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Eine zerrüttete Ehe, ein Kind im Koma und ihre Schwiegermutter ist ihr auch keine Hilfe. Marlies ist einsam, doch sie schlägt sich jeden Tag durch's Leben. Zwischen Arbeit, Krankenhaus, Friedhof und zu Hause findet sie kaum Ruhe. Sie hat Angst. Doch irgendwie scheint eine unsichtbare Hand sie zu führen. Wird es der jungen Mutter gelingen ihre Tochter zufinden und zurückzuholen?
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Von Willi und Christopher Roy
2010-2025
Für niemanden. Für jeden.
All dies stammt aus dem echten Leben Vieler und wird hier in einer fiktiven Geschichte, mit fiktiven Personen verarbeitet. Ähnlichkeiten zu realen Personen und Ereignissen sind keine Absicht.
C. R.
Texte: © Copyright by W. und C. RoyUmschlaggestaltung: © Copyright by C. Roy
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Im Herzen immer bei dir
Was ist ein Traum, was die Wirklichkeit? Wer vermag das in seinem Leben schon sicher zu sagen?
Sind nicht jedem schon einmal Worte über die Lippen gekommen, wie:
„Das kenne ich doch von irgendwoher“
oder
„Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Habe ich das schon einmal erlebt?“
Menschen reden manchmal Unsinn.
Doch wie oft hat sich das Gegenüber die Frage gestellt, ob da nicht doch etwas Wahres dran ist? Vielleicht ist das gar nicht so ein Unsinn.
Vielleicht sind es nur Worte des Glaubens. Des Glaubens an eine Sache, eine Kraft. Eine, die der Mensch so sehr braucht. Manchmal nur, um den Tag zu überstehen. Und manchmal auch, um das Leben zu überstehen.
Vielleicht sind es gar Worte der Verzweiflung.
Vielleicht kennst du so jemanden. Oder du bist so jemand. Vielleicht aber, bin auch ich so jemand.
Kapitel 1
Sie sitzt in der Küche. Durch das offene Fenster dringt ein wenig Regen in das Zimmer. Die Worte ihrer Schwiegermutter registriert sie eigentlich gar nicht.
Sie selbst ist 26 Jahre alt. Sie hat schulterlange, dunkelblonde Haare mit kleinen Locken. Sie ist zierlich gebaut und hat ein hübsches Gesicht.
Doch in letzter Zeit färbt es sich dunkel um ihre Augen. Sie sieht müde aus.
Ihr Name ist Marlies.
Ihre Schwiegermutter sitzt schon seit einer Stunde in ihrer Wohnung. Denn es ist „Kaffeezeit“, wie sie immer so schön sagt. Die Alte redet pausenlos.
Marlies schaut aus dem Fenster und denkt nach. Sie wünscht sich, ihr Mann wäre hier. Der könnte sich dann mit seiner Mutter unterhalten.
Doch der Zug ist abgefahren. Sie hat die Hoffnung längst aufgegeben. Immer nur auf ihn einzureden, wie auf eine Wand, das bringt nichts.
Sie schweigt, sitzt einfach nur da.
Sie hat sogar zu ihm gehalten, als die Leute zu reden angefangen haben. Dabei haben sie Recht gehabt. Er kennt seine Grenzen nicht. Wenn er trinkt, dann bis zum Umfallen.
Und das Schlimmste ist, dass er sich dann einfach nicht unter Kontrolle hat. Er wird laut und manchmal auch gewalttätig.
Aber nur ihr gegenüber. Der Kleinen hat er nie was getan. Aber er hat sich auch nie mit ihr beschäftigt.
Plötzlich klingelt das Telefon.
Marlies erschreckt sich und fährt sofort hoch. Noch ganz benommen von ihren Gedanken meldet sie sich.
Es ist der Arzt. Sie soll ins Krankenhaus kommen. Das Ergebnis ist da, auf das sie schon seit drei Tagen wartet. Hoffentlich hat das Bangen jetzt erst einmal ein Ende.
Ihre Tochter, gerade einmal 5 Jahre alt, liegt schon so lange im Krankenhaus, würde man Marlies fragen, wie lange schon, sie könnte es nicht sagen.
Sie nimmt ihre Tasche, sagt ihrer Schwiegermutter, dass sie los muss und eilt zur Tür. Die Worte, die ihr nachhallen, kommen nicht mehr bei ihr an.
Ihre Beine tragen Marlies in den Hausflur, doch es fühlt sich an, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Sie versteht das alles nicht. Im Treppenhaus kommen ihr die Tränen. Obwohl sie eine Stimme hört, die sagt:
„Nicht weinen“, kann sie die Tränen nicht aufhalten.
Als sie im Bus sitzt, auf dem Weg ins Krankenhaus, denkt sie über die Zeit nach, als ihre Tochter noch bei ihr gewesen ist und wie schnell sich plötzlich alles geändert hat.
Es ist ihr, als wäre das erst gestern gewesen.
Es war ein Montag. Sie weckte ihre Tochter und machte das Frühstück fertig. Es gab frische Brötchen, die sie geholt hatte. Damals war die Kleine 4 Jahre alt. Sie war schon sehr selbstständig und so konnte Marlies auch schnell zum Bäcker an der Ecke gehen. Denn ihr Mann lag, wie so oft, betrunken auf der Couch und war am Ausnüchtern. Die Kleine kannte das nicht anders und wusste auch nichts mit ihrem Vater anzufangen.
Zu den Brötchen gab es Marmelade und Käse. Eine Tomate hatten sie sich geteilt. Und jeder eine Mandarine gegessen. Die Kleine zog sich die Sachen an, die sie sich schon selbst aussuchte. Meist musste Marlies auch gar nichts dagegen sagen. Nur wenn das gelbe Kleid angezogen werden sollte, obwohl es draußen regnete und alles matschig war, dann war das so eine Ausnahme. Als Marlies und die Kleine fertig waren, verließen sie das Haus und gingen Hand in Hand die Straße runter. Etwa 10 MinutenFußweg lagenzwischen ihrem Haus und dem Kindergarten.
Die Kleine liebte den Kindergarten und es gab schon lange keine ausgedehnten Abschiedsszenen mehr. Marlies musste auch gleich weiter zur Arbeit. Sie gab der Kleinen einen Kuss und verabschiedete sich. Kaum auf der Arbeit angekommen, klingelte das Telefon. Sie sollte sofort ins Krankenhaus fahren. Ihre Tochter sei ohnmächtig geworden und man hatte den Notarzt angerufen. Sie hetzte ins Krankenhaus und musste noch bis zur Mittagszeit warten, bis der Oberarzt ihr mitteilte, dass ihre Tochter einen Tumor im Kopf hatte und schnellstmöglich operiert werden musste. Nach der OP fiel sie dann in ein Koma, aus dem sie nun einfach nicht mehr erwachen will.
Heute hetzt sie nicht mehr so ins Krankenhaus.
Die Pförtner kennt sie schon und sie nicken sich immer mit einem Lächeln zu, wenn sie sich sehen. Heute gibt es das Ergebnis des MRT, eine Magnet-Resonanz- Irgendwas.
Es bestand letzte Woche der Verdacht, dass der Tumor wiederkommen könnte.
Doch es gibt Entwarnung.
Der Arzt begrüßt Marlies mit einem leichten Lächeln und sagt ihr, dass soweit alles in Ordnung sei mit ihrer Tochter.
„Die Ergebnisse sehen gut aus. Diese Hürde ist geschafft. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der Tumor wiederkommt.“ „Danke, Doktor“, erwidert die junge Frau.
„Nun heißt es weiter warten und hoffen, dass sie bald wieder aufwacht. Gehen Sie nach Hause. Es ist spät geworden. Wir melden uns, wenn es etwas Neues gibt.“
Warten, warten. Immer dieses Warten. Was soll sie denn zu Hause? Da, wo entweder ihr betrunkener Mann oder seine Mutter immer dabei sind, Marlies fertig zu machen. Sie hat jeden Glauben in die beiden verloren.
In Gedanken ist sie kurz auf ihre Insel geflohen. Dort gibt es nicht viel. Kein Saus und Braus. Nur einfach Leben. Dort kann sie das Leben einfach leben und genießen.
Als sie durch die Stadt läuft, bleibt sie langsam stehen und betrachtet sich in einer Schaufensterscheibe. Sie spürt einen leichten Regen auf der Haut. Sie mag das sehr. Obwohl es heute irgendwie anders ist als sonst.
Es fühlt sich so an, als würde der Regen wie ein Schwamm ganz leicht über ihren Körper gleiten. Über den ganzen Körper.
Die Kleidung wirkt dennoch so gut wie trocken. Marlies betrachtet die Menschen.
Vor allem die mit Kindern. Traurig steht sie da und hebt ganz leicht die rechte Hand zur Seite. Sie stellt sich vor, ihre Tochter steht jetzt neben ihr. Doch sie greift, wie so oft, ins Leere, wenn sie die Hand schließt.
Sie selbst hat keine Eltern mehr. Es war ein Verkehrsunfall und sie erst 10 Jahre alt.
Sie waren zu dritt im Auto unterwegs. Marlies war hinten auf dem Rücksitz. Ihr Vater fuhr ein wenig zu schnell und es regnete. So wie jetzt gerade. Urplötzlich kam ein Auto von vorn direkt auf sie zu gerast. Sie hörte ihren Vater noch rufen:
„Der muss rüber. Das ist die falsche Spur!“
Doch da war es schon zu spät. Es gab einen lauten Knall. Und dann Stille. Alles dunkel. Sie öffnete die Augen und sah 4 oder 5 Gesichter über sich. Einige weiß, einige blau angezogen.
„Keine inneren Verletzungen. In ein paar Tagen bist du wieder auf den Beinen, meine Kleine. Wie heißt du denn überhaupt?“ „Marlies“, kam es ihr leise und etwas zögerlich über ihre Lippen. „Du bist jetzt in Sicherheit, Marlies. Ich bin Doktor Paul.“
Kurze Zeit später hat man ihr gesagt, dass ihre Eltern bei dem Unfall gestorben waren. Von da an sprach sie kein Wort mehr. Nur bei ihrer Tante konnte sie sich öffnen. Und so kam sie zu ihr. Bis sie erwachsen wurde.
Aber sie hat ihre Eltern nie vergessen. Regelmäßig geht sie zum Friedhof, macht dort sauber, gießt die Blumen oder holt sich manchmal einen Rat. Dann, wenn das Lebensrad wieder einmal still steht, sitzt sie auf einer Bank. Direkt gegenüber vom Grab ihrer Eltern, gleich am Wegesrand.
Von dort aus erzählt sie über ihre Sorgen, über ihre Ängste. „Warum nur all dieser Schmerz“, hat sie sich oft gedacht.
Wo andere Menschen fröhlich lachen, da weint sie.
Ohne es wirklich zu merken, bewegt sie sich in Richtung Friedhof. Es ist noch hell draußen. Marlies erblickt die Uhr an der Kapelle. Gerade 18 Uhr.
Warum hat er gesagt, es sei schon spät geworden?
Sie schlendert langsam auf das Eingangstor zu. Es stehen einige Autos auf dem Parkplatz. Eine Beerdigung um diese Zeit ist ungewöhnlich. Die finden hier normalerweise immer gegen Mittag oder Nachmittag statt.
Langsam geht sie auf das Grab ihrer Eltern zu, setzt sich auf die Bank. Heute ist nichts zu tun, da sie gestern schon hier war. Das Grab neben ihren Eltern sieht leider nicht so schön aus.
Es wird nicht gepflegt. Sieht man gleich. Es ist ohne Liebe gestaltet.
Dann öffnet sich die Tür der Kapelle. Trauernde treten heraus. Sie wirft einen Blick auf die Leute, aber sie kennt niemanden von ihnen.
Kurze Zeit später hört sie eine Grabrede. Im Hintergrund etwas Musik. Der Regen hat aufgehört. Doch ihr ist kalt geworden. Tränen laufen über ihr Gesicht.
Wenn ihre Tochter endlich wieder gesund ist, will sie ein ganz neues Leben beginnen. Nur sie und ihre Tochter. Ohne Mann und Schwiegermutter.
Beide hat sie jetzt nämlich erst richtig kennen gelernt. Immer nur dieses „Ich“. Sie weiß nicht genau woher sie diese Worte hat, die plötzlich durch ihren Kopf fliegen. Vielleicht von ihrer Tante. „Merk dir Kind: Einen Menschen lernst du erst richtig kennen, wenn das Leben aus den Fugen geraten ist. Wer dann zu dir hält, ist ein wahrer Freund.“
Dann, plötzlich ist es still. Marlies blickt auf und betrachtet die Trauernden. Ihr Blick wandert zum Grab ihrer Eltern.
„Wenn ihr doch jetzt nur bei mir wärt. Ich hätte so viele Fragen an euch.“
Im Augenwinkel sieht sie etwas auf sich zukommen. Sie schaut nach rechts und sieht eine ältere Frau. Sie läuft gebückt und stützt sich auf einem Stock ab. Sie ist ganz in schwarz gekleidet. Doch zu den Trauergästen scheint sie nicht zu gehören. Sie kommt aus einer ganz anderen Richtung, bleibt vor der Bank stehen und setzt sich dann langsam.
Die alte Frau sieht traurig aus. Ihr hat das Leben sicher auch übel mitgespielt.
„Da. Da drüben.“
Sie zeigt mit ihrer Krücke etwas nach links.
„Da drüben liegt mein Mann. Ist jetzt schon 3 Wochen her.“
„Das tut mir leid“, sagt Marlies mit etwas zittriger Stimme.
Die ältere Frau winkt ab und erklärt Marlies, dass sie selbst ja zuerst gehen wollte. Aber Gott habe dem nicht zugestimmt. Jetzt gibt sie ihrem Mann wieder, was er ihr so viele Jahre lang gegeben hat. Sie war lange Zeit krank gewesen und ihr Mann hat sie immer gepflegt.
Als junger Mann wurde er eingezogen. Er musste im 2. Weltkrieg dienen und wäre damals schon beinahe erschossen worden.
„Nie hat er gejammert. Die hatten das nicht so gut, wie die Soldaten von heute. Das sind doch auch keine richtigen Männer mehr. Sie sind doch nur am Jammern, bekommen so viel Geld und sind nicht aus Überzeugung bei der Sache. Ach, was erzähle ich da wieder.“
Die alte Frau schaut Marlies an und fragt ganz reumütig:
„Was bedrückt dich denn so sehr, dass du so traurig aussiehst?“ Sie stößt mit ihrem Stock immer wieder leicht auf denBoden. So als wolle sie ihrer Frage mehr Nachdruck verleihen und sagen: „Ich frage nicht nur aus Höflichkeit. Ich möchte es wirklich wissen.“
Doch Marlies fehlen die Worte. Sie versucht es wirklich. Doch sie bekommt kein Wort über die Lippen. Die Tränen rollen wieder etwas stärker.
Da reicht ihr die alte Frau ein Taschentuch. An ihrer Schulter kann Marlies spüren, wie die Ältere sie etwas anstößt und sagt: „Hier, nimm schon.“
Marlies hebt ihren Arm und greift langsam nach dem Taschentuch.
Es ist kein Papiertaschentuch. Es ist eines aus Stoff. Gefaltet, als käme es direkt aus dem Schrank. Und es riecht frisch gewaschen. Marlies wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und hört die fremde Frau leise flüstern:
„Manchmal ist Reden eine Erleichterung.“
Unter Tränen beginnt Marlies langsam zu erzählen, was sie so sehr bedrückt. Sie erzählt von ihrer Tochter, von ihrem Mann, der Schwiegermutter.
Und während sie erzählt, vergeht die Zeit. Von Minute zu Minute spürt sie es immer stärker. Es ist, als läge ihr ein Stein auf der Seele, der nun im Fallen war.
Sie schaut auf die Uhr und merkt, dass sie gar nicht mehr darüber nachgedacht hat, wer da eigentlich neben ihr sitzt. Über eine Stunde ist vergangen.
Beim Blick zur Seite wird klar, dass die Ältere schon weg ist. Marlies fragt sich, wann die Fremde wohl gegangen ist.
Sie schaut nach unten auf ihre Hand und sieht, dass sie das Taschentuch immer noch in der Hand hält. Jetzt erst kommt sie dazu, es richtig auseinander zu falten und anzuschauen.
Es ist schon fast wieder trocken. Sie sieht sich das Muster an und erkennt darin eine Art Floß. Auf diesem Floß steht jemand. Man kann ihn oder sie nicht erkennen. Die Person ist ganz in schwarz gehalten. Wie ein Schatten. Ein Schatten, der ein Ruder oder einen langen Stab in den Händen hält, welcher im Wasser verschwindet.
Über dem Bild ist eine Münze abgebildet. Auf ihr ist ein Tor eingraviert.
Der Wind streift ihren Nacken und lässt ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie steht auf und verlässt langsam den Friedhof.
Als sie zu Hause ankommt, merkt Marlies, dass die Wohnung fast leer geräumt ist.
Plötzlich läutet die Türklingel ganz kurz. Gerade noch beim Herumdrehen, öffnet sich auch schon die Tür und ihre Schwiegermutter kommt herein.
Die hat ja auch einen Schlüssel, fährt es Marlies durch den Kopf. „Mein Sohn wohnt jetzt wieder bei mir. Wenn du deine Tochter nach Hause holst, kommt mein lieber Sohn ja gar nicht mehr zur Ruhe. Am besten ist es sowieso, wenn du hier weg ziehst. Sonst haben wir das ganze Elend ja praktisch vor der Haustür.“
Dann nimmt die Schwiegermutter noch eine kleine Kiste vom Tisch und verschwindet wieder.
Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Es ist jedoch kein leises Schließen. Man kann förmlich hören mit wie viel Abscheu und Hass die Tür beim Rausgehen zugeschlagen wird.
Schon bei der Hochzeit hat sie leise zu Marlies gesagt:
„Du bringst meinem Sohn nur Unglück. Das habe ich auf den ersten Blick erkannt.“
Marlies hat immer gehofft, dass sich die Beziehung zwischen ihnen eines Tages bessern würde, aber sie hat sich schon lange damit abgefunden, dass es dazu nicht kommen wird.
Zuerst öffnet die junge Frau alle Fenster in der Wohnung. Es liegt ein Geruch von Alkohol in der Luft.
Nun können sie ja beide trinken, ohne dass ihnen jemand sagt, dass es langsam reicht.
Und heute macht er es wie sein alter Herr und lässt sein kleines Kind im Stich. Andererseits ist es so wohl auch besser, denn am Ende hätte er immer noch da gewohnt, aber nichts getan und somit muss sie sich nur noch um ihre Tochter und sich selbst kümmern.
Die Gedanken kreisen und verirren sich. Sie versucht eine Ordnung hinein zu bringen, denn so kann sie nicht zur Arbeit morgen früh. Ihre Arbeit braucht sie nicht nur um ihr Einkommen zu sichern.
Sie ist auch eine Abwechslung in der Einsamkeit ihres Lebens.
Sie sitzt auf dem Bett, greift ein Bild von ihrer Tochter, betrachtet es, streicht mit dem Finger über das Gesicht. Dann stellt sie das Bild wieder auf den Nachttisch und legt sich ins Bett. In Gedanken versunken träumt sie weg und schläft irgendwann in der Nacht ein.
Kapitel 2
Als sie im nächsten Morgen durch ihren Wecker erwacht, fällt ihr beim Ausschalten auf, dass sie nicht nur das Taschentuch von der alten Frau in der Hand hält, sondern auch, dass sie auffallend gut geschlafen hat. Lag es an dem Taschentuch? Oder daran, dass sie nun allein schläft?
Keine Ahnung.
Sie geht ins Bad, macht sich fertig. Dann anziehen und eine Kleinigkeit essen. Auf der Arbeit weiß jeder Bescheid über ihre Situation. Über ihre Tochter. Anfangs gab es täglich Fragen aus allen Richtungen. Doch diese sind schon länger verblasst. Wenn sich eine Situation nicht ändert, gerät das Thema in den Hintergrund. Und irgendwann in Vergessenheit.
Die Leute brauchen eben immer etwas Neues zu erzählen. Egal wie tragisch oder schrecklich ein Vorfall, ein Schicksal ist, immer das gleiche Thema langweilt den Menschen. So ist er eben. Der Mensch.
Anders ist es dann, wenn sich eine Sache immer wiederholt. Zum Beispiel lässt sich die Nachricht, dass Nancy aus der Buchhaltung schon wieder geschminkt ist „wie eine Hure“, wesentlich besser und vor allem, jede Woche verbreiten.
Sowas wird eben nie langweilig.
Marlies versucht sich zu konzentrieren. Sie braucht ihre ganze Aufmerksamkeit für die Arbeit. Ihre Kollegin sitzt ihr direkt gegenüber.
Aber sie können sich nicht anblicken, da vor jeder Frau ein großer Monitor steht. Dafür kann sie sich dahinter gut verstecken und sieht trotzdem gleich, wenn die Tür aufgeht und wer den Raum betritt.
Sie hat das Gefühl, als würde die Zeit heute überhaupt nicht vergehen. Sie lehnt sich langsam nach hinten und denkt an ihre Tochter. Was soll sie heute mitnehmen, wenn sie ins Krankenhaus geht und sie besucht? Und war das Taschentuch ein Geschenk von der alten Frau oder nur geliehen?
Egal. Sie wird es waschen und ihr wieder mitbringen.
Plötzlich merkt sie, dass ihre Kollegin aufsteht und sich die Jacke anzieht. Sie ist schon in Aufbruch-Stimmung. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass die Zeit nun doch schneller vergangen ist, als erwartet.
So ist das eben, wenn man am Träumen ist.
Sie hört nur noch ein:
„Bis morgen.“
Auch wenn ihre Kollegin in letzter Zeit etwas zurückhaltender ist, als sie es ohnehin schon ist, weiß Marlies, dass sie sich im Grunde gut verstehen. Und das ist doch das Wichtigste.
Obwohl weder Marlies noch ihre Kollegin je viel erzählt haben. Das Private bleibt zu Hause und wenn doch mal was erzählt wird, bleibt es immer in diesem Büro. Kein Kaffeeklatsch am Wochenende, keine Weihnachtsfeier zum Jahresabschluss, keine gemeinsamen Shopping-Touren durch überfüllte Einkaufsläden, um mit konsumgeilen, kaufsüchtigen Menschen um die besten Angebote zu kämpfen oder über „den Fetten da hinten“ oder „die Olle da drüben“ herzuziehen.
Marlies stellt sich vor, dass ihre Kollegin genauso eine Abscheu gegen diese Sachen hat, wie sie selbst. Und dass sich beide auch beim Schweigen wohl fühlen. Das tun ja scheinbar die wenigsten Leute.
Sie fährt den Rechner runter, schließt den Schreibtisch ab und verlässt pünktlich ihr Büro.
„Ich werde heute direkt ins Krankenhaus fahren“, meint sie zu sich selbst.
Sie sitzt schon eine ganze Weile am Bett ihrer Tochter und hält ihr die Hand. Die Blicke wandern regelmäßig durch das kahle Zimmer. Es ist kalt hier drin. Doch nicht die Temperatur lässt ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Es ist die Umgebung. Das Zimmer ist einsam und kalt gestaltet. Die Kleine schläft. Sie ist hier, aber eigentlich nicht mehr auf dieser Welt. Das sind die Worte, die ihr hier oft gesagt werden.
Bevor wieder Tränen aufsteigen, steht sie auf und gibt ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Sie spürt die Wärme. Jedes mal, wenn diese Wärme durch ihren Körper fährt, weiß sie innerlich, dass die Kleine noch hier ist und nur ein kleiner Fingerschnipp fehlt, um sie aufwachen zu lassen.
Nicht, dass sie das im wörtlichen Sinne noch nicht probiert hat. So lächerlich es auch aussehen mag, aber mit den Fingern zu schippen, fiel ihr schon ganz kurz nachdem auftreten des Komas ein. Sie hatte es wochenlang jeden Tag versucht. Sie hatte das aus einem Hypnose-Buch. Es hat nichts gebracht. Sie nimmt ihren Mantel und verlässt die Klinik.
Als sie durch die Straßen geht, sieht sie ein Schaufenster und bleibt urplötzlich stehen. Warum weiß sie nicht. Sie sieht viele Klamotten. Pullover, Hosen, Blusen. Eigentlich ist nichts dabei, was ihr wirklich gefällt, aber sie hat das Gefühl, jemand würde sie rufen. Als greife jemand ihre Hand und zieht sie in dieses Geschäft. Sie öffnet die Tür und tritt ein. Im dem Geschäft herrscht eine sehr angenehme Atmosphäre.
Marlies erblickt eine ältere Frau hinter der Theke, begrüßt sie und schaut sich etwas um. Auch hier kann sie nichts finden, was ihr gefällt. Doch sie fühlt sich sehr heimisch hier, sodass sie langsam durch den Laden geht und so tut, als würde sie etwas Bestimmtes suchen. Jetzt erst, beim genauen Hinsehen, bemerkt sie, dass hier auch viele selbst gestrickte Sachen zum Verkauf stehen. Blumengestecke und viele andere kleine Dinge. Diesen Laden hat sie noch nie wahrgenommen. Marlies ist so sehr in Gedanken, dass sie gar nicht merkt, wie die Verkäuferin aufsteht und in ein Hinterzimmer verschwindet.
Plötzlich steht sie neben Marlies und hält ihr eine Strickjacke hin. „Müsste passen.“
Marlies nimmt die Jacke und probiert sie an.
„Die ist wunderschön. Genau mein Geschmack. Als hätten sie es gewusst.“
Sofort spürt sie die Wärme am Körper.
„Die nehme ich. Und behalte sie direkt an. Was bekommen Sie von mir?“
Sie zahlt die Jacke und verlässt mit einem breiten Lächeln das Geschäft. Zum Abschied winkt sie der Verkäuferin. Als sie draußen ist, fällt ihr erst auf, dass sie der Verkäuferin gar nicht gesagt hat, was sie wolle. Und überhaupt. Sie wollte ja auch gar nichts. Noch komischer ist, dass sie sich so eine Jacke schon gewünscht hat, als sie klein war. Hellbraun mit dunkelbraunen und roten Mustern aufgestickt. So eine hatte ihre Mutter immer getragen. Marlies hatte das bis heute völlig vergessen. Erst jetzt fällt es ihr wieder ein. Als hätte die Verkäuferin gewusst, wer da im Laden steht. Und auch, dass ihr immer so kalt ist.
Oder sieht man mir an, dass die Kälte mein ständiger Begleiter ist?
Während dieser Gedanken geht sie schon an weiteren Geschäften vorbei, denn sie sucht noch eine Kleinigkeit für ihre Tochter. Trotzdem lassen sie diese Gedanken nicht mehr los.
Das kann kein Zufall sein. Gerade als sie sich umdrehen will, erblickt sie in der Spiegelung eines Schaufensters, dass da ein kleiner Teddy aus der Jackentasche schaut. Sie lächelt. Zieht das Kuscheltier aus ihrer linken Jackentasche und macht auf der Stelle kehrt.
Sie eilt in Richtung des Ladens zurück. Nicht nur wegen des Zufalls mit der Jacke, sondern auch, um die Verkäuferin zu fragen, ob der Teddy mit zur Jacke gehört. Denn nun hat sie ein schönes Geschenk für ihr Kind.
Mit schnellem Schritt am Laden angekommen hat sie schon die Klinke in der Hand als sie sieht, dass das Licht schon aus ist. Und tatsächlich. Auch die Tür ist verschlossen.
„Hm. Kann man Nichts machen.“, sagt sie leise zu sich.
Viele Menschen sitzen heute draußen. Bei Kaffee und Kuchen, im Biergarten. Die Straßen sind kaum befahren. Kein Autolärm und keine Abgase. Die Luft ist klar. So, als spaziere sie über eine Wiese an einem See entlang. Marlies schließt die Augen und atmet tief ein. Sie lächelt.
Als sie den Hausflur betritt, riecht sie Bier und Zigarettenrauch. Es ist dreckig hier im Treppenhaus. Die Hälfte der Bewohner, wenn man sie so nennen will, sitzt im Flur, trinkt und raucht. Tag und Nacht trifft man hier betrunkene Leute. Es ist abscheulich. Nur ihr Mann hat sich hier immer wohl gefühlt. Denn wer hier Alkoholiker ist, kann immer sagen:
„Schau dir den und den an, der ist doch viel schlimmer als ich.“ Und damit hat er sogar Recht. Sie hat das alles so satt. Die besoffenen Männer schauen ihr auch jedes Mal nach und lassen obszöne Sprüche fallen. Die hört sie aber schon gar nicht mehr.
Alles, was sie will ist weg hier. Wenn die Kleine wieder aufwacht, dann bringt sie sie in ein neues zu Hause.
Das hat sie sich vorgenommen.
Marlies öffnet die Tür, betritt ihre Wohnung und schließt direkt hinter sich zu. Sie will einfach ihre Ruhe haben. Schuhe aus, direkt ins Schlafzimmer fällt sie auf das Bett und schläft sofort ein.
Irgendwann in der Nacht suchen ihre Hände nach einer Decke. Ihr ist schon wieder kalt. Aber nur kurz. Sie zieht schnell ihre Sachen aus und schläft mit der Decke fest um sich geschlungen schnell wieder ein.
Am nächsten Morgen verlässt sie die Wohnung früher als sonst. Sie will noch zum Bäcker. Im Hausflur sind überall Zeitungen verteilt. Marlies sammelt sie zusammen, verteilt sie auf die Briefkästen und steckt eine in ihre Handtasche.
Auf der Arbeit angekommen, stellt sie fest, dass ihre Kollegin noch nicht da ist. Also geht sie in die kleine Küche – jede Etage hat eine – und stellt die Kaffeemaschine an. Kaum im Büro angekommen, klingelt das Telefon. Es ist ihre Kollegin. Sie redet sehr schnell. Und viel. Marlies kann ihr nicht wirklich folgen. Doch am Schluss meint die Kollegin, dass sie krank ist und erstmal zum Arzt muss.
„Alles klar. Ich sag hier Bescheid. Gute Besserung“, sagt Marlies und legt auf.
Auch nicht schlecht. Gibt’s diese Woche mal zwei Stück Kuchen für mich, denkt sich Marlies kurz darauf. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, lehnt sich nach hinten und blättert die Wohnungsanzeigen durch. „Vermiete 3-Zimmer-Wohnung mit kleinem Garten und Terrasse.“ Schnell Google-Maps angeschmissen und die Straße auf dem Stadtplan gesucht. 15 Minuten bis zur Arbeit. Zu Fuß! Das ist schon mal super. Kindergarten und Schule in der Nähe. Sehr schön.
Sie wählt die Telefonnummer und am anderen Ende meldet sich eine Frauenstimme.
Sie vereinbaren einen Termin zur Besichtigung am späten Nachmittag. Marlies ist für den Rest der Arbeitszeit sehr aufgeregt und träumt immer wieder davon, wie ihre neue Wohnung aussehen soll.
Sie ist schon eine Weile unterwegs. Doch irgendwie findet sie das Haus nicht. Hinter sich hört sie Kinderstimmen. Marlies dreht sich um und sieht 2 kleine Mädchen in einer Einfahrt spielen.
„Sagt mal, wisst ihr, wo die Nummer 2a ist? Ich suche die Frau Schmidt.“
Die Kinder zeigen beide mit dem Finger in eine Querstraße.
„Da lang, Tante“, sagt die eine.
„Danke euch.“
Mit einem Lächeln geht Marlies in die gezeigte Richtung. Normalerweise findet sie recht schnell zu fremden Adressen, aber heute klappt es nicht ohne Hilfe. Vielleicht liegt es auch am Wetter, das sie so abgelenkt hat. Mal scheint die Sonne, dann regnet es plötzlich wieder und es ist auch recht windig heute.
Dank der Hilfe der Mädchen und eines zügigen Schrittes kommt Marlies noch pünktlich. Sie sieht eine ältere Frau an einem Zaun stehen, die blickt von rechts nach links und von links nach rechts. Sofort, als sie Marilies erblickt, winkt sie die junge Frau zu sich ran.
Sie begrüßen sich und die Frau fängt direkt an zu erzählen. „Es ist sehr ruhig hier. Kaum Kinder. Was eigentlich schade ist“ Es ist ein kleines Haus. Keine Wohnung, wie in der Anzeige beschrieben. Vom Platz her macht das keinen großen Unterschied. Aber hier hat sie einen Hausflur ohne zugedröhnte, aufdringliche Männer.
Drei Zimmer, Küche und ein Bad mit Dusche und Badewanne. Marlies lächelt. Sie denkt an die Zeit zurück, als sie bei ihrer Tante gewohnt hat. Damals war sie das letzte Mal in einer Badewanne.
Das muss bestimmt 12 Jahre her sein. Bei dem Gedanken wird ihr direkt warm ums Herz. Es geht weiter über die große Terrasse hinaus um das Haus herum in den kleinen Garten.
Der reicht völlig aus. Man kann auch vom Wohnzimmer aus in den Garten gehen. Die Terrasse ist vor der Haustür angebaut. So, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt.
Marlies fühlt sich richtig wohl hier. Als die beiden wieder vorne ankommen, sieht die junge Frau erst, dass auch eine Garage mit dazu gehört.
„Was meinen Sie, junge Frau. Gefällt ihnen die Wohnung?“ „Alles sehr schön. Ich würde sie sofort nehmen. Aber wie hoch ist die Miete? Ich konnte dazu keine Angaben in der Anzeige finden.“
„350 Euro. Kaltmiete. Wasser, Strom, Heizung müssen Sie selbst anmelden.“
„Das hört sich gut an. Ich nehme die Wohnung. Ab wann kann ich denn rein?“
„Sofort!“, meint die Ältere und hält grinsend einen kleinen Schlüsselbund vor das Gesicht der jungen Frau.
„Hier, die Schlüssel. Den Vertrag machen wir fertig, sobald Sie eingezogen sind. Dann kommen Sie auch mal zum Kaffee rüber. Ich wohne nämlich direkt nebenan.“
Marlies nimmt die Schlüssel an sich. Sie strahlt über das ganze Gesicht, bedankt und verabschiedet sich von der Vermieterin.
Während sie die Straße entlang geht, schaut sie sich um. Betrachtet die neue Nachbarschaft.
Da sieht sie plötzlich ein Schild an einer Hauswand. „Umzugsfirma Lorenz“ steht darauf. „Das ist ja ein Ding“, fährt es ihr über die Lippen.
Sofort schlägt sie den Weg zur Haustür ein.
Sie klingelt und wartet einige Sekunden. Sie hört von drinnen Geräusche. Dann öffnet sich langsam die Tür. Ein Mann um die 60 öffnet ihr. Er ist groß und hat ein freundliches Gesicht. Er lächelt und sagt:
„Na, junge Frau. Nehmen sie die Wohnung? Wenn es schnell gehen soll, könnte ich gleich morgen mit den Jungs vorbeikommen. Oder am Wochenende. Ganz wie sie möchten. Ich selbst bin auch noch zu haben“, lacht er aus voller Kehle heraus. „Ich mach nur Spaß.“
Marlies fehlen die Worte. Sie kommt kaum dazu etwas zu sagen. „Wo- Woher wissen Sie?“
„ Meine Enkelin. Sie hat Ihnen vorhin den Weg gezeigt. Also sagen wir Freitag, ja? Geben Sie mir noch Ihre Adresse.“
Marlies nickt und schreibt die Adresse auf einen Zettel, den der Mann ihr reicht.
„So schnell haben wir noch keinen Umzug hinbekommen“, sagt er noch.
Die junge Frau lächelt. Sie strahlt und sagt nur:
„Danke. So reibungslos läuft selten etwas ab. Haben Sie noch einen schönen Tag.“
Stolz, das alles allein geschafft zu haben, geht sie den Weg in Ihre Wohnung. Es vergehen noch drei Tage und der Umzug steht an. Sie hat alles gepackt und beschriftet. Alle Kisten und Möbel stehen bereit, um abgeholt zu werden. Pünktlich um 7 Uhr früh steht Herr Lorenz mit 3 jungen Männern vor der Tür.
„Guten Morgen. Wie ausgemacht“, sagt er grinsend.
Marlies hat mit ihm nochmal telefoniert und erklärt, dass sie am Freitag arbeiten muss. Herr Lorenz hat ihr angeboten, gleich früh zu kommen und den Schlüssel an sich zu nehmen, wenn sie alles beschriftet und gepackt hat, was mitgenommen werden soll. Das waren 3 lange Tage. Aber Marlies ist glücklich, dass sie heute nach der Arbeit gleich in ihr neues zu Hause gehen kann und in den nächsten Tagen nur noch die Kisten auspacken muss.
Es dauert gefühlt nur Stunden, da ist der Sonntag schon erreicht. Heute muss sie ihre Schwiegermutter besuchen und ihr den Schlüssel für die alte Wohnung geben. Nicht nur, weil ihr Mann selbst für eine Schlüsselübergabe keine Konzentration aufbringen kann. Die alte Wohnung gehört der Schwiegermutter und ihr Mann soll dort auch wieder einziehen, hat sie ihr gesagt. Der Weg dorthin fällt der jungen Frau sehr schwer. Angekommen, öffnet die Schwiegermutter die Tür und redet sofort los:
„Na, hast du endlich eine Wohnung?! Man muss auch loslassen können. Was will man mit einem Kind, das im Koma liegt und wenn es denn überhaupt mal erwacht, auch noch behindert sein wird. Ich habe mit deinem Mann gesprochen. Er sieht das genauso. Ich bin ja überhaupt immer noch der Meinung, dass das Kind nicht seins sein muss. Wer weiß das schon so genau.“
Ohne Worte reicht Marlies die Schlüssel an die Frau, die scheinbar ohne Luft zu holen, immer weiter redet.
„Es ist besser so, Marlies. Dann können wir uns wieder frei bewegen und mein Sohn kann endlich wieder zur Ruhe kommen. Er trinkt viel weniger, seit er hier wohnt und sich mit den ganzen Sorgen nicht mehr rumschlagen muss.“
„Ja.“
Mehr fällt Marlies nicht ein. Sie kennt das Gefasel von der Alten schon lange. Da ist nichts zu machen.
„Ist alles meine Schuld. Ich wünsche dir trotzdem noch einen schönen Sonntag“, sagt Marlies, dreht sich um und geht langsam fort.
„Vergiss bloß nicht, dich bei Gas und Strom abzumelden! Nicht, dass wir für dich noch bezahlen müssen!“
Im Hausflur trifft sie ihren Mann, der sie allerdings nicht erkennt, weil er „viel weniger“ getrunken hat. Er scheint so voll, dass er sich selbst nicht mehr kennt.
Auf dem Weg ins Krankenhaus gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Nie hat sie daran gedacht, sich zu trennen. Sie wollte immer eine heile Familie. Für die Kleine. Aber es war klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Seit ihre Tochter im Krankenhaus liegt, ist weder ihr Mann noch die Schwiegermutter auch nur ein einziges Mal zu Besuch dort gewesen. Die Kleine ist einfach abgeschrieben.
Dass beide schwere Zeiten im Leben durchgemacht haben und nur auf diese Weise mit schweren Schicksalsschlägen umgehen können, hat Marlies oft als Entschuldigung für die emotionale Abwesenheit ihres Mannes und seiner Mutter benannt. Es löst zwar die Wut auf die beiden, aber das Gefühl der großen Einsamkeit, des unendlichen Alleinseins holt sie trotzdem immer wieder ein. Sie hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Damals. Bei der Hochzei
Dann fällt ihr auf, wie schnell das Wochenende vergangen ist. Morgen darf sie nicht vergessen, sich bei den Stadtwerken umzumelden. Auch beim Stromanbieter muss sie sich melden. Im Krankenhaus angekommen geht sie irgendwie verträumt den langen Flur entlang. Die Krankenschwestern nicken ihr wortlos zu. Bisher hat sie immer nur die Schritte bis zum Zimmer ihrer Tochter gezählt. Es sind 137. Heute schaut sie die Wände an. Alles weiß. Sie hat diesen Flur noch nie genauer betrachtet. Es sieht alles sehr eintönig aus. Steril. Auch hier wenig Liebe bei der Einrichtung und Dekoration.
Sie sitzt am Bett ihrer Tochter mit dem Teddybären in der Hand. „Ich habe dir etwas mitgebracht. Hier schau her. Der soll dich beschützen und dir helfen, wieder aufzuwachen. Ich hoffe, er gefällt dir. Und es gibt noch mehr Neuigkeiten. Du hast ein neues Zimmer! Es ist doppelt so groß wie das Alte. Wir wohnen jetzt in einem eigenen Haus. Und unser Badezimmer hat nicht nur eine Dusche, sondern, stell dir vor, auch eine Badewanne! Draußen ist eine Terrasse und hinterm Haus ist ein Garten. Dort können wir im Sommer spielen. Draußen wird es nämlich schon langsam warm. Die Blumen blühen auch schon. Wach bitte bald auf, ja? Hörst du. Ich warte auf dich.“
Sie legt den Teddy in den kleinen Kinderarm und dann hört sie ganz leise eine Stimme:
„Danke, Mami. Du darfst jetzt gehen. Ich muss noch etwas schlafen.“
Die junge Frau springt auf, rennt auf den Flur und ins Schwesternzimmer.
„Sie hat gesprochen. Ganz leise, aber sie hat gesprochen!“
„Ich rufe den Doktor.“
Schwester und Arzt stehen mit Marlies im Zimmer. Der Arzt geht zu dem Kind, schiebt ein Augenlid hoch und leuchtet mit seiner kleinen Taschenlampe hinein. Er nimmt Marlies bei Seite und spricht leise zu ihr:
„Wissen Sie, manchmal spielt uns unser Unterbewusstsein einen Streich. Besonders, wenn wir uns sehr stark etwas wünschen. Es gibt keine Anzeichen auf eine Reaktion. Gehen Sie besser nach Hause.“
Während der Arzt noch spricht, wird sie von der Schwester schon halb aus der Tür geschoben. Sie zwinkert ihrer Tochter noch kurz zu und verlässt dann wortlos das Krankenhaus.
Kapitel 3
Die neuen Nachbarn grüßen sie, als ob sie schon immer dort wohnt. Sollte sie Hilfe brauchen, muss sie nur klingeln. Das hat sie von fast jedem in ihrer Straße gehört. Sie hat allen in die Augen gesehen und gemerkt, dass es auch wirklich so gemeint ist. Nicht nur als leere Floskel, wie es so viele Menschen machen. Sie kennt das nur zu gut.
„Wir müssen uns mal wieder treffen.“
Aber wenn sie fragt, haben die Menschen keine Zeit.
„Wenn was ist, melde dich!“
Aber wenn sie sich dann meldet, haben die Menschen keine Zeit. Hier ist das anders. Das spürt sie.
Als sie Montagabend von der Arbeit kommt, geht sie zum Haus von Herrn Lorenz, um nach der Rechnung zu fragen. Doch es ist niemand da.