Im Palast der Erinnerung - Gilles Rozier - E-Book

Im Palast der Erinnerung E-Book

Gilles Rozier

4,9
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Erinnerung an Jiddischland: Der Roman über die Magie einer Sprache, einer Kultur, eines Volkes In ihrem römischen Palais, wie außerhalb der Zeit, hütet Sulamita, eine alte Dame, das Gedächtnis – an ein verlorenes Land, ein versunkenes Atlantis, wo zwischen den beiden Weltkriegen in Warschau die Poesie regierte; verfasst in Jiddisch, dieser unvordenklich alten Sprache, Muttersprache von 11 Millionen Menschen vor dem letzten Krieg.*Die Waise Pierre sucht das Gespräch mit Sulamita – auf der Suche nach seiner verlorenen Vergangenheit, den eigenen Ursprüngen, nur mit dem Namen seiner polnischen Großmutter im Lebensgepäck. Sulamita antwortet ihm aus dem Palast der Erinnerung. Wir folgen dem Werdegang von drei Dichtern, »Sternschnuppen« am Himmel von Warschau, die sich entschieden hatten, die alte Sprache Jiddisch einheimisch zu machen: Peretz Markish (1895–1952), Melekh Rawicz (1893–1976) und Uri Zvi Grinberg (1896–1981). Drei Dichter, die sich über alle Kontinente zerstreuten. Damals waren sie jung, hatten ihre Geliebten und den Ruhm in ihrer Sprache – bis zur Katastrophe, in der alles verschwand, das Land und die Bücher, die Körper und die Seelen.*»Im Palast der Erinnerung« wird alles wieder lebendig, erwachen die Geschichten, Anekdoten, Briefwechsel, Gedichte; es wiedererwachen alte Landschaften, Polen, Weißrussland, die Ukraine, Österreich-Ungarn – es leuchtet in Prosa und Poesie die Sprache eines alten Europa.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 530

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gilles Rozier

Im Palast der Erinnerung

Roman

Aus dem Französischen übertragen von Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer; aus dem Jiddischen von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme; aus dem Hebräischen von Ruth Melcer.

ISBN 978-3-8477-5334-6

© für die deutschsprachige Ausgabe:

AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin www.die-andere-bibliothek.de

Die Originalausgabe erschien im Jahr 2011 unter dem Titel D’un pays sans amour.

Im Palast der Erinnerung von Gilles Rozier ist Oktober 2012 als dreihundertvierunddreißigster Band der Anderen Bibliothek erschienen.

Die limitierte gedruckte Ausgabe ist erhältlich im Abonnement ab-abo.de oder als Einzelband unter:

http://www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Im-Palast-der-Erinnerung::413.html

Übersetzung: Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer

Covergestaltung: Iris Farnschläder

Herausgabe: Christian Döring

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

Umsetzung und Vertrieb des E-Book erfolgt über:

Inhaltsübersicht

Impressum

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Übersetzungen der Gedichte

Dank

Andere zitierte Werke

Anmerkungen

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

Die 1984 von Hans Magnus Enzensberger und dem Verleger und Buchgestalter Franz Greno begründete Buchreihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK ist längst zum Bestandteil unserer deutschsprachigen Lesekultur geworden. Monat für Monat ist seit Januar 1985 ein Band erschienen – »Gepriesen und geliebt« (Frankfurter Allgemeine Zeitung). An dem Anspruch, intellektuelles und visuelles Vergnügen zu verbinden, hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert:

DIE ANDERE BIBLIOTHEK ist die »schönste Buchreihe der Welt« (Die Zeit).

Seit Januar 2011 wählt der Herausgeber Christian Döring monatlich sein Buch aus und gibt es im Verlag DIE ANDERE BIBLIOTHEK unter dem Dach des Aufbau Hauses am Berliner Moritzplatz heraus. In Haltung, Gestaltung und Programm hat sich am Anspruch seit drei Jahrzehnten nichts geändert: »Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten.«

Das Programm der ANDEREN BIBLIOTHEK folgt inhaltlich seit Anbeginn nur einem Maßstab: Genre-, epochen- und kulturraumübergreifend wird entdeckt und wiederentdeckt, die branchenübliche Einteilung in Sachbuch und Literatur hat nie interessiert, der Klassiker zählt so viel wie die Neuerscheinung. Es gilt der »Kanon der Kanonlosigkeit«, nur Originalität und Qualität sollen zählen.

– Jeden Monat erscheint ein neuer Band, von den besten Buchkünstlern gestaltet.

– Die Originalausgabe erscheint in einer Auflage von 4.444 Exemplaren – limitiert und nummeriert.

– Werden Sie Abonnent, so erhalten Sie jede Originalausgabe garantiert und zum Vorzugspreis.

Die Mindestlaufzeit des Abos beträgt ein Jahr (zwölf Bände), danach können Sie jederzeit kündigen. Als persönliches Dankeschön erhalten Sie eine exklusive Abo-Prämie.

Bitte informieren Sie sich bei Ihrem Buchhändler oder direkt bei uns:

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

030 / 639 66 26 90 oder 030 / 28 394–227

[email protected]

www.die-andere-bibliothek.de

www.ab-abo.de

ie verlangen also von mir, Erinnerungen heraufzubeschwören, junger Mann, nach denen ich jahrelang unaufhörlich gesucht habe; aber in letzter Zeit kam es mir vor, als sei die Stunde gekommen, sie ruhen zu lassen; nicht dass ich irgendwie Ruhe gefunden hätte, aber es vergingen Tage, Wochen, Monate und schließlich Jahrzehnte, es schien vergeblich, ein Erinnerungsquentchen, ein einziges Bild einfangen zu wollen, das wenn nicht tröstlich, so doch wenigstens beruhigend wäre.

Sie bitten mich, von einer für immer versunkenen Welt zu erzählen, aber selbst wenn es mir gelänge, die Ereignisse in die Reihenfolge zu bringen, in der sie sich abgespielt haben, oder vielmehr in der mein Gedächtnis sie festgehalten hat, wie könnte ich Sie die Luft einer Zeit atmen lassen, die es nicht mehr gibt, die Gerüche des Marktes nach Kohl, Kartoffeln, nach den Hühnern in ihrem Käfig, ehe sie unter das Messer des Schlachters kamen, den Heringen in ihren Fässern … und den hartnäckigen Tabakdunst im Literatenverein, wo ich meine ersten Lebensjahre damit verbracht habe, auf allen vieren zwischen den Stiefeln eines Dichters aus Galizien und eines Romanautors aus dem Warschauer Armenviertel herumzukrabbeln – und selbst wenn ich es könnte, was sagen Ihnen die Namen Markisch, Warschawski, Singer, Rawizc, gemessen an dem, was sie bei mir hervorrufen? Haben Sie je von Zusman Segalowicz und Jechiel-Jeschaje Trunk gehört? Kann man teilen, was der andere gar nicht kennt? Wie könnte ich Ihnen von dieser Zeit und diesen Orten in Ihrer Sprache erzählen, während man an den Tischen des Vereins vor allem Jiddisch und ein bisschen Hebräisch sprach, Polnisch, um zu fluchen, und andere Sprachen aus angrenzenden Ländern, mit Wörtern, die manche Mitglieder aus ihrem Babylon mitgebracht hatten, ein wildes Kauderwelsch. Rumänisch, Ukrainisch, Russisch sind für Sie so fern, kaum vorhanden, so tief sind Sie im Abendland verwurzelt, doch ich bestehe aus ihnen. Sogar nach all der Zeit höre ich sie noch, aber könnte ich sie wiedergeben? Und mehr als der Klang jeder einzelnen – den hören Sie in Moskau, Bukarest, Lviv, Warschau, Tel Aviv oder New York – ist es das Konzert, das aus ihrem Zusammenklang entstand und nicht mehr entstehen wird, das ich nicht für Sie zurückholen könnte, so wie ich es gehört habe, in mir tönt es noch, zum Verrücktwerden. An manchen Tagen möchte ich, dass es verschwindet, dass die letzte Geige dieses Orchesters aufhört zu kratzen, so wie die Musiker der Abschiedssymphonie einer nach dem anderen den Orchestergraben verlassen, nachdem sie ihre Kerze gelöscht haben.

Mein Lichtlein wird auch bald verlöschen, es ist mir gelungen, Ordnung in meinem Leben und dem der Menschen meiner Kindheit zu schaffen. Ich habe sie, nachdem ich ihr Leben durch Recherchen rekonstruiert hatte, in die Regale einer Bibliothek einsortiert, und da tauchen Sie auf und verlangen Rechenschaft. Schon bei Ihrem ersten Brief habe ich bemerkt, dass Sie nicht einfach ein weiterer Student sind, der mir eine Frage über Warschau stellt, oder ein Historiker über Tarnopol. Ich wollte Sie abweisen, aber ich wusste, es wäre verlorene Mühe. Sie wollten nicht nur wissen, sondern erleben, nacherleben, das Ganze erfassen, ich habe gespürt, dass Sie mich bitten würden, alles wiederzugeben. Und wenn eine Kleinigkeit fehlte, die Farbe einer Tapete oder der Vorname einer Kellnerin im Verein, dann wären Sie unbefriedigt und fänden, ich hätte meine Aufgabe nicht erfüllt. Wie soll ich mich erinnern, wir sprechen schließlich von Erlebnissen, die mehr als sechzig Jahre her sind. Wie könnte mein Gedächtnis so viel bewahrt haben? Sie sagen, Sie seien zu mir gekommen und nicht zu jemand anderem, weil Sie mir vertrauen; was für eine Verantwortung auf meinen alten Schultern! Man kann sich nicht an alles erinnern. Und selbst wenn ich dazu imstande wäre, wie soll ich Ihnen erzählen, dass zu der Zeit, als Perez Markisch im Literatenverein in der Tłomackiestraße 13 deklamierte, ein Pfund Geflügelleber an den Ständen in der Miłastraße für drei polnische Mark gehandelt wurde, und dass der große Schriftsteller Schlomo An-Ski seinen letzten Seufzer tat, ohne seinen auf einer Theaterbühne zu sehen. Eine Myriade von Einzelheiten drängt sich in mir, manchmal habe ich Schwierigkeiten, sie zu ordnen, deshalb habe ich so viel gesucht und so viel sortiert. Aber wie kann ich heute die ganze Vielschichtigkeit eines Reiches wiedergeben, das nicht mehr existiert? Denn schauen Sie, ich bin in einem jüdischen Reich geboren, in einer Stadt, wo Sie ein Leben lang keine andere als jene Sprache zu sprechen brauchten, die ein Jahrtausend zuvor an den Ufern des Rheins entstanden und an der Weichsel wie zu Hause war, zumindest dachte sie das. Ein Königreich mit seinen Herren und seinen Untertanen, seinen Grenzen und seinem Territorium: der Sprache. Ich bin keine Mathematikerin. Die von den Griechen geerbten abstrakten Konstruktionen haben mir Angst gemacht, seit man sie mir in der Grundschule beizubringen versuchte, denn sie münden ins Unendliche, die Zahlen sind Abgründe, ich meide sie; ich kann bis zehn zählen, bis hundert vielleicht, tausend und zweitausend sind Höhen, in denen man noch atmen kann, aber weiter oben schwanke ich, ich bekomme keine Luft mehr … und dieser Schwindel rührt nicht von meinem hohen Alter her, ich habe Angst, mich im Unzugänglichen zu verlieren, wie ich auch nicht auf dem Land wohnen kann, denn beim Anblick des Himmels gerate ich in Panik, nachts die unendlich vielen Sterne zu sehen ist mir unerträglich. Wenn ich die Augen auf das Himmelsgewölbe richte, wird mir gegen meinen Willen unser winziges Leben und die Unmöglichkeit bewusst, diese Sterne mit einem Blick zu umfassen. Die Menschheit sollte zahlreich sein wie die Sterne am Himmel, das war die Verheißung des Anfangs, und es ist gelungen. Wir sind mehr als sechs Milliarden auf der Erde, dabei war die Menschheit vor ein paar zehntausend Jahren kaum mehr als eine Familie, hunderttausend waren wir zur Zeit des Neandertalers. Heute kann man die Menschen auf der Welt nicht zählen, ein Computer zeigt dir einen Zähler, wie eine Digitaluhr, du schaltest ihn früh um zehn ein, und wir sind 6 650 280 127, du stehst ein paar Minuten auf, gießt dir einen Tee ein, setzt dich wieder, trinkst den ersten Schluck, klickst noch mal auf den Bildschirm, und wir sind 6 650 280 499. Im Nu, nach dreimal Rühren in einer feinen Porzellantasse sind wir 327 Menschen mehr, 353 000 werden jeden Tag geboren und 200 000 sterben, ich spreche von Schätzwerten, wie soll man genau wissen, wie viele geboren, wie viele gestorben sind; und vor allem, wer sie sind. Soll ich Ihnen jeden Tag die Namen der Neuankömmlinge und der Verschwundenen nennen? Dieses unsinnige Bevölkerungswachstum ist überwältigend, wohin geht der Mensch? Warum so zahlreich werden wie die Sterne am Himmel? Welchen Segen bringt das der Erde? Was haben wir gewonnen, wenn wir in Türmen mit zweihundert Etagen oder in unterirdischen Städten leben? Ist nicht nach dem Hinscheiden noch Zeit genug, in die Hölle hinabzusteigen, müssen wir schon zu unseren Lebzeiten auf das Tageslicht verzichten, unseren Wohnsitz in der Unterwelt nehmen? Wie könnte ich von dieser Wirklichkeit berichten, Tag für Tag die Schmerzen jeder einzelnen Frau beschreiben, unter denen sie eins dieser 200 000 Kinder zur Welt bringt? Die Aufgabe ist übermenschlich, ich kann es nicht, wer wäre dazu imstande, wollen Sie mich in den Wahnsinn treiben? Welcher Dämon steckt in Ihnen? Warum verlangen Sie diese Rechenschaft? Können Sie mich nicht in Ruhe sterben lassen? Ist es eigentlich Zufall, dass ich Ihren Brief auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod des letzten Mitglieds des Literatenvereins erhalte? Seltsamer Jahrestag. Der letzte Kriegsveteran von Verdun war auf allen Titelseiten, aber niemand hat vom letzten Mitglied des Vereins gesprochen. Welches Land hätte ihn auch feiern sollen? Ich bin die Einzige, die sich an ihn erinnert. Ich liege im Schlafzimmer meiner Wohnung, es grenzt an die Bibliothek, in der ich die Beweise aufbewahre, dass dieses Reich existiert hat. Ich habe die Zeitschriften, die Flugblätter, die Fotos, die Manuskripte geordnet, die ich mein Leben lang zusammengetragen habe, um mich zu vergewissern, dass ich nicht geträumt hatte, dass es in Warschau tatsächlich einen Jiddischen Literaten- und Journalistenverein gegeben hat, dass dort auf Jiddisch geschrieben und deklamiert wurde, dass ich nicht den Verstand verloren hatte. All diese Beweise habe ich in der Bibliothek direkt neben meinem Schlafzimmer. Manchmal, oft, immer, fast jeden Tag, jeden Tag gehe ich an meinem Stock hinüber, setze mich in den theaterrot bezogenen Art-déco-Sessel, den ich in die Mitte gestellt habe, lasse mich in die Polster sinken, auch wenn ich später Mühe habe, wieder aufzustehen, und lege den Kopf nach hinten, als wollte ich in den Himmel schauen; aber Gott sei Dank gibt es eine Decke, mein Firmament ist weiß, etwas vergilbt von den Jahren und von Holz durchzogen, denn die Balken des Dachstuhls sind unverkleidet. Ich bleibe mitten im Zimmer sitzen, die Wände sind mit meinen Reliquien bedeckt, den Büchern aus dem Leben meines Vaters, aber sein Leben ist mein Leben, ich habe überlebt, damit er weiterlebt, und so lange ich lebe, wird er leben, ich bleibe an diesem Ort, den ich mir als Grab wünschen würde. Ach wäre ich doch eine ägyptische Prinzessin, die man mit den Dingen ihres Lebens begräbt, den Büchern und Manuskripten meines Vaters und seiner Freunde. Es heißt, Dinge seien leblos, aber das ist eine Lüge, glauben Sie keinem, der blind ist für die Macht der Dinge. Ich habe sie immer als Persönlichkeiten betrachtet. Ich habe mich mit denen umgeben, die ich liebe. Eine Zuckerdose auf einem Tisch gefällt mir nicht, und mein Tag ist verdorben. Ein Fleck auf einem Sofa, und meine Welt bricht zusammen. Sie werden sagen, meine Welt sei schon völlig zusammengebrochen, wie kann sie es noch mehr? Das ist so: Ich kann Dingen gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Deshalb habe ich diese Dokumente gesammelt und lebe in ihrer Mitte. Ich setze mich jeden Tag in den roten Sessel, den ich nach langem Suchen bei einer Trödlerin in Warschau wiedergefunden habe. Er stand früher mit anderen im Foyer des Literatenvereins, er ist wie durch ein Wunder der Zerstörung entgangen. Die Tłomackiestraße wurde dem Erdboden gleichgemacht, die prächtige Synagoge, die dort thronte, war nur noch ein Schuttberg. Übrig blieb nur, eine Zeitlang, ein Stück Mauer und der große, etwas verbogene siebenarmige Leuchter, ein Bild, das um die Welt ging und zum Symbol der Zerstörung meines jüdischen Reiches geworden ist. Der rote Sessel ist übriggeblieben. Das Gebäude, in dem er stand, wurde keineswegs verschont. Die Nummer 13 in der Tłomackiestraße hat die Bomben und Flammenwerfer, die Liquidierung des Ghettos im Frühjahr 1943 und schließlich die Zerstörung ganz Warschaus nach dem Aufstand im August 1944 nicht überstanden. Aber der Sessel war in einen Keller gebracht worden. Fand ein Kämpfer während des Aufstands darin ein bisschen Ruhe? War der Sessel im Hauptquartier der Aufständischen unter der Miłastraße 13 gelandet? Ich habe es nicht herausbekommen, ich habe mich bei den Überlebenden erkundigt, habe Marek Edelman in Łódź, Antek Zuckerman in seinem Kibbuz in Galiläa gefragt, ich dachte mir, dass Mordkhe Anielewicz darin vielleicht eine letzte Zigarette geraucht hat, ehe er sich das Leben nahm, aber man weiß es nicht. Ich habe den Sessel auf einem Flohmarkt in der Obozowastraße wiederentdeckt. Den gibt es immer noch, Sie können es überprüfen, wenn Sie wollen. Ich spreche vom heutigen Warschau, der irdischen, von Polen bewohnten Stadt, nicht von der Himmelsstadt, die nur noch in den Regalen meiner Bibliothek und in meiner Erinnerung existiert; ich spreche von der, die Sie finden, wenn Sie ein Flugzeug nach Warschau nehmen, Hauptstadt der Republik Polen, 1 655 000 Einwohner nach der Ausgabe 1994 meines Lexikons, aber die Bevölkerung hat sich seit damals geändert, das steht fest. Warschauer sind gestorben, andere sind geboren, sie hören nicht auf, zur Welt zu kommen und sie zu verlassen, es ist verrückt, wie die Zeit und die Menschheit rast, ich komme nicht mehr nach, bei der Vorstellung bekomme ich furchtbare Migräne, also muss ich mich schonen, ich bin sehr alt, wissen Sie. Deshalb mag ich diese Stadt nicht: Sie verändert sich unaufhörlich, sie kann nicht stillhalten, dabei wünsche ich sie mir erstarrt, wie in meiner Erinnerung. Wie kann Warschau noch leben, während mein tot ist? Als ich ihn am Stand einer alten Dame mit lauerndem Blick sah, erkannte ich einen der Sessel, in denen die Ehrengäste versanken, während man ihnen Tee servierte. Der Stoff ist etwas abgewetzt, an der rechten Armlehne ist ein Zigarettenloch. Wer hat es gemacht? Welcher aufbrausende Schriftsteller hat im Eifer eines literarischen Streits die Glut auf den roten Samt fallen lassen? Ich werde es nie erfahren, aber ich stelle sie mir einzeln vor, Hirsch-Dovid Nomberg, Melech Rawizc, Hillel Zeitlin, Israel-Joschua Singer, Itsche Mejer Weissenberg. Oder auch eine Frau, die Dichterin Rochl Korn, wenn sie aus der Provinz kam, um ihren Geliebten zu treffen, oder irgendeine Halbweltdame am Arm eines leichtfertigen Theaterautors. Wenn ich einen dieser Schriftsteller wiederlese, sehe ich ihn in dem Sessel sitzen, durch die Literatur bin ich bei ihm. Ich richte den Blick auf das Zigarettenloch und betrete jene Welt, ich bin wieder dort, ich bin der Rauch ihres Tabaks, ich wirble zwischen ihnen herum.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!