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Barbara Demick

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Beschreibung

Leben und lieben in Zeiten der Diktatur: Die Autorin und Journalistin Barbara Demick erzählt bewegende Geschichten von Menschen in Nordkorea, ihrem Alltag, ihren Beziehungen, ihren Ängsten und vor allem den Herausforderungen durch die gnadenlosen Lebensverhältnisse im Schattenreich des "geliebten Führers" Kim Jong Il. Barbara Demick schildert in ihrem bewegenden Buch die Geschichte von Song Hee-suk, einer regimetreuen Vorzeigebürgerin, die zusehen muss, wie ihre Schwiegermutter, ihr Ehemann und ihr Sohn vor Hunger sterben. Sie berichtet von der Ärztin Kim Ji-eun, die verzweifelt, weil sie ihren Patienten nicht helfen kann, da selbst die Voraussetzungen für die einfachste medizinische Versorgung fehlen; sie erzählt von Mi-ran und ihrem Verehrer Jun-sang, einem Liebespaar, das sich nur in der Dunkelheit treffen kann, weil die Beziehung gegen die Parteidoktrin verstößt. Doch wenn sich das verheißene sozialistische Paradies des Führers Kim Jong Il als Hölle auf Erden erweist, bleibt allein die Flucht. Seit den massiven Kriegsdrohungen Nordkoreas gegenüber Südkorea und den USA im Frühjahr 2013 steht das streng abgeschottete Land im Fokus des internationalen Interesses. Die Situation hat sich 2017 durch den öffentlichen verbalen Schlagabtausch zwischen US-Präsident Donald Trump und Kim Jong Un, dem Sohn des verstorbenen Führers Kim Jong Il, noch verschärft. Die langjährige Ostasien-Korrespondentin der "Los Angeles Times" Barbara Demick ist eine exzellente Kennerin der Verhältnisse in der diktatorisch regierten Volksrepublik. In ihrem mit dem Human Rights Book Award ausgezeichneten Buch liefert sie tiefe und verstörende Einblicke in das Alltagsleben Nordkoreas und zeigt uns eine ferne, sehr fremde und nahezu unbekannte Welt. "Ein scharfsinniges, über die Maßen erhellendes Buch über das Alltagsleben in Nordkorea" Jung Chang, Autorin des Weltbestsellers "Wilde Schwäne" "Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt kommt wohl nichts näher an den nordkoreanischen Alltag heran als dieses ausgezeichnet geschriebene Buch." Süddeutsche Zeitung "Ungewöhnlich, klug, engagiert" der Freitag

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Seitenzahl: 567

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Barbara Demick

Im Land des Flüsterns

Geschichten aus dem Alltag in Nordkorea

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak

Knaur e-books

Über dieses Buch

Leben und lieben in Zeiten der Diktatur: Die Autorin und Journalistin Barbara Demick erzählt bewegende Geschichten von Menschen in Nordkorea, ihrem Alltag, ihren Beziehungen, ihren Ängsten und vor allem den Herausforderungen durch die gnadenlosen Lebensverhältnisse im Schattenreich des »geliebten Führers« Kim Jong Il.

Barbara Demick erzählt in ihrem bewegenden Buch die Geschichte von Song Hee-suk, einer Vorzeigebürgerin, die zusehen muss, wie ihre Schwiegermutter, ihr Ehemann und ihr Sohn vor Hunger sterben. Sie erzählt von der Ärztin Kim Ji-eun, die verzweifelt, weil sie ihren Patienten nicht helfen kann, denn sogar die Voraussetzungen für die einfachste medizinische Versorgung fehlen; von Mi-ran und ihrem Verehrer Jun-sang, die sich nur in der Dunkelheit treffen können, denn ihre Liebesbeziehung verstößt gegen die Parteidoktrin. Wenn sich das verheißene sozialistische Paradies als Hölle auf Erden erweist, bleibt allein die Flucht.

Seit den massiven Kriegsdrohungen Nordkoreas gegenüber Südkorea und den USA im Frühjahr 2013 steht das streng abgeschottete Land im Fokus des internationalen Interesses. Die langjährige Ostasien-Korrespondentin der Los Angeles Times Barbara Demick ist eine exzellente Kennerin der Verhältnisse in der diktatorisch regierten Volksrepublik. In ihrem mit dem Human Rights Book Award ausgezeichneten Buch liefert sie tiefe und verstörende Einblicke in das Alltagsleben Nordkoreas und zeigt uns eine ferne, sehr fremde und nahezu unbekannte Welt.

 

»Ein scharfsinniges, über die Maßen erhellendes Buch über das Alltagsleben in Nordkorea.« Jung Chang, Autorin des Weltbestsellers Wilde Schwäne

»Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt kommt wohl nichts näher an den nordkoreanischen Alltag heran als dieses ausgezeichnet geschriebene Buch.« Süddeutsche Zeitung

»Ungewöhnlich, klug, engagiert.«der Freitag

Inhaltsübersicht

WidmungKarteProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelMärz 2015DankAnmerkungen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel
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Für Nicholas, Gladys und Eugene

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Karte

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Prolog

Im Jahr 2001 zog ich nach Seoul, um für die Los Angeles Times über die beiden Koreas zu berichten. Damals war es für einen amerikanischen Journalisten ausnehmend schwierig, nach Nordkorea zu reisen. Und selbst als es mir gelang, Zutritt zu dem Land zu bekommen, stellte ich fest, dass es fast unmöglich war, von dort zu berichten. Westlichen Journalisten werden »Aufpasser« an die Seite gestellt; die dafür sorgen, dass keine ungenehmigten Gespräche stattfinden und sich die Besucher an eine Route mit sorgfältig ausgewählten Bauwerken halten. Der Kontakt zum Mann auf der Straße ist verboten. Auf Fotos wie im Fernsehen wirken die Nordkoreaner wie Roboter, die bei Militärparaden im Gleichschritt marschieren oder in Massen Gymnastik zu Ehren der Führung betreiben. Beim Anblick solcher Fotos wollte ich herausfinden, was sich hinter diesen ausdruckslosen Gesichtern verbarg.

Als ich in Seoul mit Nordkoreanern sprach, die übergelaufen und nach Südkorea oder China geflüchtet waren, fügte sich allmählich ein Bild des realen Lebens in der Demokratischen Volksrepublik Korea zusammen. Ich schrieb eine Artikelserie für die Los Angeles Times, in der es vor allem um ehemalige Einwohner von Chongjin ging, einer Stadt im äußersten Norden des Landes. Ich war der Ansicht, Fakten leichter verifizieren zu können, wenn ich mit vielen Menschen über einen bestimmten Ort sprach. Und ich wollte, dass dieser Ort möglichst weit entfernt war von den aufgeputzten Stätten, die die nordkoreanische Regierung Besuchern aus dem Ausland vorführt – selbst wenn das bedeutete, über einen verbotenen Ort zu schreiben. Chongjin ist die drittgrößte Stadt Nordkoreas und einer der Orte, die von der Hungersnot Mitte der 1990er Jahre am meisten betroffen waren. Die Stadt ist nahezu ausnahmslos für Ausländer gesperrt. Ich hatte das Glück, viele wunderbare Menschen aus Chongjin kennenzulernen, die sich gut ausdrücken konnten und zugleich bereit waren, mir großzügig ihre Zeit zur Verfügung zu stellen. Die Kinogänger von Chongjin entstand aus dieser ursprünglichen Artikelserie.

Dieses Buch beruht auf Gesprächen mit Nordkoreanern über einen Zeitraum von sieben Jahren. Dabei habe ich nur einige Namen verändert, um diejenigen, die noch in Nordkorea leben, nicht zu gefährden. Die Dialoge habe ich Berichten einer oder mehrerer Personen entnommen. Ich habe mein Möglichstes getan, um die Geschichten, die mir erzählt wurden, zu verifizieren und mit der öffentlichen Berichterstattung in Einklang zu bringen. Die Beschreibungen von Orten, die ich nicht selbst aufgesucht habe, stammen von Flüchtlingen oder beruhen auf Fotografien und Videos. Letztendlich aber liegt so vieles an diesem Land im Dunkeln, dass es Unsinn wäre zu behaupten, dass ich alles richtig dargestellt habe. Ich hoffe, dass Nordkorea eines Tages geöffnet wird und wir selbst feststellen können, was dort wirklich geschah.

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1

Spaziergänge im Dunkeln

Nächtliche Satellitenaufnahme von Nord- und Südkorea © courtesy of NASA

Vom All aus sieht man nachts beim Blick auf Ostasien einen großen dunklen Fleck ohne Lichter. Es ist die Demokratische Volksrepublik Nordkorea.

Rund um dieses geheimnisvolle schwarze Loch, in den benachbarten Ländern Südkorea, Japan und inzwischen auch China, funkelt geradezu der Wohlstand. Selbst aus einer Höhe von mehreren hundert Kilometern sind die Neonreklamen, die Scheinwerfer und Straßenbeleuchtungen als kleine weiße Punkte sichtbar und lassen erkennen, dass hier die Konsumenten des 21. Jahrhunderts ihren Geschäften nachgehen. Und dann, mittendrin, eine schwarze Fläche – fast so groß wie England. Verblüffend, dass ein Land mit 23 Millionen Einwohnern so menschenleer wirken kann wie die Ozeane. Nordkorea – eine schwarze Fläche, ein Schattenland.

Das Licht ging Anfang der 1990er Jahre aus. Nach der Auflösung der Sowjetunion, die ihren alten kommunistischen Verbündeten mit billigem Öl unterstützt hatte, brach auch Nordkoreas ohnehin labile und ineffiziente Wirtschaft zusammen. Kraftwerke verfielen, hungernde Menschen kletterten auf Strommasten, um die Leitungskabel zu stehlen und den Kupferdraht gegen Nahrungsmittel einzutauschen. Wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, verblasst die Landschaft zu einem unterschiedslosen Grau, bis schließlich die Nacht die geduckten kleinen Häuser verschluckt. Ganze Dörfer verschwinden in der Abenddämmerung. Selbst in der Hauptstadt Pjöngjang, dem Schaufenster des Landes, kann man am Spätabend mitten auf der Hauptstraße entlangschlendern, ohne rechts und links die Gebäude zu sehen.

Außenstehende denken beim Blick auf das heutige Nordkorea an abgelegene Dörfer in Afrika oder Südostasien, die die Zivilisation in Form von Elektrizität noch nicht erreicht hat. Doch Nordkorea ist kein unentwickeltes Land – es ist schlicht aus der entwickelten Welt herausgefallen. Die Beweise dafür, wie weit hier der Fortschritt bereits einmal gediehen war, kann man entlang jeder beliebigen Straße sehen – die in der Luft baumelnden skelettartigen Kabel der kaputten Stromleitungen, die einst das ganze Land durchzogen.

Nordkoreaner jenseits der Lebensmitte erinnern sich noch gut an die Zeit, als sie mehr Strom – und auch mehr zu essen – hatten als ihre proamerikanischen Vettern in Südkorea, und das lässt es ihnen noch unwürdiger erscheinen, abends im Dunkeln sitzen zu müssen. In den 1990er Jahren bot die US-Regierung Nordkorea Hilfe zur Deckung seines Energiebedarfs an. Im Gegenzug sollte das Land sein Atomwaffenprogramm aufgeben. Doch aus diesem Handel wurde nichts, weil die Bush-Regierung das Regime in Pjöngjang bezichtigte, seine Versprechungen nicht einzuhalten. Die Nordkoreaner beklagen sich bitterlich über die Dunkelheit. Schuld an dem Strommangel sind in ihren Augen die amerikanischen Sanktionen. Sie können abends nicht lesen, sie können nicht fernsehen. »Ohne Strom haben wir keine Kultur«, sagte ein stämmiger Sicherheitsbeamter einmal anklagend zu mir.

Doch die Dunkelheit hat auch ihre ganz eigenen Vorteile. Besonders wenn man ein Teenager und mit jemandem verabredet ist, mit dem man nicht gesehen werden darf.

Wenn die Erwachsenen schlafen gehen, im Winter manchmal schon um sieben Uhr abends, kann man ganz leicht aus dem Haus schlüpfen. Die Dunkelheit schenkt den Menschen ein Maß an Privatheit und Freiheit, das sonst in Nordkorea so schwer zu bekommen ist wie Strom. Eingehüllt in einen Zaubermantel aus Unsichtbarkeit, kann man tun, wonach einem der Sinn steht, ohne die neugierigen Augen der Eltern, der Nachbarn oder der Geheimpolizei fürchten zu müssen.

Viele Nordkoreaner, denen ich begegnet bin, haben mir erzählt, wie sehr sie die Dunkelheit lieben gelernt haben, aber den tiefsten Eindruck hat bei mir die Geschichte eines halbwüchsigen Mädchens und ihres Freundes hinterlassen. Sie war zwölf, als sie den drei Jahre älteren Jungen aus einer benachbarten Stadt kennenlernte. Ihre Familie stand in dem streng hierarchischen sozialen System auf der gesellschaftlichen Stufenleiter ganz unten. Es hätte seinen beruflichen Aussichten und ihrem Ruf als tugendhafte junge Frau geschadet, hätte man sie zusammen in der Öffentlichkeit gesehen. Deshalb beschränkten sich ihre Rendezvous ausschließlich auf lange Spaziergänge im Dunklen. Etwas anderes hätten sie ohnehin nicht unternehmen können; Anfang der 1990er Jahre, als sich zwischen ihnen eine ernsthafte Beziehung entspann, war wegen Strommangels kein Restaurant oder Kino mehr geöffnet.

Sie trafen sich immer erst nach dem Abendessen. Das Mädchen hatte seinem Freund eingeschärft, nicht an der Vordertür zu klopfen, um keine Fragen von den älteren Schwestern, dem jüngeren Bruder oder den neugierigen Nachbarn zu provozieren. Die Familie wohnte sehr beengt in einem langen, schmalen Haus mit der üblichen Außentoilette dahinter, die sich ein Dutzend Familien teilten. Zur Straße hin schirmte eine weißgetünchte, mannshohe Mauer die Häuser ab. Hinter dieser Mauer entdeckte der Junge eine Stelle, an der ihn im schwindenden Tageslicht niemand bemerken würde. Das Geklapper der Nachbarn beim Abwasch, ihr Getrappel, wenn sie die Toilette aufsuchten, machte seine Schritte unhörbar. Oft wartete er zwei, drei Stunden auf seine Angebetete, doch das machte ihm nichts. Das Leben in Nordkorea geht einen langsameren Gang, und kein Mensch besaß eine Uhr.

Sobald sie sich von der Familie losmachen konnte, stahl sich das Mädchen aus dem Haus. Zuerst sah sie ihn gar nicht, wenn sie in die Dunkelheit spähte, doch sie spürte seine Anwesenheit mit untrüglicher Sicherheit. Sie verzichtete darauf, sich zu schminken; dergleichen erübrigte sich in der Dunkelheit. Manchmal trug sie einfach ihre Schuluniform – einen schlichten, königsblauen Rock, der die Knie bedeckte, und eine weiße Bluse mit roter Schleife – alles aus einem knittrigen Synthetikstoff. Noch war sie zu jung, als dass sie sich Sorgen um ihr Aussehen gemacht hätte.

Zuerst gingen sie stumm nebeneinanderher, dann begannen sie flüsternd miteinander zu sprechen, und wenn sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und alle Angespanntheit von ihnen abfiel, unterhielten sie sich in normaler Lautstärke. Solange sie nicht ganz sicher waren, dass niemand sie sah, hielten sie immer eine Armlänge Abstand.

Unmittelbar außerhalb des Orts führte die Straße in einen Wald mit dichtem Unterholz und auf das Gelände eines Heilbades mit heißen Quellen. Es hatte früher durchaus einen guten Ruf gehabt; wegen seines fast 55 Grad heißen Wassers waren ganze Busladungen chinesischer Touristen gekommen, die dort ihre Arthritis oder ihren Diabetes behandeln lassen wollten, aber inzwischen war es nur noch selten in Betrieb. Gleich am Eingang befand sich ein rechteckiger, von einer Steinmauer eingefasster Teich, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Die Wege, die das Gelände durchschnitten, waren von Kiefern, japanischem Ahorn und den Lieblingsbäumen des Mädchens gesäumt – Ginkgos, die im Herbst ihre zarten, senfgelben, wie orientalische Fächer geformten Blätter abwarfen. Den Baumbestand auf den umliegenden Bergen hatten die Menschen auf der Suche nach Feuerholz so dezimiert, dass sie nahezu kahl waren, aber die Bäume bei den heißen Quellen hatten die Einheimischen aus Respekt vor ihrer Schönheit verschont.

Ansonsten kümmerte sich offenbar niemand um das Gelände – die Bäume waren nicht beschnitten, die Steinbänke rissig, und auf den Wegen fehlten die Pflastersteine. Mitte der 1990er Jahre war fast alles in Nordkorea marode, beschädigt, defekt. Das Land hatte schon bessere Zeiten gesehen. Doch bei Dunkelheit fielen diese Unvollkommenheiten nicht so sehr ins Auge. Auch der von den heißen Quellen gespeiste Teich, ein trüber, verkrauteter Tümpel, glänzte im Widerschein des Himmels.

Der Nachthimmel über Nordkorea ist bemerkenswert. Vielleicht ist er der klarste in ganz Nordostasien, der einzige Raum, der von Kohlenstaub, Wüstensand aus der Gobi und Kohlenmonoxid verschont bleibt, die den restlichen Kontinent zu ersticken drohen. Früher trugen auch nordkoreanische Fabriken ihren Teil zu der Smogdecke bei, doch das ist Vergangenheit. Keine künstlichen Lichtquellen machen heute den blinkenden, wie mit der Radiernadel in den Himmel gestochenen Sternen ihren Glanz streitig.

So ging das junge Paar in der Dunkelheit spazieren, und die Ginkgobäume streuten hinter ihnen ihre Blätter zu Boden. Worüber sprachen die beiden? Über ihre Familien, über ihre Klassenkameraden, über Bücher, die sie gelesen hatten; jedes Thema, egal welches, erschien ihnen ungeheuer faszinierend. Jahre später, als ich das Mädchen nach den schönsten Erinnerungen ihres Lebens fragte, erzählte sie mir von diesen Nächten.

Derlei Dinge erscheinen nicht auf Satellitenfotos. Ob im CIA-Hauptquartier in Langley/Virginia oder im Ostasieninstitut irgendeiner Universität: In der Regel fertigen die Leute ihre Studien über Nordkorea aus der Ferne an. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, dass es inmitten dieses schwarzen Lochs, in diesem trostlosen dunklen Land, wo Millionen von Menschen verhungert sind, dass es dort, ja, auch Liebe gibt.

Als ich dieses Mädchen kennenlernte, war es eine Frau von 31 Jahren. Mi-ran (wie ich sie hier nennen werde) war sechs Jahre zuvor geflüchtet und lebte nun in Südkorea. Ich hatte sie um ein Interview für einen Artikel über nordkoreanische Flüchtlinge gebeten, an dem ich schrieb.

Im Jahr 2004 leitete ich das Büro der Los Angeles Times in Seoul und war für die ganze Koreanische Halbinsel zuständig. Südkorea war für mich kein Problem. Es war die zwölftgrößte Volkswirtschaft, eine blühende, wenn auch gelegentlich etwas rüde auftretende Demokratie mit einem der offensivsten Pressekorps in ganz Asien. Regierungsangestellte gaben Journalisten ihre Handynummern und erhoben keine Einwände, wenn sie gelegentlich auch spätabends angerufen wurden. Nordkorea war das genaue Gegenteil. Seine Kommunikation mit der Außenwelt beschränkte sich größtenteils auf die Tiraden der staatlichen Presseagentur KCNA, von uns Korrespondenten wegen ihrer lächerlichen, bombastischen Ausfälle gegen die »imperialistischen Yankee-Schweine« mit dem Spitznamen »Die Große Giftspritze« bedacht. Die USA hatten im Koreakrieg von 1950 bis 1953, dem ersten großen Flächenbrand des Kalten Krieges, auf Seiten Südkoreas gekämpft, und es waren noch 40 000 amerikanische Soldaten dort stationiert. Die Haltung Nordkoreas war weiterhin feindselig, als wäre der Krieg noch gar nicht zu Ende.

Amerikanische Staatsbürger erhielten nur selten eine Einreisegenehmigung nach Nordkorea, und Journalisten noch seltener. Als ich und eine Kollegin 2005 endlich nach Pjöngjang reisen durften, erwartete uns zunächst die übliche Tour zu den Standbildern zu Ehren der ruhmreichen Führer Kim Jong Il und seines verstorbenen Vaters Kim Il Sung. Dabei wurden wir stets von zwei hageren Männern begleitet, die beide den Namen Park trugen und uns überwachten. (Nordkorea weist ausländischen Besuchern sicherheitshalber zwei »Aufpasser« zu, so dass einer den anderen im Auge behält und keiner bestochen werden kann.) Unsere beiden Aufpasser befleißigten sich der gleichen Sprache wie die amtliche Nachrichtenagentur. (Die Formel »Dank unseres Geliebten Führers Kim Jong Il« wurde mit befremdlicher Regelmäßigkeit in das Gespräch eingeflochten.) Sie nahmen nur selten Blickkontakt auf, wenn sie mit uns sprachen, und ich fragte mich, ob sie wohl selbst glaubten, was sie uns erzählten. Was dachten sie wirklich? Liebten sie ihren Führer tatsächlich so sehr, wie sie behaupteten? Hatten sie genug zu essen? Was machten sie, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen? Wie fühlte man sich, wenn man unter dem repressivsten Regime der Welt lebte?

Antworten auf meine Fragen würde ich in Nordkorea nicht bekommen, das war klar. Dazu musste ich mit Menschen sprechen, die fortgegangen waren – mit Flüchtlingen.

Im Jahr 2004 lebte Mi-ran in Suwon, einer heiteren und chaotischen Stadt gut 20 Kilometer südlich von Seoul. In Suwon sind Samsung Electronics und zahlreiche Industriekomplexe beheimatet, wo Dinge produziert werden, die die meisten Nordkoreaner noch nie gesehen haben – Computerbildschirme, CD-ROMs, Digitalfernseher, USB-Sticks. (Einer häufig zitierten Statistik zufolge ist das Wirtschaftsgefälle zwischen Süd- und Nordkorea mindestens viermal größer als zwischen West- und Ostdeutschland zur Zeit der Wiedervereinigung im Jahr 1990.)

Suwon ist eine lärmende Stadt, eine Kakophonie aus nicht harmonierenden Farben und Tönen. Wie fast überall in Südkorea ist das Stadtbild ein Amalgam aus hässlichen Betonklötzen mit grellen Reklametafeln auf den Dächern. Vom verstopften Zentrum, in dem sich Dunkin’ Donuts, Pizza Huts und unzählige koreanische Imitationen dieser Ketten aneinanderreihen, ziehen sich strahlenförmig kilometerweit Hochhäuser stadtauswärts. In den Seitenstraßen bieten zahlreiche »Liebeshotels« mit Namen wie Eros Motel und Love-Inn Park stundenweise Zimmer an. Da sich Tausende von Hyundais – auch eine Frucht des Wirtschaftswunders – von den Wohnvierteln in Richtung Einkaufszentren schieben, bewegt sich der Verkehr bestenfalls im Schritttempo vorwärts. Deshalb war ich mit dem Zug gekommen – eine Fahrt von dreißig Minuten – und hatte dann ein Taxi, das sich kriechend fortbewegte, zu einem der wenigen ruhigen Orte in der Stadt genommen, einem Grillrestaurant gegenüber einer Festung aus dem 18. Jahrhundert. Zuerst erkannte ich Mi-ran gar nicht. Sie sah ganz anders aus als die Nordkoreaner, die ich bisher getroffen hatte. Zu dieser Zeit lebten etwa 6000 nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea, und meist verrieten bestimmte Auffälligkeiten ihre Schwierigkeit, sich in dem fremden Land zu assimilieren – zu kurze Röcke, Etiketten, die noch an neuen Kleidern hingen. Mi-ran war jedoch von einer Südkoreanerin nicht zu unterscheiden. Sie trug ein schickes braunes Twinset und eine farblich passende Stoffhose. Vom Äußeren her wirkte sie auf mich betont zurückhaltend (ein Eindruck, der sich, wie vieles andere auch, als falsch herausstellen sollte). Die Haare, straff aus dem Gesicht gekämmt, wurden von einer strassbesetzten Spange zusammengehalten. Lediglich ein paar Aknepusteln am Kinn und eine gewisse Fülligkeit um die Taille, Folge einer seit drei Monaten bestehenden Schwangerschaft, beeinträchtigten ihr untadeliges Erscheinungsbild. Vor einem Jahr hatte sie einen Südkoreaner geheiratet, einen zivilen Mitarbeiter beim Militär, und nun erwarteten die beiden ihr erstes Kind.

Ich hatte Mi-ran zum Mittagessen eingeladen, weil ich mehr über das nordkoreanische Schulsystem erfahren wollte. In den Jahren vor ihrer Flucht hatte sie in einer Bergarbeiterstadt als Lehrerin in einer Vorschule gearbeitet. Nun studierte sie Pädagogik. Es war ein ernstes, stellenweise erschütterndes Gespräch. Unsere Teller wurden unberührt wieder abgeräumt, während sie erzählte, dass sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre fünf- und sechsjährigen Schüler langsam verhungerten. Und dabei sollte sie ihre von Tag zu Tag schwächer werdenden Schüler lehren, wie glücklich sie sich schätzen könnten, Nordkoreaner zu sein. Kim Il Sung, der seit der Teilung der Halbinsel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu seinem Tod im Jahr 1994 herrschte, musste als Gott verehrt werden, sein Sohn und Nachfolger Kim Jong Il als der Sohn Gottes, eine christusähnliche Gestalt. Mi-ran war zu einer erbitterten Kritikerin des nordkoreanischen Systems der Gehirnwäsche geworden.

Nachdem wir uns eine oder zwei Stunden über derlei Dinge unterhalten hatten, wandten wir uns Themen zu, die man abschätzig als typisch weiblich bezeichnen könnte. Irgendetwas an Mi-rans ruhiger, offener Art erlaubte es mir, auch persönlichere Fragen zu stellen, die ich in der Regel vermied. Was unternahmen junge Nordkoreaner, wenn sie einfach Spaß haben wollten? Hatte es in ihrem Leben in Nordkorea auch glückliche Momente gegeben? Hatte sie dort einen Freund gehabt?

»Komisch, dass Sie mich das fragen«, sagte sie. »Ich habe erst neulich von ihm geträumt.«

Sie beschrieb den Jungen als groß und schlaksig, mit struppigen, in die Stirn fallenden Haaren. Nach ihrer Flucht entdeckte sie zu ihrer großen Freude, dass es in Südkorea einen Teenagerschwarm namens Yu Jun-sang gab, der ihrem früheren Freund sehr ähnlich sah (deshalb verwende ich für ihn das Pseudonym Jun-sang). Jun-sang war außerdem klug, ein angehender Wissenschaftler, der an einer der besten Universitäten in Pjöngjang studieren wollte. Das war einer der Gründe, warum sie nicht öffentlich zusammen gesehen werden durften.

In Nordkorea gibt es keine »Liebeshotels«. Zwanglose Intimitäten zwischen den Geschlechtern werden nicht gebilligt. Dennoch versuchte ich, Mi-ran behutsam zu entlocken, wie weit ihre Beziehung gegangen war. Sie lachte.

»Es dauerte drei Jahre, bis wir Händchen hielten, und noch einmal sechs, bis wir uns den ersten Kuss gaben«, erwiderte sie. »An mehr hätte ich nicht im Traum gedacht. Als ich Nordkorea verließ, war ich 26 Jahre alt und Lehrerin, aber ich wusste nicht, wie Babys zustande kommen.«

Mi-ran gestand, dass sie häufig an ihre erste Liebe dachte und dass sie sich immer noch mit Gewissensbissen quälte. Jun-sang war ihr bester Freund gewesen, der Mensch, dem sie ihre Träume und die Geheimnisse ihrer Familie anvertraut hatte. Dennoch hatte sie ihm das größte Geheimnis in ihrem Leben verschwiegen. Sie hatte ihm nie erzählt, wie sehr Nordkorea sie anwiderte, dass sie die Propaganda, die sie an ihre Schüler weitergab, nicht glaubte. Vor allem aber erwähnte sie ihm gegenüber niemals, dass ihre Familie vorhatte, aus Nordkorea zu flüchten. Nicht, dass sie ihm nicht vertraut hätte, aber in Nordkorea konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Wenn er es jemandem erzählte, der es jemandem erzählte … nun, man konnte nie wissen – überall gab es Spione. Nachbarn denunzierten Nachbarn, Freunde denunzierten Freunde. Selbst Liebende denunzierten einander. Hätte irgendjemand bei der Geheimpolizei von ihren Plänen erfahren, wäre ihre ganze Familie in ein Arbeitslager in den Bergen verfrachtet worden.

»Das konnte ich nicht riskieren«, sagte sie zu mir. »Ich konnte mich nicht einmal verabschieden.«

Nach unserem ersten Treffen sprachen wir oft über Jun-sang. Mi-ran war glücklich verheiratet und, als ich sie das nächste Mal sah, Mutter geworden, aber sie verhaspelte sich noch immer vor Aufregung und errötete, sobald der Name Jun-sang fiel. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich freute, wenn ich das Gespräch auf ihn brachte, denn sie konnte mit niemandem sonst darüber reden.

»Wie ist es ihm ergangen?«, fragte ich.

Sie zuckte die Achseln. Es gibt, fünfzig Jahre nach Kriegsende, noch immer keine richtigen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Nord- und Südkorea. Schlimmer als seinerzeit zwischen Ost- und Westdeutschland oder sonstwo in der Welt. Es gibt keine Telefonverbindung zwischen Nord- und Südkorea, keinen Postverkehr, keine E-Mails. Mi-ran hatte selbst viele unbeantwortete Fragen. Ob er inzwischen verheiratet war? Ob er noch an sie dachte? Ob er sie hasste, weil sie ohne ein Wort des Abschieds fortgegangen war? Ob Jun-sang sie, Mi-ran, als Verräterin an ihrem Vaterland betrachtete, weil sie nach Südkorea gegangen war?

»Irgendwie glaube ich, dass er es verstehen würde, aber ich werde es wohl nie erfahren«, erwiderte sie.

 

Mi-ran und Jun-sang lernten sich kennen, als sie Teenager waren. Beide lebten am Rand von Chongjin, einer Industriestadt im Nordosten der Koreanischen Halbinsel, nicht weit von der russischen Grenze. Die Darstellungen der nordkoreanischen Landschaft durch die Schwarzweiß-Schattierungen der asiatischen Malerei sind absolut treffend. Manche Landstriche sind hinreißend schön – aus amerikanischer Sicht könnte man sie mit dem pazifischen Nordwesten vergleichen –, aber irgendwie fehlt es ihnen an Farbe. Die Farbpalette beschränkt sich auf Töne zwischen dem Dunkelgrün von Tannen, Wacholder und Fichten bis zum milchigen Grau der Granitgipfel. Der üppig grüne Flickenteppich der für das ländliche Asien so typischen Reisfelder ist nur für ein paar Monate zu sehen, während der Regenzeit im Sommer. Im Herbst leuchtet kurz das Laubwerk auf. Das übrige Jahr ist alles gelb und braun, ausgeblutet und verblasst.

Das bunte Durcheinander Südkoreas fehlt hier völlig. Es gibt so gut wie keine Reklameschilder und nur wenige Kraftfahrzeuge. Der Besitz eines Privatautos ist im Großen und Ganzen nicht erlaubt, ganz abgesehen davon, dass sich ohnehin niemand eines leisten könnte. Selbst Traktoren sieht man selten, nur magere Ochsen vor den Pflügen. Die Häuser sind schlichte, monochrome Zweckbauten. Kaum eines stammt aus der Zeit vor dem Koreakrieg. Die meisten wurden in den 1960er und 1970er Jahren aus Zementblöcken und Kalkstein errichtet und den Menschen je nach Beruf und Rang zugewiesen. In den Städten gibt es sogenannte »Taubenkäfige«, Einzimmer-Wohneinheiten in niedrigen Wohnblöcken. Auf dem Land leben die meisten Menschen in ebenerdigen Häusern, sogenannten »Harmonikas«, Einzimmerhäuschen, die wie die Fächer einer Ziehharmonika aneinanderkleben. Hin und wieder leuchten Tür- und Fensterrahmen in einem strahlenden Türkis, meistens aber ist alles weiß oder grau gestrichen.

In der düsteren Zukunftsvision seines Romans 1984 beschrieb George Orwell eine Welt, in der Farbe nur noch auf Propagandaplakaten zu finden ist. Genauso ist es in Nordkorea. Bilder mit Kim Il Sung leuchten in den kräftigen Posterfarben, wie sie der Malstil des sozialistischen Realismus bevorzugt. Der Große Führer sitzt auf einer Bank und lächelt gütig auf farbenfroh gekleidete Kinder herab, die sich um ihn drängen. Von seinem Gesicht gehen gelbe und orangefarbene Strahlen aus: Er ist die Sonne.

Rot ist den allgegenwärtigen Propagandaschriftzügen vorbehalten. Das einzigartige koreanische Alphabet besteht aus Kreisen und Strichen. Aus der grautonigen Landschaft springen einen die roten Buchstaben geradezu an. Sie marschieren durch die Felder, thronen über den Granithängen der Berge, setzen an den Hauptstraßen Markierungen wie Kilometerschilder, tanzen auf den Dächern von Bahnhöfen und anderen öffentlichen Gebäuden.

Lang lebe Kim Il Sung.

김일성 만세!

Kim Jong Il, Sonne des 21. Jahrhunderts.

21세기의 태양 김정일 장군 만세!

Lasst uns auf unsere eigene Weise leben.

우리 식으로 살자.

Wir tun, was die Partei uns sagt.

당이 결심하면 우리는 한다!

Es fehlt uns an nichts in der Welt.

세상에 부럼 없어라.

Als Kind gab es für Mi-ran keinen Grund, der Propaganda zu misstrauen. Ihr Vater war ein einfacher Bergarbeiter, ihre Familie arm, aber das waren auch alle, die sie kannten. Da ausländische Presseerzeugnisse und Bücher, Filme und Rundfunksendungen verboten waren, nahm Mi-ran an, dass es den Menschen nirgendwo auf der Welt besserging – den meisten wahrscheinlich viel schlechter. Im nordkoreanischen Radio und Fernsehen hörte sie unzählige Male, was für ein elendes Leben die Südkoreaner unter der Knute der proamerikanischen Marionette Park Chung-hee und seines späteren Nachfolgers Chun Doo-hwan führten. Und man erfuhr, dass Chinas abgeschwächte Form des Kommunismus weniger erfolgreich war als diejenige, die Kim Il Sung ihnen gebracht hatte. Es hieß, dass Millionen Chinesen hungerten. Alles in allem war es ein großes Glück, so empfand es Mi-ran, dass sie in Nordkorea unter der liebevollen Fürsorge des väterlichen Führers geboren wurde.

Eigentlich war das Dorf, in dem Mi-ran aufwuchs, in den 1970er und 1980er Jahren gar kein schlechter Ort. Es war ein Dorf, wie es typisch ist für Nordkorea, mit etwa tausend Einwohnern – vom zentralen Planungsbüro bewusst ähnlich angelegt wie andere solche Dörfer –, aber es lag günstig. Das Japanische Meer war nur knapp zehn Kilometer entfernt, so dass die Bewohner hin und wieder frischen Fisch und Krabben essen konnten. Der Ort lag ein Stück jenseits der Schornsteine der viel größeren Stadt Chongjin mit ihren rund 500 000 Einwohnern, hatte einerseits also den Vorteil der Stadtnähe, andererseits aber auch freie Landflächen, auf denen man Gemüse anbauen konnte. Das Terrain war relativ flach – ein Segen in einem Land, wo man kaum ein Stück ebenen Boden findet, um etwas anzupflanzen. Bei den nahe gelegenen heißen Quellen besaß Kim Il Sung eine von seinen vielen Ferienvillen.

Mi-ran war die jüngste von vier Töchtern. Das war 1973, als sie zur Welt kam, in Nordkorea eine ebensolche Katastrophe wie im England des 19. Jahrhunderts, als Jane Austen in Stolz und Vorurteil über die Nöte einer Familie mit fünf Töchtern schrieb. Sowohl Nord- wie Südkorea sind noch fest in konfuzianischen Traditionen verwurzelt; ihnen zufolge bestimmt der männliche Nachkomme die Erbfolge und sorgt für die alten Eltern. Mit der Geburt eines Sohnes drei Jahre nach Mi-ran blieb den Eltern eine Tragödie letztlich doch erspart, aber ihre jüngste Tochter wurde dadurch ziemlich vernachlässigt.

Sie bewohnten eine einzige Einheit in einem Harmonika-Haus, wie es dem Status von Mi-rans Vater entsprach. Der Eingang führte direkt in eine kleine, traditionelle koreanische Küche, die gleichzeitig als Heizung diente. In ein Loch unter dem Fußboden wurde Holz oder Kohle gefüllt; das dort brennende Feuer wurde sowohl zum Kochen als auch durch eine Unterbodenanlage, dem ondol, zum Beheizen des Hauses genutzt. Der Hauptraum, in dem die gesamte Familie auf Matten schlief, die tagsüber zusammengerollt wurden, war von der Küche durch eine Schiebetür getrennt. Mit der Geburt des Sohnes wuchs die Familie auf acht Personen an – die fünf Kinder, ihre Eltern und eine Großmutter. Also bestachen sie den Vorsteher des Nachbarschaftskomitees in ihrem Viertel, damit er ihnen eine angrenzende Hauseinheit zusprach und sie einen Durchgang schlagen ließ.

Mit dem Zuwachs an Platz kam es zur Trennung der Geschlechter. Bei den Mahlzeiten kauerten die Frauen dicht gedrängt an einem niedrigen Holztisch neben der Küche und aßen Maisbrei, der billiger und weniger nahrhaft war als Reis, das beliebtere Grundnahrungsmittel der Koreaner. Vater und Sohn aßen ihren Reis an einem eigenen Tisch.

»Ich dachte, das ist eben so«, sagte mir Mi-rans jüngerer Bruder Sok-ju später.

Die älteren Schwestern nahmen es kommentarlos hin, falls es ihnen überhaupt auffiel, aber Mi-ran brach oft in Tränen aus und protestierte gegen die Ungerechtigkeit.

»Warum bekommt nur Sok-ju neue Schuhe?«, verlangte sie einmal zu wissen. »Warum kümmert sich Mama nur um Sok-ju und nicht um mich?«

Man gebot ihr, still zu sein, ohne ihre Fragen zu beantworten.

Es war nicht das erste Mal, dass sie gegen die den jungen Frauen auferlegten Einschränkungen rebellierte. Zu jener Zeit sollten Mädchen in Nordkorea beispielsweise nicht Rad fahren. Es war gesellschaftlich geächtet – die Menschen fanden, es sehe unschön und aufreizend aus –, und die Arbeiterpartei erließ regelmäßig eine offizielle Anordnung, in der es gesetzlich verboten wurde. Mi-ran ignorierte die Vorschrift. Seit sie elf Jahre alt war, flüchtete sie sich immer wieder mit dem einzigen Fahrrad der Familie, einem gebrauchten Exemplar aus Japan, auf die Straße nach Chongjin. Sie musste fort aus der Enge ihres kleinen Dorfes, musste einfach irgendwohin. Es war eine beschwerliche Fahrt für ein Kind, ungefähr drei Stunden bergauf, und der Weg bestand nur zum Teil aus asphaltierter Straße. Männer versuchten sie auf ihren Fahrrädern zu überholen und beschimpften sie wüst für ihre Unbotmäßigkeit.

»Du wirst dir deine Möse zerreißen!«, riefen sie ihr zu.

Manchmal versperrte ihr unvermittelt eine Horde halbwüchsiger Jungen den Weg und versuchte, sie vom Fahrrad zu stoßen. Dann schrie Mi-ran zurück und zahlte ihnen ihre Obszönitäten mit gleicher Münze heim. Bis sie schließlich lernte, die Kerle einfach zu ignorieren und weiterzufahren.

 

In ihrem Heimatdorf gab es nur einen Platz, wo Mi-ran aufatmen konnte – das Kino. Jeder Ort in Nordkorea, mochte er auch noch so klein sein, hatte ein Kino, weil Kim Jong Il überzeugt war, dass der Film ein unentbehrliches Instrument sei, um sich die Loyalität der Massen zu sichern. 1971, mit dreißig Jahren, trat er seine erste Arbeitsstelle als Inspekteur des Büros für Propaganda und Agitation der Arbeiterpartei an, das die Filmstudios des Landes betrieb. 1973 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel Über die Filmkunst, in dem er seine Theorie darlegt. »Eine revolutionäre Literatur und Kunst rüstet die Menschen mit der großen revolutionären Ideologie aus und ruft sie zu revolutionärem Kampf und zur Aufbauarbeit auf«, heißt es dort.

Unter Kim Jong Ils Leitung wurde das Gelände des koreanischen Spielfilmstudios am Stadtrand von Pjöngjang auf fast eine Million Quadratmeter vergrößert. Es produzierte vierzig Filme im Jahr – wie am Fließband –, hauptsächlich Dramen mit dem immer gleichen Thema: Der Weg zum Glück besteht in Selbstaufopferung und Unterdrückung des Einzelnen zum Wohle des Kollektivs. Kapitalismus bedeutet blanke Erniedrigung. Als ich das Studiogelände 2005 besuchte, sah ich eine Kulisse aufgebaut, die eine typische Straße in Seoul darstellen sollte, gesäumt von heruntergekommenen Ladenfronten und schummrigen Nachtbars.

Dass die Filme reinste Propaganda waren, machte nichts. Mi-ran liebte das Kino. Sie war so verrückt danach, wie jemand nur sein konnte, der in einem kleinen nordkoreanischen Dorf aufwuchs. Sobald sie alt genug war, allein zum Kino zu laufen, bettelte sie ihre Mutter um Geld für Kinokarten an. Der Eintrittspreis wurde niedrig gehalten; eine Karte kostete nur einen halben Won – ein paar Cent –, ungefähr so viel wie eine Limonade. Mi-ran sah sich möglichst jeden Film an. Manche galten als zu gewagt für Kinder, wie der Film Oh My Love aus dem Jahr 1986, in dem eine Kussszene angedeutet wurde. Tatsächlich ließ die Protagonistin ihren Sonnenschirm im entscheidenden Moment schamhaft sinken, so dass die Kinogänger nicht sahen, dass ihre Lippen sich berührten, aber es genügte, um den Film für nicht jugendfrei zu erklären. Hollywoodfilme standen in Nordkorea natürlich auf dem Index, ebenso wie praktisch alle anderen ausländischen Filme. Einzige Ausnahme waren hin und wieder russische Produktionen, und die mochte Mi-ran besonders gern, weil sie weniger propagandistisch waren als die nordkoreanischen – und romantischer.

Vielleicht musste es deshalb so kommen, dass ein verträumtes Mädchen, das ins Kino ging, um Liebesgeschichten auf der Leinwand zu erleben, dort die Liebe im wirklichen Leben fand.

Sie begegneten sich 1985, als es noch genug Strom für Filmprojektoren gab. Die Kulturhalle war das imposanteste Gebäude in der Stadt, in dem bombastischen Stil erbaut, wie er in den 1930er Jahren, zur Zeit der japanischen Besatzung, in Korea beliebt war. An der Fassade des zwei Stockwerke hohen Gebäudes, das Platz für ein Zwischengeschoss bot, prangte ein riesiges Porträt von Kim Il Sung. Die Maße dieses Porträts wurden von der Vorschrift diktiert, dass alle Bilder des Großen Führers der Dimension des Gebäudes entsprechen müssen. Die Kulturhalle diente als Kino, Theater und Vortragssaal. An staatlichen Feiertagen wie Kim Il Sungs Geburtstag wurden dort Auszeichnungen an Bürger verliehen, die dem Beispiel des Großen Führers in besonders vorbildlicher Weise folgten. In der übrigen Zeit diente die Halle als Kino; alle paar Wochen kam ein neuer Film aus Pjöngjang.

Jun-sang war genauso verrückt nach Kino wie Mi-ran. Sobald er hörte, dass ein neuer Film eingetroffen war, wollte er unter den ersten Zuschauern sein. Dieses Mal hieß der Film Die Geburt einer neuen Regierung. Er spielte in der Mandschurei, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich die koreanischen Kommunisten unter Führung des jungen Kim Il Sung organisierten, um gegen die japanischen Besatzer zu kämpfen. Der Widerstandskampf gegen die Japaner war in nordkoreanischen Filmen ein ebenso häufiges Thema wie Cowboys und Indianer in der Frühzeit Hollywoods. Es würde sicher einen großen Andrang geben, denn die Hauptrolle war mit der beliebten Schauspielerin Oh Mi-ran besetzt.

Jun-sang machte sich zeitig auf den Weg. Er erstand zwei Eintrittskarten, eine für sich und eine für seinen Bruder. Und dann, als er vor dem Kino auf und ab ging, entdeckte er sie.

Mi-ran stand ziemlich weit hinten in der Menge, die zur Kasse drängte. Die meisten Kinogänger in Nordkorea sind rücksichtslose junge Lümmel. An diesem Tag führten sie sich besonders flegelhaft auf. Ältere Jungen hatten sich nach vorne gedrängt und einen Kordon gebildet, so dass die jüngeren nicht mehr an die Kasse kamen. Jun-sang trat ein Stück näher, um das Mädchen besser sehen zu können. Es stampfte frustriert mit dem Fuß auf und sah aus, als würde es gleich zu weinen anfangen.

Das nordkoreanische Schönheitsideal verlangt einen blassen Teint – je blasser, desto besser –, ein rundes Gesicht und einen bogenförmigen Mund, doch Mi-ran hatte nichts von alledem. Ihr Gesicht war länglich mit ausgeprägten Wangenknochen und einer geraden Nase. Auf Jun-sang wirkte das Mädchen exotisch und ein bisschen wild. Mit wütendem Blick bedachte es das Gedränge an der Kasse. Im Gegensatz zu anderen nordkoreanischen Mädchen machte es keine Gesten der Zurückhaltung, beispielsweise sich beim Lachen die Hand vor den Mund zu halten. Mi-ran strahlte eine ungeduldige Vitalität aus – als hätte sie sich vom Leben in Nordkorea noch nicht kleinkriegen lassen. Jun-sang war auf der Stelle von ihr bezaubert.

Mit seinen fünfzehn Jahren war Jun-sang undeutlich bewusst, dass er sich für Mädchen interessierte, aber nur ganz allgemein, nie für ein bestimmtes – bis zu diesem Moment. Dank der vielen Filme, die er bereits gesehen hatte, konnte er sich ungefähr vorstellen, wie eine erste Begegnung mit diesem Mädchen wohl ablaufen könnte, wenn sie auf der Leinwand stattfand. Später sollte er sich an diesen Augenblick erinnern wie an einen traumähnlichen Farbfilm, mit einer mystisch umstrahlten Mi-ran.

Nicht zu fassen, dass es so ein Mädchen in meiner Stadt gibt, dachte er bei sich.

Er umkreiste die wartende Menge einige Male, um Mi-ran besser sehen zu können, und überlegte hin und her, was er tun sollte. Er war ein intellektueller Typ, kein Kämpfer. Er konnte sich ja nicht wieder zur Kasse vordrängen. Dann kam ihm eine Idee. Der Film würde gleich beginnen, und sein Bruder war noch nicht gekommen. Wenn er ihr dessen Eintrittskarte verkaufte, würde sie neben ihm sitzen müssen, denn es waren Platzkarten. Erneut trat er in ihre Nähe und formulierte im Geiste, mit welchen Worten er ihr die Kinokarte anbieten würde.

Am Ende aber fand er doch nicht den Mut, ein Mädchen anzusprechen, das er nicht kannte. Er schob sich mit den anderen ins Kino hinein. Während die Heldin des Films leinwandfüllend über ein schneebedecktes Feld galoppierte, ging Jun-sang durch den Kopf, welche Chance er sich hatte entgehen lassen. Die Schauspielerin trug jungenhaft kurze Haare und verkörperte eine unerschrockene Widerstandskämpferin, die auf ihrem Pferd, revolutionäre Kampfparolen schmetternd, über die Steppen der Mandschurei ritt. Jun-sang musste immer nur an das Mädchen draußen vor dem Kino denken. Kaum lief der Nachspann an, stürzte er hinaus, um nach ihr zu suchen. Er fand sie nicht mehr.

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2

Vergiftetes Blut

Ein Flüchtlingstreck während des Koreakriegs © Sammlung Harry S. Truman

Mit fünfzehn Jahren war Jun-sang ein schlaksiger und fleißiger Junge. Seit seiner Kindheit hatte er in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern die besten Noten seiner Klasse. Sein Vater, gewissermaßen ein frustrierter Intellektueller, hatte sich hohe Ziele für seine Kinder gesteckt, insbesondere für seinen begabten ältesten Sohn. Er träumte davon, dass der Junge die Provinz hinter sich lassen und seine Ausbildung in Pjöngjang fortsetzen würde. Wenn Jun-sang nach 21 Uhr nach Hause kam oder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, war sein Vater gleich mit einem Stock bei der Hand. Der Junge musste in der Sekundarschule die Höchstnoten erreichen und zwei Wochen strengster Prüfungen in Chongjin über sich ergehen lassen, wenn er einen Platz an einer der besten Hochschulen wie der Kim-Il-Sung-Universität bekommen wollte. Obwohl er gerade erst mit der Sekundarschule begonnen hatte, war Jun-sangs Karriere bereits vorgeplant, und es blieb kein Platz für ein Rendezvous oder Sex. Die Bedürfnisse der Pubertät mussten warten.

Jun-sang versuchte, die sündigen Gedanken, die ihn in den unpassendsten Augenblicken ablenkten, beiseitezuschieben. Doch so viel Mühe er sich auch gab, er konnte das Bild des Mädchens mit den kurzen Haaren, das mit den Füßen aufgestampft hatte, nicht vertreiben. Er wusste gar nichts über sie. Wie hieß sie? War sie so schön, wie er sie in Erinnerung hatte? Oder spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich? Wie sollte er bloß herausfinden, wer sie war?

Wie es manchmal so geht, war es überraschend einfach, sie aufzuspüren. Mi-ran war eines jener Mädchen, auf das die Jungen schnell aufmerksam wurden, und ihr kurzes Haar fiel einem sofort auf, so dass ein paar Freunde, denen er sie beschrieb, gleich wussten, wen er meinte. Und es stellte sich heraus, dass ein Junge in Jun-sangs Boxkurs ihr Nachbar war – er wohnte nur zwei Türen weiter in derselben Häuserreihe. Jun-sang beschwatzte den Jungen, quetschte jede Kleinigkeit über sie aus ihm heraus und gewann ihn als seinen Privatdetektiv. In der Nachbarschaft schwirrten zahllose Gerüchte über Mi-ran und ihre Schwestern herum. Häufig hörte man, eine sei schöner als die andere. Sie waren von großem Wuchs, in Nordkorea eine hochgeschätzte Eigenschaft. Und sie hatten Talent. Die Älteste war Sängerin, eine andere malte. Alle waren sportlich und hervorragende Volley- und Basketballspielerinnen – einfach hübsche, kluge Mädchen. Nur schade, dass ein dunkles Familiengeheimnis dieses makellose Bild störte.

Das Problem war Mi-rans Vater, Tae-woo – ein hagerer, stiller Mensch, der wie viele in seinem Viertel im Bergwerk arbeitete. Er war Schreiner und reparierte die Stützbalken in den Schächten, in denen Kaolin abgebaut wurde, eine Tonerde, die man zur Herstellung von Porzellan verwendet. Das Einzige, was an dieser reinen Seele misstrauisch machte, war seine Enthaltsamkeit. Die Bergarbeiter schütteten beträchtliche Mengen eines alkoholischen Gebräus aus Mais in sich hinein, das einem die Gedärme zusammenzog, und, sofern sie es sich leisten konnten, soju, den koreanischen Branntwein. Mi-rans Vater hingegen rührte nichts dergleichen an. Er wollte nichts trinken, was seine Zunge lösen und ihn über seine Vergangenheit reden lassen würde.

 

Tae-woo war 1932 in einem Ort geboren, der später zu Südkorea, dem feindlichen Staat, gehören sollte. Alle Koreaner bezeichnen, ganz unabhängig davon, wie lange sie in der Fremde waren, ihre Heimat als den Ort, wo ihre väterlichen Vorfahren geboren wurden. Tae-woo kam aus der Provinz Süd-Chungcheong am entgegengesetzten Ende der Koreanischen Halbinsel in der Nähe der Gelbmeerküste. Es ist eine sanfte Landschaft mit smaragdgrünen Reisfeldern, so einladend, wie die von Chongjin abweisend ist. Sein Dorf lag am Rand von Seosan, einer Kleinstadt, und bestand aus kaum mehr als einer Häuserzeile entlang eines trockenen Landstreifens, der sich durch die schachbrettartig angeordneten Reisfelder zog. In den 1940er Jahren wurde alles Mögliche aus Lehm und Stroh hergestellt, selbst die Fußbälle, mit denen die Jungen auf der Straße spielten. Reis war die Seele und der Lebensunterhalt des Dorfes. Der Anbau war eine Knochenarbeit, da alles – das Pflügen, Säen und Umsetzen der kleinen Pflänzchen – ohne Maschinen gemacht wurde. Im Dorf gab es niemanden, der reich war, aber Tae-woos Familie ging es einen Hauch besser als den anderen. Ihr strohgedecktes Haus war ein wenig größer, sie besaß einen guten halben Hektar Land – 2000 Pyong nach koreanischem Maß – und betrieb eine kleine Mühle, in der die Nachbarn ihren Reis und ihre Gerste mahlen lassen konnten, was der Haushaltskasse zugutekam. Der Status des Großvaters von Mi-ran erlaubte ihm, zwei Frauen zu haben, was zu seiner Zeit häufig vorkam, auch wenn nur die erste Ehe gesetzlich anerkannt war. Tae-woo war der Erstgeborene der zweiten Frau und der einzige Junge in der Familie. Seine zwei jüngeren Schwestern verehrten ihn und folgten ihm überallhin, was ihm äußerst lästig war, seinen Freunden aber gefiel, als die Mädchen zu hübschen jungen Damen heranwuchsen.

Obwohl nicht der Größte in seiner Clique, war Tae-woo der geborene Anführer – ein kleiner Napoleon, wie seine Freunde ihn zu bezeichnen pflegten. Wenn sie zusammen Krieg spielten, übernahm er stets die Rolle des Generals. »Er war zielstrebig und entschlossen. Wenn er in seiner bestimmten Art etwas sagte, hörten die Leute auf ihn«, erzählt Lee Jong-hun, ein Freund aus Kindertagen, der immer noch in dem Dorf lebt. »Und er war ein kluger Kopf.«

Tae-woo besuchte die Grund- und später die Mittelschule bis zum fünfzehnten Lebensjahr, wie es für Bauernsöhne allgemein üblich war. Die Unterrichtssprache war Japanisch. Die Japaner hatten Korea 1910 annektiert und den letzten koreanischen Kaiser abgesetzt. Anschließend merzten sie die koreanische Kultur systematisch aus und ersetzten sie durch ihre eigene. In den ersten Jahren der Besatzung zwangen sie die älteren Männer im Dorf, sich den langen Zopf abzuschneiden, den die Koreaner traditionell oben auf dem Kopf zu einem Knoten geschlungen trugen und mit einem schwarzen Hut bedeckten. Alle Koreaner mussten japanische Namen annehmen. Die Japaner erhoben hohe Steuern – 50 Prozent der Reisernte – und begründeten dies mit dem Krieg, den sie im Pazifik führten. Junge Männer und Frauen wurden nach Japan deportiert, um ihren Beitrag zum Krieg zu leisten, während junge Mädchen zur Prostitution gezwungen wurden – euphemistisch als »Trostfrauen« bezeichnet, die den Soldaten sexuell zu Diensten waren. Die Reisbauern hassten die Japaner, weil sie für jeden kleinen Schritt deren Genehmigung einholen mussten.

Als Kaiser Hirohito am 15. August 1945 über den Rundfunk die Kapitulation Japans verkündete, dauerte es mehrere Tage, bis die Nachricht das Dorf erreichte. Sofort liefen die Jungen zu den Kasernen der Besatzer. Die Soldaten aber waren bereits abgezogen und hatten in der Eile sogar ihre persönlich Habe zurückgelassen. Die Besatzung war vorbei. Die Dorfbewohner besaßen zwar kein Geld, um das Ereignis gebührend zu feiern, aber sie rannten jubelnd auf die Straße und gratulierten sich gegenseitig.

»Mansei, Chosun«, riefen sie. Lang lebe Korea!

Alle glaubten, nun ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen zu können. Endlich würden sie ihr Land zurückbekommen.

Während der japanische Kaiser im Radio sprach, beugten sich auf der anderen Seite der Welt, in Washington, zwei junge Offiziere über eine National-Geographic-Karte und überlegten, was mit Korea geschehen sollte. In Washington wusste man so gut wie gar nichts über diese kaum je erwähnte japanische Kolonie. Während für die Besetzung Deutschlands und Japans detaillierte Pläne für die Zeit nach dem Krieg vorlagen, machten sich die USA erst jetzt Gedanken über Korea. Die Japaner hatten 35 Jahre lang über das Land geherrscht, so dass jetzt, nach ihrem plötzlichen Rückzug, ein gefährliches Machtvakuum entstehen würde. Die Vereinigten Staaten fürchteten, die Sowjetunion könne das Land als Zwischenstation auf dem Weg zum Hauptpreis Japan besetzen. Trotz des Kriegsbündnisses wuchs in der Zeit der Kapitulation Japans das Misstrauen der USA gegenüber den Sowjets. In der Woche vor der Kapitulation Japans waren bereits sowjetische Truppen von Norden her nach Korea einmarschiert; nun schickten sie sich an, weiter vorzudringen. Die Amerikaner wollten die Sowjets in Schach halten und ihnen deshalb vorerst die treuhänderische Verwaltungshoheit über die nördliche Hälfte Koreas geben. Nach Meinung von Regierungsvertretern, unter ihnen der spätere Außenminister Dean Rusk, sollte die Hauptstadt Seoul im US-Sektor bleiben, und so kam es, dass die beiden Offiziere auf der Karte einen Strich auf der Höhe des 38. Breitengrads zogen, um die Halbinsel in zwei Hälften zu teilen.

Diese Grenzziehung hatte weder historische noch geographische Gründe. Die Koreanische Halbinsel, die wie ein kleiner Daumen aus der chinesischen Landmasse herausragt, hat klar umrissene Konturen, mit dem Japanischen Meer im Osten, dem Gelben Meer im Westen und den Flüssen Yalu und Tumen im Norden, die die Grenze zu China bilden. Keinerlei natürliche Gegebenheiten legen es nahe, sie in zwei Hälften zu teilen. In den 1300 Jahren vor der japanischen Besetzung war Korea ein geeintes Land unter der Herrschaft der Chosun-Dynastie gewesen, einer der langlebigsten Monarchien der Weltgeschichte. Vor ihr hatten drei Königreiche um die Macht auf der Halbinsel rivalisiert. Eine politische Grenzlinie ließ sich allenfalls von Nord nach Süd ziehen: Der Osten neigte Japan, der Westen China zu. Die Teilung zwischen Norden und Süden war vollkommen künstlich, ausgeheckt in Washington D.C. und den Koreanern aufgezwungen, ohne sie in irgendeiner Weise in diese Entscheidung einzubeziehen. Angeblich musste der damalige Außenminister Edward Stettinius sogar einen seiner Mitarbeiter fragen, wo Korea liege.

Die Koreaner reagierten empört, als sie genauso wie die Deutschen voneinander getrennt wurden. Schließlich hatten sie im Zweiten Weltkrieg nicht zu den Aggressoren gehört, sondern zu den Opfern. Mit ironischer Selbstverachtung bezeichneten sich manche Koreaner damals als »Krabben unter Walen«, um zum Ausdruck zu bringen, dass sie zwischen den beiden rivalisierenden Supermächten zerrieben wurden.

Keine der beiden Supermächte war bereit, so weit nachzugeben, dass ein unabhängiges Korea hätte entstehen können. Die Koreaner selbst waren in über ein Dutzend rivalisierende politische Gruppierungen gespalten, viele sympathisierten mit dem Kommunismus. Unterdessen wurde die vorläufige Demarkationslinie auf der Landkarte bald zur harten Wirklichkeit. Unter Führung des siebzigjährigen Syngman Rhee, einem bärbeißigen Konservativen, der in Princeton promoviert hatte, wurde 1948 die Republik Korea gegründet. Kim Il Sung, ein Widerstandskämpfer zur Zeit der japanischen Besatzung, der von Moskau gestützt wurde, beeilte sich nachzuziehen und rief seinen Staat, die Demokratische Volksrepublik Korea aus – Nordkorea. Die Grenze entlang des 38. Breitengrads verfestigte sich zu einem 250 Kilometer langen und vier Kilometer breiten Dickicht aus Stacheldraht, Panzersperren, Gräben, Dämmen, Artilleriegeschützen und Landminen.

Da sich beide Seiten zur rechtmäßigen Regierung Koreas erklärten, war ein Krieg unvermeidlich. Am 25. Juni 1950, einem Sonntag, überschritten Kim Il Sungs Truppen vor dem Morgengrauen die Grenze mit Panzern, die die Sowjetunion zur Verfügung gestellt hatte, nahmen innerhalb kürzester Zeit die Hauptstadt Seoul ein und stürmten weiter südwärts, bis von Südkorea nur noch ein Kessel um die südöstliche Küstenstadt Pusan übrig war. Doch 40 000 US-Soldaten, die in einer waghalsigen Operation unter dem Kommando General Douglas MacArthurs im September mit Amphibienfahrzeugen in Incheon landeten, machten die Gewinne der Kommunisten wieder zunichte. Neben den Vereinigten Staaten und Südkorea schlossen sich 15 weitere Länder – darunter Großbritannien, Australien, Kanada, Frankreich und die Niederlande – zu einer UN-Koalition zusammen, eroberten mit ihren Truppen Seoul zurück und rückten nordwärts bis Pjöngjang und darüber hinaus vor. Nahe dem Fluss Yalu jedoch traten Streitkräfte des kommunistischen China in den Krieg ein und drängten sie zurück. Die noch zwei Jahre anhaltenden Kämpfe führten nur zur Demoralisierung auf beiden Seiten und endeten in einem Patt. Als am 27. Juli 1953 ein Waffenstillstand unterzeichnet wurde, waren fast drei Millionen Menschen umgekommen, und die ganze Halbinsel lag in Schutt und Asche. Die Grenze entlang des 38. Breitengrads blieb im Großen und Ganzen bestehen.

Selbst nach den zweifelhaften Maßstäben der Kriegsführung des 20. Jahrhunderts war dies ein nutzloser und unbefriedigender Krieg.

Tae-woo war achtzehn Jahre alt, als die Kommunisten in sein Land einmarschierten, und, da sein Vater vor Kriegsbeginn gestorben war, die wichtigste Stütze für seine Mutter und seine Schwestern. Die südkoreanische Armee war mit nur 65000 Soldaten – einem Viertel der Truppenstärke Nordkoreas – schlecht für die Invasion gerüstet und brauchte jeden diensttauglichen Mann. Aufgrund von Gerüchten, die Kommunisten würden ihnen Land schenken, sympathisierten einige Reisbauern mit dem Norden, denn seit der Niederlage der Japaner hatte sich ihre wirtschaftliche Situation nicht verbessert. Die meisten jungen Männer allerdings waren unpolitisch. »Wir wussten damals nicht einmal, was der Unterschied zwischen Rechten und Linken war«, erinnert sich Lee Jong-hun. Ganz unabhängig jedoch von ihrer politischen Überzeugung blieb ihnen keine andere Wahl, als in die südkoreanische Armee einzutreten.

Tae-woo stieg schließlich in den Rang eines Unteroffiziers auf. Ihre letzte Schlacht schlug seine Einheit in der Nähe von Kimhwa etwa vierzig Kilometer nördlich des 38. Breitengrads. Das Dorf bildete einen Punkt des »Eisernen Dreiecks«, ein vom US-Militär erfundener Spitzname für ein strategisch wichtiges, von Granitbergen umgebenes Tal (Pjöngjang und Chorwon bildeten die anderen beiden Punkte). Hier fanden in dieser letzten Kriegsphase schwerste Kämpfe statt, da die Chinesen in Erwartung des Waffenstillstands versuchten, die Front weiter südwärts zu verschieben. Am Abend des 13. Juli 1953 überfielen drei chinesische Divisionen – etwa 60000 Soldaten – in einem Überraschungsangriff Truppen der Vereinten Nationen und Südkoreas. Um halb acht Uhr abends begannen die Chinesen mit der Bombardierung der UN-Stellungen. Wie ein amerikanischer Soldat später berichtete, schossen sie um zehn Uhr Leuchtmunition in die Luft und bemerkten, dass die ganze Gegend vor feindlichen Soldaten wimmelte. Signalhörner erklangen von allen Seiten her, und sie sahen die chinesischen Streitkräfte auf ihre Stellungen zustürmen. »Wir konnten es kaum fassen. Es war eine Szene wie in einem Spielfilm«, sagte ein damaliger südkoreanischer Soldat. Nach einer Woche Dauerregen strömten »Blut und Wasser die Hügel hinab«.

Tae-woo, der zu dieser Zeit einer Sanitätseinheit zugeteilt war, transportierte gerade einen südkoreanischen Soldaten auf einer Trage, als er und seine Kameraden von Chinesen eingekesselt wurden – nur zwei Wochen vor Unterzeichnung des Waffenstillstands. Zusammen mit etwa fünfhundert Kameraden seiner Division kam er in Kriegsgefangenschaft.

Damit war sein Leben als Südkoreaner ein für alle Mal vorbei. Er sprach nie über das, was ihm in der Kriegsgefangenschaft widerfahren war. Aber es steht zu vermuten, dass es ihm ähnlich erging wie anderen Kriegsgefangenen, die den Kommmunisten in die Hände gefallen waren. Huh Jae-suk, der mit ihm die Kriegsgefangenschaft teilte und später fliehen konnte, berichtete in seinen Erinnerungen von schmutzigen Lagern, in denen sie nicht einmal die Möglichkeit hatten, sich zu baden oder die Zähne zu putzen. Sie wurden von Kopfläusen gequält; unbehandelte Wunden wimmelten von Maden. Täglich gab es nur eine Mahlzeit bestehend aus Reis und Salzwasser.

Nach dem Waffenstillstand kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem die Kommunisten 12773 Gefangene freiließen, darunter 7862 Südkoreaner. Tausenden, vielleicht Zehntausenden wurde die Rückkehr verwehrt – unter ihnen Tae-woo. Als sie am Bahnhof von Pjöngjang einwaggoniert wurden, glaubten sie, dass die Züge sie in die Heimat zurückbringen würden; stattdessen fuhren sie Richtung chinesische Grenze in das Kohlebergwerkgebiet. Wie sich Huh Jae-suk erinnert, waren nahe der Bergwerke von der sogenannten Baubrigade des Innenministeriums neue Kriegsgefangenenlager gebaut worden. Die Arbeit in den nordkoreanischen Bergwerken war sehr gefährlich, weil es oft zu Bränden und Stolleneinbrüchen kam. »Das Leben eines Kriegsgefangenen war weniger wert als das einer Fliege«, schrieb Huh Jae-suk. »Jeden Tag beim Einfahren schauderte ich vor Angst. Wie eine Kuh, die ins Schlachthaus geführt wird, wusste ich nie, ob ich lebend wieder herauskommen würde.«

1956 verabschiedete die kommunistische Regierung einen Erlass, dem zufolge die Kriegsgefangenen aus dem Süden die nordkoreanische Staatsbürgerschaft übernehmen konnten. Damit war zwar das Schlimmste vorbei, aber es bedeutete auch, dass sie nie mehr in die Heimat zurückkehren würden.

Tae-woo musste Eisenerz in Musan abbauen, einer düsteren Bergarbeiterstadt an der chinesischen Grenze in der Provinz Nord-Hamgyong. Die Männer, ausschließlich Südkoreaner, lebten zusammen in einem Wohnheim.

Dort arbeitete eine neunzehnjährige noch unverheiratete Frau. Eine Schönheit konnte man sie nicht nennen, aber ihre zielstrebige Art wirkte anziehend, und sie strahlte körperliche und geistige Stärke aus. Sie war sehr darauf erpicht, einen Ehemann zu finden – schon allein, um von ihrer Mutter und ihren Schwestern wegzukommen, mit denen sie zusammenlebte. Nach dem Krieg waren heiratsfähige Männer rar. Als die Leiterin des Wohnheims sie mit Tae-woo bekannt machte,wurde sie von einer Welle des Mitleids mit dem jungen Mann überschwemmt, der ganz allein dastand, da seine Verwandten alle auf der anderen Seite der Demarkationslinie lebten. Er war zwar nicht größer als sie selbst, hatte aber eine freundliche und sanfte Art. Die beiden heirateten noch im selben Jahr.

Tae-woo passte sich dem Leben in Nordkorea rasch an, und es fiel ihm nicht einmal besonders schwer. Die Koreaner waren ein Volk – hana nara, eine Nation, wie sie gern sagten. Sie hatten dasselbe Aussehen, und der Akzent der Bewohner von Pjöngjang war häufig Gegenstand des Spotts, weil er dem gutturalen von Pusan so ähnlich war. Die Kriegswirren hatten die koreanische Bevölkerung gründlich durchgemischt. Aus Angst vor Verfolgung durch die Kommunisten waren Tausende Koreaner aus dem Gebiet nördlich des 38. Breitengrads nach Süden geflohen, darunter auch Grundbesitzer, Geschäftsleute, christliche Geistliche und Kollaborateure der Japaner. Nur eine vergleichsweise geringe Zahl kommunistischer Sympathisanten war in den Norden gegangen. Zahllose andere, die nicht der einen oder anderen politischen Richtung zuneigten, hatte es einfach bei der Flucht vor den Kampfhandlungen nach Norden oder Süden verschlagen.

Wer hätte da schon sagen können, wer Nord-, wer Südkoreaner war? Kurz nach seiner Eheschließung wurde Tae-woo mit seiner jungen Frau in einen anderen Bergwerksort in der Nähe von Chongjin umgesiedelt, wo er niemanden kannte. Niemand hätte einen Grund gehabt, etwas Ungewöhnliches in seiner Vergangenheit zu vermuten, aber es gehörte zum spezifischen Charakter Nordkoreas, dass irgendjemand immer etwas wusste.

Nach dem Krieg setzte Kim Il Sung die Aussonderung der Feinde ganz oben auf die Tagesordnung. Er begann an der Spitze seiner potenziellen Rivalen um die Macht und entledigte sich zahlreicher Waffenkameraden, die die Kämpfe in der Mandschurei gegen die japanischen Besatzer angeführt hatten. Die Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei, die ihm während des Kriegs bei der Infiltrierung Südkoreas unschätzbare Dienste geleistet hatten, auf die er jetzt aber ohne weiteres verzichten konnte, wurden ins Gefängnis geworfen. In den 1950er Jahren ließ Kim Il Sung dann in dem Land, das zunehmend die Züge des alten chinesischen Kaiserreichs mit ihm als dessen unangefochtenem Herrscher an der Spitze annahm, noch viele weitere Menschen liquidieren.

Dann wandte Kim Il Sung seine Aufmerksamkeit den gewöhnlichen Menschen zu. Mit dem ehrgeizigen Ziel, eine ganze Bevölkerung umzustrukturieren, gab er 1958 den Auftrag, alle Nordkoreaner nach ihrer politischen Zuverlässigkeit zu kategorisieren. Als in China die Roten Garden während der Kulturrevolution »diejenigen, die den kapitalistischen Weg gehen«, ausrotteten, führte dies zu einem anarchischen Terrorregime, in dem ein Nachbar den anderen denunzierte. Die Nordkoreaner hingegen gingen ausgesprochen systematisch vor. Jeder musste acht Herkunftsprüfungen über sich ergehen lassen. Beim songbun, wie die Einstufung genannt wurde, zählte die Vergangenheit der Eltern, der Großeltern und selbst der Vettern und Cousinen zweiten Grades. Die Loyalitätsprüfungen wurden in verschiedenen Phasen mit vielsagenden Namen durchgeführt. »Intensive Belehrung durch die Zentralpartei« lautete die erste. In den folgenden Phasen wie etwa bei dem Projekt »Das Volk verstehen« zwischen 1972 und 1974 wurden die Klassifizierungen immer weiter verfeinert.

Trotz des für das 20. Jahrhundert typischen Jargons einer Theorie der Gesellschaftsveränderung erinnerte dieser Prozess stark an das Feudalsystem, das die Koreaner in vorangegangenen Jahrhunderten unterdrückt hatte. Damals waren sie in ein Kastensystem gezwängt worden, das in seiner Striktheit dem in Indien glich. Adelige kleideten sich in weiße Hemden und hohe schwarze Hüte aus Rosshaar, während Sklaven Holzschilder um den Hals trugen. Die alte Klassenstruktur beruhte im Wesentlichen auf der Lehre des chinesischen Philosophen Konfuzius, nach dessen Ansicht die Menschen in eine rigide Sozialpyramide einzuordnen sind. Seine despotischen Absichten verwirklichte Kim Il Sung, indem er die inhumansten Elemente des Konfuzianismus mit dem Stalinismus verband. An der Spitze der Pyramide stand nun nicht mehr der Kaiser, sondern Kim Il Sung mit seiner Familie. Von hier aus führten die Stufen abwärts in Form von einundfünfzig Kategorien, die in drei große Klassen zusammengefasst waren: die »Kernklasse«, die Klasse der »Schwankenden« und die der »feindlich Gesinnten«.

Zur Klasse der feindlich Gesinnten gehörten unter anderem die kisaeng, Unterhaltungskünstlerinnen (die wie die japanischen Geishas gut zahlenden Kunden vielleicht ein bisschen mehr boten), Wahrsager und die mudang (koreanische Schamanen, die in dynastischer Zeit ebenfalls zu den unteren Klassen gehört hatten). Hinzu kamen noch die politisch Verdächtigen, die in einem Weißbuch über die Menschenrechtssituation in Nordkorea folgendermaßen definiert wurden:

Menschen aus reichen Bauernfamilien, Kaufleute, Industrielle, Landbesitzer oder diejenigen, deren Privatvermögen vollständig konfisziert wurde; projapanisch und proamerikanisch Gesinnte; reaktionäre Bürokraten; Flüchtlinge aus dem Süden … Buddhisten, Katholiken, entlassene Beamte, all jene, die im Koreakrieg auf der Seite Südkoreas kämpften.

Als ehemaliger südkoreanischer Soldat stand Tae-woo ziemlich weit unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter. Nicht ganz unten, denn dort befanden sich jene Menschen (etwa 200000, das sind rund ein Prozent der Bevölkerung), die für immer in die nach dem sowjetischem Vorbild des Gulags errichteten Arbeitslager geschickt worden waren. Für Nordkoreaner der unteren Klassen kam ein Leben in der Hauptstadt Pjöngjang, dem Schaufenster des Landes, nicht in Frage, genauso wenig wie in den schöneren Landstrichen weiter im Süden, wo der Boden fruchtbarer war und ein wärmeres Klima herrschte. Von der Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei, die wie die Kommunistische Partei in China und der Sowjetunion die gut bezahlten Stellen vergab, konnte Tae-woo nicht einmal träumen.

Jemand von so niedrigem Rang wie er wurde von den Nachbarn genauestens beobachtet. In Nordkorea sind die Menschen in sogenannten inminban (»Nachbarschaftsgruppen«) organisiert – Kooperativen von etwa zwanzig Familien, die einander überwachen und ihr Viertel verwalten. Jede inminban hatte eine gewählte Vertretung, in der Regel eine Frau, die alles Verdächtige höherrangigen Beamten meldete. Einem Nordkoreaner niederen Ranges war es praktisch unmöglich, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter aufzusteigen. Personalakten wurden in den lokalen Büros des Ministeriums für Staatssicherheit verschlossen. Und um vollständig sicherzugehen, nur für den Fall, dass jemand sich mit dem Gedanken trug, die Unterlagen zu manipulieren, wurden die Akten außerdem in der bergigen Provinz Yanggang deponiert. Innerhalb dieses Klassensystems gab es lediglich eine Abwärtsmobilität. Selbst wenn man der Kernklasse angehörte, die ausschließlich aus Verwandten der Herrscherfamilie und Parteikadern bestand, konnte man für Fehlverhalten degradiert werden. Und wer sich einmal in der Klasse der feindlich Gesinnten befand, blieb dort sein Leben lang. Wer mit welchem Makel auch immer behaftet war, er blieb ihm, und nichts konnte daran etwas ändern. Und wie im System des alten Korea ging der Status der Eltern auch auf die Nachkommen über. Die Sünden des Vaters waren auch die Sünden der Kinder und Enkel.

Menschen mit einem solchen Makel wurden als beulsun bezeichnet – sie hatten »vergiftetes Blut«, waren unrein. Mi-ran und ihre vier Geschwister trugen dieses Gift in sich. Sie mussten davon ausgehen, dass ihre Aussichten ebenso erbärmlich waren wie die ihres Vaters.

 

Als Kind wusste Mi-ran nichts von der Katastrophe, die bereits vor ihrer Geburt über sie hereingebrochen war. Ihre Eltern hielten es für das Beste, den Kindern nichts von den südkoreanischen Wurzeln des Vaters zu erzählen. Was sollte es schon bringen, sie mit dem Wissen zu belasten, dass sie von den besten Schulen und den besten Arbeitsplätzen ausgeschlossen sein und ihr Leben bald in eine Sackgasse geraten würde? Was für einen Grund hätten sie dann noch, fleißig zu lernen, auf ihren Musikinstrumenten zu üben oder sich im Sport hervorzutun?

Nordkoreaner wissen nicht, in welche Klasse man sie eingeordnet hat, und so war auf den ersten Blick nicht gleich klar, dass mit der Familie etwas nicht stimmte, wenn auch die Kinder argwöhnten, dass es mit ihrem Vater etwas Besonderes auf sich hatte. Er war ein merkwürdiger Mensch, anders als die anderen, und schien eine schwere Last zu tragen. Niemand kannte Verwandte von ihm. Nicht nur, dass er nie über die Vergangenheit sprach; er sprach überhaupt selten. Auf Fragen antwortete er einsilbig, und wenn er etwas sagte, dann im Flüsterton. Tae-woo wirkte am zufriedensten, wenn er sich handwerklich betätigte, etwas im Haus reparierte. Immer war er auf eine Beschäftigung aus, die ihm erlaubte zu schweigen.