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Zum Ende des 16. Jahrhunderts ist in Ruwer die Welt für den heranwachsenden Chunrath dunkel und farblos. In dem Dorf vor den Toren Triers nennen sie ihn Blödgesicht. Unter den Machenschaften der Hexenjäger, wird seine Familie verfolgt, gefoltert und verbrannt. Chunrath gerät als Novize selbst in ihre Fänge. Welches größere Geheimnis verbirgt sich aber hinter dem Blödgesicht?
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Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Im Nebel der Schatten
Historischer Roman
Alfred Pelzer
Für die Menschen, denen die Erfindung der Brille es
ermöglichte, die Welt in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit zu
sehen. Durch die Wunder der Vergangenheit werden wir
daran erinnert, wie das Kleine das Große verändern kann.
Prolog
Flammen lecken an den trockenen Zweigen, züngeln sich an den geschundenen Beinen entlang, gen Himmel. Die Schreie des jungen Mannes durchdringen die Luft, ein herzzerreißender Klang, der selbst die härtesten Herzen erzittern lässt. Auf dem Hinrichtungsplatz starren die Bewohner aus Ruwer-Paulin und Ruwer-Maximin gebannt auf das dramatische Schauspiel. Sie alle tragen zum Fürchten hässliche Masken. Fratzen mit aufgerissenen Mäulern von Scheusalen, als seien sie aus dem Reich der Finsternis aufgestiegen. Der blaue Himmel des frühen Morgens trübte sich, sogar die Sonne versteckte sich infolge dieses schändlichen Treibens.
Rechts, zwölf Fuß vom Scheiterhaufen entfernt, hatten sich der Weihbischof und der Abt postiert, beide nicht hinter Gesichtsmasken versteckt. Im Schein des Feuers strahlen ihre Augen vielmehr vor Genugtuung und Glückseligkeit.
Nun entdeckt er Bertwin, seinen älteren Bruder, daneben, an den zweiten Pfahl angebunden, seine Mutter. Die Flammen wachsen, tanzen um sie herum, als ob sie die beiden umarmen wollen. In diesem Moment scheint die Zeit stillzustehen. Die Schreie verstummen, und eine unheimliche Stille legt sich über den Platz. Das Feuer hat sein Werk vollbracht.
Endlich schickt der Himmel Regen. Nach wenigen Augenblicken bringt das herabstürzende Wasser den Brand zum Erliegen.
Zu spät.
Ein Engel in weißen Kleidern steigt aus dem dunklen Schleier der Rauchwolken herab. Die Hitze des Brandes nicht beachtend, entschwindet der Engel aus den Resten der noch glimmenden Glut und schwebt mit der Seele seines Bruders aus der Reisighütte davon. Dann steigt der leibhaftige Satan aus dem Schlund der Hölle auf, maskiert mit einer entsetzlich aussehenden Fratze. Mit der Spitze seines glühenden Dreizacks bedroht er Bischof und Abt, schiebt die beiden in Richtung des Scheiterhaufens, in dem der Bruder zuvor verstummte. Hände raufend, Zeter und Mordio wimmernd, wehren sie sich ob der unverdienten Strafe. Sie hatten nur nach den Gesetzen gehandelt und die Hexenbrut vernichtet.
Der Teufel speit Feuer in das nicht abgebrannte Reisig, sodass es erneut aufflammt. Alle Umstehenden weichen durch die mächtige Hitze der hoch aufschlagenden Flammen zurück, reißen sich ihre Masken von den Gesichtern. Entsetzte Schreie schallen über den Platz. Grelle Blitze und lauter Donner lässt das Geschehen geradezu gespenstisch erscheinen.
Regen triefte durch das undichte Dach des Stalls. Das Wasser rann in winzigen Bächen von seiner Stirn über die Nase in seinen offenen Mund.
Gerade als der Teufel sich anschickte, seine Fratze abzunehmen, schreckte Chunrath benommen aus dem Schlaf.
In seinem Verschlag um ihn herum war es dunkel.
Kein Blitz! Kein Donner!
Kein Feuer!
Nur den Regen hörte er auf das undichte Holzdach prasseln.
Hatte er geträumt?
Wieso konnte er im Traum sehen?
Er, der nur direkt vor seiner Nasenspitze das Aussehen seiner Hände erahnte. In weiterem Abstand vernebelte sich seine Welt immer dichter. Eben auf dem Platz, auf dem sein Bruder und seine Mutter gerade brannten, sah er die Szenerie deutlich. In grellen Farben, nicht mehr grau und neblig.
So hatte er seine Welt noch nie gesehen. Gesichter blieben ihm sonst verborgen, die Menschen erkannte er an ihren Stimmen. Die Täter aber, beide von hohem Rang, sah er deutlich. Jedes einzelne Haar, jede Falte, jeden Gesichtszug. Diese Einzelheiten zu sehen befremdete ihn. Die beiden Männer jagten ihm Angst ein.
Wer aber verbarg sich hinter der Teufelsfratze? Sie hatten seine Familie verbrannt! Warum? War es jetzt auch an ihm, im Scheiterhaufen zu brennen?
Nein.
Er würde sich wehren, dem Hexenzauber des
Weihbischofs Einhalt gebieten. Chunrath fasste einen Entschluss.
»Der Allmächtige wird mir verzeihen.«
›Unkristenlicher dinge
ist al diu kristenheit sô vol.‹
Walter von der Vogelweide
Der Sturz
Mit seinen Launen stellte das Wetter anno 1585 das Leben im Dorf abermals auf den Kopf. Kurz vor dem herannahenden Winter zeigte sich der Spätherbst im November viel zu warm. Nach nasskalten Wochen mit Hochfluten an Mosel und Ruwer, nutzten die Frauen das seit Tagen sonnige Wetter zum Wäschewaschen im Bach.
Auf dem noch aufgeweichten, teigigen Weg dorthin strauchelte Chunrath nicht zum ersten Mal. Die quer liegenden Baumreste, von den letzten Wassermassen zurückgelassen, lagen für ihn als Hürden im Weg. Ab einer Entfernung seiner Handbreiten versagten ihm seine schwachsichtigen Augen das Sehen. Die Füße, auch den verkrüppelten linken Fuß, konnte er letztendlich nie beim Gehen beobachten. Aus seiner Sehschwäche erwuchs eine Ängstlichkeit, die in Unsicherheit überging.
»Du erbärmlicher Jammerlappen! Du bist zu nichts nutze. Mach deine Augen auf!«, lamentierte seine Mutter, ohne seiner Gebrechlichkeit Beachtung zu schenken.
»Mutter, ich sah die Äste nicht.«
»Steh auf, du klägliche Hinterlassenschaft deines Urhebers! Trag jetzt endlich den Korb hinunter zum Bach!«
»Aber, mein Augenlicht.«
»Halte dein jammerndes Mundwerk, wir sind spät dran. Beeil dich, die anderen Weibsbilder werden schon seit geraumer Zeit da sein«, entgegnete sie, ohne auf seine Rechtfertigung einzugehen.
Mit unübersehbar großer Anstrengung versuchte sich der schmächtige Junge zu erheben. Er klaubte die Wäsche aus dem matschigen Boden in den Korb zurück, stützte sich mit einer Hand auf dem Korb ab, bis er mühevoll aufrecht stand. Als seine Mutter hinter der Wegbiegung verschwunden war, strauchelte Chunrath weiterhin den Hang hinunter.
Trotz der schroffen Worte seiner Mutter und der körperlichen Anstrengung, die ihm jede Bewegung abverlangte, hielt Chunrath inne und atmete tief durch. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als die Aufgabe zu erfüllen, die ihm aufgetragen wurde. Der Weg zum Bach war steinig und uneben, doch er biss die Zähne zusammen und setzte einen Fuß vor den anderen.
Gerne wäre er mit seinen Geschwistern und den Nachbarskindern auf den Wiesen herum gerannt. Sich mit ihnen im Laufen zu messen, war ihm von seinem Schöpfer nicht zugebilligt. Für Chunrath gab es dennoch keinen Grund, mit seinem Schicksal zu hadern. Stattdessen fand er Freude in anderen Dingen, die ihm zugänglich waren. Er entwickelte eine besondere Fähigkeit, die Geräusche der Natur zu erkennen und zu schätzen. Das Rauschen des Baches, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter wurden zu seiner eigenen Melodie, die ihn begleitete und ihm Trost spendete. Chunrath lernte, die Welt auf seine eigene Weise zu erleben und zu genießen, und fand darin eine innere Stärke, die ihm half, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.
Während er den Hang hinunter stolperte, dachte Chunrath über die Worte seiner Mutter nach. Er fragte sich, ob er jemals ihren Erwartungen gerecht werden könnte. Doch in diesem Moment zählte nur, dass er die Wäsche zum Bach brachte, bevor die anderen Frauen dort eintrafen.
Chunrath wusste, dass er sich beeilen musste, aber er war entschlossen, die Aufgabe zu bewältigen, egal wie schwer sie auch sein mochte.
Chunrath schleppte den großen Weidenkorb mit einer Entschlossenheit, die seine Kräfte überstieg. Der kleinere, leichtere Korb, den seine Mutter trug, schien im Vergleich federleicht, doch sie war ihm mittlerweile hinter der Wegbiegung enteilt. Der riesige Berg mit den Wäschestücken seiner Geschwister versperrte ihm die Sicht auf den sumpfigen Weg, aber das war ihm egal. Chunrath sah den holprigen und morastigen Weg mit seinen schlechten Augen nicht, sondern tastete sich mit seinen Zehen vorwärts. Mit seinen entblößten Füßen spürte er, trotz des warmen Wetters, den kalten, aufgequollenen Novemberboden. Erst vor zwei Tagen hatte sich das Hochwasser nach sieben Regenwochen beruhigt und begann in mäßigem Tempo, sich zurückzuziehen. Es hinterließ unendlich viel Geröll mit Astwerk auf den aufgeweichten Wegen. Beim Gehen trat der klumpige Morast gurgelnd und patschend zwischen seinen Zehen hervor. Nur beim linken Fuß fühlte es sich anders an. Drei Zehen waren zusammengewachsen. Diese Art von Entenfuß musste Hexenwerk sein, mutmaßten sie im Dorf. Chunrath jedoch ließ sich von solchen Gerüchten nicht beirren. Er wusste, dass er mehr war als das, was die Leute sagten. Sein Herz war stark und sein Wille ungebrochen.
»Mutter, wartet bitte. Der Korb wird mir wirklich zu schwer.«
Chunrath seufzte, als er bemerkte, dass seine Mutter ihn nicht mehr hörte. Manchmal konnte er nicht anders, als eine gewisse Verbitterung ihr gegenüber zu empfinden. Besonders wenn sie ihn mit scharfen Worten kritisierte, oder wie jetzt, einfach schnellen Schrittes davonlief, ohne sich um ihn zu kümmern. Es schien, als ob sie keinerlei Verständnis für seine Schwierigkeiten hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn ein Blödgesicht nannte, traf es ihn tief und hinterließ Spuren in seiner Seele. Die Dorfbewohner hatten ihm diesen Ruf als Kauz und Sonderling eingebracht, und das ständige Gerede über sein »blödes Gesicht« machte es nicht leichter. Wie sollte er damit umgehen?
Vor ihm bauten sich zögernd neblige Gestalten auf. Erst klein wie Gänseküken. Chunrath spürte die Blicke der Figuren. Seine Finger der linken Hand formten sich zu einem engen Rohr, durch das er angestrengt deutlicher zu blicken versuchte, während er mit der anderen Hand den Korb trug. Die Stimmen der Umstehenden wurden lauter, erst Gemurmel, das sich bald zu einem höhnischen Ruf steigerte: »Blödgesicht!«
Doch Chunrath ließ sich nicht beirren. Er senkte seine Hand und schloss die Augen, blieb stehen und konzentrierte sich auf die Geräusche um ihn herum. Das Rascheln der Blätter im Wind, das entfernte Plätschern der Ruwer und das lauter werdende Altweibergequake – all das malte ihm ein Bild, das seine Augen nicht zu erfassen vermochten. In diesem Moment war sein Gehör sein verlässlichster Verbündeter, und er vertraute ihm bedingungslos. Dann, als Chunrath die Frauen erreichte, nahm er aus ihrem Stimmengewirr heraus drei weibliche Wesen wahr.
»Da kommt Alma Nöfels Balg.«
Grieth hörte nicht hin, als Lena weitersprach:
»Der Kleine trägt immerzu zerrissene, lausige und schludrige Kleider, die an ihm hängen wie alte Lumpen. Seine Geschwister dürfen mit makellosen und ordentlichen Kleidern daher stolzieren.«
»Wenn er nicht so blöd wäre«, schaltete sich
Zangeleins Iduna, diesmal ohne zu stottern ein, »müsste ich Erbarmen mit ihm haben. Dem Jungen kleben obendrein noch einige Wucherungen an den Füßen.«
Grieth, die Mutterschwester des Jungen, hielt sich aus dem Getratsche der Waschfrauen heraus. Mit höhnischen Blicken auf die Frau des Zöllners gerichtet, traten die Waschfrauen zwei Schritte zurück und machten ihr damit Platz.
Alma Nöfel stellte ihren Waschkorb auf der
Steintreppe am Ruwerbach ab. Erst reinigte Alma die lehmigen Steine, auf denen sie die Wäschestücke ausklopfen wollte. Wenige Augenblicke darauf schlug der zweite Korb im tobenden Wasser auf.
Chunrath taumelte, verlor ständig das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Bach. Der Korb entglitt seinen Händen und flog in einem hohen Bogen nach vorn, halb leer auf der Ruwer tanzend. Während Chunrath prustend, nach Luft schnappend im Wasser kämpfte, haftete der Blick der Mutter ungerührt auf den Kleidungsstücken, die langsam mit der Strömung davon trieben. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von Sorge um den Jungen, sondern war einzig auf die abdriftende Wäsche fixiert.
»Jesus! Alma! Chunrath, warte! Ich helfe dir«, rief Grieth ihrem Patenkind zu.
»Fang die Wäsche aus dem Bach, du Reinfall deines desaströsen Vaters«, schrie Alma dem Gestürzten zu.
Chunrath zitterte, seine Lippen bebten, während er mit nackten Füßen im eisigen Wasser herumstolperte. Jeder Schritt schien ihm schwerzufallen, als ob der Schmerz in seinen Beinen, ihn fast zu Boden zwingen wollte. Grieth beobachtete ihn aus der Ferne, wie er unsicher hinter der Wäsche herjagte, seine Bewegungen von der Last seiner unfähigen Augen beschwert. Aber ohne Hoffnung, diese zu erreichen, stieß er sich seine Füße, nach jedem Ausrutschen an den scharfen Steinen, auf. Mit einem Mal war der Junge verschwunden. Grieth, die am Ufer entlang lief, sah Chunrath nicht mehr.
»Alma, so hilf mir doch. Dein Junge ertrinkt!«
»Wenn er ersäuft, dann ist es endlich vorbei! Ist doch nur ein Bastard, dazu ein erbärmlicher Krüppel. Sieh eher zu, dass du der Wäsche noch habhaft werden kannst.«
Alma hastete zu der Stelle, wo die Ruwer in die Mosel mündete. Ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust, als sie die edlen Stoffe erblickte, die gefährlich auf dem Wasser schwebten. Der Gedanke daran, dass die kostbaren Kleider, für die sie so lange gearbeitet hatte, im großen Fluss verschwinden könnten, trieb sie an. Sie spürte den kühlen Sprühnebel des Bachs auf ihrer Haut, während sie sich mit aller Kraft bemühte, die wertvolle Fracht zu retten.
Grieths Atem stockte, als das eisige Wasser ihre Haut berührte. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, während sie sich durch die klirrende Kälte im Bach kämpfte. Das Wasser um sie herum begann sich in einem tiefen rubinrot zu verfärben, das sich wie ein unheilvolles Gemälde ausbreitete. Ihr Herz hämmerte wild, als ob es aus ihrer Brust springen wollte, während sie verzweifelt nach dem Jungen tastete, der irgendwo in der trüben Tiefe auf Rettung wartete.
Plötzlich durchbrach ein Kopf die Wasseroberfläche, gefolgt von einem schlaksigen Körper. Der Junge kämpfte verzweifelt gegen die Strömung an, seine Arme ruderten hektisch. Grieths Herz raste, als sie sich nach ihm streckte. Ihre Finger berührten kurz seine nassen Kleiderfetzen, doch er glitt ihr wieder aus den Händen. Immer wieder tauchte er auf, seine Augen weit vor Angst, bevor die Wellen ihn erneut verschlangen. Schon trieb er zehn Schritte weiter weg. Der Mündung zu.
Die Vorstellung, dass ihre Schwester ihren Sohn aus den gefährlichen Strömungen der Ruwer retten könnte, war das einzige Bild, das sich in ihrem Kopf abspielte. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als ob sie mit jedem Atemzug ein stilles Gebet in den Himmel schickte, in der Hoffnung, dass es erhört würde.
Vincentz trieb den Zweispänner des Bischofs in den Ort hinein. Hinter der Brückenauffahrt stellte sich ein fülliger, gemütlich aussehender Mann von geringer Größe der Kutsche in den Weg. Der Boden bebte leicht unter seinen Füßen, als das Gefährt mit einem Rumpeln näherkam. Er spürte den Windstoß, der seine Haare durcheinanderwirbelte, und sprang instinktiv zur Seite. Gerade rechtzeitig, denn die Kutsche kam mit einem abrupten Halt direkt vor seinem Wachhaus zum Stehen.
»Was fällt dir ein«, polterte Vincentz los, »uns hier in diesem Nest aufzuhalten. Der Weihbischof hat es eilig und in Wittlich beim Kurfürsten Besseres zu tun.«
»Verzeiht, Euer Gottesoberster.«
Linus Nöfel brachte vor dem Bischof, der sich mürrisch von seinem Sitz hochreckte, seine tiefe Ehrerbietung durch eine Verbeugung zum Ausdruck.
In dieser angespannten Stille zerriss plötzlich ein durchdringender Schrei die Luft. Alle Köpfe wandten sich abrupt in Richtung der Quelle des Aufschreis. Eine Frau stand unterhalb der Brücke, ihre Augen weit aufgerissen, die Hände fest zu Fäusten geballt. Ihre Stimme hallte noch nach, während die Anwesenden den Atem anhielten, die vorherige Diskussion war vergessen. Die Wucht der Lautstärke ließ keinen Zweifel daran, dass etwas Bedeutendes geschehen sein musste.
»Chunrath! Helft uns, Kutscher, schnell! Vinz, zu Hilfe! Der Junge ertrinkt!«
Lena Peurin hatte die tiefe, sonore Stimme des Kutschers, die ihr vertraut in den Ohren klang, erkannt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an die Zeiten erinnerte, in denen sie Seite an Seite auf Grünhaus gearbeitet hatten – sie als Magd, er als Knecht. Die Jahre hatten sie getrennt, doch die Stimme war unverkennbar geblieben. Lena nannte ihn nur Vinz. Damals trug der kräftige Mann noch keinen Bart. Sein immer noch volles Haar erschien ihr inzwischen, zunehmend ergraut. Ihre Liebschaft blieb nicht unentdeckt, weshalb man Lena vom Hof jagte.
Der Bischof öffnete den Mund, um Vincentz zur Weiterfahrt zu drängen, doch bevor ein Wort seine Lippen verlassen konnte, sah er, wie der Adlatus plötzlich vom Kutschbock aufsprang. Mit einem geschmeidigen Satz überwand er die Brüstung der Brücke, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Die Dorfbewohner waren stolz auf ihre steinerne Brücke, die Ruwer-Maximin und Ruwer-Paulin verband. Eine Brücke aus Stein war schließlich für die Ewigkeit gebaut. Auch die Brüstung war aus solidem Stein gefertigt.
Für einen Moment schien die Luft stillzustehen, während der Bischof ungläubig den Atem anhielt. Der Kutscher landete in dem tobenden Gewässer der Ruwer. Nun stand er hüfttief, trotz des warmen Wetters, im Bach.
Iduna Zangelein rief dem Zöllner, der immer noch verdutzt auf der Brücke stand, vor Aufregung stotternd, zu:
»Linus, der Jung´ …, Junge, dein Chunrath, er …, er …, säuft Wasser. Er ersäuft im Wasser!«
Als Chunraths Ernährer über das Brückengeländer blickte, wurde ihm erst der Umfang des Geschehens bewusst.
»Chunrath! Chunrath?« Der Junge vernahm die Zurufe seines Vaters nicht.
Inzwischen hatte der Kutscher den leblosen Jungen erreicht und zog ihn aus dem unfreundlichen, kalt tobenden Wasser.
Vincentz schleppte die erschlaffte Gestalt zum Ufer, wo die Waschweiber anfänglich ihre Arbeit verrichten wollten. Behutsam legte er Chunrath auf die weiche Wiese. Ohne zu zögern, zog er seine Jacke aus und breitete sie fürsorglich über den reglosen Körper. Grieth eilte herbei, kniete sich neben den Jungen und klatschte sanft auf seine blutarmen Wangen. Mit entschlossener Ruhe begann sie, auf seinen schmalen Brustkorb zu drücken. Nach einigen Momenten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, brach ein kräftiger Wasserstrahl aus Chunraths Mund hervor. Das Leben kehrte zögernd in ihn zurück.
Rettung
Währenddessen kam der alte Nöfel jammernd am Ufer angerannt.
»Mein Junge, was ist geschehen?«, schrie er. »Wo ist die Mutter, das vermaledeite Weibsstück?«
Vincentz legte Chunrath am Ufer nieder und zeigte auf Alma:
»Wenn das die Mutter eures Bündnisses ist, dann fischt sie immer noch nach der Wäsche, dort vorne an der Mündung.«
Alle Augen waren aber Chunrath zugewandt, der hustend und prustend wieder nach Luft schnappte.
Iduna Zangelein bekreuzigte sich: »Dem Herrn, unserem Dank …, unserem Herrn sei Dank, er lebt.«
Nun kamen auch der Weihbischof und sein Leibarzt herbei. Erardt-Dietz beugte sich über den Jungen.
»Merkwürdig«, murmelte er mehr zu sich selbst, als er den verkrüppelten linken Fuß sah, und ging wieder zu der Kutsche auf die Brücke zurück. Dort nahm er seine Tasche unter seinem Sitz hervor und ging abermals zu dem Verletzten. Der Arzt kniete sich neben Chunrath und tauchte ein Tuch in das klare Wasser des Baches. Vorsichtig tupfte er die Wunden an Chunraths Beinen ab, während das kühle Wasser sanft über die Haut des Jungen floss. Mit ruhigen, geübten Händen begann er, Chunraths Arme, Beine und Brust zu massieren, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Die Sitzdecke des Bischofs, weich und wärmend, legte er behutsam um Chunrath, als ob sie ihn vor der bösen Welt schützen sollte.
»Wo ist Mutter?«, fragte Chunrath mit leiser Stimme.
»Deine Mutter watet der Wäsche hinterher, sie kommt aber bestimmt bald.«
Chunrath wurde wieder vom Schlaf übermannt.
Erardt-Dietz trat dazu und meinte:
»Bringt den Jungen zum Karthäuser Hof, Vincentz, dort kenne ich den Apotheker. Basilius wird sich um ihn kümmern und ihn gesund pflegen.«
Der Kutscher beugte sich hinunter, seine Hände glitten vorsichtig unter Chunraths schlaffen Körper. Mit einer sanften, aber festen Bewegung hob er den fast ertrunkenen jungen Mann an, als wäre er aus zerbrechlichem Glas. Chunraths nasse Kleidung klebte an seiner Haut, während der Kutscher ihn sicher an seine breite Brust drückte. Schritt für Schritt stieg er die Stufen zur Brücke hinauf, jeder Tritt konnte auf dem nassen Moos der Letzte sein. Die Anstrengung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, doch seine Entschlossenheit war ungebrochen.
Der Kutscher hob den Burschen vorsichtig hoch und legte ihn behutsam auf die hintere Bank der Kutsche. Mit geübten Händen zog er die schwere, reich verzierte Kolter des Bischofs über den jungen Mann, sodass nur noch sein blasses Gesicht unter dem dicken Stoff sichtbar war. Die Kutsche schaukelte leicht, während der Kutscher mit seinem prüfenden Blick bemerkte, dass Chunrath wieder aufgewacht war.
»Wir bringen dich jetzt zum Karthäuser Hof, dort wird sich Basilius, der Apotheker, um dich kümmern.«
»Wann kann ich wieder nach Hause, zu Mutter?«
»Lass dir Zeit, Chunrath. Basilius schickt dich zu gegebener Zeit heim.«
»Wo ist die Mutter des Jungen?«, rief Vincentz Iduna Zangelein zu.
»Alma läuft mit ihrer Wäsche heimwärts. Sie sei entkräftet vom Waten im hohen Wasser«, antwortete Lena für Iduna, deren Vorhaben Wörter zu finden, missglückte.
Vincentz beobachtete, wie die Mutter aus dem Bach stieg, dabei Chunrath anstarrte. Ihre Augen blieben kalt und unbeteiligt, während Vincentz von den Schwierigkeiten des Jungen sprach. Kein Zucken in ihrem Gesicht, keine Regung in ihrer Haltung – es war, als ob die Worte an ihr abprallten, ohne auch nur einen Hauch von Interesse zu wecken. Vincentz spürte ein Frösteln, das ihm den Rücken herunterlief. Sie beachtete ihn nicht, bemühte sich nur um die Wäsche ihrer beiden verwöhnten Kinder.
Bischof Binsfeld schritt entschlossen auf den Kutschwagen zu, seine Robe raschelte leise im Wind. Mit einem kurzen Nicken wandte er sich an den Kutscher, der die Zügel fest in den Händen hielt.
»Kutscher, wir müssen aufbrechen. Die Zeit drängt«, sagte er mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. Der Kutscher erwiderte respektvoll:
»Ja, Euer Exzellenz« und ließ die Pferde mit einem leichten Ruck anziehen, während der Wagen langsam in Bewegung geriet.
Vincentz blickte nach oben, wo der blaue Himmel allmählich von dunklen Wolken verschluckt wurde. Ein feiner Hauch von Schnee lag in der Luft, doch er schenkte dieser flüchtigen Stimmung keine Beachtung.
Vincentz lenkte die Kutsche über den Bach und fuhr rechts hinauf, Richtung Mertesdorf. Auf dem morastigen Weg kamen sie nur mühsam voran. Dennoch erreichten sie die Abzweigung vor dem Dorfbrunnen in Eitelsbach. Rechter Hand zweigte der Weg nach Mertesdorf ab, links schlugen sie den Hohlweg zum Karthäuser Hof ein.
Hecken umsäumten beidseitig den Weg. Aus dem steil ansteigenden Weinberg erschallten Gesänge der Arbeiter. Sie lockerten den Boden und bereiteten ihn mit einer Gründüngung auf den Winter vor. Als sie durch das Tor fuhren, öffneten sich vor ihnen Gebäude, die sich wie ein Hufeisen um den Innenhof scharten. Die Mauern schienen Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zu flüstern, während die verbliebenen Sonnenstrahlen sanft über die alten Steine strichen und Schatten in die Ecken warfen. Der Duft von feuchtem Moos und altem Holz war zu riechen, und das leise Knarren einer entfernten Tür verlieh dem Ort eine geheimnisvolle Atmosphäre.
Basilius kam auf Vincentz zu und begrüßte ihn temperamentvoll. Sie kannten sich aus den Zeiten am Grünhaus, in denen Basilius als Apotheker die Bewohner dort mitversorgte.
»Begrüße erst einmal Seine Exzellenz, den
Weihbischof Binsfeld.«
Basilius ließ vor Verehrung die beiden Glasgefäße aus der Hand fallen und kniete sich vor dem Bischof nieder, der gerade aus der Kutsche ausgestiegen war.
»Eure Exzellenz, willkommen auf dem Karthäuser Hof. Was geleitet unseren Weihbischof zu dieser Ansiedlung?«
Statt des Bischofs entgegnete der Kutscher, was seiner Exzellenz nur Recht war:
»Wir haben hier einen Jungen, der beinahe in der Ruwer ertrunken wäre.«
Chunrath lag zitternd und durchnässt auf dem Boden der Kutsche, seine Haut blass und seine Lippen blau. Vincentz trat vor, die Sorge in seinen Augen deutlich sichtbar, sprach mit fester, aber freundlicher Stimme:
»Da es im Ort keinen Bader gibt, hat der Leibarzt des Bischofs, Erardt-Dietz von Teutleben, darum gebeten, dass ihr den Jungen bis zu seiner Genesung pflegen möchtet.«
Der Leibarzt war inzwischen ausgestiegen und gesellte sich zu den beiden Männern und sprach zu dem Apotheker:
»Der Verletzte braucht jetzt eine gute Pflege, Ruhe und viel Zuneigung.«
Basilius nickte ihm zustimmend zu, dem Jungen die nötige Hilfe bereitzustellen. Dann wandte er sich dem Verwundeten zu.
»Das ist doch Chunrath, der Sohn des Zöllners! Ich rufe Bruder Tacitus hinzu, ihm Pflege angedeihen zu lassen.«
Nun schaltete sich wieder Erardt-Dietz ein und sagte:
»Nein, warte Basilius. Nimm du ihn mit in den Apothekenkeller und sorge dich selbst um Chunrath. Weise ihm eine Schlafzelle zu, damit er dort Ruhe findet. Es wäre gut, wenn Tacitus nicht zu sehr mit ihm in Berührung kommt.«
Der Raum war erfüllt von einem leichten Duft nach Kräutern und Salben, als der Verletzte vorsichtig in den Apothekenraum getragen wurde. Basilius und Vincentz legten ihn behutsam auf den großen Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand. Trotz der angespannten Atmosphäre lag eine gewisse Ruhe in dem Raum, als Basilius mit ruhiger Stimme sagte:
»Ich kümmere mich um ihn.«
Er trat näher, die Ärmel hochgekrempelt, bereit, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Im Hintergrund bereitete sich Tacitus gedanklich darauf vor, die Pflege bald beenden zu wollen. Während die anderen gespannt zusahen, wie Chunrath eine erste Hilfeleistung bekommen würde.
Grieth, die der Kutsche gefolgt war, trat nun heran.
»Basilius, du kennst mich, dies ist mein Taufpate Chunrath. Er hat die fallende Krankheit und …«, stammelte Grieth errötend, »… er ist auch nicht ganz beieinander im Kopf.«
Es war ein früher, trügerisch friedlicher Nachmittag, als Bischof Binsfeld hinaus auf den Innenhof trat. Die Sonne, die noch vor wenigen Stunden das klare Blau des Himmels widerspiegelte, versteckte sich jetzt hinter einer immer dichter werdenden Schicht grauer Wolken. Es war, als ob der Himmel seinen Mantel wechselte, sich bereit machte für etwas, das die kühler werdende Luft bereits verriet – einen dramatischen Wetterwechsel.
Der Bischof schien die Bedrohung nicht zu bemerken, oder vielleicht tat er so, als würde er es nicht. Ein normaler Ritt von dort bis Wittlich, nichts weiter, dachte er. Aber irgendetwas am Himmelszelt ließ seine Nackenhaare leicht kribbeln. Er trat näher zu Vincentz, der kopfschüttelnd an dem Pfosten des Stalls lehnte.
»Vincentz«, sprach der Bischof mit sanfter, doch bestimmter Stimme, »wir sollten uns auf den Weg machen. Ich wollte vor Einbruch der Dunkelheit in Wittlich sein.«
Die Stirn von Vincentz zog sich leicht zusammen, während er den Himmel abschätzte und die unwirtliche Vorahnung spürte, die in der kühlen Luft hing.
»Euer Hochwürden, vielleicht wäre es besser, Euch von der Reise abzuraten. Das Wetter scheint mir zu unbeständig.«
Der Bischof warf einen prüfenden Blick über die Schulter, wo die grauen Wolken wie eine herannahende Flutwelle die Landschaft erdrückten.
»Ich verstehe deine Bedenken, Vincentz, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Verpflichtungen in Wittlich warten nicht.«
Ein kalter Windstoß unterstrich die Dringlichkeit seiner Worte, indem er die kahlen Äste der Bäume wild tanzen ließ. Vincentz seufzte leise, mehr zu sich selbst, und nickte schließlich.
»Wie Ihr wünscht, mein Herr.«
Ohne weitere Verzögerung bereitete Vincentz die Kutsche vor und sorgte dafür, dass die Pferde fest eingespannt und bereit waren, die Strecke durch die beginnende Kälte zurückzulegen. In weniger als einer halben Stunde hatten sie Eitelsbach und Ruwer hinter sich gelassen, und die Kutsche glitt lautlos entlang der Landstraße, während der Himmel immer düsterer wurde.
Der Bischof hielt die Vorhänge des Kutschenfensters leicht geöffnet, um den Verlauf der Reise zu überwachen. Seine Entschlossenheit war stark, aber selbst er konnte nicht leugnen, dass die Natur ihren eigenen Plan verfolgte. Der Wind frischte weiter auf und in seinem Inneren fragte er sich, ob sie nicht doch mehr Risiko eingingen, als ratsam war. Für den Moment jedoch war die Entscheidung getroffen. Der Weg nach Wittlich schlängelte sich vor ihnen her, und das Einzige, was sie tun konnten, war vorwärtszustreben, in der Hoffnung, dass ihre Vorsicht die Oberhand behielt.
Bischof Binsfeld saß in Gedanken vertieft, von mehreren Schichten warmer Kleidung umhüllt. Neben ihm saß von Teutleben, als der erste Schneeflockenstrudel gegen die Fenster der Kutsche tanzte. Anfangs war es lediglich ein leises Picken, doch nach einer kurzen Wegstrecke wurde daraus ein immer dichter werdender Vorhang weißer Stille.
Vincentz, der erfahrene Kutscher, behielt die Zügel fest, seine sich rasant verändernde Umgebung noch fester im Blick. Der Schnee fiel jetzt in dicken, schweren Flocken, die jegliche Sicht raubten und die Wege in ein weißes Nichts verwandelten. Vincentz wusste, wann es Zeit war, Vernunft walten zu lassen.
»Mein Herr Bischof«, rief er über die Schulter, als die Kutsche langsamer wurde, »wir sollten die Fahrt nicht fortsetzen. Der Schnee kommt zu stark herunter. Es wäre nicht sicher, bis nach Wittlich weiter zu fahren.«
Bischof Binsfeld, ein Mann, der die Zeichen der Natur stets mit Respekt betrachtete, nickte zustimmend, auch wenn Vincentz seinen Ausdruck noch nicht sehen konnte.
»Wo können wir unterkommen, Vincentz? Es wäre unklug, hier draußen zu verweilen.«
Vincentz kannte die Gegend wie seine Westentasche.
»Da vorne, nur ein kleines Stück weiter, liegt ein Winzerhof in dem Ort Lörsch. Die Leute dort sind gastfreundlich und werden uns sicher für die Nacht aufnehmen.«
Bald darauf rollte die Kutsche vorsichtig durch das hölzerne Tor des Hofes, der nun schon unter einer bauschigen Schneeschicht lag. Warme Lichter flackerten aus den Fenstern des großen Hauses, als wolle es die nächtlichen Gäste einladen, sich der Kälte zu entziehen. Der Kutscher führte die Pferde zum Stall, während Bischof Binsfeld und sein Leibarzt durch den knirschenden Schnee zum Eingang des Hofhauses stapften.
Die Tür wurde von der Bäuerin geöffnet, die trotz ihrer Überraschung, die Gäste auf herzlich lächelnde Weise hineinbat. Der Duft nach frisch gebackenem Brot und warmem Eintopf durchzog das Haus und bot eine willkommene Ablenkung von der Eiseskälte draußen. Der Bischof wurde in die warme Stube geführt, wo ein prasselndes Kaminfeuer tanzte und die Stimmung sogleich aufwärmte.