Im Rückspiegel - Thomas Raddatz - E-Book

Im Rückspiegel E-Book

Thomas Raddatz

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in die aufregende Ära der späten 1960er Jahre, als ich mit dem Erwerb meiner allgemeinen Hochschulreife einen neuen Lebensabschnitt betrat. In einer Zeit geprägt von gewaltigen Umbrüchen, von Vietnamkrieg und RAF-Aktivitäten, fand ich mich plötzlich in einer Welt wieder, die nach Veränderung und Aufbruch schrie. Als Berliner Blockadekind war ich bereits mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert, doch nun musste ich mich den Herausforderungen der Gegenwart stellen. Während meine berufliche Ausbildung voranschritt, erlebte ich eine persönliche Entwicklung, die mich prägte und zu dem Menschen formte, der ich heute bin. Doch dieser Weg war nicht frei von schmerzhaften Erlebnissen. Ich durchlebte Momente, die mich an meine Grenzen führten und mich zwangen, mich selbst zu reflektieren. Es war eine Zeit der Selbstfindung, gezeichnet von Höhen und Tiefen, die mich zu einer Persönlichkeit heranreifen ließ, die den Facettenreichtum ihrer Zeit widerspiegelte. Als Arzt habe ich nicht nur eine kritische Position gegenüber dem Gesundheitssystem und seinen Institutionen bewahrt, sondern auch mir selbst gegenüber. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass der Mensch im Zentrum steht, aber auch die Tiere eine herausragende Rolle in meinem bewegten Leben spielen.

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IM RÜCKSPIEGEL

Erinnerungen eines Berliner Blockadekindes,

Band 2: Zeit des Wandels

1. Auflage, erschienen 07-2023

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Thomas Raddatz

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-623-0

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

THOMAS RADDATZ

ERINNERUNGEN EINES

BERLINER BLOCKADEKINDES

BAND 2: ZEIT DES WANDELS

VON DUTSCHKE BIS SCHLEYER

ODER

VON MOSKAU NACH LAMIA

1968-1981

INHALT

Vorwort

1. Kapitel: Erstmal studieren, aber was?

2. Kapitel: Erste Wohnung

3. Kapitel: Olympische Spiele in München

4. Kapitel: Madaus

5. Kapitel: Medizin

6. Kapitel: Griechenland

7. Kapitel: PJ und Tierversuche

VORWORT

Als der Entschluss reifte, meine Biographie aufzuschreiben, war ich mir über die Vielschichtigkeit noch nicht so richtig im Klaren. Erst als ich mich mit den Einzelheiten eingehend beschäftigt habe, tauchten Fragen der Wichtigkeit auf, welche Bedeutung hat wohl das eine oder andere Ereignis genommen? Was wäre wohl in dem einen oder auch anderen Fall geschehen, wenn das Schicksal es anders gewollt hätte? Ein Forum für freie Spekulationen möchte ich nicht eröffnen, gleichwohl sind natürlich alle persönlichen Erlebnisse von subjektiver Wahrnehmung geprägt, wie sollte es auch anders sein? Der geschilderte historische Hintergrund ist so geschehen, wie er sich tatsächlich abgespielt hat, zumindest aber in der Wirkung auf mich und die Zeit, über die ich berichte.

Ein sensationeller Impuls mag nicht die vielen Versuche ausgelöst haben, meinem Leben eine gewisse Struktur zu verleihen. Oft war aber ist dem Versuch auch die Erkenntnis des Irrtums gefolgt.

Meinen Nachkommen – egal welcher Ebene – mag es nützlich sein zu erfahren, welchen persönlichen Schwierigkeiten man hier und da ausgesetzt war, teils aus eigenem Unvermögen, teils aus schicksalhafter Verknüpfung und wie es gelingen konnte, dem Ganzen eine positive Seite abzugewinnen.

In jedem Fall aber kommt die Schilderung des Ablaufs meiner Lebensabschnitte eine authentische Bedeutung zu. Der Kindheit und Schulzeit folgt die Reife in Ausbildung und Studium, gefolgt von der definitiven Berufsfindung und der endgültigen Positionierung zwischen Arzt und Familie.

Ferner habe ich in der kürzeren Vergangenheit Grund zu der Befürchtung, dass die Qualität insbesondere in der Medizin zu Lasten einer galoppierenden Kommerzialisierung geradezu ins Bodenlose abzustürzen droht. Eine menschlich verwertbare Heilkunst ist hoffnungslos abhandengekommen. Erlösung auf eine Restaurierung ist nur bei einem weltweiten Paradigmenwechsel der dominierenden Gesellschaftsschichten zu erwarten.

1. KAPITEL:

ERSTMAL STUDIEREN, ABER WAS?

Eigentlich gab es keinen Zweifel, dass dem Abitur ein Studium folgen sollte. Nur das Fach war unklar. Es gab eine ganze Reihe von Möglichkeiten, aber die Vielzahl hat die Auswahl nicht erleichtert. So hat der Volksmund wieder einmal Recht behalten, indem er erklärt: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Beliebte Ausbildungsgänge waren Medizin, Lehramt oder auch Jura. In die Fußstapfen meines Vaters, des Hochschullehrers mit Beamtenstatus, wollte ich auf keinen Fall treten, dazu war der Vorbildcharakter eher ungeeignet.

Im Nachhinein betrachtet, stellen sich viele Details anders dar, gelegentlich auch deutlich undramatischer. Zum Zeitpunkt der Entscheidung hingegen gab es kaum Zweifel, dass ich das, was ich am besten zu beherrschen glaubte, auch zu professionalisieren beabsichtigte, und das war Deutsch und Geschichte. Diese Kombination schreit eigentlich nach einem Lehramt, aber genau das hatte ich ja bereits im Vorfeld ausgeschlossen. Ein anderer Studiengang stattdessen kam mir nicht in den Sinn, jedenfalls nicht so schnell.

Und so geschah das, was sich auf dem Boden der mir eigenen Selbstüberschätzung schon während der Schulzeit offenbart hatte und auch im weiteren Leben einen gewissen Wert eingenommen hatte, von dem ich mich nie so ganz haben lösen können, egal, was die Ursachen oder Folgen waren. Das Studium der Germanistik bestand größtenteils aus Lesen und Verarbeiten des Gelesenen. Mit Geschichte war es nicht viel anders. Zu Beginn meiner akademischen Laufbahn, getragen von dem Gefühl, etwas ungeheuer Bedeutsames vollbracht zu haben, habe ich mich in eigener Zufriedenheit gesonnt und abgewartet, ob etwas geschieht, was sich nicht auf meine Aktivitäten gründet und dennoch eine interessante Perspektive gestattet.

Meine erste Begegnung mit der Freien Universität Berlin, der Uni meiner Wahl, verlief ausgesprochen ernüchternd, so nüchtern wie ein Ministrant im Kindergottesdienst. Die Vorstellung, dass man zur Einschreibung, der so genannten Immatrikulation, nicht viel mehr bräuchte als das Abiturzeugnis, hat sich als beispiellos verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Wie später in verschiedenen Lebenssituationen wurde dem Umstand einer gültigen Krankenversicherung auch weit mehr Bedeutung zugeschrieben als dem eigentlich zukommt. Jedenfalls erinnerte mich der Vorgang der Erstimmatrikulation auf fatale Art und Weise an Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“: Keine Arbeitserlaubnis ohne Aufenthaltsgenehmigung, allerdings auch umgekehrt, nämlich keine Aufenthaltsgenehmigung ohne Arbeitserlaubnis. Soweit die Grundsätze nach den preußischen Instruktionen. Mir wurde der Studentenausweis erst ausgestellt, als ich eine Krankenversicherung nachgewiesen habe. Meine gültige Krankenversicherung, die Barmer Ersatzkasse, wollte allerdings ihrerseits diese nicht ohne Immatrikulation bestätigen. Also kein Studentenausweis ohne Krankenversicherung, keine Krankenversicherung ohne Studentenausweis. Gratulation zu solcher Bürokratie, die in dieser Form nicht zu übertreffen ist.

Jetzt war ich also Student, ein Student wie Rudi Dutschke, zwar nicht so bekannt, und auch nicht mit dem Nimbus ausgestattet wie dem politisch sehr aktiven Studentenführer, dafür aber immatrikuliert an der gleichen Uni. Es lässt sich wohl nicht verheimlichen, dass mir damals ein gewisses elitäres Bewusstsein gewachsen ist.

In dieser Zeit kochten gerade – angeheizt durch den wenige Monate zurückliegenden unseligen Besuchs des Schahs von Persien und die Liquidierung des Studenten Benno Ohnesorgs durch eine polizeiliche Dienstwaffe die Gewaltbereitschaft insbesondere der so genannten Ordnungskräfte, also der Polizei, einem neuen, geradezu täglich heißer werdenden Siedepunkt entgegen. Die Berliner Durchschnittfamilie hat sich mit dem autokratischen Führungsstil des persischen Herrscherhauses nicht sonderlich beschäftigt, jedenfalls nicht mehr als mit der wilhelminischen Speisekarte zum Ende des Ersten Weltkriegs. Größere Aufmerksamkeit hat die Boulevardpresse jedoch dem Erscheinungsbild von Farah Diba, der schmucken Schahgattin, gewidmet. Diese hatte sich erst kurze Zeit zuvor pompös zum kaiserlichen Oberhaupt krönen lassen und war seither Lieblingsmotiv der bundesdeutschen Regenbogenpresse, indem sie von einem Wohltätigkeitsball zum nächsten hetzte. Insbesondere ihre narzisstischen Auftritte als mitfühlende Landesmutter haben dem Zynismus des Herrscherhauses neue Nahrung verliehen und die oppositionellen Kräfte in Persien, aber auch im viertausend Kilometer entfernten Berlin zu verstärktem Widerstand getrieben. Ein kollektiver Aufschrei der Empörung unter der Bevölkerung wäre zwar erwünscht, vielleicht auch erwartet worden, blieb aber aus, vermutlich hatte die Indoktrination der Springerpresse hier wie dort ihre Spuren hinterlassen. Und so entstand der Eindruck einer gespaltenen Bevölkerung, die einen wollten mit aller Macht den Status quo erhalten, die anderen suchten wie in der McCarthy-Ära die Schuld allen Übels bei den bewährten Protagonisten, zu denen auch bald Rudi Dutschke gehörte, auf den im April ein Attentat verübt wurde, an dessen Spätfolgen er nach mehr als elf Jahren versterben sollte.

Derweil tobte der Vietnamkrieg mit unverminderter Brutalität weiter, ohne dass es sich in der Bevölkerung herumgesprochen schien, wer dafür am Ende verantwortlich war. Insofern war unbestritten: Die US-Amerikaner sahen ihre Mission darin, die westlichen Werte zu verteidigen und hatten demnach ein legitimes Interesse an dem Völkermord in Südostasien. Die Ausdehnung der Kriegshandlungen in Laos und Kambodscha mag man als die logische Folge der imperialistischen Gesinnung unter dem Sternenbanner betrachten, erfolgreich flankiert durch Propagandamaßnahmen des Soldatensenders AFN. Aber auch die bundesdeutschen Medien haben sich der amerikanische Deutungshoheit unterworfen und hatten somit einen Großteil der antikommunistischen Stimmung zu vertreten, die damals in Berlin herrschte. Einerseits warf die außerparlamentarische Opposition in Gestalt der Galionsfiguren Bader und Meinhof ihre Schatten voraus. Andererseits war es wesentlich bequemer, sich dem politischen Zündstoff mit der Meinungsübernahme aus dem Hause Springer zu entziehen.

Als Student glaubte ich, einer gewissen Kaste anzugehören, die mich aber nicht automatisch zu einem besseren Menschen macht. Worin aber das Besondere lag, musste sich erst in späteren Jahrzehnten beweisen, und auch dieses Ergebnis ist nicht eindeutig. Vielleicht liegt es aber auch in den Wunsch des Menschen, nach absoluten Wahrheiten zu streben, die nicht täglich neu verhandelt werden müssen. So fragte mich der Onkel einer Freundin anlässlich einer Familienfeier auf eine Bemerkung zu meinem Studienfach ungläubig: „Germanistik? Ich dachte, da wäre schon alles erforscht,“ was eigentlich in eine Mischung aus Naivität und Snobismus mündete.

Das erste Semester bestand zu meiner allergrößten Überraschung nicht nur in der geistigen Beschäftigung mit akademischen Lehrinhalten wie dem Nibelungenlied, wohl dem Deutschesten aller Lieder, sondern es fehlte auch nicht an etwas, das sich in der Folgezeit zum elementaren Bestandteil der Westberliner Studentenschaft entwickeln sollte: Dreck und Müll. Niemand fühlte sich für ein Mindestmaß an Sauberkeit und Müllbeseitigung zuständig. Und so war es weder Zufall, noch Absicht, dass mehr Flugblätter und wilde Pamphlete die Korridore und Seminarräume beherrschten als germanistische Schriften. Diese Optik stand im krassen Gegensatz zu der gutbürgerlichen Umgebung meiner Kindheit, zwar gewöhnungsbedürftig, aber formal auszuhalten. Dass es niemanden gab, der an dem kilohaften Papiermüll Anstoß genommen hat – von Beseitigung ganz zu schweigen - hat mich zumindest gewundert. Weitaus wunderlicher, ja geradezu toxisch durchdrungen kamen die Aktivitäten der Polizei daher, die das Recht auf Ordnung-Schaffen etwas zu großzügig auslegte und dabei auch einige Studentenköpfe ins Visier nahm. Daher gehörte auch der Bauarbeiterhelm zur Standardkopfbedeckung vieler Studenten, auch auf der Rückbank meines VW-Käfers hatte ich einen Bauhelm verstaut, sicher ist sicher. Ein Loch im Kopf lässt sich zuweilen nicht so schnell reparieren, wie er hineingekommen ist.

Im Brennpunkt standen die bevorzugten Gegner der Polizei, Angehörige des Otto-Suhr-Instituts und des Germanischen Seminars in der Dahlemer Boltzmannstrasse, das dann auch vorübergehend auf Senatsanordnung geschlossen wurde, um – man achte auf den feinen Sprachgebrauch – einer weiteren Eskalation angemessen entgegenzuwirken. Bis heute ist ja der Begriff der „Angemessenheit“ in unserem Alltag - und da insbesondere in der Rechtsprechung -nicht unumstritten. So häufig wie dieser Begriff benutzt wird, so inflationär ist die Bedeutungsvielfalt bis hin zur eigentlichen Unkenntlichkeit der Sprache. Wer also „Semantik“ für den russischen Verteidiger einer kanadischen Eishockeymannschaft hält, sollte sich schleunigst mit Google aktualisieren. Vielleicht lassen sich dadurch gravierende Missverständnisse wie die restriktive Aschermittwochsregelung beseitigen. Diese entstammt eher meiner Phantasie als dem amtlichen Verzeichnis für offizielle Fachbegriffe aus Verwaltung und Gemeinwesen.

Üblicherweise hat der Seminarleiter eine Namensliste erstellt, in der jeder Teilnehmer aufgeführt war. Mitunter klang das etwas seltsam, so beispielweise als Horst Domdey, der Leiter des Seminars „Jugendlektüre im Freizeitbereich“, die Schreibweise des Nachnamens „Feige“ herausfinden wollte und nachfragte „Wie die Frucht?“. Die Mehrzahl des Studenten nahm diese Antwort mit Gleichmut zur Kenntnis. Ich allerdings habe mit größter Aufmerksamkeit die deutliche Pause registriert, die zwischen der Frage und der Antwort „Ja, … auch!“ entstand. Zumindest bei mir war schallendes Gelächter die Folge, was das einzig Witzige in der gesamten Veranstaltung war. Mir fiel danach ein Beispiel aus der noch nicht lange zurückliegenden Schulzeit ein, wonach Humor mit dem zumeist plötzlichen Einsatz des Unerwarteten einher geht. Und hier war es die Pause, die die Brisanz erzeugte. Anlässlich des erwähnten Seminars habe ich mich meines Patenonkels erinnert, der sich als Rektor einer Schmargendorfer Grundschule durch die unruhigen Zeiten kämpfte und große Sorgfalt darauf verwendete, bei seinen Senatsvorgesetzten nicht anzuecken. Jedenfalls wollte ich im Rahmen meiner Seminararbeit eine Umfrage unter den Grundschülern durchführen, was diese über die Entenfiguren aus den beliebten Micky-Maus-Heften dachten. Mein Patenonkel Kurt Redmann lehnte mein Ansinnen aber ganz kategorisch ab mit dem Hinweis auf die fragwürdige Bedeutung. Außerdem hat er seine Entscheidungskompetenz abhängig gemacht von den Vorgaben seiner vorgesetzten Behörde, also dem Senat. Das hat mich dann doch heftig bekümmert und zeigte die Labilität dieser Zeit.

Von den politischen Umtrieben, die teilweise mit tektonischer Urgewalt auf das gespaltene Berlin einwirkten und sich als Initialzündung Jahre später im Terror der RAF (Rote-Armee-Fraktion) entladen sollte, wird auch lange Zeit danach von einer Ära des beginnenden Schreckens berichtet werden, ähnlich der Jakobinerzeit nach der Französischen Revolution. Anfang April steuerte die Unfähigkeit der USA in der vernunftbezogenen Gestaltung einer gewaltfreien politischen Grundsätzlichkeit einem neuen Höhepunkt entgegen. Ähnlich dem Drama um den Tod von John F. Kennedy einige Jahre zuvor haben auch bei dem Bürgerrechtler Martin Luther King nicht nur Patrioten dieses Attentat gestützt. Auch hier hat sich die amerikanische Politik der Law-and-Order-Prinzipien offenbart, was zu einem steten Machtzufluss des Waffenrechts geführt hat. Und der liegt inzwischen in den Händen der Waffenlobby namentlich der National Rifle Association, die maßgebend von der Hollywoodlegende Charlton Heston, dem Ben Hur der Sechziger, bestimmt wurde. Als ob das nicht gereicht hätte, fand zwei Monate später der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy im Kugelhagel selbsternannter Henker den unverdienten Tod, dessen Ableben hat allerdings keine weltweite Trauer ausgelöst, vermutlich waren die Gegenkräfte zur Kennedy-Administration doch stärker als im nichtamerikanischen Rest der Welt.

Begleitet vom archaischen Gemetzel in Südostasien – ich vermeide hier bewusst die Lokalisierung auf Vietnam, als ob in der Nachbarregion Laos und Kambodscha ungestörter Frieden herrschte – nahm auch die Konflikt-bereitschaft der Westberliner Studentenschaft ständig zu. Ja, es verging im Mai 1968 kaum ein Tag, an dem Straßen und Plätze in Dahlem nicht von bürgerkriegsähnlichen Zuständen befallen waren. Agent Orange, das amerikanische Wundermittel zur Entlaubung des Dschungels und damit zur vorzeitigen, natürlich siegreichen Beendigung schlug genauso fehl, wie viele andere Maßnahmen nur mit dem Unterschied, dass die Öffentlichkeit wesentlich wachsamer war und dank einer kritischen Berichterstattung durch eingebetteten Fernsehjournalismus sich der Propagandamaschinerie der Johnsonund später der Nixon-Administration entziehen konnte. Allein der vorgeschobene Posten der imperialen Propaganda in Form des AFN, dem gleichmäßig über den gesamten Globus verteilten amerikanischen Soldatensender, sowie dem kleineren Abkömmling desselben, nicht minder revisionistisch in seiner Anlage und – um den wohl heute gebräuchlichen Begriff der DNA zu strapazieren – dem Rundfunk im amerikanischen Sektor lieferten mit gezielten Fehlmeldungen den dauerhaften Hintergrund für öffentlichen Zündstoff.

2. KAPITEL:

ERSTE WOHNUNG

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