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Unbändige Naturgewalten, große Gefühle und eine starke Frau - auf in das wilde Alaska!
1899. Nach vier Jahren in der Fremde kehrt Shannon nach San Francisco zurück. Ihre Großmutter erwartet sie sehnsüchtig, denn Shannon soll den reichen Firmenerben Rob heiraten. Aus Pflichtgefühl willigt sie ein. Auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Schwiegervater begegnet sie jedoch dem geheimnisvollen Jay, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt, doch Shannon folgt der Vernunft und entscheidet sich letztendlich für Rob. Mit einem gebrochenen Herzen verlässt Jay die Stadt, um sein Glück in Alaska zu finden. Doch dann entdeckt Shannon, dass sie schwanger ist, und macht sich auf, Jay im Herzen der Wildnis zu suchen ...
Romantik pur vor der beeindruckenden Kulisse Alaskas - für Fans von Sarah Lark und Sofia Caspari. Lass dich von Norah Sanders mit "Im Land der Mitternachtssonne" erneut von der rauen Schönheit Alaskas verzaubern!
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Seitenzahl: 956
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Sinnlichkeit
1
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6
7
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Sehnsucht
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Erinnerung
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Hoffnung
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Trauer
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36
37
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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1899. Nach vier Jahren in der Fremde kehrt Shannon nach San Francisco zurück. Ihre Großmutter erwartet sie sehnsüchtig, denn Shannon soll den reichen Firmenerben Rob heiraten. Aus Pflichtgefühl willigt sie ein. Auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Schwiegervater begegnet sie jedoch dem geheimnisvollen Jay, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt, doch Shannon folgt der Vernunft und entscheidet sich letztendlich für Rob. Mit einem gebrochenen Herzen verlässt Jay die Stadt, um sein Glück in Alaska zu finden. Doch dann entdeckt Shannon, dass sie schwanger ist, und macht sich auf, Jay im Herzen der Wildnis zu suchen …
Norah Sanders
IM HERZEN DERWILDNIS
1899 – 1900
Tief in Gedanken ließ das Mädchen das Buch sinken, um die Dame gegenüber zu betrachten. Das Cable Car auf seiner Fahrt durch die California Street hinunter zur San Francisco Bay schwankte und warf die Fahrgäste auf den Holzsitzen hin und her. Aber die Lady hielt sich sehr gerade. Die Beine unter dem langen Rock zusammengepresst, klammerte sie sich mit beiden Händen an einen kleinen, ein wenig abgestoßenen Koffer.
Was für eine Anmut! Fasziniert schloss das Mädchen Henry James’ Porträt einer Dame und musterte die Lady. Das schöne Gesicht wurde von einem Trauerschleier verhüllt. Der schwarze Hauch, der die Augen verbarg, die vollen Lippen jedoch betonte, verlieh ihr eine besondere Würde. Oder war es gar nicht der Spitzenschleier, sondern ihre beherrschte Haltung, mit der sie sich gegen das Schlingern des Cars stemmte? Ihr Schweigen inmitten des munteren Geplappers rundum? Ihr leises Lächeln? Die Lady hatte Eleganz und Stil. Sie trug keinen Ring. Wie alt mochte sie sein – Ende zwanzig? Was mochte sie schon alles erlebt haben? Welche Erfahrungen hatten ihr Gesicht geformt, das von innen heraus zu leuchten schien?
Nur mit Mühe bewahrte Shannon Tyrell ihre Haltung, während das Cable Car an diesem strahlend schönen Tag im Januar 1900 zum Hafen hinunterrumpelte. Die bewundernden Blicke des Mädchens waren ihr nicht entgangen. Als sie ihm freundlich zulächelte, sah es verlegen aus dem Fenster. Shannon folgte dem Blick. Der Himmel schimmerte wie ein bleicher Opal, die Wolken leuchteten wie Goldflitter. Die Luft duftete schon ein wenig nach Frühlingsblüten.
Sie schloss die Augen und lauschte der Sinfonie von San Francisco. Dem Rattern des Cable Cars, dem Rasseln der Scheiben, dem Kreischen des Zugkabels, dem Donnern, Scheppern, Klappern und Quietschen der Fahrt hinunter zum Ferry Building. Der Wagen vibrierte dröhnend, als fiele er gleich auseinander. Wie lange hatte sie diese Melodie nicht mehr gehört?
Vier Jahre Exil. Wie ein Flüchtling, der seine Familie und seine Heimat verließ, hatte sie erst zurückkehren wollen, wenn sich die Umstände geändert hatten. Doch dann hatte sie in Hawaii ein Telegramm ihres Vaters bekommen. Skip musste ihm verraten haben, wo sie sich aufhielt. Ihr Adoptivbruder war der Einzige, dem sie in all den Jahren geschrieben hatte. »Bitte komm nach Hause«, hatte ihr Vater sie gebeten. »Wir müssen reden.« Lange hatte sie gezögert, obwohl sie das Flehen, ja sogar die Bitte um Vergebung in seinen Worten sah. Dann hatte sie ihm telegrafiert: »Ich komme an Weihnachten nach Hause, Sir.«
Vier Jahre Exil. Vier Jahre Selbstbestimmung und Freiheit. Sie hatte geglaubt, sie hätte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und ihr Leben in den Griff bekommen. Kein Blick zurück! Kein Bedauern! Keine Reue! Aber in San Francisco erwartete sie die Vergangenheit – in Gestalt ihrer Großmutter.
Shannon gab sich ruhig und gelassen. Aber in ihrem Innersten war sie aufgewühlt, als sie sich ihr künftiges Leben vorstellte. Elegante Abendgesellschaften, prunkvolle Diners im Palace Hotel, Segeltörns in der Bay, Polospiele im Golden Gate Park, Bärenjagden im Yosemite Valley, Grillpartys in der Lodge in San Rafael. Immer dieselben Leute aus dem Geldadel von San Francisco und dieselben Gespräche über Gewinne aus dem Alaskahandel und aus den Investitionen in Eisenbahnen und Zuckerrohrplantagen.
Sie atmete tief durch.
Und Rob? Würde ihr künftiger Ehemann sich an diesem endlosen Kampf um noch mehr Geld, Prestige und Macht beteiligen? Nach Tom Conroys Worten während der Silvesterparty vor einigen Tagen war sein Sohn ein ganzer Kerl, hart wie die Opale, die er im australischen Outback fand. Ein Siegertyp eben. Ein millionenschwerer Sieger in einem verschwitzten, mit rotem Staub bedeckten Hemd und verwaschenen Jeans. So jedenfalls sah er auf dem Foto aus, das Tom ihr gezeigt hatte. Robs strahlendes Lächeln und Toms unverstellte Art versöhnten sie ein wenig mit der unvermeidlichen Heirat. Rob Conroy war immer noch besser als Lance Burnette, der Erbe eines Eisenbahntycoons aus New York, den sie mitsamt Verlobungsring hatte sitzen lassen. Der Brillant war bemerkenswert gewesen – im Gegensatz zu Lance.
Rob also. Der charmante Aussie, der noch gar nicht wusste, dass er eine Yankee heiraten sollte, würde vermutlich genauso begeistert sein wie sie – nämlich gar nicht. Sollte er wider Erwarten dieser arrangierten Heirat zustimmen, was erwartete er dann von ihr? Die perfekte Inszenierung einer glücklichen Ehe? Die Rolle der ergebenen Frau an seiner Seite? Der Mutter seines Sohnes und Erben? Der First Lady eines gewaltigen Finanzimperiums, das sich von Australien über Südafrika, Hongkong und Hawaii bis nach San Francisco erstreckte?
Langsam atmete sie aus. Ein zweites Mal würde sie sich der Ehe vermutlich nicht entziehen können, wie vor vier Jahren, als sie einfach ihre Koffer gepackt hatte. Auf der Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen und einem Mann, den sie nicht liebte, war sie um die ganze Welt gereist. Nur um bei ihrer Rückkehr festzustellen, dass die Menschen, die sie ins Exil getrieben hatten, noch immer dieselben waren. Sie begriffen nicht, welches Leid sie über andere brachten, die nicht so waren wie sie, und welche Schuld sie auf sich luden, weil sie ohne Einsicht und Reue handelten.
»Nob Hill«, rief der Schaffner von der hinteren Plattform. »Ladies and Gentlemen, bitte festhalten! Es geht abwärts!«
Mit kreischenden Bremsen rumpelte das Cable Car die steile Straße hinunter zum Financial District. Ein Fahrradfahrer überholte mit wehender Jacke. Ein Zeitungsjunge verkaufte den San Francisco Examiner durch die offenen Fenster. Ein Straßenmusiker sprang auf das Trittbrett des Wagens. Seine sehnsuchtsvollen Melodien versetzten Shannon in eine träumerische Stimmung, aus der sie schließlich der Schaffner riss: »Financial District, Tyrell Tower. Umsteigen zu den Linien Sacramento, Sutter und Market Street.«
An der nächsten Kreuzung, California Street Ecke Sansome, ragte der Sitz des Familienunternehmens in den Himmel. TYRELL & SONS, ALASKA TRADING COMPANY stand auf dem Messingschild über dem Portal. Shannon blickte an der fünfzehnstöckigen Prachtfassade hinauf zur Kuppel. Der Tyrell Tower war ein Symbol des Reichtums und der Macht von Caitlin Tyrell, der Gründerin von Tyrell & Sons. Shannon lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, lockerte die verspannten Schultern und schloss die Augen.
Am Heiligabend, dem Todestag ihres Vaters, war sie von ihrer Großmutter Caitlin ins Arbeitszimmer beordert worden. Der Raum im Empire-Stil mit dem Marmorkamin und den hohen Fenstern mit Blick über die Bay wirkte ausgesprochen herrschaftlich. Die Porträts an den Wänden sollten den Eindruck erwecken, bei der Sammlung handele es sich um eine ehrwürdige Ahnengalerie. Die meisten Geschäftspartner von Caitlin O’Leary Tyrell wussten jedoch, dass die Firmengründerin während der Großen Hungersnot aus Irland geflohen war, weil ihrem Vater Rory O’Leary die Kartoffelernte auf dem Feld verfault war. Caitlin wäre verhungert, wenn sie nicht verzweifelt genug gewesen wäre, zu stehlen und zu betrügen, um die Passage nach New York bezahlen zu können.
Caitlin erhob sich nicht, um Shannon zu begrüßen, sondern winkte sie zu sich heran. Ihr Gesicht, trotz ihrer vierundsiebzig Jahre noch erstaunlich glatt, war wie aus Stein gemeißelt. Nur die zusammengepressten Lippen und der matte Blick ihrer Augen verrieten die Trauer über den Tod ihres ältesten Sohnes an diesem Morgen.
»Sie wollten mich sprechen, Ma’am?« Shannon blieb vor dem Schreibtisch stehen.
Caitlin deutete auf einen Stuhl. »Setz dich.«
Shannon schlug die Beine übereinander.
Ihre Großmutter runzelte unwillig die Stirn. »Dein Vater ist tot. Mit Sean habe ich heute den zweiten Sohn nach Kevin verloren. Nur Reámon ist mir geblieben.«
Die beiden Frauen schwiegen einen Augenblick, aber auch das stille Gedenken an den verstorbenen Sohn und Vater brachte sie einander nicht näher. Caitlin sah schließlich wieder auf. »Du hast dich verändert, Shannon. Nicht nur äußerlich … deine Haare, dein Stil, dich zu kleiden, deine Haltung. Du bist reifer … abgeklärter … selbstbewusster.«
Wortlos zog Shannon ein Etui hervor, steckte eine Zigarette in den schwarzen Fume-Cigarette, den sie in Paris gekauft hatte, und riss ein Streichholz an. Sie nahm den ersten Zug.
Unwillig presste Caitlin die Lippen aufeinander. »Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du rauchst, Shannon.«
Shannon blies den Rauch in Richtung der Decke.
»Du hast dich verändert.«
Shannon lachte leise.
»Kaffee?«
»Nein, danke.«
»Jack Daniel’s?«
Shannon schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir haben schon genug Trinker in der Familie. Großvater Geoffrey starb nach endlosen Affären ohne einen Cent in der Tasche. Er hat sich zu Tode getrunken. Und Onkel Reámon hält das Andenken seines Vaters in Ehren. Mit einem Glas Whiskey in der Hand.«
Ihr Cousin Skip, den ihr Vater nach dem Tod von Onkel Kevin an Sohnes statt angenommen hatte, ertränkte seinen Kummer in Absinth. Shannon war erschrocken gewesen, als sie an jenem Morgen nach vierjähriger Abwesenheit zurückgekehrt war. Skip, dem der Tod seines Adoptivvaters sehr nahegegangen war, hatte besinnungslos im kalten Wasser der Badewanne gelegen, neben ihm eine halbleere Flasche Absinth und ein Fläschchen mit Laudanum. Der Butler Mr Wilkinson hatte ihr geholfen, ihren Adoptivbruder ins Bett zu stecken. Hatte Skip versucht, sich im Rausch zu ertränken? War die dramatische Inszenierung im Bad ein gescheiterter Selbstmordversuch? Oder der verzweifelte Hilferuf eines sensiblen, verstörten Menschen, der die Eiseskälte in der Familie einfach nicht mehr ertragen konnte?
»Hast du einen Geliebten?«, fragte Caitlin.
»Das geht Sie nichts an«, antwortete Shannon ruhig.
»Hast du mit einem Mann geschlafen?«
»Lesen Sie mein Tagebuch.«
Caitlin hob die Augenbrauen. Einen solchen Ton war sie nicht gewohnt. »Stehen dort pikante Dinge?«
»Was nennen Sie pikant?«
»Hast du oder hast du nicht?«, fragte Caitlin ungeduldig.
Shannon lachte trocken. »Sinkt gerade mein Marktwert?«
»Shannon!«
»Hat jemand eine Kaufoption auf mich erworben?«
»Ja.«
Daher die Aussteuertruhen, die sie bei ihrer Ankunft in ihrem Zimmer gefunden hatte: Porzellan, Kristall, Silber, Tischtücher und Bettwäsche. Alles vom Feinsten, wie nicht anders zu erwarten. Nur eben Caitlins Geschmack, nicht ihrer. Nach dem Telegramm ihres Vaters war damit zu rechnen gewesen. Shannons Vermählung war für Caitlin offenbar beschlossene Sache.
»Wer?«
»Tom Conroy. Von Conroy Enterprises. New South Wales.«
»Opale?«
»Schwarze Opale in Australien, Diamanten in Südafrika, Handel in China und Japan. Niederlassungen in Sydney, Kapstadt, Kalkutta, Hongkong, Yokohama und Honolulu.«
»Und offenbar demnächst in San Francisco. Was will er?«
»Tyrell & Sons ist neben der Brandon Corporation der weltgrößte Pelzlieferant und das finanzstärkste Handelsunternehmen im Westen der Vereinigten Staaten. Tom will mit uns kooperieren und in den Alaskahandel einsteigen.«
Das Unternehmen unterhielt in Alaska mehr als neunzig Handelsposten, wo Trapper, Jäger und Robbenfänger die Pelze und das Elfenbein aus den Stoßzähnen von Walrossen und Walknochen gegen Waren tauschten. Obwohl die Fangquoten für Robben erschöpft waren und der Pelztierbestand in Alaska unaufhörlich sank, wuchs der Reichtum der Familie Tyrell stetig weiter. Die ungeheuren Gewinne aus der Goldsuche am Yukon wurden umsichtig reinvestiert: Handel mit Sibirien, Japan und China. Fischerei in Alaska. Zuckerrohrplantagen auf Hawaii. Minen in Mexiko. Konservenfabriken in San Francisco. Straßenbahnen in Chicago, New York und Philadelphia. Und die Eisenbahn, die Verbindung zwischen dem Westen und dem Osten, die Caitlin wie den Hafen von San Francisco unter ihre Kontrolle bringen wollte. Der Einzige, der ihr erbittert Widerstand leistete, war Charlton Brandon von der konkurrierenden Brandon Corporation. Die beiden Unternehmen waren seit einem halben Jahrhundert verfeindet.
Wie Caitlin und Charlton schien auch Tom seine Finger in jeden Kuchen zu stecken, um davon zu kosten. »Was will er?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Dich.«
»Für sich selbst?«
»Tom ist Mitte fünfzig. Seit einem Unfall in seiner Opalmine in Lightning Ridge sitzt er im Rollstuhl und steht trotzdem mit beiden Beinen fest auf der Erde, wenn du verstehst, was ich meine. Er sucht eine Frau für seinen Sohn, Rob Conroy.«
»Ist Rob die Kurzversion von Robert?«
»Nein, er heißt tatsächlich so. Tom hat ihm den Namen gegeben, als er den Jungen eines Tages vor seiner Tür fand. Der Kleine war sechs Wochen alt. Aber das soll Tom dir selbst erzählen.«
»Rob ist gar nicht sein Sohn?«
»Tom betrachtet ihn als seinen Erben.« Caitlin lächelte matt. »Rob ist das einzige Kind, das bei ihm abgegeben wurde.«
»Verstehe.« Tom Conroy war offenbar nie verheiratet gewesen. »Also schön, Tom hat eine Kaufoption auf mich. Habe ich auch eine auf Rob?«
Caitlin hielt ihrem Blick stand. »Ich sehe, dein Studium in Stanford war eine gute Investition.«
»Beantworten Sie bitte meine Frage!«
»Die Ware steht für eine eingehende Prüfung nicht zur Verfügung. Rob ist in New South Wales. Er kommt, sobald ich mich mit Tom geeinigt habe.«
»Nein, Ma’am«, sagte sie ruhig. »Der Deal ist erst dann perfekt, wenn ich mich mit Tom geeinigt habe. Ich will wissen, worauf ich mich einlasse, wenn ich seinen Sohn heirate. Und ich will, dass er weiß, dass ich nicht Mrs Rob Conroy werde, sondern Mrs Shannon Tyrell Conroy bleibe. Wenn Rob das nicht akzeptiert, kann er sich die Reise nach San Francisco sparen.«
Caitlin atmete tief durch. »Du hast dich verändert.« Sie nahm einen versiegelten Umschlag von ihrem Schreibtisch. »Weißt du, was das ist?«
Sie nickte langsam. »Das Testament meines Vaters?«
Caitlin zerriss das Dokument in kleine Schnipsel. »Mein Unternehmen erbt, wer sich dessen als würdig erweist. Es kann nur einen Erben geben. Und das muss nicht dein Bruder Colin sein, nur weil er in Alaska das Unternehmen vertritt. Aidan kann die Leitung nicht übernehmen. Er sitzt wegen Hochverrats auf Alcatraz. Und dein Cousin Eoghan kann auch nicht erben. Er soll für den Senat kandidieren. Er wird in Sacramento und Washington sein.«
»Sie haben Skip nicht erwähnt.«
»Er verdient keine Erwähnung. Skip nimmt Opium.«
»Das Opium, das Sie illegal importieren?«
Caitlin schnaubte verächtlich. »Skip wird nicht erben, nicht einen Dollar. Wie gesagt: Es kann nur einen Erben geben. Und es ist mir gleichgültig, ob dieser Erbe ein Mann oder eine Frau ist.«
»Verstehe.«
»Tust du das?«
»Aber ja.« Nach all den Jahren war sie nach Hause zurückgekehrt, um ein neues Leben zu beginnen, und Stunden nach ihrer Ankunft musste sie feststellen, dass ihre Großmutter im Begriff war, ihre hart erkämpfte Freiheit meistbietend zu versteigern. »Ich soll Rob heiraten …«
»Er ist eine glänzende Partie. Auch wenn er ein Aussie ist.«
»… und ich soll eine Fusion mit Conroy Enterprises vorbereiten …«
»Ganz recht.«
»… und wie meine Brüder und Cousins soll ich den Ruhm und das Ansehen der Familie mehren und Ihnen, Ma’am, zu noch mehr Macht verhelfen.«
»Ich denke, ich werde der Stanford University dieses Jahr eine großzügige Spende zukommen lassen. Jane Stanford hat wirklich gute Arbeit geleistet, als sie dich unter ihre Fittiche nahm. Sie hat aus dir eine präsentable Erscheinung gemacht. Vernunftbegabt und selbstbewusst. Ich bin stolz auf dich.«
Shannon ließ sich die Überraschung nicht anmerken. »Und nach der Fusion mit Conroy Enterprises? Die endgültige Vernichtung der Brandon Corporation?« Sie drückte ihre Zigarette aus. Dann schlug sie die Beine lässig übereinander. Den missbilligenden Blick ihrer Großmutter ignorierte sie.
»Glaubst du, fünfzigtausend Dollar wären angemessen?«
»Und dann, Ma’am? Wollen Sie Alaska kaufen? Der russische Zar hat Alaska für 7,2 Millionen Dollar an die USA verkauft. Das war 1867, und der Marktwert ist seit dem Goldrausch am Yukon gestiegen. Präsident McKinley und sein designierter Vizepräsident Roosevelt werden Ihnen bei dieser Gelegenheit sicherlich die Philippinen aufschwatzen. Teddy träumt von einem amerikanischen Pazifik mit amerikanischen Inseln und einer amerikanischen Flotte, die die amerikanischen Interessen schützt. Dafür wird er die Monopolkontrolle für Trusts nicht auf Tyrell & Sons anwenden, sondern sich auf J. P. Morgans Bankhaus stürzen, das Eisenbahnlinien sammelt wie andere Leute Postkarten aus aller Welt.«
»Ich denke, hunderttausend wären als Spende angemessen. Was meinst du, Shannon?«
»Sie fragen mich allen Ernstes nach meiner Meinung?«
Caitlin lehnte sich zurück, stützte ihre Ellbogen auf die Armlehnen und faltete die Hände. »Ja.«
»Die Verhandlungen mit Tom Conroy führe ich«, beharrte Shannon.
»Was seinen Sohn betrifft, von mir aus. Solange du deine romantischen Ideale vergisst und dich auf selbstlose Tugenden wie Ehre, Pflicht, Verantwortung und Einsatz für das Unternehmen besinnst, das dir deinen Lebensstandard sichert. Was die Unternehmen betrifft, treffe ich die Entscheidungen.«
Caitlin war es gewohnt, in familiären wie politischen Angelegenheiten allein zu entscheiden. Ihr letzter Ehemann, Geoffrey Tyrell, war ganz und gar von ihr abhängig gewesen, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Auch ihre Söhne hatten ihre Autorität niemals in Frage gestellt und keinen Widerstand gegen ihr Regime gewagt. Shannons Vater war ein pflichtbewusster und integrer Gentleman gewesen, der seiner Mutter bis zur Selbstverleugnung gehorcht hatte. Unter großen persönlichen Opfern, wie seiner gescheiterten Ehe mit Alannah O’Hara, hatte er sich für das Unternehmen eingesetzt. Doch zu solchen Opfern, zum Verzicht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Glück war Shannon nicht bereit.
»Ich möchte etwas klarstellen, Ma’am: Ich entscheide, wen ich heirate. Ich lasse mich zu keiner Ehe zwingen. Die von Ihnen gewünschte und gesellschaftlich geduldete Prostitution durch Geldheirat lässt sich mit meinen Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung nicht vereinbaren. Sollten Sie diesbezüglich andere Pläne haben – was die Aussteuertruhen in meinen Räumen nahelegen –, kann ich noch heute Abend wieder abreisen. Ich habe meine Koffer noch nicht ausgepackt. Und da Sie eben meinen Lebensstandard erwähnten: Ich verdiene mein eigenes Geld. Ich lebe nicht auf Kosten von Tyrell & Sons.«
»Das weiß ich.«
»Ich schulde Ihnen nur eine Hand voll Dollars für die Eisenbahnfahrt vor vier Jahren nach New York.« Shannon holte die Münzen hervor und legte sie auf den Schreibtisch.
»Wie viel verdienst du als Journalistin?«
»Genug, um stolz darauf zu sein.«
»Immer noch National Geographic?«
»Unter anderem.«
Caitlin nickte. Die Autoren des National Geographic waren in der Regel renommierte Gentlemen mit zwei, wenn nicht sogar drei Initialen vor den Namen: Generals, Colonels, Senatoren, Professoren, Forscher, Expeditionsleiter.
»Ich habe deine Reportagen aus aller Welt gelesen«, sagte Caitlin. »Gut geschrieben.« Es war das erste Mal, dass sie Interesse an Shannons Arbeit und eine gewisse Anerkennung zeigte. »Offen gestanden, ich musste erst einmal nachschlagen, wo Kaschmir liegt. Skip hat alle deine Artikel gesammelt und deine Reiseroute auf der Weltkarte markiert.«
»Die National Geographic Society hat großes Interesse am Goldrausch in Alaska. Die Verleger sind bereit, eine Expedition ins Yukon Territory zu finanzieren.«
Caitlin nickte versonnen. »Und du sollst sie begleiten?«
»Nein, Ma’am. Ich soll sie leiten. Aufbruch in San Francisco Anfang Mai. Wir sind in Alaska, sobald der Yukon eisfrei ist.«
»Hast du dich schon entschieden?«
Ein durchdringendes Quietschen und Krachen riss Shannon aus ihren Erinnerungen. Das Cable Car bog in die Market Street ab und hielt auf das Ferry Building zu. »Endstation!«, rief der Schaffner, als der Wagen anhielt. »Bitte alles aussteigen.«
Shannon schlenderte zu den Piers. An den Kais lagen etliche Segler und Schaufelraddampfer. Die salzige Luft roch nach Aufbruch, nach Flucht und nach Freiheit. Wie eine Woge überkam sie das Fernweh. Was, wenn sie einfach wieder verschwand? Aufs nächste Schiff, egal wohin? Tahiti hatte sie noch nicht gesehen. Und dann gab es ja tatsächlich das Angebot der National Geographic Society, die Expedition zum Yukon zu führen …
Shannon atmete tief durch und blickte zum Uhrturm am Ferry Building. Halb vier. Zeit genug bis zum Treffen mit Tom Conroy. Mit ihrer Kameraausrüstung machte sie sich auf den Weg zum Palace Hotel. Sie hätte das Cable Car nehmen können, das gerade an ihr vorbeiratterte, doch sie wollte laufen. Sie war noch nicht bereit für das Gespräch mit Tom.
»Ist denn niemand da, der Ihnen den Koffer abnimmt?«
Shannon blieb stehen und drehte sich um. »Nein, Sir.«
»Ma’am.« Ein junger Mann zog den Hut und betrachtete ein wenig missmutig ihren Trauerschleier. »Schaffen Sie es denn allein?«
Sie lächelte. »Selbstverständlich.«
Er wollte sie offenbar nicht einfach so gehen lassen. »Ich kann Ihnen die Ausrüstung tragen. Sie wollen in die Market Street, nicht wahr?« Er deutete auf den breiten Boulevard hinter Shannon, wo auf zwei Gleisen in der Mitte der Straße die Cable Cars fuhren, auf beiden Seiten flankiert von Kutschen und Autos. Unter Einsatz ihres Lebens kreuzten Fußgänger und Fahrradfahrer den dichten Verkehr – nicht alle Fahrzeuge fuhren auf der richtigen Straßenseite. In den Straßen von San Francisco galt das Recht des Stärkeren, Schnelleren, Entschlosseneren.
»Das ist überaus freundlich von Ihnen, Sir. Aber ich schaffe es wirklich allein.«
»Sicher?«
»Ganz sicher. Ich habe diese Kamera durch Kaschmir und Ladakh geschleppt.«
»Oh!« Der junge Mann lächelte verschmitzt. »Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein, Ma’am? Als Fremdenführer bin ich fast so gut wie als Kofferträger. Ich zeige Ihnen die Imperial City, die Königin der Städte, in ihrer ganzen Pracht.«
»Das klingt wirklich verführerisch«, lachte Shannon über seine charmante Unverfrorenheit. »Aber nein, vielen Dank. Ich bin aus San Francisco.«
»Ein romantisches Dinner in einem italienischen Restaurant an der Fisherman’s Wharf?«, flirtete der junge Mann ungeniert weiter. Er zog eine Visitenkarte hervor und gab sie Shannon.
Sie las seinen Namen: Ian Starling. Darunter stand sein Titel: Assistant Vice President. Brandon Corporation. Alaska Trading Company. Ian Starling hatte eine eigene Telefonnummer – wirklich beeindruckend!
Der imposante Firmensitz der Brandon Corporation lag nur wenige Schritte von Tyrell & Sons entfernt. Charlton Brandon war Caitlin O’Learys erster Ehemann gewesen, bevor sie Geoffrey Tyrell geheiratet hatte. Fast schien es, als könnten Charlton und Caitlin trotz ihrer jahrzehntelangen erbitterten Feindschaft einfach nicht ohne einander leben.
»Nein, vielen Dank für die Einladung, Sir«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich bin schon verabredet. Im Palace Hotel.«
»Und wer ist der Glückliche?« Ians Blick irrte zu ihrer Hand. Kein Ring.
»Mein künftiger Schwiegervater.«
»Verzeihen Sie«, murmelte Ian verlegen. »Sie kommen wirklich zurecht, ja?«
Sie musste lachen. »Aber sicher.«
»Dann gehe ich jetzt.« Ian zog seinen Hut. »Guten Tag, Ma’am.«
»Guten Tag, Sir.« Shannon nickte ihm zu, wandte sich ab und ging die Market Street hinauf zum Palace Hotel.
Als sie einige Schritte entfernt war, rief er ihr nach: »Verlieren Sie meine Karte nicht! Falls Sie sich verirren, rette ich Sie!«
Lachend winkte Shannon mit der Visitenkarte und ging weiter. Ein echter Draufgänger!
»Nicht vergessen: Ian Starling.«
»Bis morgen Abend, Tom.« Charlton Brandon wandte sich zur Tür. »Ich freue mich. Ich lasse Sie um sieben Uhr abholen.«
Tom fuhr seinen Rollstuhl einen Schritt vorwärts, um seine Gäste zur Tür zu geleiten. »Ist mir recht.«
»Sehr gut.« Charlton nickte ihm zu. »Tom.«
»Charlton. Josh.«
Josh Brandon verneigte sich leicht. »Sir.«
»Gut gemacht, Josh«, sagte Tom Conroy anerkennend. »Ihr Großvater kann stolz auf Sie sein.«
»Danke, Sir. Wir sehen uns morgen Abend.«
Tom nickte. »Tata.«
»Bye.« Josh grinste über den Aussie-Slang. Dann folgte er seinem Großvater, trat in den Gang und schloss leise die Tür der Suite hinter sich.
Im Gang wartete eine Sekretärin. »Sir?« Sie reichte Charlton eine Zeitung und bat Josh um eine Unterschrift: »Mr Brandon?«
Josh kritzelte seinen Namen hin, ohne das Schriftstück durchzulesen. »Was unterschreibe ich da eigentlich, Rose?«
»Das Feuerwerk über der Bay, Sir. Das Palace Hotel stellt uns das Geschirr und das Personal zur Verfügung. Die Blumen werden morgen geliefert.«
»Gut gemacht, Rose. Die Party wird sicher ganz großartig.«
»Danke, Sir. William Randolph Hearst hat noch nicht geantwortet. Der Gouverneur hat aber vorhin zugesagt.«
»Prima, dann fehlt ja nur noch der Präsident.« Josh gab Rose den Federhalter zurück.
»William McKinley hat ja wohl hoffentlich Besseres zu tun, als mir meinen Geburtstag zu verderben«, sagte Charlton. »Ich hasse Partys. Das ganze alberne Gequatsche. Weißt du, wann ich das letzte Mal getanzt habe? Vor neunundvierzig Jahren.«
»Mit Caitlin.« Schmunzelnd legte Josh seinem Großvater die Hand auf die Schulter. »Es ist dein fünfundsiebzigster Geburtstag.«
»Musst du mich auch noch daran erinnern?«, grollte Charlton. »Rose, sagen Sie die Party ab. Rufen Sie den Gouverneur an, und sagen Sie ihm …«
»Nein, Rose, das werden Sie nicht tun«, lachte Josh. »Die Party findet statt, ob du willst oder nicht. Wenn dein Geburtstag kein Grund ist, die Champagnerkorken knallen zu lassen, dann ist es Toms Erscheinen auf dem Nob Hill aber ganz bestimmt.«
Charlton schnaubte. »Er verhandelt auch mit Caitlin.«
Josh zuckte lässig mit den Schultern. »Na und?«
»Was hältst du von ihm?«
»Tom ist ein echter Grandseigneur. Den Outback merkt man ihm nicht an.«
»Doch, er redet wie ein Aussie.«
»Er ist Engländer wie du. Wenn auch aus den Slums von London. Aber mit den Brandons ging es seit dem ersten Duke of Suffolk auch stetig bergab. Kein Titel, kein Land, kein Geld.«
»Er hat dich mate genannt.«
»Was glaubst du denn, wie ich in Alaska genannt werde?«
»Tom mag dich.«
Josh zuckte mit den Schultern. »Ich mag ihn auch.«
»Und was ist mit Rob?«
»Frag Sissy.«
»Deine Schwester ist nicht hier. Ich frage dich. Rob und du – ihr beide müsst miteinander auskommen, wenn du Chef der Brandon Corporation bist und er Conroy Enterprises leitet.«
»Ich komme schon zurecht. Aber Sissy?«
»Rob ist jedenfalls eine bessere Partie als Lance.«
»Lance Burnette geht mir mit seinem Ostküstengehabe ziemlich auf die Nerven«, gestand Josh. »Er ist ein Snob.«
»Und ein Idiot. Kein Wunder, dass Shannon die Flucht ergriffen hat, als Caitlin mit seiner Familie über ein Ehebündnis verhandelte.« Charlton wandte sich an seine Sekretärin. »Rose? Setzen Sie Mr Conroy neben Sissy. Ich möchte, dass er sie kennenlernt.«
»Sir, Miss Sissy ist die Tischdame des Gouverneurs …«
»Zum Teufel mit dem Gouverneur!«
Die Sekretärin nickte ergeben. »Ja, Sir. Wie Sie wünschen.«
»Ich danke Ihnen, Rose.« Charlton wandte sich wieder an Josh. »Und du bleibst während der Party in seiner Nähe.«
Josh verzog die Lippen. »Mach ich.«
»Brauchen Sie mich noch, Sir?«, fragte Rose.
»Nein, danke. Ich komme heute nicht mehr ins Büro. Ich fahre jetzt nach Hause.«
»Rob tut mir leid«, sagte Josh, als Rose gegangen war.
»Mein Junge, ich will mich nicht einmischen, aber …«
»Dann tu’s nicht«, sagte er sanft.
Charlton schob Josh zum Aufzug. »Sag mal, hast du eigentlich vor, irgendwann mal zu heiraten?«
Er beobachtete, wie der Liftboy das Gitter schloss. Dann sah er seinen Großvater an. »Du meinst, so wie Rob?«
»Genau.«
»Nein.«
»Und wieso nicht?«
»Weil ich gern die Wahl hätte. Tom sucht für Rob eine Frau, die er ihm präsentiert, sobald er in San Francisco eintrifft. Rob wird nicht begeistert sein, ganz und gar nicht.«
»Tom wird ihn enterben, wenn er nicht bald ein paar kleine Rotznasen in die Welt setzt, die seinen Namen tragen.« Charlton knuffte ihn in die Seite. »Sag mal, mein Junge, soll ich dir nicht auch eine Frau suchen?«
»Suchst du Streit? Kannst du haben!«
Der Fahrstuhl hielt, das Gitter wurde rasselnd aufgeschoben, und Charlton und Josh betraten die Lobby. Charlton deutete auf eine ruhige Ecke mit Ledersesseln. »Setzen wir uns. Wie wär’s mit einem Bourbon?«
»Willst du mich betrunken machen, damit ich Ja sage?«
Charlton winkte den Kellner fort, der die Bestellung aufnehmen wollte. »Warst du denn schon mal richtig verliebt?«
Was sollte das werden?, fragte sich Josh. Ein Gespräch unter Männern? »Du meinst, so wie du und Caitlin?«
»Das ist ein halbes Jahrhundert her.« Charlton lehnte sich im Sessel zurück und schlug die langen Beine übereinander. »Josh, ich wünschte mir, dass es dich mal so richtig erwischt. Dass es dich von den Füßen haut, so wie mich damals.«
Er legte den Kopf in den Nacken, blickte zum Marmorgewölbe der Lobby empor und stöhnte auf.
»Liebe ist Leidenschaft, mein Junge. Liebe ist, wenn man ohne den anderen nicht leben kann.«
Josh setzte sich auf. »Du liebst sie immer noch, nicht wahr?«
»Ach, Quatsch. Josh, hör mal, du warst lange in Alaska. Drei endlose Winter, das hält sonst kaum jemand so lange aus. Warum gehst du nicht mal aus, solange du in San Francisco bist? Frag deinen Freund Ian Starling, ob er dich begleiten will, wenn du nicht allein losziehen willst. Such dir eine Frau, nach der du verrückt bist und für die du alles aufgeben würdest. Irgendwann wird sie vor dir stehen, dein Verstand setzt aus, und dein Herz klopft wie wild. Wenn du eine solche Liebe nie erlebt hast, hast du nicht gelebt. Ohne Liebe hat das Leben keinen Sinn, glaub mir, mein Junge.«
»Du liebst sie tatsächlich noch.«
»Wir reden über dich, nicht über mich.«
Josh nickte. »Und Alaska?«
»Ian muss ja nicht immer Assistant Vice President bleiben. Wenn du in San Francisco bleibst, könnte er sich an deiner Stelle mit Colin Tyrell herumstreiten. Glaubst du, Ian kann es mit ihm aufnehmen?«
»Colin und ich – wir kommen gut miteinander aus. Wir haben ein Gentleman’s Agreement.«
»Ich weiß, auch wenn du offenbar der Meinung bist, ich sollte nichts davon wissen. Sonst hättest du mir ja sicher von diesem Saufgelage oben am Polarkreis erzählt. Ihr wart wohl beide nicht mehr ganz nüchtern, als ihr euch nach diesem völlig bescheuerten Hundeschlittenrennen auf dem zugefrorenen Yukon die Hand gereicht habt. Gentleman’s Agreement – na, von mir aus!« Charlton lachte trocken. »Du hast in Alaska gute Arbeit geleistet. Caitlin liegt immer noch vorn, aber wir sind schon auf der Überholspur. Dank deines Einsatzes. Bleib in San Francisco, Josh. Bleib bei mir.«
Josh wollte ihn unterbrechen, doch Charlton hob die Hand: »Hey, lass mich doch mal ausreden. Wie du eben mit Tom verhandelt hast, hat mir sehr gefallen. Lass uns beim Abendessen darüber reden, ob es nicht an der Zeit ist, dich zum Partner zu machen. Ich muss meine Nachfolge regeln. Mein Geburtstag wäre ein guter Zeitpunkt für die Bekanntgabe.« Charlton feixte. »Und? Brauchst du jetzt einen Bourbon?«
Die Glasfassade des Palace Hotels kam bald in Sicht. Von Weitem sah Shannon einen Street Advertiser in ausgebleichten Jeans vor den Stufen des Portals auf und ab laufen. Er warb für einen Laden, der gebrauchte Ausrüstungen für Goldsucher verkaufte – im Hotel wohnten viele Goldgräber, die am Yukon Gold gefunden hatten und die von den Cheechakos um Rat gefragt wurden. Cheechakos waren die Neulinge in Alaska, die das Land, das Wetter und die Gefahren der Wildnis nicht kannten, die keine Ahnung hatten, wie lang und hart der Winter sein konnte, die Grizzlys und Elche nur aus Büchern kannten und mit einem Colt nicht umgehen konnten.
Der Straßenwerber hatte sich ein Rüttelsieb auf den Rücken geschnallt. Daran hatte er Pfannen, Töpfe, Blechtassen, eine Kaffeekanne, eine Wolldecke und eine Waschpfanne für Goldstaub befestigt. Über der Schulter schwang eine Winchester. An einer Holzlatte über seinem Kopf hing ein Schild, das verriet, wo eine solche Ausrüstung günstig zu erstehen war: in einer Filiale von Tyrell & Sons am Hafen.
Shannon ging zum Eingangsportal hinüber.
Ein elegant gekleideter Gentleman mit einem Gehstock unter dem Arm kam die Treppe vor den Glastüren herunter, trat auf den Gehweg, blinzelte ins Sonnenlicht und zog eine getönte Brille hervor, die er lässig aufsetzte. Dann klemmte er sich den Gehstock unter den Arm und schlenderte hinüber zu dem Straßenwerber, um sich ein Päckchen Zigaretten zu kaufen.
In Europa war es en vogue, den Stock oder Schirm auf diese Weise zu tragen. In Amerika hatte Shannon diese Unsitte noch nicht beobachtet. Die Gentlemen in San Francisco hatten die gefährliche Angewohnheit, ihren Stock in der Luft herumzuwirbeln wie ein Revolverheld seinen Colt.
Sie wollte schon an dem Gentleman vorbeieilen, als er unerwartet die Richtung änderte, um sich ein Auto anzusehen, das vor dem Portal parkte: einen neuen Duryea mit glänzend roter Lackierung und einer Lenkstange aus poliertem Messing. Sie konnte nicht mehr ausweichen, prallte mit der Schulter gegen ihn und stolperte über den fallenden Gehstock. Im letzten Augenblick packte er sie am Arm und bewahrte sie vor einem Sturz. Shannons Kamera krachte jedoch auf den Boden.
»Alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte der Gentleman besorgt.
Shannon richtete sich auf. »Alles in Ordnung, Sir.«
Er zog seinen Hut. »Es tut mir sehr leid. Verzeihen Sie mir. Mit der dunklen Brille habe ich Sie einfach nicht gesehen.«
»Schon gut«, winkte Shannon ab.
Der Gentleman nahm die Sonnenbrille ab, hob ihren Koffer auf und gab ihn ihr. »Ist das eine Kamera?«
»Ja.« Shannon versuchte, das Schloss zu öffnen, während sie den Koffer im Arm hielt, aber es klemmte. »Würden Sie mir bitte behilflich sein, Sir?«
»Selbstverständlich.« Er hielt den Koffer, damit sie den Deckel anheben und hineinschauen konnte. »Und?«
Sie klappte den Deckel zu. »Nichts zerbrochen.«
»Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen, Ma’am?«
Shannon musterte ihn. Er sah gut aus, und er war charmant. Ja, warum eigentlich nicht? Doch dann besann sie sich. Tom erwartete sie. »Sir, das ist wirklich nicht nö …«
»Bitte.«
»Sir, ich habe keine …«
»Soll ich auf die Knie fallen und Sie um Verzeihung bitten?«
Ein Desperado, sieh einer an! Sie lachte. »Nein.«
»Also noch einmal von vorn: Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen, Ma’am?« Er grinste jungenhaft. »Wenn Sie dazu bereit sind, ist es üblich, dass Sie jetzt Ja sagen.«
Shannon gefiel seine liebenswürdige Schlagfertigkeit. »Gern.«
»Na dann!« Er nahm ihr die Kamera ab und bot ihr den Arm, um Sie in die Lobby des Palace Hotels zu führen.
Josh öffnete die Tür. »Wollen wir uns in die Bar setzen?«
»Warum nicht?«
Ihr Lächeln konnte jeden Mann zwischen fünfzehn und fünfundachtzig um den Verstand bringen. Dabei gab sie sich so sicher, als wüsste sie genau, welche Wirkung sie auf die Männer in ihrer Nähe hatte, und blieb doch immer natürlich.
Komm schon, Josh!, dachte er mit klopfendem Herzen. Nur ein Kaffee, weiter nichts!
Galant bot er ihr den Arm und führte sie in die Bar. Dort gab es mehrere tiefe Ledersessel und Tischchen aus Sequoiaholz. In einer Vitrine lagen Pralinen aus belgischer Schokolade in goldglänzenden Schachteln. Verstohlen sah er sie von der Seite an, aber sie würdigte die Pralinen keines Blickes. Tatsächlich sah sie ihn an.
Er stellte die Kamera ab und rückte ihr einen Barhocker zurecht, auf dem sie trotz des langen Rocks erstaunlich flott Platz nahm. Dann setzte er sich neben sie und winkte den Barkeeper heran. »Wir würden gern einen Kaffee trinken.«
»Servieren Sie auch Cappuccino?«, fragte die junge Dame.
»Ja, Ma’am. Mit Amaretto?«
Josh hob die Augenbrauen. »Was ist das?«
»Lassen Sie sich überraschen!« Ihre Augen lachten.
»Ich vertraue Ihnen. Ich nehme dasselbe.«
»Sehr wohl, Sir.« Der Barkeeper verschwand.
Sie blickte sich in der Bar um. »Ziemlich voll hier.«
»Sie sollten mal herkommen, wenn die Schiffe aus Alaska im Hafen anlegen. Die Goldgräber zeigen ihre Nuggets und zahlen ihre Drinks mit Goldstaub.«
»Kommen Sie oft hierher?«, fragte sie, während sie den Trauerschleier über ihren Hut schob.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kurz vor Weihnachten aus Alaska zurückgekehrt.«
»Wie lange waren Sie dort?«
»Drei Jahre. Die meiste Zeit davon im Busch, in der Wildnis nördlich des Yukon. Die einsame Tundra jenseits des Arctic Circle ist eine überwältigend schöne Landschaft.«
Sie erwiderte seinen forschenden Blick. »Eine Liebeserklärung an Alaska?«
Josh konnte den Blick nicht von ihr lassen, und sie schien zu wissen, dass er nicht nur von Alaska sprach. »Ich find’s da wunderschön.«
Sie sagte nichts darauf.
Wie viele derartige Komplimente sie wohl schon gehört hat? Josh, du warst zu lange in der Wildnis. Und du bist dabei, es gründlich zu vermasseln.
»Sagen Sie, woher kennen Sie … wie heißt das noch?«
»Cappuccino?«
»Ja, genau. Ich bin sicher, dass es so etwas in den italienischen Restaurants an der Fisherman’s Wharf nicht gibt.«
»Nein, bestimmt nicht«, lächelte sie, und in ihren Augen tanzten die Lichtfunken. »Ich war ein halbes Jahr in Italien.«
»Sprechen Sie italienisch?«
»Ein bisschen.« Sie schmunzelte. »Überlebenstraining.«
»Wofür?«
»Für meine Reisen.«
Sie war anders als jede andere Frau, die ihm bisher begegnet war: selbstbewusst, ohne stolz oder trotzig zu sein. Ihr Eigensinn gefiel ihm. Sein Blick huschte verstohlen zu ihrer linken Hand. Kein Ring.
Na los, Josh, trau dich!
Er atmete tief durch. »Sie reisen allein?«
»Ja.«
»Ohne einen Beschützer?«
»Der mir die Tür aufhält, mir in den Mantel hilft und meinen Koffer trägt, um mir zu zeigen, wie schwach und abhängig ich bin? Der Lamm mit Mintsauce bestellt, obwohl ich lieber Coquilles Saint-Jacques à la Normande essen würde? Der Wein bestellt, den ich nicht mag? Der sich nach dem Essen zu Brandy und Zigarre in den Salon zurückzieht, um zu vollenden, was Gott begonnen hat?« Herausfordernd sah sie ihn an. »Schockiert?«
»Betroffen.«
Sie warf einen Blick auf seine linke Hand, und er beobachtete sie dabei. Ihre Blicke begegneten sich.
Absoluter Irrsinn!, dachte Josh. Sie ist eine Fremde!
Josh holte das Päckchen Chesterfields hervor und fingerte eine Zigarette heraus. »Provozieren Sie gerne?«
An Stelle einer Antwort zog sie ihren Fume-Cigarette heraus und warf einen Blick auf seine Chesterfields.
Er bot ihr eine Zigarette an, gab ihr Feuer und deutete auf ihre Kamera. »Sind Sie Fotografin?«
Warum sie einen Moment zögerte, begriff er nicht. Denn schließlich nickte sie.
»Beschreiben Sie mir Ihr schönstes Foto!«
»Ich mache keine schönen Fotos. Ich fotografiere nicht die Pyramiden bei Sonnenuntergang oder das Tadsch Mahal im Morgennebel.«
»Was sonst?«
»Menschen.«
»Wo?«
»In den Slums von London, zum Beispiel.«
»Beschreiben Sie mir Ihr bestes Foto!«
Sie überlegte nicht lange. »Ein alter Mann mit weißem Bart sitzt in seiner zerschlissenen Jacke auf einem Holzstuhl vor der Tür seines Hauses. Seine Hose ist zerrissen, und er trägt keine Schuhe. Er hat keinen Penny in der Tasche, aber sein Lächeln ist ergreifend. Der alte Mann hat mich tief beeindruckt.«
»Und Sie sind nicht leicht zu beeindrucken«, vermutete er.
Unwillkürlich richtete sie sich auf, als nähme sie Haltung an, zog an der Zigarette und stieß den Rauch langsam wieder aus. »Nein.« Sie zögerte einen Herzschlag lang. »Mein Vater hat mich erzogen wie einen Sohn. Es war nicht immer leicht, seinen Erwartungen gerecht zu werden. Wenn ich vom Pferd fiel, schwang ich mich sofort wieder in den Sattel. Und wenn mich der Rückstoß der Winchester zu Boden warf, bin ich wieder aufgestanden. So schnell bringt mich nichts aus der Fassung.« Sie nahm noch einen Zug von der Zigarette. »Und jetzt stellen Sie Ihre Frage nochmal!«
»Also schön: Was beeindruckt Sie?«
»Die Pyramiden und das Tadsch Mahal haben mich beeindruckt. Nicht die Steine, nicht der Marmor, nicht die Juwelen, sondern das, was unsichtbar ist und was man nur tief in sich spüren kann, im Herzen. Nicht das, was ich berühren kann, sondern das, was mich berührt.«
»Die Gefühle.«
»Die Maßlosigkeit der Gefühle, die Unermesslichkeit des Sehnens.«
Gebannt saß Josh neben ihr und ließ sich von ihr bezaubern. Ein warmes Gefühl durchrieselte seinen Körper. Er war dabei, sich Herz über Verstand in sie zu verlieben.
Der Barkeeper servierte die Cappuccinos und Amarettos. Neugierig schnupperte Josh an dem Mandellikör. Dann kostete er davon. »Hmm, das ist wunderbar!«
»Freut mich, dass ich Ihren Geschmack getroffen habe.«
»Das haben Sie wirklich, herzlichen Dank.«
Sie nippten an ihren Cappuccinos.
»Immer allein«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Fühlen Sie sich manchmal einsam?«
»Nicht, wenn ich für mich bin.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinen Sie das?«
Sie antwortete nicht sofort.
»Wenn meine Frage zu persönlich …«
»Nein.« Ihr Blick berührte ihn. »In einer arrangierten Ehe ohne Gefühle, die von Herzen kommen, würde ich mich einsam fühlen. Ich glaube, es ist schwierig, eine echte Partnerschaft nur auf Respekt und Würde zu gründen.«
»Sie wollen lieben und geliebt werden.«
»Zärtlich und leidenschaftlich«, gestand sie und sah Josh dabei an.
Er sehnte sich danach, sie zu berühren, ihre Hand in seine zu nehmen, tat es dann aber doch nicht.
Sie schien zu spüren, was in ihm vorging. »Stellen Sie Ihre Frage!«, flüsterte sie und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.
»Sind Sie … versprochen?«, quälte er heraus.
Sie atmete tief durch. Dann drückte sie ihre Zigarette aus und sagte leise: »Ich bin hier, um meinen künftigen Ehemann kennenzulernen.«
Er rührte in seinem Cappuccino, bis sich der Schaum auflöste. Es fühlte sich an, als wäre er aus großer Höhe auf die Erde gestürzt. Und der Aufprall tat ziemlich weh.
Sie legte den Kopf schief und beobachtete ihn: »Enttäuscht?«, fragte sie ganz offen.
»Ja, sehr«, gestand er ebenso ehrlich.
»Was ist mit Ihnen? Gibt es eine Frau in Ihrem Leben?«
Josh schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht? Einem Mann wie Ihnen müssten die Frauen doch zu Füßen liegen.«
»Danke für das Kompliment«, lächelte er. »Ich war lange in der Wildnis. So romantisch die Nächte im Schein der Mitternachtssonne auch sind, sie sind endlos lang und einsam.«
Josh beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während sie an ihrem Amaretto nippte. Sie schwiegen eine Weile, aber die Stille riss keinen unüberwindlichen Abgrund zwischen ihnen auf, denn sie sahen sich immer wieder an.
»Wie fühlen Sie sich jetzt?«, fragte sie leise.
»Als ob der Pazifik über mich hinwegbrandet und die Wogen mich hin und her werfen.«
»Sehr poetisch, sehr sinnlich.« Sie schob die Hand über die Bar, als wollte sie ihn berühren. Doch dann zog sie sie zurück.
»Und Sie?«
»Als ob die starke Strömung des Pazifiks mich mit sich reißt. Fort von der sicheren Bay mit dem Strand, wo ich eigentlich sein sollte, wenn ich nur ein bisschen Anstand hätte. Aber die Strömung ist sehr stark, und es erschreckt mich, wie wenig Kraft ich habe, ihr zu widerstehen.«
Josh schluckte trocken und senkte den Blick. »Verstehe.«
Auch sie schien mit ihren Gefühlen zu ringen.
»Was erwarten Sie sich von Ihrem Ehemann?«, fragte er schließlich mit heiserer Stimme.
»Herz und Verstand.«
»Und?«
»Sinnlichkeit.«
»Was noch?«
»Dass er weiß, was es bedeutet, füreinander zu sorgen, so gut es geht. Dass er mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Dass er einen anderen Beruf hat, als nur Sohn und Erbe zu sein. Dass ich ihn respektieren und ernst nehmen kann.«
»Gab es Bewerber, die Sie nach eingehender Prüfung nicht ernst nehmen konnten?«
»Oh ja, die gab es.«
»Und Ihr künftiger Gemahl ist anders?«
»Ich hoffe es«, gestand sie. »Ein ganzer Kerl, von der Sonne verbrannt, in Reitstiefeln, staubigen Breeches und offenem Hemd.«
»Wären zerrissene Jeans für Sie akzeptabel? Geben Sie mir fünf Minuten, ich ziehe mich schnell um.«
Sie lachte. »Zu spät.«
»Geben Sie mir eine Chance! Ich rette Sie aus der Strömung!«
Sie lachte, aber es klang nicht fröhlich.
»Was erwarten Sie von mir?«
»Schenken Sie mir keinen Brillantring. Und legen Sie mir keine Kontoauszüge vor, um mich zu beeindrucken.«
»Tu ich nicht, versprochen! Hat er’s getan?«
»Nein.«
»Er scheint zu wissen, worauf es ankommt. Herz und Verstand.«
»Und Lebensart.«
»Mir wurden in Berkeley die Flausen ausgetrieben.«
»Mir wurden meine in Stanford erst in den Kopf gesetzt.«
Josh nickte anerkennend. »Ich mag Sie sehr.«
»Ich habe Sie auch sehr gern«, gestand sie leise.
Sie schwiegen. Die Stille zwischen ihnen war sanft und innig.
»Sie werden den Kerl heiraten.«
»Wenn er mir gefällt.«
Als der Barkeeper kam, um die Tassen und Gläser abzuräumen, fragte sie: »Wie spät ist es eigentlich?«
»Viertel nach vier, Ma’am.«
»So spät schon!«, stöhnte sie. »Ich war um vier Uhr verabredet!«
»Mit ihm.«
Wie sie ihn ansah! Die Unbeschwertheit der letzten halben Stunde war verflogen. »Nein, mit seinem Vater.«
»Darf ich Sie später zu einem romantischen Abendessen einladen?«, fragte Josh, als sie aufstand. Sein Herz klopfte, und er bebte vor Anspannung.
»Ich diniere mit ihm«, sagte sie. »Im Cliff House.«
Verzweifelt rang er um Fassung. Alles war so schnell gegangen, und plötzlich lief alles aus dem Ruder. Einen Augenblick lang empfand er nichts als Hoffnungslosigkeit. »Wie nobel«, quälte er schließlich hervor.
»So ist er.«
»Sie mögen ihn.«
»Ja, sehr«, sagte sie. »I’ll get two for the price of one. Wenn ich den Sohn heirate, bekomme ich den Vater dazu.«
Josh nickte stumm.
»Ich muss jetzt gehen.« Sie nahm ihre Kamera. »Herzlichen Dank für die Einladung, Sir.«
»Gern geschehen, Ma’am.« Josh kramte ein paar Münzen hervor und legte sie auf die Bar. »Ich fand’s schön, Sie kennengelernt zu haben. Vielleicht stolpern wir ja wieder mal übereinander.«
Sie schmunzelte. »Ich habe das Gespräch mit Ihnen auch genossen, sehr sogar. Ich mag Ihre unkomplizierte und direkte Art«, sagte sie leise. »Bye, Sir. Leben Sie wohl.« Sprach’s, drehte sich um und schritt davon.
Etwas an ihrer Haltung, vielleicht auch die resignierte Geste, mit der sie den Trauerschleier herunterzog, verriet Josh, dass sie gern noch geblieben wäre. Aufgewühlt sah er ihr nach.
Josh, wenn du sie jetzt gehen lässt, bist du völlig bescheuert!
Er stürmte in die Lobby. Vor dem Lift holte er sie ein. Sie drehte sich zu ihm um. Da war etwas in ihrem Blick, das er zuerst nicht deuten konnte. Traurigkeit? Verletzlichkeit?
»Und nach dem Abendessen?« Josh streckte die Hand nach ihr aus und berührte sie. Ein Schmerz, wie von einem kurzen, aber kräftigen Stromschlag, zuckte durch seinen Körper. »Ich würde gern mit Ihnen allein sein.«
Sie starrte ihn an und sagte kein Wort.
Josh trat ganz nah an sie heran. »Ich möchte Sie küssen.«
Sie seufzte leise, schüttelte fast unmerklich den Kopf, und ein gequälter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Dann sah sie sich rasch in der Lobby um, ob sie beobachtet wurden, schob ihre Hand in seinen Nacken und küsste ihn innig.
Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Es gefiel ihm, wie ihre Hand über seinen Rücken glitt und ihn an sie presste. Er genoss ihre Lippen, ihren Atem, ihre Wärme, ihren Duft. Aber als Josh seine Arme um sie legen wollte, um sie festzuhalten, entzog sie sich ihm und flüchtete in den Fahrstuhl. Bevor sich das Gitter zwischen ihnen schloss, sah er Tränen in ihren Augen. Dann war sie fort. Und er wusste nicht, ob er sie je wiedersehen würde.
»Hey, Cheechako!«
Erschrocken fuhr Josh zusammen. Sein Freund Ian Starling legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ian, was machst du denn hier?«
»Du bist nach dem Gespräch mit Tom Conroy nicht zurückgekehrt. Ich bin der Suchtrupp.« Ian deutete auf den Fahrstuhl. »Habe ich gerade richtig gesehen?«
Josh nickte langsam.
»Man kann dich wirklich keine fünf Minuten allein lassen. Wer ist sie?«
»Keine Ahnung«, sagte Josh mit tonloser Stimme. »Ich habe sie nicht nach ihrem Namen gefragt.«
»Willst du sie wiedersehen?« Als Josh nickte, packte Ian ihn am Arm. »Komm, wir nehmen die Treppe.«
Wie von Sinnen rannte Josh am Concierge vorbei, stürmte zwei Stufen auf einmal die Treppen hinauf und hetzte mit Ian durch die Gänge, um sie zu suchen.
Shannon trat aus dem Aufzug, lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand und lauschte auf ihr Herzklopfen.
Wie lange war es her, dass sie dieses überwältigende Gefühl von Verliebtheit gespürt hatte? Wie hatte er es bloß geschafft, sie derart anzurühren? Was er gesagt hatte, war so richtig gewesen, so schön, so herzlich! Wer war er? Warum hatte sie ihn nicht nach seinem Namen gefragt? Wieso war sie vor ihm geflohen, obwohl sie doch nichts lieber getan hätte, als den Rest des Tages mit ihm zu verbringen? Würde sie ihn jemals wiedersehen? Die Frage trieb ihr die Tränen in die Augen.
Der Liftboy steckte seinen Kopf aus dem Aufzug und sah sie besorgt an. »Alles in Ordnung, Ma’am?«
Sie wischte sich die Tränen ab und nickte. Dann stieg sie wieder in den Lift. Er fragte nicht, wohin sie wollte. Er hatte den Kuss gesehen.
Die Fahrt nach unten dauerte eine Ewigkeit. Sobald der Liftboy das Gitter geöffnet hatte, stürmte Shannon durch die Lobby, um ihn zu suchen. Doch er war nicht mehr da. In der Bar war er auch nicht.
Traurig verließ sie das Hotel. Vor dem Portal blieb sie stehen. Da war der rote Duryea. Sie blickte sich um. Weit konnte er noch nicht sein. Aber er war nirgendwo zu sehen. Shannon wartete einen Augenblick, dann ging sie zurück ins Hotel.
Toms Butler öffnete ihr. »Guten Tag, Ma’am.«
»Guten Tag, Mr Portman.« Ihre Stimme klang atemlos.
»Darf ich Ihnen die Kamera abnehmen, Ma’am?«
Mit zitternden Händen zog sie die Nadeln aus ihrem Hut, nahm ihn mitsamt dem Trauerschleier ab und reichte ihn ebenfalls dem Butler. Sie war verlegen. Er wusste, worüber sie mit Tom sprechen wollte, und musste annehmen, dass sie deswegen aufgeregt oder beunruhigt war. Um ihre Gefühle zu überspielen, richtete sie sich auf und spannte die Schultern an.
»Mr Conroy erwartet Sie, Ma’am.« Der Butler öffnete ihr die Tür und ließ sie eintreten. »Miss Shannon O’Hara Tyrell, Sir.«
»Shannon! Was für eine Freude!« Tom Conroy kam ihr in seinem Rollstuhl entgegen und streckte seine Hände aus.
»Tom!« Sie ergriff seine Hand, die er mit einem herzlichen Lächeln an seine Lippen führte. Warm streichelte sein Atem ihre Hand. »Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung.«
Tom sah ihr in die Augen. »Hat er Ihnen gefallen?«
Betroffen starrte sie ihn an. »Wer?«
»Der Kerl, der es geschafft hat, Sie zum Weinen zu bringen.« Tom deutete auf sein rechtes Augenlid.
Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über den offenbar verlaufenen Lidstrich. »Woher wissen Sie, dass es ein Kerl war?«
»Wenn eine Lady die Fassung verliert, ist immer ein Kerl daran schuld.« Aufmerksam beobachtete Tom ihre Reaktion. »Nein, hören Sie auf! So verschmieren Sie es nur. Kommen Sie her, Shannon, ich helfe Ihnen.«
Sie gab ihm das Tuch, beugte sich über ihn und ließ sich von ihm die Tränenspuren abwischen. Es war ihr nicht einmal unangenehm. Irgendwie genoss sie es sogar.
»Was ist passiert?«
»Ich bin über den Gehstock eines Gentlemans gestolpert. Er wollte sich einen Duryea ansehen.«
Toms Augen funkelten. »Sie meinen den flotten Flitzer vor dem Portal?«
»Genau.«
»Gefällt er Ihnen?«
»Der Kerl oder der Duryea?«
Tom lachte schallend. »Shannon, wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre, müssten Sie sich vor mir in Acht nehmen.« Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Na ja, sagen wir fünf.«
»Gut zu wissen«, neckte sie ihn. »Wenn Rob nicht will, können wir beide heiraten.«
Tom schnaufte durch. »Er wird sich in Sie verlieben. Er wird Sie heiraten. Um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen: Gefällt er Ihnen? Ich meine den roten Duryea …«
Sie schmunzelte. »Ein nettes Spielzeug.«
»Und der Kerl?«
»Tom!«
Beschwichtigend hob er beide Hände. »Schon gut!« Er grinste verschmitzt. »Haben Sie das Nummernschild gesehen?«
»Nein.«
»SOT 1. Shannon O’Hara Tyrell, Nummer 1. Kommen Sie, Sie hätten sich doch sowieso ein Auto gekauft. Das haben Sie mir auf der Silvesterparty gesagt. Ich erspare Ihnen also die Diskussionen mit Caitlin, ob es für eine Lady schicklich ist, mit einem flotten Flitzer allein unterwegs zu sein.«
»Tom …«
»Da haben wir Aussies aus dem Outback ja bessere Manieren als ihr Yankees. Es ist ein Geschenk, Shannon, und Geschenke weist man nicht zurück.«
»Tom, ich weiß nicht, was ich …«
»Shannon, ich weiß, wie Sie über Brillantringe und Diamantkolliers denken. Und ich respektiere Ihre Entscheidung, keine derartigen Geschenke und die damit verbundenen Verpflichtungen anzunehmen. Aber der Duryea kommt von Herzen. Ich möchte Sie damit durch die Straßen flitzen sehen, mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, dem Gefühl der Freiheit im Herzen und dem Wind im Haar. Tun Sie mir den Gefallen.«
»Danke, Tom.« Sie lächelte mühsam.
»Was meinen Sie, wollen wir damit zum Cliff House fahren?«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre … fünf …« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »… würde ich Sie bestimmt nicht meinem Sohn überlassen.«
»Ich habe Sie auch sehr gern, Tom«, gestand sie gerührt.
Er drückte ihre Hand. »Das weiß ich, Shannon. Sie strahlen so viel Wärme aus. So viel Herzlichkeit. In Ihrer Nähe fühle ich mich fünf Jahre jünger … ach, was … zehn.« Er grinste. »Aber wir wollten ja nicht von mir reden, sondern von Rob.« Er deutete auf die Sessel vor dem Marmorkamin, folgte ihr mit seinem Rollstuhl und rief nach dem Butler. Sobald Shannon Platz genommen hatte, fragte er: »Trinken Sie Tee?«
»In the land of the free and the home of the brave? Sir, ich bin Amerikanerin«, verwahrte sie sich mit einem Lächeln.
»Und was für eine!« Schmunzelnd schüttelte Tom den Kopf. »Keinen Tee also. Wie wär’s mit einem Kaffee?«
»Können Sie das mit Ihrer Ehre als Engländer vereinbaren?«
»Nur wenn ich dazu God save the Queen singen darf.«
»Hätten Sie Waltzing Matilda vorgeschlagen, hätte ich vielleicht nachgegeben.«
»Sie sind ein harter Verhandlungspartner«, gluckste Tom vergnügt. »Mögen Sie Champagner?«
»Sehr gern.«
»Na also! Mr Portman, seien Sie so gut …«
»Sofort, Sir.« Der Butler verschwand. Kurz darauf kehrte er mit einer Flasche Champagner und zwei Kristallgläsern zurück.
»So, dann will ich dem Tiger mal seinen Käfig zeigen«, frotzelte Tom, nachdem sie getrunken hatten. Als er Shannons Blick bemerkte, beruhigte er sie: »Rob ist Ihnen ähnlicher, als Sie denken. Wie Sie liebt er seine Freiheit und lässt sich nicht einsperren. Sie beide werden bestens miteinander auskommen.«
Und wenn nicht? In diesem Augenblick musste sie an den geheimnisvollen Fremden denken. An das Gespräch in der Bar. An die Vertrautheit mit einem Unbekannten, von dem sie nichts wusste. An die Gefühle zwischen ihnen. An den Kuss.
Sie atmete tief durch. »Und wenn Rob mich nicht will?«
Tom schien zu ahnen, was in ihr vorging. Er wurde plötzlich ernst, und seine Stimme klang sanft. »Mein Junge hat manchmal viel Unsinn im Kopf, aber so bescheuert ist er nicht.«
»Im Ernst, Tom!«
»Also schön, ich sag’s, wie es ist. Bei unserem letzten Treffen am Silvesterabend haben Sie mich sehr beeindruckt, Shannon. Ich habe Sie in mein Herz geschlossen. Ob mein Junge will oder nicht, er muss Sie heiraten und mit Ihnen einen Erben zeugen.«
Shannon zog die Augenbrauen hoch. »Sonst?«
»Sonst enterbe ich ihn.«
»Das ist hart.«
»Rob ist ein ebenso harter Verhandlungspartner wie Sie.«
»Hat er Geschwister?«
»Davon gehe ich aus.«
»Verstehe.« Hatte Caitlin nicht gesagt, dass Tom seinen Sohn vor seiner Tür gefunden hatte? »Wer erbt Ihr Vermögen, wenn Rob sich der Ehe widersetzt?«
»Sie.«
»Ich?« Sie stellte das Champagnerglas zurück auf den Tisch.
»Wenn Rob mir trotzt, werde ich Sie zu meiner Erbin ernennen. Dann muss er Sie heiraten. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Ich will, dass ihr beide heiratet. Eine Bessere als Sie, Shannon, wird mein Junge nicht finden.«
Sie ging darauf nicht ein. »Wo werden wir leben?«
»In San Francisco, Sydney oder Kapstadt – die Entscheidung überlasse ich euch beiden.«
»Und Sie, Tom?«
»Auch diese Entscheidung überlasse ich euch beiden.«
»Rob und Sie, wie kommen Sie miteinander aus?«
»Prima.«
»Wie nennt er Sie?«
»Tom. Wie nannten Sie Ihren Vater?«
»Sir.«
»Da bin ich aber froh, dass Sie mich nicht so nennen. Haben Sie ihn geliebt?«
»Nein.« Sie war selbst erschrocken über ihr freimütiges Geständnis. Es klang viel zu harsch und unversöhnlich. Aber so war es nicht gemeint. »Er hat mich respektiert, so wie ich ihn. Aber im Grunde hatten wir uns nichts zu sagen, was von Herzen kam.«
»Oje!«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Tom. Ich weiß, was er für mich getan hat. Nach der Scheidung von meiner Mutter, die nach New York gegangen ist, als ich acht war, hat mein Vater mich erzogen. Mit meinen Brüdern habe ich reiten, segeln und schießen gelernt. Colin war in Berkeley, Aidan in West Point. Mein Vater hat durchgesetzt, dass ich nach Stanford gehen durfte. Mit dem Studium hat er mir eine Tür geöffnet, und ich bin hindurchgegangen.«
»Und Sie sind erst vor drei Wochen zurückgekehrt. Nur um festzustellen, dass sich nichts geändert hat. Und dass Ihr Vater, der Ihnen die Freiheit geschenkt hat, nicht mehr da ist.«
»Es war ein Schlaganfall. Mein Vater hat dem Druck nicht mehr standgehalten. Die Erwartungen waren zu hoch, die Regeln zu streng. Caitlin hat ihren Sohn in die Knie gezwungen. Sie hat ihn gebrochen. Daran ist er letztlich gestorben.«
Mit schmerzlicher Intensität kehrte die Erinnerung zurück. Nachdem sie Skip in der Badewanne gefunden hatte, war sie zum Schlafzimmer ihres Vaters gegangen. Sie wusste noch, wie sie sich gefühlt hatte. Sie hatte eine schmerzhafte Lähmung empfunden, eine Kälte in allen Gliedern, und sie hatte es nicht fassen können, dass ihr Vater nicht mehr da war. Warum sie angeklopft hatte, ehe sie leise eintrat, wusste sie nicht. Vielleicht aus Respekt vor dem Toten? Oder aus Achtung vor dem Vater?
Mit gefalteten Händen hatte er auf dem Bett gelegen. Wie immer hatte er einen Anzug mit gestärktem Hemd und steifem Kragen getragen. Im Leben war Sean Tyrell eine außergewöhnliche Erscheinung gewesen. Hochgewachsen und imposant, im Auftreten bezwingend, geradezu überlegen. Und jetzt? Sie war bestürzt gewesen, als sie sein bleiches Gesicht gesehen hatte. Er hatte gelächelt. Aber es war nicht sein Lächeln gewesen, sondern ein Gesichtsausdruck, der ihm wie eine Maske aufgezwungen worden war. Dieses verkrampfte Lächeln hatte seinen Seelenzustand nicht verbergen können: Er hatte gelitten, als er starb. Und sie trug einen Teil der Schuld. Sie hatte ihn im Streit verlassen. Sie hatte Dinge gesagt, die sie jetzt zutiefst bedauerte. Denn sie hatte ihm damit wehgetan. Und er war für immer gegangen, bevor sie sich wieder versöhnt hatten. Bei dem Gedanken hatte sich ihr Herz zusammengekrampft.
Auf der Suche nach einer persönlichen Erinnerung, die ihren Dad und sie verband, hatte sie in seinen Schubladen gestöbert. Sie hatte Fotos von ihrer Mom gefunden. Seit Jahren hatte sie diese Aufnahmen nicht gesehen. Nach der Scheidung hatte Sean seine Erinnerungen an Alannah, seine Gefühle und seine Liebe vor seiner Mutter verborgen – Caitlin hatte Alannah vor Jahren aus dem Haus getrieben. Behutsam hatte Shannon die Bilder ihrer Mom zurück in die Schubladen gelegt.
Im Ankleidezimmer hatte sie seine gebügelten und gestärkten Hemden gefunden. Sie hatte ihr Gesicht in einem Hemd vergraben und den vertrauten Duft eingeatmet. Ihre Trauer hatte sie überwältigt, und endlich hatte sie geweint.
»Du lieber Himmel!«, seufzte Tom bestürzt, als ahnte er, wie sehr die Erinnerungen an ihren Vater sie immer noch aufwühlten. »Ich habe die Kälte gespürt, als ich Caitlin besucht habe«, gestand er leise. Die Vorstellung, dass sie ihren Sohn durch ihre Härte in den Tod getrieben hatte, entsetzte ihn offenbar. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist.«
»Nicht nur ich empfinde die Atmosphäre in der Familie als unerträglich. Colin ist in Alaska, genießt dort seine Freiheit und kommt nur selten nach Hause. Und Aidan hockt in einer Zelle auf Alcatraz und erklärt trotzig, er sei lediglich von einem Kerker in den anderen verlegt worden.«
»Mein Gott!«
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich würde mir wünschen, dass Sie bei Rob und mir wohnen, wenn Sie das wollen. Ich glaube, er würde Sie vermissen, wenn Sie ihm nicht zur Seite stehen. Und ich, ehrlich gesagt, auch.«
»Eine größere Freude hätten Sie mir nicht machen können.«
»Ich habe noch nicht Ja gesagt.«
»Aber auch nicht Nein.«
»Hundertvierzig Millionen sind ein überzeugendes Argument, nicht sofort aufzustehen und zu gehen.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort. Das Gold, die Diamanten und die Opale sind Ihnen doch völlig egal. Wenn irgendetwas Sie interessiert, dann der Kerl, den Sie zu dem Vermögen dazubekommen.«
»Womit wir wieder beim Thema wären.«
»Rob Conroy, der begehrteste Junggeselle zwischen San Francisco und Kapstadt. Der, wie ich gestehen muss, im Hinblick auf Frauen bisher einen entsetzlich schlechten Geschmack bewiesen hat.«
Shannon schluckte trocken und formulierte noch an ihrer Frage, als Tom sie ihr beantwortete: »Ja, er hat Geliebte.«
»Mehr als eine?«
»Ja.«
Komm schon, Shannon! Was hattest du denn erwartet? Du wolltest doch einen Kerl und keinen Laffen wie Lance Burnette, Beruf: Sohn, Lebensziel: Erbe.
Tom ahnte, was in ihr vorging. »Wie ich schon sagte, Rob ist der begehrteste Junggeselle Australiens. Er kann sich die Frauen aussuchen – und warum auch nicht! Er ist jung. Er liebt das Leben und die Liebe.«
»Tom …«
»Die Frauen, die Rob mir in den letzten Jahren vorgestellt hat, waren alle unerträglich. Die meisten übten vermutlich ihre neue Unterschrift, bevor sie mit Rob ins Bett stiegen.«
Shannon schwieg schockiert. Nicht über Toms Offenheit, sondern … Rob und sie – ob das gut gehen konnte?