unseren Weg. Stubbe, der uns führte, befahl: „Aaachtung – Augen links!“ So wollte er im Exschritt mit uns an ihm vorbei und ihm Meldung machen. Verner deutete ihm an, halten zu lassen. Ich marschierte Linksaußen und „Hans Albers“ (sein Spitzname) kam ausgerechnet auf mich zu und befühlte den Stoff meines blauen Bordpäckchens. Mir trat schon der Angstschweiß auf die Stirn, hatte ich doch, entgegen der Dienstordnung, wie die meisten Kameraden auch kein Unterhemd darunter. Es interessierte ihn aber zum Glück nur die Qualität des neuen Uniformstoffs und er äußerte sich zufrieden damit. Tatsächlich waren die blauen Päckchen strapazierfähig, dafür waren die weißen umso schäbiger. Unser späterer Vizeadmiral war der Bruder des Politbüromitglieds Paul Verner, der durch alle Kursschwankungen zur engsten Parteiführungsspitze gehörte. Waldemar hatte seine Karriere in Stralsund als 1. Sekretär der SED-Kreisleitung begonnen. Von dort hing ihm auch sein Spitzname an. Damit war wohl ausgedrückt worden, dass er mehr ein Schauspieler denn Fachmann war. Arrogant und überheblich. Ob er überhaupt eine militärische oder maritime Ausbildung oder Erfahrung besaß, zweifle ich an. Mit der Bildung und Führung der HVS war er wohl mehr durch seine persönlichen und politischen Beziehungen beauftragt worden. Immerhin hat er sich noch lange als Chef der Seestreitkräfte gehalten. Danach wurde er dann Chef der Politischen Hauptverwaltung der ganzen NVA. Immerhin einer der wenigen Führungskader, die sich altersgerecht pensionieren ließen oder pensioniert wurden. Auch die Signalstelle beim Leuchtturm auf dem Bug war in unsere Dienststelle einbezogen. Dort regierte ein Oberwachtmeister zwei oder drei Signäler. Zu signalisieren hatten sie freilich wenig, denn es kam ja kaum mal eines der drei oder vier kleinen KS-Boote vorbei. Die verbreiteten mit ihren Jumos einen höllischen Krach und waren damit eher zu hören als zu sehen. So übte unser Oberwachtmeister mit seinen Untergebenen öfter am Strand oder zwischen den Dünen das „Feudelschwingen“, wie wir schon das Handflaggen-Signalisieren nannten. Einmal hatte er, im Suff natürlich, den dicken Dienststellen-Polit. Rat Helmig verprügelt. Das hatte ihm ein paar Tage Arrest eingebracht. War natürlich im Objekt gleich rum und alles grinste schadenfroh, wenn der PO vorbei kam. Kompanie-PO’s hatten wir in Kühlungsborn noch nicht. Ich dachte mir, dass ich das „Feudelschwingen“ schon lernen würde und nahm mir vor, bei der nächsten Kommissionierung die Laufbahn eines Signälers anzugeben. Übrigens wurde auch gesungen. Das Liedgut umfasste sowohl „Spaniens Himmel“ als auch überkommene Gesänge aus der Kriegsmarine, die auch von uns damals noch gepflegt wurden.

Ob Sturm uns bedrohte von Norden,

Ob Heimweh im Herzen uns brennt,

Wir sind Kameraden geworden.

Auch wenn es zur Hölle auf geht.

Matrosen die wissen zu sterben,

Für sie ist das Leben nur ein Spiel.

Sie kämpfen mit Tod und Verderben,

Die Wellen, die singen uns ihr Lied.

Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen,

Auf einem Seemannsgrab, da blüht kein Blümelein,

Der einz’ge Schmuck für uns, das sind die weißen Möwen,

und heiße Tränen, die ein kleines Mädel weint.

In Parow bei Stralsund

In Parow bekamen wir als erstes zu hören, dass die in Kühlungsborn mit unserer Kommissionierung „große Scheiße gemacht“ hätten und deshalb alles ordentlich wiederholt werden müsse. Wir waren das erste Großaufgebot, das die Seepolizei eingestellt hatte. So zog sich das wohl über drei Wochen hin. In dieser Zeit wurde unser neu zusammengewürfelter Haufen nur mit ein wenig „Beschäftigungstheorie“ versorgt. Jeder Krämer suchte sich aus uns nun seine „Ware“ aus. Im großen Kinosaal mussten wir z. B. zusammenkommen, damit der ASK sich aus unseren Reihen künftige Weltmeister im Rudern und in anderen medaillenintensiven Sportarten anwerben konnte. Der Horst Florian ließ sich von den Aussichten begeistern und wollte auch mich überreden. Bei meiner kaum ausgeprägten „Sportbegeisterung“ war das natürlich aussichtslos. Er haute später noch vor dem Mauerbau nach dem Westen ab und landete schließlich mit kaputten Knochen als Elektriker auf einem norwegischen Dampfer. In Calcutta besuchte er mich 1969 noch einmal auf der „Bernburg“.

Landgang in Parow

Eines Tages war auch ich unter den Buchstaben „St“ an der Reihe. Ich durfte noch einmal hinausgehen und mich dann „ordnungsgemäß melden – wie es sich gehört“. Dann musste ich drei Schritte vor einer langen, mit weißen Tischdecken dekorierten Back „Aufstellung nehmen“. Hinter der Back saß ein halbes Dutzend Offiziere mit gewichtigen Minen und Stapeln von Papieren vor sich. Psychologisch sehr beeindruckend. Ich kam mir zum ersten Mal wie vor einem Strafgericht vor. „Sie sind Gerd Stange?“ „Jawohl, Kamerad Rat!“ So hatte man mich dies schon gelehrt. „Welche Laufbahn möchten Sie einschlagen?“ „Am liebsten Signäler, wenn das nicht möglich ist, seemännisch mit Artillerie.“ „Gehen Sie mal an die Tafel und schreiben Sie: ‚das Okkupations- und Militärregime in Westdeutschland’. Ich schrieb also „das Okkupations- und Militärreg…“ „Danke, das genügt“, wurde dieser Test abgebrochen. Ich bekam dann noch eine kleine Bruchrechenaufgabe an der Tafel in der Preislage: 13/7 mal 9/8. Natürlich ohne Rechenschieber oder gar Taschenrechner. Dann wurde ich zu einer großen Weltkarte beordert. „Zeigen Sie uns, wo Norden ist, wo liegt Osten? Wo Süden? Wo liegt Moskau? Paris? Rom? Der Nordpol?“ Ich dachte, was soll der Quatsch? Wollen die dich hier verarschen? Glaube sogar, eine Frage aus der Biographie Stalins wurde noch gestellt. Stand sie doch damals in den Lehrplänen. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn, dass jemand diesen kleinen Intelligenztest nicht bestehen könnte. Die Fragen schienen mir einfach zu simpel und ich bedachte nicht, dass ja viele von uns durch die Kriegswirren nicht einmal die 7. Klasse absolviert hatten. Oder lediglich mecklenburgische Dorfschulen, wie ich sie in meiner Kindheit auch erlebt hatte. Zu der Zeit schien ja die Welt auch noch stillzustehen. „Wie wäre es mit einer Ausbildung zum Nautischen Offizier?“ „Das ist mir zu viel Mathematik, das schaffe ich nicht, ich möchte dabei bleiben: seemännisch mit Artillerie.“ War ich doch nicht vor der ABF ausgerissen, um jetzt hier zu studieren. Ich dachte eben noch wie ein Arbeiter. Vor allem sollte mir die Ausbildung hier doch nur ein Sprungbrett sein und kein Dauerjob. „Mensch, wenn Ihr Vater Sie hören würde, der würde Ihnen sicher ein paar in die Fresse hauen“, meldete sich vom linken Ende eine Stimme. Sie gehörte zu einem jungen, äußerlich etwas einfältigen Gesicht mit Kommissars-Epauletten. Das merkte ich mir erst einmal und erfuhr hinterher, dass es sich um unseren „Flotten- oder Stasi-Willi“ handelte, dem MFS-Vertreter in unserem Objekt. Der wortführende Rat entließ mich mit der Bemerkung: „Wir wissen schon, was wir mit Ihnen machen, Sie können abtreten.“ Verdattert kam ich nun raus und konnte nur mit den Schultern zucken, als mich die Kumpels fragten, wozu ich nun kommissioniert sei. Endlich waren alle durch und wir traten mit unseren gepackten Seesäcken auf dem großen Appellplatz an. Neue Kompanien wurden laufbahnmäßig zusammengestellt und jeder namentlich dahin aufgerufen. Ich durfte mich wieder in einen zweiten Zug einreihen und ein Spieß, ein Polizei-Meister, führte uns zu einer der Kasernen, unserer künftigen Unterkunft. (32 Jahre später rückte dann auch mein Sohn Michael in diese gleiche Kaserne ein.) Eine Schreiberseele kam mit einem Schuhkarton voller Schulterstücken heraus, die er an uns verteilte. Darauf prangte ein großes metallenes A. Jetzt wusste ich, dass ich Offiziersanwärter geworden war. Na, dachte ich mir, das schaffst du nicht und dann werden sie schon sehen, was sie an dir haben. Die drei Jahre kriegst du schon irgendwie rum. Nun „was play finish, lesson began“. Soviel hatte ich von Missis von Brettschneiders Englischunterricht in Sondershausen noch behalten, dass ich den Text auch umkehren konnte. Der theoretische Unterricht wurde in den U-Baracken am Hafen abgehalten. Ich merkte bald, dass die anderen auch nicht klüger waren als ich. Es waren zwar auch ein oder zwei Pennäler mit Abitur darunter, die hatten uns aber bald auch nicht mehr viel voraus. Trotzdem war ich weit davon entfernt, von Ehrgeiz gepackt zu werden. Im Schnitt repräsentierten wir schon die „Arbeiterklasse“, wenn auch ein Popensohn und ein paar andere „bunte Vögel“ darunter waren. Es war ein schöner Sommer und Frühherbst. Seemannschaft lernten wir im Freien am Hafen bei einem Kommissar Kind, einem älteren Seemann. Hätte ich damals schon Ehm Welks Geschichten über Gottlieb Grambauer gelesen, hätten mir Kinds Schuhe sicher schon mehr über ihn erzählt. Jedenfalls zogen die damals schon meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hätten eher zu einem Bauern, denn zu einem Offizier gepasst. Der ganze Mann passte nicht so recht in eine Offiziersuniform. Bei ihm also lernten wir unsere Knoten und Stege. Darüber hinaus das Kutterpullen. Es standen ein paar 10-Riemen-Kutter (K-10) zur Verfügung. Da für unsere Zugstärke von 40 Mann ein oder zwei Kutter nicht ausreichten, mussten wir mehrere besetzen. Dabei konnte Kind nicht jedem die Pinne führen, daher kommandierte er uns vom Pier aus: „Klar bei Riemen, Riemen bei, rudert an nach Tempo – Tempo 1-1-1- …“ Wir holten uns allerhand Blasen an den Händen und wurden nie reif für einen richtigen „Kutter Race“. Wenn das nicht so klappte, brüllte er u. a.: „Reckt eure Kadaverchen, das sieht ja aus wie ein Tausendfüßler!“ Ohne Fleiß eben kein Preis. An unseren damaligen Dienststellenleiter kann ich mich nicht mehr erinnern. Schiss hatten wir vor dem Einsatzleiter Kommissar Lüdemann, dem „Löwen von Parow“, wie er genannt wurde. Ihm ging man am besten aus dem Wege. Der Flugplatz, die Hangars und Landebahnen des alten Seefliegerhorsts waren von den Russen gesprengt worden und lagen derzeit außerhalb unseres Objektes. Trotzdem wurden sie von uns mit bewacht, da unsere Munitionsbunker auch dort lagen. Eines Tages wurde ein U-Boot-Wrack am Hafen vorbei zur Volkswerft geschleppt. Es handelte sich um ein selbst versenktes VII C-Boot, das vor der Küste gehoben worden war. Es sollte dort wieder instand gesetzt und Ausbildungsschiff für unsere neue geplante U-Boot-Schule in Sassnitz-Dwasiden werden. Im Sommer 1952 wollten wir also auch wieder mit U-Booten westwärts. Das wurde uns dann aber nach dem 17. Juni 1953 wieder vermasselt. An neue Seefliegerstaffeln dachten wir damals aber noch nicht wieder.

Auf dem Sund wurde noch fleißig Aal gestochen, an Land geräuchert und in Kiosken verkauft, wie später nur noch die Bockwürste. 1952 war er noch kein „Dreifarbenfisch“. Keiner dachte daran, wie bald sich alles ändern kann. Es gab noch Lebensmittelkarten und im Objekt bekamen wir Essenmarken. Die waren wohl nummeriert von 1 bis 31 und mit Früh, Mittag und Abend gekennzeichnet, aber der Monat und das Jahr standen nicht darauf. Zwar wechselte monatlich die Farbe der Marken, doch die Farben waren begrenzt und so kam die gleiche Farbe nach 3 oder 4 Monaten wieder dran. Sie waren auch in allen Standorten gleich. Wenn wir Küchendienst hatten, griffen wir flugs mal in die Schüssel mit den eingelösten Marken und verwahrten sie, bis die gleiche Farbe wiederkehrte. An den entsprechenden Tagen gaben wir sie unseren Backschaftern wieder mit. So hatten wir manchmal bis zu sechs Bockwürste auf unserem Teller. Getauscht wurde damit natürlich auch. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass uns einmal die Leviten gelesen worden waren, weil die eingelösten Essenmarken nicht mit der täglichen Stärkemeldung übereingestimmt hatte.

Einer war krank geworden. Ich weiß nicht mehr woran er litt. Man befürchtete den Ausbruch einer Epidemie und verhängte eine Quarantäne über unsere Kompanie. Wir durften die Kaserne 14 Tage nicht verlassen. In der Schreibstube sprühte man uns mit einer Spritzpistole irgendeine desinfizierende Lösung in den Rachen. Wir gammelten mit ein bisschen Politunterricht und Waffenkunde, die uns unsere miteingesperrten Offiziere gaben, dahin.

Kapitän zur See (Ing.) a. D. Richard Lösche

Als Offiziersschüler in Parow und Kühlungsborn

Nach langer Fahrt und im weiten Bogen um Berlin trafen wir Offiziersbewerber endlich mit der Reichsbahn in Parow bei Stralsund ein. Es gab noch etwas zu Essen, dann fielen wir todmüde in die uns zugewiesenen schmalen Soldaten-Kojen.

Am nächsten Morgen, noch etwas müde, spitzten wir die Ohren, um dem uns später so vertrauten Weckzeremoniell zu lauschen: „Reise, Reise nach alter Seemannsweise!“