Im Namen der Wahrheit - Robert Zagolla - E-Book

Im Namen der Wahrheit E-Book

Robert Zagolla

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Beschreibung

Seit dem "Fall Daschner" ist die Diskussion über die Folter neu entbrannt. Ein Blick in die Geschichte macht den Prozess ihrer Umwertung deutlich: Von der gesetzlich geregelten Befragungstechnik im ausgehenden Mittelalter über den Versuch der Abschaffung und ihr vielfältiges Weiterleben bis ins 20.Jahrhundert. Was von den Nationalsozialisten wieder massiv eingesetzt und in der SBZ/DDR mit anderen Mitteln weiter praktiziert wurde, gilt heute manchem als Königsweg der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung: die Anwendung staatlicher Gewalt zur Erzwingung von Informationen oder Geständnissen.Die Zeugnisse der Opfer und die fragwürdigen Erfolge der Folterer warnen jedoch vor falschen Hoffnungen.

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Robert Zagolla

Im Namen der Wahrheit

Folter in Deutschland vom Mittelalter bis heute

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2006

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Christian Härtel, Berlin

Umschlaggestaltung: Bauer & Möhring, Berlin

ISBN 978-3-8393-0124-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-067-4 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Folter in Deutschland?

Im »finsteren« Mittelalter

Ars torquendi: Das römische Recht als Wurzel des Bösen

Fehde, Buße, Rutenschläge: Das Strafrecht der Germanen

Vom Gottesurteil zur Folter: Das Hochmittelalter

Gauner, Juden und Verräter:Neue Herausforderungen im 14. Jahrhundert

»Folter für alle«: Das Ende der Privilegien im 15. Jahrhundert

Zwischen Reformation und Aufklärung

Die Logik der Folter: Ein Lehrbeispiel

Pfeffersäcke und Heckenrichter: Die Justiz im 16. und 17. Jahrhundert

Wo gehobelt wird, fallen Späne: Verstockte Verbrecher und unschuldige Justiz-Opfer

Pommersche Mützen und Mecklenburgische Instrumente: Das Einmaleins des Folterns

Die Folter im Hexenprozess

Die »Abschaffung« der Folter im 18. und 19. Jahrhundert

Warum Friedrich der Große die Folter nur halb abschaffte

Die Kritik der Aufklärer: Alter Wein in neuen Schläuchen

Rückzugsgefechte: Die Argumente der Folterer

Schläge statt Streckbank: Ein Sieg der Vernunft?

E.T.A. Hoffmann als Folter-Experte? Die Tortur im Spiegel der Literatur

Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Die Eiserne Jungfrau und die Lust am Gruseln

Der lange Weg zum modernen Strafprozess

Folter in den Kolonien

Folter in der Weimarer Republik?

Die Rückkehr der Folter im Dritten Reich

»Nationalsozialistisches Rechtsempfinden«

Ungezügelte Gewalt 1933/34

»Verschärfte Vernehmung«: Neue Regeln für das Foltern

Die Gestapo im Ausland

Auschwitz – Folter im Vernichtungslager

»Orientalischer Sadismus« oder deutsche Pflichterfüllung?

Grauzone im Stasi-Knast

Folter in der DDR? »Das bilden Sie sich alles bloß ein!«

Prügel, Tritte, Schlafentzug: Das sowjetische Vorbild

Von der Folter zum »Kampf um die Aussagebereitschaft«

»Wir haben schöne Methoden …«: Die 1970er-Jahre

Die 1980er-Jahre

Der schmale Grat zwischen Misshandlung und Folter

Folter im Rechtsstaat?

Gesetze, Pakte, Konventionen: Der lange Weg zur Ächtung der Folter

Geständniszwang im Polizei-Alltag

Folter heute

»Es gibt Dinge, die sehr weh tun«: Ein Polizist sieht rot

Entführer, Terroristen und das gesunde Volksempfinden

Was die Geschichte lehrt

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Editorische Notiz

Dank

Literatur

Orts- und Personenregister

Folter in Deutschland?

»Die Deutschen sind nicht von Natur aus grausam, aber sie neigen in starkem Maße dazu, schlechte Beispiele nachzuahmen.«[1] Zu diesem wenig tröstlichen Ergebnis kam der englische Hobbyhistoriker Robert Louis Pearsall, Ritter von Willsbridge, als er im Jahr 1838 seine Forschungen über die Eiserne Jungfrau veröffentlichte. Auf der Suche nach einem erhaltenen Exemplar dieses sagenumwobenen Folter- und Mordinstruments hatte er ganz Süddeutschland bereist, bis er endlich auf Burg Feistritz in Niederösterreich (das nach damaligem Verständnis noch zu Deutschland gehörte) fündig wurde. Der Burgherr, Joseph Freiherr von Dietrich, zeigte ihm stolz das restaurierte, wenn auch nicht funktionsfähige Gerät, das angeblich während der Napoleonischen Kriege aus dem Nürnberger Folterkeller geraubt worden war. Obwohl Pearsall die Eiserne Jungfrau also in Deutschland gesucht und gefunden hatte, war er dennoch überzeugt, dass es sich dabei nicht um eine originär deutsche Erfindung handelte. Seiner Ansicht nach war von den Deutschen lediglich etwas kopiert worden, was die Gehirne spanischer Inquisitoren schon viel früher ersonnen hatten.

Gut hundert Jahre später, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, war es nicht mehr die spanische Inquisition, die als Hort des Bösen galt. Entsprechend änderte sich auch die Deutung der Eisernen Jungfrau. Pearsalls Landsmann Charles R. Beard sprach sicherlich vielen aus der Seele, als er im Jahr 1942 seine Sicht auf das Verhältnis der Deutschen zu dieser Erfindung formulierte: »Diese tödliche Maschine in ihrem mechanischen, unreflektierten und willenlosen Vollzug des blutigen Willens der despotischen Herren«, so stellte er bitter fest, »ist ein Symbol für das deutsche Volk nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.«[2]

Ob als Nachahmer fremder Gräueltaten oder als willige Vollstrecker der grausamen Befehle ihrer »despotischen Herren«: Den Deutschen wird schon seit langem eine besondere Beziehung zum Thema Folter nachgesagt. Dabei waren und sind Mittelalter und Drittes Reich die wichtigsten Bezugspunkte, auch im deutschen Selbstverständnis: Die Grausamkeit des Mittelalters und die obszöne Brutalität der Nazi-Verbrechen sind zu Metaphern geworden, die auch unabhängig von ihrem realen Gehalt zur Beschreibung und Deutung von späteren Ereignissen genutzt werden können. So fehlt, wenn über das Thema Folter diskutiert wird, selten ein Politiker, der die »kalte Luft des Mittelalters« hereinwehen spürt (so etwa Hans-Christian Ströbele im Jahr 2004), oder einer, der auf die historischen Erfahrungen der Nazi-Diktatur verweist. Schon in den 1930er-Jahren griffen die Opfer des nationalsozialistischen Terrors auf das Bild vom »finsteren Mittelalter« zurück, wenn sie die Barbarei ihrer Peiniger deutlich machen wollten. So heißt es etwa im »Braunbuch Reichstagsbrand und Hitler-Terror«, das 1935 von geflohenen Deutschen im Ausland veröffentlicht wurde: »Die Naziführer haben mittelalterliche Pogrome gebracht und die Lynchjustiz, die lettres cachet mit ihren willkürlichen Verhaftungen (Schutzhaft) und die Scheiterhaufen, das Spießrutenlaufen und die Folter ersten, zweiten und dritten Grades.«[3] Auch bei der Beschreibung von Folterverhören griffen die Autoren auf verbreitete Mittelalter-Vorstellungen zurück: »Das ›Verhör‹ beginnt. Hinter einem Tisch sitzt der Femerichter; drei Sterne an den Aufschlägen der SA-Uniform haben ihm die richterliche Gewalt über alle Verhafteten gegeben. In der Tischplatte stecken blanke Dolche und Seitengewehre; oft zittern rechts und links die Flammen der Kerzen. Der Gefangene wird an den Tisch gestoßen. Dicht an ihn treten die SA-Leute. Er spürt sie neben sich, sie begleiten seine Antworten mit Schlägen.«[4] In einem anderen Bericht heißt es prosaischer: »Man könnte glauben, die Führer der SA und SS hätten ein monatelanges Studium der Foltermethoden des Mittelalters […] absolviert.«[5]

Die gedankliche Verbindung von Folter und Mittelalter hatte schon seit dem 19. Jahrhundert den Zweck, die Fremdheit jener grausamen Verhaltensweisen zu betonen, die man nicht mehr akzeptieren wollte, deren Aktualität man aber nicht verdrängen konnte. So fragte 1940 der Rechtshistoriker Eberhard Schmidt, als er – »in den dunkelsten Tagen der deutschen Geschichte« – an seinem Handbuch des deutschen Strafprozesses schrieb: »Hat der Mensch des Mittelalters nicht die Torheit und den Wahnsinn bemerkt, der darin besteht, dass man einen Verdächtigen foltert, um zur Wahrheit zu gelangen? Ist ihm nicht aufgegangen, dass man mit der Folter aus jedermann alles herausfragen kann, was man von ihm zu hören wünscht? Hat er nicht bemerkt, dass mit der Folter die größte Fehlerquelle in das Beweisverfahren kommt und dass erfolterte Geständnisse grundsätzlich wertlos sind?«[6]

»Die Deutschen sind nicht von Natur aus grausam«, hieß es noch im 19. Jahrhundert. Aber wer erfand dann die Eiserne Jungfrau?

Man braucht nur wenig Phantasie, um zu erkennen, dass Schmidt hier zwar vordergründig über das Mittelalter sprach, dass er aber eigentlich eine ganz andere Zeit meinte: jene zwölf »dunkelsten« Jahre nämlich, in denen neben vielem anderen auch das deutsche Rechtssystem pervertiert wurde. Diese Jahre gelten inzwischen weltweit als Metapher für barbarische Brutalität: Wie ein spätes Echo der Mittelalter-Assoziationen ehemaliger NS-Schutzhäftlinge klingt es, wenn ein terrorverdächtiger Engländer seine Folterung im US-Militärgefängnis Guantanamo mit den Worten beschreibt: »Wir wurden behandelt wie aus dem Nazi-Lehrbuch.«[7]

Die Gewissheit, dass die Geschichte der Folter in Deutschland endgültig zu Ende ist, geriet am Anfang des neuen Jahrtausends ins Wanken. Im Jahr 2002 drohte die Frankfurter Kriminalpolizei einem Entführer mit der Anwendung von Folter, um zu erfahren, wohin er sein Opfer verschleppt hatte. Der Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner, der diese Drohung angeordnet hatte, ging davon aus, dass der Junge in seinem Versteck zu ersticken oder zu verdursten drohte, wenn er nicht bald befreit würde. In Wirklichkeit hatte der Entführer ihn aber bereits kurz nach der Tat ermordet. In Umfragen zeigten über 60 Prozent der Deutschen zustimmendes Verständnis für die Entscheidung Daschners. Zwei Jahre später wurde er wegen »Verleitung zur Nötigung« verurteilt; das Gericht verzichtete allerdings darauf, eine Strafe gegen ihn zu verhängen. Dieses Urteil erging in einem stark gewandelten Klima: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten die bisher gültigen Grundsätze für den Umgang mit Verdächtigen weltweit in Frage gestellt. Die Anwendung von »Rettungsfolter« durch deutsche Sicherheitskräfte ist seither, zumindest in der Theorie, kein Tabu mehr. Immer wieder setzen einzelne Politiker und Juristen (bedacht oder unbedacht) Diskussionen über dieses Thema in Gang.

In dieser Situation lohnt es sich, noch einmal den Spuren der Folter in Deutschland von den Anfängen bis heute nachzugehen. Zwar haben sich bereits viele Autoren mit der Geschichte dieses Phänomens beschäftigt – die meisten jedoch gehen sehr unkritisch mit der historischen Überlieferung um, bieten keine nachprüfbaren Belege und beschränken sich häufig genug darauf, die Folter zuerst als verabscheuungswürdige Barbarei zu verdammen und dann geradezu genüsslich die barbarischsten Foltermethoden zu schildern.[8] Der moralische Anspruch kann hier nur notdürftig verbergen, dass es nicht um Erkenntnisgewinn geht, sondern um die Befriedigung voyeuristischer Interessen. Aber auch seriösere Bücher lassen Wünsche offen: So bietet das anerkannte Standardwerk des Amerikaners Edward Peters eine globale Foltergeschichte von der Antike bis in die Neuzeit; dabei müssen seine Ausführungen aber notgedrungen allgemein bleiben – detaillierte Fakten zu einzelnen Ländern sucht man darin vergebens. Gerade zu Deutschland findet man auch sachliche Fehler, so etwa die Behauptung, SS-Führer Heinrich Himmler habe 1942 die Folter unter dem Namen »Dritter Grad« eingeführt. Das ist gleich mehrfach falsch! Zum Ersten spricht der von Peters zitierte Erlass nicht vom »Dritten Grad«, sondern von »verschärfter Vernehmung«; zum Zweiten war der Unterzeichner nicht Heinrich Himmler, sondern Gestapo-Chef Heinrich Müller; und zum Dritten war die »verschärfte Vernehmung« bereits fünf Jahre zuvor in einem Erlass von Müllers Vorgänger Reinhard Heydrich näher geregelt worden. Die Bezeichnung »Dritter Grad« greift die seit dem Ende des Mittelalters übliche Einteilung der Folter in verschiedene Stufen auf. Die Idee, damit neuzeitliche Praktiken zu bezeichnen, stammt aber ganz offensichtlich nicht aus Deutschland, sondern aus den USA: »The Third Degree« hieß ein Buch, in dem der Polizeireporter Emanuel H. Lavine im Jahr 1930 die brutalen Verhörmethoden amerikanischer Polizisten anprangerte.[9]

Nicht nur die Eiserne Jungfrau bietet also Gelegenheit, Vorurteile und festgefügte Bilder mit historischer Realität zu verwechseln. Der jüngst veröffentlichte Versuch des Rechtshistorikers Dieter Baldauf, die Geschichte der Folter als »deutsche Rechtsgeschichte« zu erzählen, kann dem kaum etwas entgegensetzen, denn er endet im Jahr 1831: Nach rechtshistorischer Lesart gab es in Deutschland seither keine Folter mehr!

Die Frage, ob und wann in Deutschland gefoltert wurde, hängt natürlich vor allem davon ab, wie man Folter definiert. In diesem entscheidenden Punkt gibt es allerdings bislang keinen Konsens: Historiker, Juristen, Menschenrechtler und Politiker verwenden den Begriff in ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar sich widersprechenden Bedeutungen. Die wichtigsten Definitionen dürften dabei die umgangssprachliche, die völkerrechtliche und die rechtshistorische sein. Die umgangssprachliche Definition ist in der »Brockhaus Enzyklopädie« von 1988 zu höheren Weihen gelangt: Folter, so heißt es dort, sei eine »gezielt eingesetzte grausame Handlungsweise von Menschen gegenüber Menschen, um durch die zugefügten phys[ischen] und/oder psych[ischen] Schmerzen Geständnisse oder Meinungsänderungen zu erzwingen oder sonstige Zwecke zu verfolgen«. Diese Definition leuchtet wohl jedem ein, ist aber für eine Untersuchung der Geschichte der Folter völlig unbrauchbar, weil sie die entscheidenden Fragen, wer die Schmerzen zufügt und warum er es tut, unbeantwortet lässt. So verstanden wäre es nämlich auch Folter, wenn ein Mann seine Ehefrau misshandelt, wenn eine Mutter ihr Kind verhungern lässt oder wenn ein Schüler einen anderen im Streit verprügelt. Wenn man diese – verwerflichen und zu Recht teilweise strafbaren – Handlungen als Folter bezeichnen will, dann folgt man einem moralischen Impuls: Etwas Unerwünschtes wird als Böse abgestempelt. Das Wort »Folter« hat dann allerdings keine spezifische Bedeutung mehr und bezeichnet nichts anderes als eine beliebige Form von Gewaltanwendung. Dann kann man – wie die Gründerin der Gefangenen-Hilfsorganisation Nothilfe e.V. – auch normale Gefängnishaft als Folter begreifen,[10] oder – wie ein argentinischer Gewerkschaftsfunktionär in den 1950er-Jahren – selbst Armut und Frustration[11]. Ein so weit gefasster Folterbegriff steht allerdings dem Anspruch der internationalen Staatengemeinschaft entgegen, Folter weltweit zu ächten. Denn ohne klare Definition fällt es genauso leicht, jemandem die Anwendung von Folter vorzuwerfen, wie es umgekehrt leicht ist, diesen Vorwurf abzustreiten.

Das »UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe« aus dem Jahr 1984 (UN-Antifolterkonvention) legt aus diesem Grund eine wesentlich engere Definition zugrunde: Es versteht Folter als »Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.«[12]

Das heißt, aus Sicht des Völkerrechts ist Folter eine vorsätzliche Zufügung erheblicher Schmerzen, die von Staatsbediensteten verursacht oder veranlasst wird. Andere Formen der Grausamkeit, besonders wenn sie von Privatpersonen verübt werden, können juristisch nicht als Folter gelten und sollten daher auch besser als Nötigung, Körperverletzung, Vergewaltigung oder mit einem anderen spezifischen Ausdruck bezeichnet werden. Es leuchtet wohl unmittelbar ein, dass ein Eingriff in die Menschenwürde und die körperliche Unversehrtheit eine andere Qualität bekommt, wenn er von Institutionen des Staates – die ja gerade diese Rechtsgüter schützen sollen – ausgeht. Aus ähnlichen Gründen unterscheidet man schließlich auch begrifflich zwischen Enteignung und Diebstahl oder zwischen Hinrichtung und Mord.

Die UN-Antifolterkonvention legt also genau fest, wer einer Person Schmerzen zufügen muss, damit von Folter gesprochen werden kann. Das warum dagegen bleibt auch hier weitgehend offen. Die Konvention geht davon aus, dass Folter immer einem Zweck dient, sie benennt aber lediglich drei Beispiele und verzichtet auf eine abschließende Aufzählung. In dieser Frage ist nun die rechtshistorische, die klassische Definition der Folter am genauesten: Sie versteht unter Folter ausschließlich solche Schmerzen, mit denen eine Aussage über ein begangenes Verbrechen erzwungen werden soll. In dieser Form war die Folter (auch Tortur oder Peinliche Frage genannt) über Jahrhunderte hinweg in vielen Ländern Europas ein regulärer Bestandteil des Strafprozesses, und über diese Form soll im Folgenden vor allem gesprochen werden. Eine so enge Definition macht es nicht nur leichter, historische Kontinuitäten und Brüche zu erkennen, sie ermöglicht es auch, die Erfahrungen der Vergangenheit direkt mit der aktuellen Debatte zu verknüpfen. Denn wenn heute über die Grenzen des völkerrechtlichen Folterverbots, ja sogar über eine Wiedereinführung der Folter diskutiert wird, dann geht es immer um Gewalt zur Erzwingung einer Aussage. Alle Gedankenspiele gehen davon aus, dass man einem Verdächtigen in bestimmten Situationen eine wichtige Information abpressen müsse, sei es über das Versteck einer Bombe, den Verbleib einer Geisel oder über den Aufenthaltsort von Komplizen. Demgegenüber widerspricht die Misshandlung von Gefangenen allein zum Zweck der Bestrafung oder Einschüchterung so sehr unserem zivilisierten Rechtsverständnis, dass sie außerhalb von Stammtischrunden bislang noch niemand zu fordern gewagt hat.

Während also das Völkerrecht unter dem Begriff Folter eine ganze Reihe staatlicher Praktiken zusammenfasst, die alle gleichermaßen als Verstoß gegen die Menschenrechte geächtet werden sollen, verwenden die folgenden Kapitel den Begriff nicht in einer moralischen, sondern vielmehr in einer technischen Bedeutung. Sie greifen aus der Vielzahl möglicher Gründe, die es für die Misshandlung von Menschen durch Staat und Obrigkeit geben kann, einen einzelnen heraus: die Suche nach Wahrheit. Seit über zweitausend Jahren wurden (und werden) in Europa Menschen mit dieser Begründung geschlagen und gequält. Manchmal ist das Interesse an der Wahrheit nur ein Vorwand, der andere Absichten verdecken soll; immerhin ist es aber ein Vorwand, der tatsächlich eine gewisse Legitimität verspricht. Wenn also in diesem Buch von Folter die Rede ist, dann sind damit ausschließlich solche Formen staatlicher Gewalt gemeint, mit denen eine Aussage erpresst werden soll. Es mag auf den ersten Blick beinahe makaber wirken, wenn als Folge dieser engen Definition aus dem ganzen Komplex der nationalsozialistischen Gräueltaten – aus Massenmord, Zwangsarbeit, unwürdigen Haftbedingungen, medizinischen Menschenversuchen – ein einzelner Aspekt herausgegriffen und nur dieser als Folter bezeichnet wird.[13] Damit soll jedoch keineswegs behauptet werden, dass die ausgeblendeten Praktiken weniger verabscheuungswürdig oder für ihre Opfer leichter erträglich gewesen seien. Es soll auch nicht bestritten werden, dass diese Praktiken nach völkerrechtlichen Kategorien heute ebenfalls als Folter bezeichnet werden können und müssen. In diesem Buch geht es aber nicht darum, Verletzungen des Völkerrechts anzuprangern oder über die Grausamkeit einzelner Handlungen zu urteilen, sondern es wird bewusst eine einzelne, durch ihren erklärten Zweck bestimmte Form der Gewalt herausgegriffen, um deutlich zu machen, wie in den einzelnen Phasen der deutschen Geschichte das Verhältnis von Zwang und Wahrheit beurteilt wurde.

Die Tatsache, dass Folter über Jahrhunderte hinweg ein genau definiertes Rechtsgebilde war, erschwert heute dem Rechtshistoriker die Verständigung mit seinen Zeitgenossen. Wie soll man vermitteln, dass Folter in Deutschland im 14. Jahrhundert eingeführt und im 18. Jahrhundert verboten wurde, wenn es Gewalt im Verhör doch auch vorher und nachher gab? Ein Rechtshistoriker versuchte im Jahr 1952 diese Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass er eine Abstufung der Gewalt einführte: Nicht jede Form der Geständniserzwingung könne als Folter bezeichnet werden, denn »mit dem Wort ›Folter‹ verbindet sich die Vorstellung von Folterkammer und Folterinstrumenten, also die eines körperlichen Zwanges«. Daneben gebe es auch Druckmittel, mit denen man auf die Seele des Betroffenen einwirken könne; diese könnten sich zwar mit physischem Druck verbinden, zum Beispiel »indem der Gefangene bewusst schlecht behandelt wird«, das jedoch sei keine Folter! Kennzeichen der Folter sei nämlich »die Anwendung stärkster körperlicher Misshandlung, die regelmäßig lebensgefährlich ist, zwecks schnellstmöglicher Erlangung eines Geständnisses.« Von dieser »ausgebildetsten und erfolgreichsten« Form der Geständniserzwingung müsse man die »mildere Art« der »Geständniserpressung« trennen, bei der ein psychischer Druck – »wenn auch unter Zuhilfenahme leichterer physischer Mittel – zur Erlangung eines Geständnisses ausgeübt« werde.[14]

Auch das moderne Völkerrecht kennt eine Abstufung der Gewalt: Es unterscheidet zwischen »Folter« und »grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung«, ohne allerdings eindeutig zu regeln, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Zwar werden beide Handlungen stets in einem Atemzug genannt, und beide sind gleichermaßen verboten, aber der Vorwurf der Folter wirkt wegen seiner moralischen Bedeutung derart stigmatisierend, dass man ihn einem Staat nicht leichtfertig zumuten möchte. Selbst Amnesty International unterscheidet sehr genau zwischen Folter und Misshandlung.[15]

Solche Abstufungen sind sicherlich sinnvoll, wenn es um den täglichen Kampf für die Einhaltung der Menschenrechte geht: Man muss natürlich die schlimmsten Fälle zuerst bekämpfen und darf nicht alle Staaten über einen Kamm scheren. Ein unangenehmer Nebeneffekt ist allerdings, dass Folterer sich verleitet fühlen können, um die Einstufung ihrer Taten zu feilschen. So stellte das US-Justizministerium in einem internen Memorandum vom August 2002 fest, dass man erst dann von Folter sprechen könne, wenn die zugefügten Schmerzen die Intensität einer schweren Körperverletzung erreichten und mit Organversagen, Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder sogar dem Tod einhergingen.[16] Die von CIA-Chef Porter Goss gepriesenen »innovativen und einzigartigen Verhörmethoden« des amerikanischen Geheimdienstes sind nach dieser Definition keine Folter: etwa die Praxis, Verdächtige mit der flachen Hand in den Magen zu schlagen, sie vierzig Stunden lang in einer kalten Zelle stehen zu lassen oder sie kopfüber auf ein Brett zu fesseln und ein Ertränken zu simulieren.

Zu den wenigen Gremien, die sich regelmäßig mit der Frage beschäftigen müssen, wo Folter anfängt, gehört der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.[17] Die Haltung des Gerichtshofes änderte sich im Lauf der Zeit. Im Jahr 1978 klagte die Republik Irland gegen das Königreich Großbritannien, weil die britische Polizei gegen Terror-Verdächtige regelmäßig die so genannten »fünf Vernehmungstechniken« anwandte: Die Verdächtigen mussten dabei über Stunden hinweg in einer unangenehmen Anspannungshaltung (»stress position«) aufrecht, gegen eine Wand gelehnt stehen; man zog ihnen eine Kapuze über den Kopf, die nur während der Verhöre abgenommen wurde; man beschallte sie vor der Befragung ununterbrochen mit einem lauten pfeifenden Geräusch, entzog ihnen den Schlaf und setzte während des Vernehmungszeitraums tagelang ihre Rationen an Essen und Trinken herab. Daneben schlugen und traten die Ermittler auf einzelne Verdächtige ein, was zum Teil erhebliche Verletzungen nach sich zog. Der Gerichtshof wertete dies alles aber nicht als Folter, sondern lediglich als unmenschliche und erniedrigende Behandlung. In der Urteilsbegründung hieß es: »Obgleich die fünf Techniken, wie sie in kombinierter Weise angewandt wurden, zweifelsohne eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung bedeuteten, obgleich es ihr Ziel war, Geständnisse, die Preisgabe anderer Personen und/oder von Informationen abzunötigen, und obgleich sie systematisch eingesetzt wurden, verursachten sie kein Leiden jener besonderen Intensität und Grausamkeit, wie durch das Wort ›Folter‹ im so verstandenen Sinne angedeutet [wird].«[18] Seit den 1990er-Jahren stellt der Straßburger Gerichtshof allerdings höhere Ansprüche an die Behandlung inhaftierter Personen: Aus diesem Grund werten die Richter jetzt auch »einfachere« Misshandlungen im Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft als Folter im Sinne der UN-Antifolterkonvention.[19]

Für das völkerrechtliche Verbot ist es im Grunde ohnehin gleichgültig, ob ein Vergehen als Folter oder als unmenschliche, grausame und erniedrigende Behandlung zu werten ist; das Verbot erstreckt sich auf jede dieser Abstufungen gleichermaßen. Aus diesem Grund, und weil es hier nicht um eine juristische Abrechnung geht, wird auch im Folgenden nicht nach der Intensität von Misshandlungen unterschieden. Als Folter gilt in diesem Buch jede Anwendung körperlicher oder seelischer Gewalt, die den Zweck verfolgt, im Rahmen einer gerichtlichen oder polizeilichen Ermittlung eine Aussage zu erzwingen. Ob dabei mit Streckbank, Elektroschocks oder »nur« mit Schlägen gearbeitet wurde, spielt eine untergeordnete Rolle. Über die moralische Einordnung wird man im Einzelfall diskutieren können; entscheidend ist für die hier verfolgte Fragestellung der Zweck, nicht das Ausmaß der Gewalt.

Eine Geschichte der Folter kann ohnehin keine allgemeine Geschichte der menschlichen Grausamkeit sein, sondern allerhöchstens ein Teil davon. Daher wird es hier auch nicht – anders als in vielen anderen Büchern – gleichzeitig um brutale Strafen und andere Formen staatlicher Gewalt gehen. Vor allem im Mittelalter, aber auch noch in späteren Jahrhunderten, gab es eine Vielzahl von grausamen Leib- oder Lebensstrafen wie etwa das Auspeitschen, das Rädern oder das Verbrennen. Diese Quälereien und der mit ihnen verbundene Schmerz wurden jedoch damals als Teil der Strafe begriffen und von der Folter streng unterschieden. Letztlich ist das auch heute noch so. Die UN-Antifolterkonvention berücksichtigt die Unterschiede im Strafsystem einzelner Länder, indem sie festlegt, dass unter den Begriff Folter nicht »Schmerzen oder Leiden« fallen, »die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind« [20].

Die Geschichte der Folter in Deutschland reicht zurück bis ins Mittelalter. So wenig aber damals mit Eisernen Jungfrauen gefoltert wurde (hier irrten die eingangs zitierten Engländer Pearsall und Beard), so wenig ist es auch richtig, die Folter als besonderes Wesensmerkmal des Mittelalters zu begreifen. Wenn es nämlich überhaupt eine »klassische« Zeit der Folter gab, dann lag sie in der Zeit zwischen Reformation und Französischer Revolution, in jener Zeit also, die Historiker in Ermangelung eines besseren Begriffs als Frühe Neuzeit bezeichnen. Seit dem 16. Jahrhundert griffen die Richter in ganz Europa nicht nur regelmäßig zu Streckbank und Daumenschrauben, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, sondern sie entwickelten auch das, was die Befürworter einer Legalisierung der Folter heute wieder fordern: gesetzliche Regelungen für die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen jemand gefoltert werden durfte. Das Folterrecht war bis ins 19. Jahrhundert ein wichtiges Fachgebiet innerhalb der Rechtswissenschaft.

Allerdings waren die damals aufgestellten Regeln strenger, als manch einem lieb sein dürfte, der heute über eine Aufweichung des völkerrechtlichen Folterverbots nachdenkt. Schon damals beschwerten sich einige Hardliner über die strengen Voraussetzungen, die nach dem Gesetz für eine Anwendung der Folter erfüllt sein mussten, und forderten die Einführung von Sonderregelungen, vor allem bei Ausnahmeverbrechen wie Hexerei. Denn, so schrieb der französische Jurist und Hexen-Experte Jean Bodin im 16. Jahrhundert, die Hexen seien so durchtrieben und ihre Verbrechen so schwer nachzuweisen, dass bei Beachtung des geltenden Strafprozessrechts kaum eine unter tausend tatsächlich überführt werden könnte.[21]

Gut vierhundert Jahre später sind die Feindbilder andere, die Argumente jedoch ähneln sich: »Eine treudeutsche Befragungstechnik selbst auf höchstem Niveau kriminalistischer Vernehmungskunst wird einem islamistischen Terroristen nur ein müdes Lächeln abgewinnen«[22], schreibt der stellvertretende Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter und fordert zugleich eine gesetzliche Regelung für die Zufügung von Schmerzen im Verhör. Heute reden wir noch darüber, ob man wieder Regeln für das Foltern aufstellen sollte, damals forderte man schon, diese Regeln in bestimmten Fällen zu lockern.

Folter darf nicht automatisch gleichgesetzt werden mit Barbarei oder Rechtlosigkeit. Im Mittelalter konnte es vorkommen, dass man einen des Diebstahls Verdächtigten einfach aufknüpfte, wenn nur eine ausreichende Zahl von angesehenen Bürgern beschwor, dass sie ihn für schuldig hielt. Später suchte man nach handfesten Indizien und folterte den schwer verdächtigen Angeklagten, um dann zu prüfen, ob seine Aussage mit den ermittelten Tatumständen übereinstimmte. War das nun ein Fortschritt oder ein Rückschritt? Die Geschichte des Strafprozesses war immer geprägt vom Widerstreit zwischen dem Schutz der Unschuldigen und der Bestrafung der Schuldigen. Schwarz und Weiß waren dabei keineswegs so klar verteilt, wie es heute scheinen mag. Bei einem Verzicht auf die Folter wären unzählige Mörder, Räuber und andere Schwerverbrecher, deren Schuld klar auf der Hand lag, ihrer Bestrafung entgangen. Andererseits brachten erfolterte Geständnisse Tausende von Unschuldigen als vermeintliche Hexen auf den Scheiterhaufen. Wie so oft lag das Problem weniger in den Gesetzen als vielmehr in ihrer Anwendung.

Obwohl die Folter später im Dritten Reich einen neuen, erschreckenden Höhepunkt erlebte, kann ihre Wiederkehr doch nicht ohne weiteres als Folge des Totalitarismus bezeichnet werden. Sie fand zwar unter den faschistischen Regimen in Deutschland und Italien wie auch in der kommunistischen Sowjetunion hervorragende Entfaltungsbedingungen, aber erste Spuren finden sich bereits seit 1881 im zaristischen Russland und seit etwa 1930 in den USA und Frankreich.[23] Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in demokratischen Staaten gefoltert: Das Vorgehen der französischen Militärs in Algerien führte in den 1960er-Jahren sogar europaweit zu einer Debatte über die Zulässigkeit von Folter. In Israel wurde die Anwendung gewaltsamer Verhörmethoden erst 1999 durch ein Urteil des höchsten Gerichts verboten, und die Militärgefängnisse der USA sind seit dem 11. September 2001 zum Symbol für die Rückkehr der Folter in die zivilisierte Rechtskultur geworden.[24] Die Misshandlung von Verdächtigen zum Zweck der Geständniserzwingung kann also offenbar unabhängig von der Staatsform überall möglich werden. So auch in Deutschland heute.

Trotz des provokanten Untertitels »Folter in Deutschland vom Mittelalter bis heute« soll in diesem Buch weder der Untergang der zivilisierten Rechtskultur beschworen, noch die Bundesrepublik Deutschland als Folterstaat gebrandmarkt werden. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass die Folter in Deutschland eine lange Geschichte hat, die zwar mit der in anderen europäischen Ländern zu vergleichen ist, die aber in mancherlei Hinsicht ganz eigenen Wegen folgte. Folter hatte und hat eine gewisse Rationalität, über die man diskutieren kann. Hier soll der Versuch unternommen werden, diese Rationalität zu begreifen. Es wird sich zeigen, dass die Folter in einer bestimmten Phase der europäischen – und deutschen – Geschichte auf ihre Art sinnvoll und sogar fortschrittlich war. Dafür wird dann eine Selbstverständlichkeit erklärungsbedürftig erscheinen: Wie und wann konnte die Folter eigentlich abgeschafft werden? Der in Schulbüchern gefeierte Befreiungsakt Friedrichs des Großen – des sprichwörtlich aufgeklärten Monarchen – erweist sich bei näherem Hinsehen als eher zaghaftes Reförmchen, das vor den Untertanen jahrelang verheimlicht und von leitenden Beamten nach Möglichkeit hintertrieben wurde. Nur aus der historischen Perspektive erscheint die Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert als zwingende Entwicklung; den Zeitgenossen war sie eher suspekt.

Wenn es nach dem Willen einzelner Politiker und Juristen – nicht nur in den USA! – geht, dann könnte das unumschränkte Verbot der Folter in einigen Jahrzehnten tatsächlich nur noch als historische Fußnote, als kurzfristige Verirrung auf dem Weg zu einer modernen Folterdoktrin erscheinen. Die Diskussion jedenfalls hat begonnen, und man wird sie nicht einfach unterdrücken können. Erstaunlich ist allerdings, dass über dieses Thema zumeist vollkommen unhistorisch gesprochen wird: Obwohl in Europa seit zweitausend Jahren über die Folter in all ihren Spielarten nachgedacht wird, und obwohl es Hunderte von juristischen Handbüchern, Erfahrungsberichten und Gerichtsakten aus allen Epochen gibt, wird in juristischen Fachzeitschriften des 21. Jahrhunderts diskutiert, als sei die Folter eine Erscheinung der letzten Jahrzehnte, die man allein mit Hilfe der derzeit gültigen Gesetze beurteilen könne! Dieses Buch möchte dazu beitragen, die Folter in die historischen Zusammenhänge einzuordnen, getreu der – fast nur von Historikern geglaubten – Maxime, dass die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens sei.

Im »finsteren« Mittelalter

Ars torquendi: Das römische Recht als Wurzel des Bösen

Das Foltern wurde nicht in Deutschland erfunden. Die Idee, Menschen durch Zufügung von Schmerzen zu bestimmten Handlungen zu zwingen, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. In Europa waren es die Römer, die die Lehre von der Folter zu einer umfangreichen Rechtsdoktrin ausgebaut und damit die spätere Entwicklung für Jahrhunderte geprägt haben.[1] Ähnlich wie im griechischen Recht war im römischen anfangs nur die Folterung von Sklaven zulässig, und zwar dann, wenn sie selbst eines Verbrechens angeklagt waren. Später wurde diese Regel erweitert: Sklaven durften nun auch dann gefoltert werden, wenn sie nur als Zeuge aussagen sollten, und das nicht allein in Strafprozessen, sondern selbst bei Geldstreitigkeiten. Nach damaliger Auffassung waren Sklaven nicht rechtsfähig, daher musste ihre Aussage durch Schmerzen überprüft und gewissermaßen beglaubigt werden.

Die Folterung freier römischer Bürger blieb dagegen lange verboten. So konnte sich noch im 1. Jahrhundert nach Christus der Apostel Paulus davor schützen, indem er sich gegenüber den römischen Behörden auf sein Bürgerrecht berief. Als er nämlich in Jerusalem predigte, so erzählt es das Neue Testament, versuchten die Stadtbewohner ihn zu lynchen; sie »erhoben […] ihre Stimme und riefen: Hinweg mit diesem von der Erde! Denn er darf nicht mehr leben. Als sie aber schrien und ihre Kleider abwarfen und Staub in die Luft wirbelten, befahl der Oberst, ihn in die Burg zu führen, und sagte, dass man ihn geißeln und verhören sollte, um zu erfahren, aus welchem Grund sie so gegen ihn schrien. Als man ihn aber zum Geißeln festband, sprach Paulus zu dem Hauptmann, der dabeistand: Ist es erlaubt bei euch, einen Menschen, der römischer Bürger ist, ohne Urteil zu geißeln? Als das der Hauptmann hörte, ging er zu dem Oberst und berichtete ihm und sprach: Was willst du tun? Dieser Mensch ist römischer Bürger. Da kam der Oberst zu ihm und fragte ihn: Sage mir, bist du römischer Bürger? Er aber sprach: Ja. […] Da ließen sogleich von ihm ab, die ihn verhören sollten.«[2]

Erst seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde die Folterung von freien Römern erlaubt.[3] Anfangs war sie nur bei Verrat zulässig, später bei immer mehr Verbrechen, die jeweils durch kaiserlichen Erlass festgelegt wurden: so gestattete Caracalla im 3. Jahrhundert die Folter von Bürgern in Fällen von Giftmord, Konstantin im 4. Jahrhundert bei Hellseherei, Zauberei und anderen Formen der Magie, Justinian dann bei Ehebruch und »unnatürlichen« Begierden. Der Hintergrund dieser Ausweitung der Foltergesetze ist, dass sich vor allem in der Zeit vom 2. bis zum 4. Jahrhundert die sozialen Gegensätze innerhalb der römischen Gesellschaft verstärkten.[4] Die herrschende Klasse, die ihre Mitglieder als »honestiores«, als Edle, bezeichnete, degradierte die einfachen Bürger zu »humiliores«, zu Niedrigen, denen man kaum mehr als den sozialen Status von Sklaven zuerkannte; ihnen wurde daher zunehmend auch die gleiche Rechtsunfähigkeit zugeschrieben wie diesen.

Mit welchen Methoden in Rom gefoltert wurde, lässt sich den erhaltenen Quellen nur ansatzweise entnehmen. Wie schon die Episode des Paulus in Jerusalem zeigt, war das Geißeln, also das Auspeitschen, eine verbreitete Verfahrensweise. Tacitus berichtet, dass Kaiser Nero mit der Peitsche und Feuer habe foltern lassen, und andere Dokumente sprechen vom Zerreißen der Haut mit Haken oder Zangen.[5] Dabei wurden die Gefolterten entweder an einen Pfahl gebunden oder auf das so genannte »Pferdchen« (eculeus) gesetzt, eine Art Holzbock, über dessen genaue Gestalt – den fantasievollen Abbildungen aus späterer Zeit zum Trotz – nichts bekannt ist. Vermutlich waren viele Folterarten an die Methoden der damals üblichen Körperstrafen angelehnt. Bei der Interpretation der Quellen muss man allerdings vorsichtig sein: Insbesondere in den spätantiken Heiligenlegenden sollten die Protagonisten durch die ausgestandenen Qualen als strahlende Vorbilder für Gottvertrauen und Leidensfähigkeit erscheinen. Um dies zu demonstrieren, ließen die Biographen ihre frommen Helden gerne aufspießen, zerhacken, zersägen oder in Nageltonnen stecken, während den weiblichen Heiligen die Brüste abgezwickt oder glühendes Eisen in die Vagina gefüllt wurde. Bei so exzessiven Schilderungen sind Dichtung und Wahrheit nur schwer auseinander zu halten.[6]

Fantasievolle Rekonstruktionen des antiken »eculeus«: Die Technik des Quälens faszinierte schon immer (Darstellung aus dem 17. Jahrhundert).

Der Nutzen der Folter war trotz ihrer regen Anwendung auch in der Antike schon umstritten. Selbst Kaiser Augustus hatte im ersten Jahrhundert nach Christus zur Vorsicht bei der Anwendung dieses Mittels gemahnt: »Ich meine, dass die Folter nicht in jedem Falle und nicht bei jeder Person eingesetzt werden sollte.«[7]

Der römische Jurist Ulpian betonte später, »dass man nicht immer (aber auch nicht niemals) Vertrauen in die Folter setzen soll, weil es sich um eine unsichere und gefährliche Angelegenheit handelt, die über die Wahrheit täuscht. Denn sehr viele Menschen verachten – sei es aufgrund ihrer Unempfindlichkeit, sei es aufgrund ihrer Abhärtung gegenüber Folterungen – das Leiden so sehr, dass es gänzlich unmöglich ist, ihnen die Wahrheit abzupressen. Andere wiederum sind so wenig in der Lage, Schmerzen zu ertragen, dass sie lieber lügen als sich der Folter auszusetzen; daher legen sie dann Geständnisse verschiedener Art ab und beschuldigen nicht nur sich selbst, sondern auch andere.«[8]

Das römische Recht – und mit ihm die römische Folterdoktrin – beeinflusste die Entwicklung in Europa auf zweierlei Weise: Zum einen ging es direkt in einige germanische Volksrechte über. Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, wie die Germanen die römischen Rechtsbräuche auf ganz eigene Art und Weise übernahmen. Langfristig noch bedeutsamer war es aber, dass Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert nach Christus die wichtigsten Erlasse, Gerichtsurteile und Rechtskommentare aus allen Epochen der römischen Geschichte zusammenstellen ließ: Das dabei entstandene Corpus Iuris Civilis (Sammlung des Bürgerlichen Rechts) wäre zwar beinahe in den Wirren des frühen Mittelalters verloren gegangen und vergessen worden, aber ein einzelnes Exemplar blieb erhalten, und zwar in Bologna. Dort stieß dann um das Jahr 1100 der Rechtsprofessor Irnerius auf die verstaubten Pergamentrollen. Er begann, ihren Inhalt zu studieren, und scharte bald eine ganze Schule von weiteren antikenbegeisterten Juristen um sich, die damit begannen, die umfangreiche Rechtssammlung zu vervielfältigen und zu kommentieren. Allmählich wurde sie in ganz Europa bekannt, und sobald irgendwo darangegangen wurde, das mittelalterliche Gewohnheitsrecht aufzuschreiben und sachlich zu ordnen, bediente man sich bei den Vorarbeiten der alten Römer.

Das Corpus Iuris Civilis ist bis heute das berühmteste Denkmal antiker Rechtskultur. In Deutschland waren seine Bestimmungen bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 noch geltendes Recht; natürlich nur, soweit ihnen kein jüngeres Gesetz entgegenstand, keineswegs also im Hinblick auf die Folter. Die war in dieser gigantischen Stoffsammlung ohnehin nicht der wichtigste Gegenstand. Dennoch blieb die spätere Theorie der Folter nicht unbeeinflusst von der Antikenrezeption, die im Hochmittelalter mit der Wühlarbeit des Irnerius und seiner Schüler begonnen hatte. Im zweiten Buch des Corpus Iuris, den Digesten (einem »Reader’s Digest« der antiken Rechtsliteratur), findet sich auch eine erste Definition, die für Jahrhunderte gültig bleiben sollte: Unter Folter verstand man »körperliches Leiden und Schmerzen, die eingesetzt werden, um die Wahrheit herauszubekommen«.[9]

Fehde, Buße, Rutenschläge: Das Strafrecht der Germanen

Das römische Reich erlag im späten 5. Jahrhundert dem Ansturm der germanischen Stämme, die von den Hunnen über den Rhein und zum Teil auch über Alpen und Pyrenäen getrieben worden waren. In dieser Zeit vermischten sich auf vielen Gebieten die römische und die germanische Kultur. Ob die Germanen erst in dieser Zeit die Folter kennen lernten, oder ob sie sie schon vorher ausgeübt hatten, das ist eine Frage, die seit über hundert Jahren die Rechtswissenschaft beschäftigt. Die meisten Gelehrten sind überzeugt, dass die Folter dem »germanischen Rechtsdenken« ursprünglich völlig fremd gewesen sei. Das galt schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als gesicherte Tatsache, als man die Germanen – nicht nur in Deutschland – geradezu vergötterte, weil ihre Freiheitsliebe und Geradlinigkeit sich so wohltuend von der Dekadenz der spätrömischen Sklavenhaltergesellschaft abzuheben schien. Symptomatisch ist die Aussage von Rudolf Quanter, dem Autor eines im Jahr 1900 erschienenen Buches über die Folter: »Die kerndeutschen Begriffe von Treue und Glauben, das poetischer und sinniger veranlagte deutsche Gemüt«, so stellte er fest, »ließen ein Verfahren, das durch brutale Gewalt, durch körperlichen Zwang das herbeiführen will, was Ehre und Wahrheitsliebe der Deutschen schon ohne Zwangsmittel lieferten, nicht dauerhaft aufkommen.«[10] Der Glaube an »kerndeutsche« Tugenden hat heute allerdings einiges an Überzeugungskraft verloren, so dass man doch etwas genauer fragen muss, wie die Germanen im Falle eines Rechtsbruchs bei der Suche nach dem Täter verfuhren. Vorweg geschickt werden müssen zwei Bemerkungen: Erstens liegt das Rechtssystem der Germanen in der Zeit vor der Völkerwanderung weitgehend im Dunkeln. Es gibt aus dieser Zeit, als die germanischen Stämme von der römischen Kultur noch weitgehend unberührt in den Urwäldern rechts des Rheins lebten, praktisch keine Rechtsquellen. Alle Kenntnisse müssen aus den spärlichen Reiseberichten antiker Schriftsteller und aus späteren Chroniken und Rechtstexten herausgelesen werden. Die zweite Vorbemerkung betrifft den Begriff Germanen: Auch wenn die Deutschen in vielen Teilen der Welt heute noch »Germans« genannt werden, sollte man nicht den Fehler Quanters begehen und beide Begriffe gleich setzen. Die germanischen Stämme waren die Urväter nahezu aller Völker im heutigen Westeuropa.[11] Zwar leben die Namen der Thüringer, Sachsen, Friesen oder Baiuwaren in den Namen heutiger Länder und Regionen fort, dennoch ergibt es wenig Sinn, die Frühgeschichte Deutschlands allein auf diese Stämme zu beschränken. Nicht nur, weil sie ja ohnehin um 800 durch Karl den Großen ins Reich der Franken eingegliedert wurden, sondern weil es auch schon vorher grundlegende kulturelle Gemeinsamkeiten gab.

Will man etwas über das Rechtssystem der frühen Germanen erfahren, ist man vor allem auf die Berichte römischer Reisender angewiesen. So erzählt Caesar in seiner berühmten Schrift über den Gallischen Krieg aus dem Jahr 53 vor Christus, dass bei den Galliern die Witwen von bedeutenden Männer gefoltert wurden, wenn der Verdacht bestand, sie könnten ihren Mann mit Gift ermordet haben.[12] Die Gallier aber waren ein keltischer Stamm, kein germanischer. Etwas mehr erfahren wir bei Tacitus, der – etwa 150 Jahre nach Caesars kurzem Abstecher über den Rhein – die Germanen und ihre Kultur in einer eigenen Abhandlung beschrieben hat. Er berichtet, dass die freien, waffenfähigen Männer eines Stammes sich zweimal im Monat zum Thing versammelten, um über wichtige Fragen zu beraten und auch Recht zu sprechen.[13] Geleitet wurde die Sitzung von Priestern, die auch als einzige das Recht hatten, Stammesmitglieder zu fesseln, zu schlagen oder zu töten,[14] und die demzufolge auch für den Vollzug von Strafen zuständig waren. »Aus dem Vergehen«, schreibt Tacitus, »ergibt sich das unterschiedliche Strafmaß: Verräter und Überläufer knüpfen sie an Bäumen auf, Feiglinge, Kampfscheue und der Unzucht Überführte versenken sie im Morast eines Sumpfes, den sie mit Reisig bedecken.« Zahlreiche Moorleichenfunde künden noch heute von dieser Praxis. »Aber auch geringere Vergehen«, so Tacitus weiter, »finden die entsprechende Sühne: Die Schuldigen büßen ihr Vergehen mit einer bestimmten Anzahl von Pferden und Vieh. Ein Teil der Buße wird dem König oder dem Stamm, ein Teil dem Geschädigten oder seiner Verwandtschaft gezahlt.«

Wenn ein Germane von einem anderen bestohlen oder getötet wurde, dann beschädigte das seine und die Ehre seiner Sippe (oder, um den historisch belasteten Begriff zu verwenden: ihr Heil).[15] Das eigene Heil konnte wieder hergestellt werden, indem man das des Täters schmälerte. Dazu gab es verschiedene Wege: Man konnte einen Dieb oder Totschläger, wenn er auf frischer Tat ertappt wurde, einfach erschlagen; man konnte ihm und seiner Sippe später das erlittene Unrecht in gleicher Münze heimzahlen; oder man konnte sich den Heilsverlust mit einer materiellen Buße ausgleichen lassen, dem so genannten Wergeld.

Da das Prinzip »Auge um Auge« leicht zu unkontrollierbaren Gewaltexzessen zwischen einzelnen Sippen führen konnte, lag es im Interesse des Stammes, möglichst eine friedliche Aussöhnung durch Bußzahlung herbeizuführen. Das wusste schon Tacitus zu berichten: »Selbst Totschlag läßt sich nämlich mit einer bestimmten Anzahl von Groß- und Kleinvieh sühnen, und die ganze Sippe nimmt die Genugtuung an. Das ist vorteilhaft für den Stamm, weil bei der ausgeprägten Freiheitsliebe der Germanen Fehden besonders gefährlich sind.«[16] Die zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert aufgezeichneten germanischen Stammesrechte enthielten daher stets ausführliche Bußkataloge mit festen Tarifen vor allem für Körperverletzungen, Tötungen und Diebstähle. In einem solchen Verfahren war natürlich kaum Platz für die gewaltsame Erzwingung eines Geständnisses. Ein Streit konnte durch Bußzahlung nur dann beigelegt werden, wenn beide Parteien sich freiwillig dem Urteil der vermittelnden Stammesversammlung unterwarfen.[17]

Die Frage, wann und wie sich im frühen Mittelalter ein öffentlicher Strafanspruch durchsetzte und seit wann es nicht mehr im Belieben des Einzelnen stand, sich der Entscheidung eines Gerichts zu unterwerfen oder nicht, ist bis heute nicht geklärt und wäre eine eigene Abhandlung wert.[18] Es waren wohl zunächst die Königsgerichte, die das Recht zur Bestrafung bestimmter Verbrechen behaupteten und durchsetzten; hier ging es, wie sich weiter unten noch zeigen wird, tatsächlich auch um Geständnisse.

Daneben kannten die Germanen aber noch andere Beweismittel, namentlich den Eid und das Gottesurteil (auch Ordal genannnt), die noch bis zum Ende des Mittelalters, zum Teil sogar darüber hinaus, das deutsche Rechtsleben prägten. Der Eid war in dieser Frühzeit noch keine Anrufung Gottes, sondern eine magische Beschwörung, eine bedingte Selbstverfluchung: Der Schwörende rief für den Fall eines Meineids seine eigene Vernichtung durch eine Naturgewalt herbei. Trotz dieser schweren Hürde verlangte man für einen Reinigungseid, mit dem man den Verdacht einer Übeltat von sich weisen konnte, zusätzlich noch Eideshelfer – drei, sechs oder gar zwölf an der Zahl –, die mit ihrem Eid nicht die Aussage des Beschuldigten, sondern seine Glaubwürdigkeit bezeugen sollten.

Das Gottesurteil war demgegenüber nur ein Ersatz-Beweismittel für nicht eidesfähige Personen, also vor allem für Frauen und Unfreie. Sie mussten zur Bekräftigung ihrer Unschuld ein heißes Eisen tragen oder über glühende Pflugscharen laufen (Feuerprobe) oder einen Gegenstand aus einem Kessel mit kochendem Wasser holen (Heißwasserprobe).[19] Ebenfalls zu den Gottesurteilen zählte der gerichtliche Zweikampf, wie ihn etwa Richard Wagners Lohengrin gegen Graf Telramund ausficht, um zu beweisen, dass die vom Grafen angeklagte Elsa von Brabant an der Ermordung ihres Bruders unschuldig ist. Obwohl die meisten Gottesurteile mit Schmerzen verbunden waren, sind sie nicht als Folter zu verstehen, denn es ging nicht darum, ein Geständnis zu erzwingen. Über Schuld oder Unschuld entschied allein die Frage, ob der Beschuldigte die Probe überstand, ob er den Gegner besiegte oder ob seine Wunden gut heilten. Zum Verständnis dieser heute kaum noch nachvollziehbaren Prozeduren muss man sich vor Augen halten, dass das damalige Weltbild keinen Zufall kannte: Jedes Ereignis war von Naturgewalten, Göttern oder Dämonen hervorgerufen und beeinflusst; daher konnte der Schuldige beim Gottesurteil kein Glück haben und der Unschuldige kein Pech.[20] Allerdings verlor diese Gewissheit im Laufe des Mittelalters allmählich ihre Überzeugungskraft.

Die Folter – vor allem gegenüber Sklaven – taucht erstmals ausdrücklich in den ersten germanischen Rechtskodifikationen aus dem 6. und 7. Jahrhundert auf.[21] Sie erscheint fast ausschließlich in den Gebieten, die in früheren Zeiten Provinzen des römischen Reiches gewesen waren: Gefoltert wurde vor allem in Spanien bei den Westgoten[22], in Italien bei den Ostgoten[23] (später den Langobarden[24]) und westlich der Elbe bei den Franken.

Wenn die Folter gegen freie Germanen angewandt wurde, dann zumeist in Fällen von Verrat oder Königsmord; dabei ging es nicht nur um das Geständnis, sondern man wollte auch etwas über Motive und Hintermänner erfahren. Das bekam zum Beispiel der fränkische Adlige Sunnegisil zu spüren, den man gefangen hatte, kurz nachdem er im Jahr 584 den Merowingerkönig Chilperich I. ermordet hatte. Er wurde im Gefängnis »täglich mit Riemen und Ruten ausgepeitscht«, und wenn »die Wunden eiterten und nach Abfluss des Eiters sich eben zu schließen anfingen, wurde die Folter an ihm erneut vollzogen. So gefoltert, legte er nicht nur über den Königsmord ein Geständnis ab, sondern auch über verschiedene andere Verbrechen, die er begangen hatte.«[25]

Das wichtigste Beweismittel im Mittelalter: Ein Kläger überführt mit seinem Eid und zwei Eideshelfern den gefesselten Täter (Darstellung aus dem 14. Jahrhundert).

So berichtet es der Geschichtsschreiber und Bischof Gregor von Tours in seiner »Geschichte der Franken«. Eine Auswertung dieses Buches zeigt, dass im Reich der Franken vor allem durch Schlagen mit Fäusten oder Knüppeln, durch Fußtritte, durch Auspeitschen mit Ruten, durch Brennen mit Feuer oder glühendem Eisen oder durch das Eintreiben von Spänen unter Finger- und Fußnägel gefoltert wurde.[26] Während der Folterung wurden die Betroffenen vielfach an einen Pfahl oder Baum gehängt oder zwischen zwei Pfähle gespannt. Bei den Wandalen scheint die Streckfolter auf dem eculeus, dem antik-römischen Marterinstrument, fortgelebt zu haben, die Franken kannten dagegen die troclea, eine Art Winde oder Flaschenzug, an dem der Gefolterte an den Händen in die Höhe gezogen wurde.[27]

Als letztes Beispiel sei noch die Folterung des Priesters Rikulf angeführt, die in ihrer Brutalität an manche Auswüchse des 20. Jahrhunderts erinnert: »Von der dritten Stunde des Tages hing er, die Hände auf den Rücken gebunden, an einem Baume; um die neunte Stunde nahm man ihn ab, spannte ihn auf den Bock und schlug ihn mit Prügeln, Ruten und doppelten Riemen, nicht einer oder zwei, sondern so viele nur an den Leib des Armen herankommen konnten, so viele prügelten auf ihn los. Als er bereits seinem Ende nahe war, bekannte er endlich die Wahrheit und gestand öffentlich den heimlichen Anschlag.«[28]

Während Adlige und Priester nur in Fällen von Königsmord oder Verrat gefoltert wurden, war die Folterung von Sklaven generell zulässig. Die meisten Germanen waren nicht bereit, für Sklaven eine Fehde auszufechten oder eine Buße zu entrichten. Für die Besitzer einer großen Zahl von Sklaven hätte das auch leicht zu untragbaren Belastungen geführt. Etwa um die Zeit, als man Rikulf und Sunnegisil so grausam folterte, in den letzten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts, wurde daher das Gesetz der Salier um eine ausführliche Passage zur Sklavenfolter erweitert:[29]