Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib - E-Book

Im Schatten der Flügel E-Book

Hansjörg Schertenleib

4,0

Beschreibung

Die pensionierte Schweizer Kriminal- polizistin Corinna Holder hat auf Spruce Head Island in Maine eine zweite Heimat gefunden und ist mit ihrem neuen Freund Jake Blake glücklich. Da wird auf ihrer Insel ein Mann erschossen, und kurz darauf verschwindet ein sechsjähriges Mädchen. Privatdetektiv Matt Dennison bittet Corinna bei der verzweifelten Suche nach dem Mädchen um Mithilfe. Eine verheißungsvolle Spur führt ins Milieu rechtsextremer Frauenverachter, die offenbar Drogengeschäfte abwickeln. Dass der Bruder von Corinnas bester Freundin in die Sache verwickelt ist, macht die Sache für sie nicht einfacher. Der zweite Fall, den Corinna Holder in Maine zu lösen hat, spielt in einer dramatischen Landschaftskulisse und erzählt von Menschen, die einem nach Die Hummerzange bereits ans Leserherz gewachsen sind.

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Tessa003

Gut verbrachte Zeit

Mir hat der zweite Maine-Krimi gefallen. Cirinna Holder, ex Kriminalkommisarin aus der Schweiz soll diesmal bei dem verschwinden von einem Mädchen helfen. Alles weißt auf ein paar Rechtsextreme Exsoldaten hin. Alle Frauenfeindlich und sehr gewalttätig. Die Landschaft und die Charaktere sind gut beschrieben. Auch Corinna hat sich gefestigt und gefiel mir besser. Ich würde gerne weitere Krimis mit ihr lesen, gerne auch woanders als Maine, USA. Wohin es sie auch zieht, Hauptsache es geht weiter, obwohl mir das herbstliche Maine mit der schönen Natur sehr gut gefallen hat.
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Sammlungen



Hansjörg Schertenleib

Im Schatten der Flügel

Corinna Holders zweiter Fall

Roman

Kampa

Für Brigitte.

Love, life, wife.

Paint them a picture, Jane

And you can hang it on the wall

Tell them it’s me they see

Don’t tell them why I’m small.

 

Bob Seger

1Der letzte Tag des Sommers

Corinna Holder hob instinktiv den Kopf, als sie den Schuss hörte, und beugte sich auf dem Musiksessel ihres verstorbenen Mannes Michael nach vorn, um auf die Uhr an der Küchenwand zu sehen: 17:53 Uhr. Wenn sie sich nicht täuschte, stammte der Schuss von einem Gewehr, nicht von einer Pistole. Sie trat auf das Deck im Erdgeschoss ihres Cottages und blickte in die Richtung, aus welcher der Schuss vermutlich abgefeuert worden war. Trotz des Lärms auf dem Gelände von Norwood Lobster hörte sie, wie in der Nähe der Motor eines Motorrades gestartet und auf Touren gejagt wurde, ziemlich sicher eine Crossmaschine mit höchstens 250 Kubikzentimetern, und sich dann auf der Rockledge Road schnell nordwärts entfernte. Seltsam, ging ihr durch den Kopf, in diese Richtung führte die Straße nach kurzer Strecke in den Wald und brach nach knapp einer Meile am Ende von Spruce Head Island abrupt ab. Entweder lebte der Fahrer des Motorrades in einem der Häuser im Wald oder er setzte seine Flucht mit einem Boot fort. Sofern er denn überhaupt der Schütze und somit auf der Flucht war. Warum ging sie eigentlich davon aus, dass ein Mann geschossen hatte? Sie hatte die obligatorischen Schießtrainings bei der Kantonspolizei Aarau geliebt und war für ihre ruhige Schussabgabe und hohe Trefferquote gelobt worden. Sie hatte den Schießkeller häufig freiwillig besucht und im Internet in England einen Kapselgehörschutz mit einer Dämmung bis 31 Dezibel bestellt, Earmuffs, die sie gerne trug, weil sie die Welt ausblendeten und sie in eine Blase versetzten, in der sie nichts hörte als ihren Atem und ihren regelmäßigen Herzschlag.

Heute war der 23. September, der erste Tag des Herbstes. In spätestens einer halben Stunde ging die Sonne unter; über dem Festland war die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass sie den Abendhimmel kaum von den Hügelzügen hinter Camden unterscheiden konnte, über dem offenen Atlantik hingegen war er von Lichtfurchen gesträhnt, die ein vages Fernweh in ihr auslösten. Dabei will ich gar nicht weg von hier, dachte sie amüsiert und sah zu, wie die Katze, die ihr im Sommer zugelaufen war und der sie noch immer keinen Namen gegeben hatte, über die Treppe aufs Deck lief und im Haus verschwand. Michael und sie hatten das Cottage vor vier Jahren gekauft, nach seinem Unfalltod im September letzten Jahres war sie vor dreieinhalb Monaten in die USA gezogen – in all dieser Zeit hatte sie nicht einen einzigen Schuss auf der Insel gehört. Im Bundesstaat Maine wurde leidenschaftlich gejagt, aber auf Spruce Head Island gab es kein Großwild. Umso beunruhigender war der Schuss, der gefallen war.

Sie verließ das Deck und ging an den Rand ihres Grundstückes, um in den ehemaligen Steinbruch hinunterzuschauen, in dessen großflächiger Sohle sich das Werkareal von Norwood Lobster befand: Vor einer der Lagerhallen parkte ein Kühllastzug von SeaMazz; der Fahrersessel des Hubstablers, der hinter dessen offenen Hecktüren stand, war unbesetzt, auf seinen hochgefahrenen Gabeln stapelten sich PVC-Transportkisten für Hummer. Neben dem Hubstapler standen eine Frau und drei Männer um einen weiteren Mann, der einen Schutzhelm trug und am Boden lag. Falls die Kugel ihn getroffen hatte, war der Fleck, der sich auf Höhe seines Oberkörpers auf dem Asphalt ausbreitete, Blut. Der Gegenstand neben seinen Füßen war vermutlich ein Schraubenschlüssel, aus der Tasche seines Overalls gerutscht. Corinna trat zurück und duckte sich, als wolle sie nicht bei etwas Verbotenem überrascht werden; sie hatte sich nicht dagegen sträuben können, das Werkareal als Tatort zu betrachten und wie die Kommissarin, die sie noch vor einigen Monaten gewesen war, auf Verdächtiges zu achten. Der erste Eindruck an einem Tatort war der wichtigste, das wusste sie. Wenn der Mann vom Schuss getroffen worden war, musste er in der Nähe ihres Standortes abgefeuert worden sein. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und stellte fest, der Wind wehte aus Südost, also vom Meer her: Darum hatte sie den Schuss so deutlich gehört.

Sie ging am Rand des Abgrundes entlang und suchte den Boden mit den Augen nach Spuren ab, bemüht, an nichts zu denken und mit offenen Sinnen und ohne Erwartungen wahrzunehmen, was sie sah, hörte und roch, wie sie es bei der Kripo Aarau gelernt hatte. Auf der Suche nach dem Detail, das nicht ins Bild passt. »Es gibt immer etwas, was man nicht sieht.« »Das Unsichtbare ist genauso wichtig wie das Sichtbare.« Die Sätze ihres älteren Kollegen Hostettler, die sie anfangs sanft und mit der Herablassung der Anfängerin belächelt hatte, gingen ihr durch den Kopf und sie musste schmunzeln. Dass der Schütze die Patronenhülse zurückgelassen hatte, war unwahrscheinlich, trotzdem bückte sie sich nach jedem glänzenden Gegenstand, den sie sah, ohne ihn anzufassen. Sie fand einen Schlüsselring aus Metall, an dem keine Schlüssel hingen, die silberne Kappe eines Filzstifts, eine Haarspange und den Kronkorken einer Bierflasche. Die einzigen Geräusche kamen von den Kühlaggregaten von Norwood Lobster und einem Lobsterboot im Becken von Seal Harbor, in der Luft hingen der stechende Gestank von Hering, der als Köder in den Hummerkörben diente, und die Ahnung von Diesel.

Sie hatte das Grundstück ihrer Nachbarin Linda Russo durchquert und ging auf der Wiese von Wanda und Robert Nyström, die einen Teil des Jahres in Florida verbrachten, vorsichtig bis zum Rand des Abbruchs:

Die Frau auf dem Werkareal lief eben in das Wellblechgebäude, in dem sich die Büroräume befanden, zwei der Männer kauerten sich neben dem Liegenden hin, der dritte entfernte sich ein Stück von ihnen, wobei er mit dem Handy telefonierte. Wie lange würde es dauern, bis die Ambulanz und die Streifenwagen der Rockland Police oder vom Sheriff von Knox County auf der Insel auftauchten? Privatdetektiv Matt Dennison, mit dem sie befreundet war, wusste bestimmt, in welchen Fällen auch die Maine State Police, der Coroner und das Maine Bureau of Investigation alarmiert wurden. Sie fühlte eine Sehnsucht nach ihrem früheren Beruf, was sie irritierte und verärgerte. Dicht am Rand des Abbruchs lag ein Zigarettenstummel, daneben war das Gras auf einer kleinen halbrunden Fläche niedergedrückt, als habe sich jemand auf ein Knie niedergelassen. Sie hütete sich, die Kippe anzufassen, ging aber daneben in die Hocke: Der Filter trug keine Spuren von Lippenstift, dafür aber Abdrücke von Zähnen. War der Schütze oder die Schützin so nachlässig gewesen, eine DNA-Spur zurückzulassen? Er oder sie hatte das Motorrad nahe der Rockledge Road abgestellt, war an den Rand des Abbruchs getreten, hatte sich auf ein Knie niedergelassen, angelegt und gezielt, Luft geholt, den Atem angehalten, sorgsam ausgeatmet und abgedrückt. Übersah sie etwas? Die Entfernung zum Mann am Boden betrug etwa zweihundert Meter, eine Distanz für einen versierten Schützen, einen Jäger, einen ausgebildeten Scharfschützen der Army, einen Sniper. Waren die Nyströms in Florida oder auf Spruce Head Island? Der Parkplatz vor ihrem Cottage war leer, vielleicht stand ihr Saab in der Garage. Sie suchte die Wiese gründlich ab und lief dann, weil sie weder Spuren von Schuhen noch von Reifen fand, zur Garage der Nyströms und spähte durch das Fenster im Tor: An der Rückwand stapelten sich Reifen, eingeschlagen in Plastikbahnen; an der Stelle, an der sonst der Wagen stand, hatte sich ein Ölfleck auf dem Beton ausgebreitet. Robert Nyström war offenbar damit beschäftigt, den Vorplatz mit Kies auszulegen; auf dem Stück, das er noch nicht geschafft hatte, fand sie den Abdruck einer Schuhsohle mit ausgeprägten Rillen in der Erde, daneben ein sauber ausgestochenes Loch, dick wie ein Finger, bestimmt vom Ständer eines Motorrades, und die kurze, aber tiefe Spur eines Reifens mit grobem Stollenprofil.

Corinna lief an den Rand des Abgrundes zurück und schaute im selben Moment auf das Werksgelände hinunter, in dem bei Norwood mit leisem Ploppen die Natriumdampflampen ansprangen; der telefonierende Mann riss die freie linke Hand vor die Augen und wandte sich schnell ab. Die Lampen tauchten nicht nur das Gelände nachts in ein kaltes, taghelles Licht, sondern auch die Häuser am Rand des Steinbruches und brachten ihre Bewohner um den Schlaf. Die Lichtverschmutzung war Bestandteil der Beschwerde ans Selectboard gewesen, die von ihren Nachbarn David Byrd und seinem Lebenspartner Jeff angeregt und von nahezu allen Bewohnern der Insel unterschrieben worden war, ohne dass sich etwas geändert hatte.

Die Frau kam aus dem Gebäude von Norwood Lobster gerannt, wobei sie beide Hände in die Höhe streckte, als wolle sie etwas aufhalten, über das sie keinerlei Macht besaß; der Mann schob das Handy in die Brusttasche seines Hemdes, ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und führte sie vom Angeschossenen weg. Corinna kannte das Heulen, in das die Frau nach wenigen Sekunden ausbrach. Die diffizilen und belastenden Besuche bei Angehörigen von Mord- und Unfallopfern hatte sie jeweils so lange wie möglich hinausgezögert, um ihnen, wie sie sich einredete, noch einige Minuten des Friedens und der Ruhe zu schenken und sie noch etwas im Glauben zu lassen, alles sei wie vorher, nichts sei geschehen. Dabei hatte sie sich nur Zeit gelassen, um sich selbst zu schützen, weil sie sich vor den Reaktionen fürchtete. Sie war absichtlich Umwege gefahren und um jedes Rotlicht dankbar gewesen. Einige Eindrücke dieser Besuche mussten sich ihr unbewusst eingeprägt haben, jedenfalls erschienen sie immer wieder vor ihr, zum Beispiel wenn sie nachts im Bett lag und nicht einschlafen konnte: ein Windspiel aus Papierengeln, das sich friedlich drehte; ein Lederhut auf der Ablage einer Garderobe, in dessen Band eine zerzauste Vogelfeder steckte; ein leuchtend blaues Dreirad am Ende eines dämmrigen Flures; ein Poster von Sarajevo an einer Wand. Bevor sie an einer Tür klingelte, hatte sie sich jeweils bemüht, ein Gesicht aufzusetzen, das signalisierte, ich bin auch ein Mensch, nicht nur eine Kriminalpolizistin, ein Mensch, der mitfühlt und weiß, was Trauer bedeutet. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass …« Hoffnungsvolle Fragen, angsterfüllte Blicke oder Tränen durften sie so wenig aus der Fassung bringen wie die Geräusche, die nur Menschen in äußerster Not von sich gaben. Sie musste sachlich bleiben, Kompetenz und Ruhe ausstrahlen, ohne dabei kalt, distanziert zu wirken. Das Wort, das sie in diesen Momenten zu fürchten lernte und bald regelrecht hasste, lautete aber. »Aber sie hat doch grade angerufen!« »Aber ich hab doch das Gulasch gekocht, das er liebt!« »Aber wir fahren doch übernächste Woche in die Toskana!«

Die Frau auf dem Werkareal befreite sich entschieden aus dem Arm des Mannes, schimpfte theatralisch und ging dann hinter dem Kühllaster auf und ab. Auch das kannte Corinna: Manche Angehörige hatten sie für das, was ihren Liebsten widerfahren war, verantwortlich gemacht. Sie war angeschrien, beschimpft und einmal gar angespuckt worden. Sie war die Botin der Zerstörung und zerstörte damit selbst.

In der rasch fortschreitenden Dämmerung wurde der Wald jenseits der Rockledge Road zum undurchdringlichen Raum, in dem die Blätter der Laubbäume, die nach den ersten Frostnächten gelb und rot entflammt waren, matt leuchteten. Hier im mittleren Maine würde die Intensität der Laubverfärbung etwa in zwei Wochen am stärksten, der Höhepunkt des Indian Summer erreicht sein.

Corinna ging ins Haus zurück, schloss die Glastür zum Deck und folgte der Katze, die um ihre Beine strich und ihr aufgeregt miauend in die Küche vorauslief. Es war verblüffend einfach gewesen, sie an Trockenfutter zu gewöhnen, wie ihr ihre Freundin Maggie geraten hatte, deren Mutter seit vielen Jahren Maine-Coon-Katzen hielt. Sie schüttete eine Handvoll Futter in ein Schälchen und sah zu, wie sich die Katze gierig darüber hermachte. Dann ging sie in den Flur hinüber, hob das Dach vom Katzenklo und suchte mit dem Plastikschäufelchen die vom Urin verklumpten Streubrocken und die Kotwürste heraus, trug sie ins Gästebad, kippte sie in die Toilette und spülte. Die Katze saß auf der Schwelle der Küchentür und sah ihr neugierig zu. Obwohl Corinna den Atem anhielt und durch den Mund atmete, stieg ihr der Gestank des Katzenklos in die Nase und schlug eine Brücke in die Vergangenheit, der sie in letzter Zeit erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Sie hatte lange nicht mehr an den Vierfachmord und den Moment gedacht, in dem sie sich über die in der Hitze verkrümmten, verbrannten Leichen beugte, hatte den Geruch, den sie so lange nicht wieder losgeworden war, endlich nicht mehr in der Nase gehabt. Stattdessen hatte sie gelegentlich an die Situationen gedacht, in denen sie im Dienst Fehler begangen hatte. Den Vorfall mit dem Mann, der zum wiederholten Mal wegen häuslicher Gewalt gegen seine Frau verhaftet worden war und den sie außerhalb ihrer Dienstzeit in der Altstadt Aaraus mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte, betrachtete sie mittlerweile nicht mehr als Fehler, obwohl sie deswegen letztlich ihre Stelle verloren hatte. Seine Beleidigungen und die verächtlichen Blicke, mit denen er sie vor seinen Freunden taxierte, hatten sie dazu verleitet, ihm sein Bier über den Kopf zu schütten und ihn mit der Faust niederzuschlagen. Einen Schläger durfte man nicht herausfordern und nicht mit sich selbst konfrontieren, das wusste sie. Trotzdem hatte sie es getan, und er hatte bekommen, was er verdiente. Sie hatte richtig gehandelt.

Im Haus war es mittlerweile so dunkel, dass sie in die Küche trat und das Licht über dem Herd anmachte. Dabei sah sie auf die Uhr an der Wand: 18:09 Uhr. Wo blieben Ambulanz und Streifenwagen? Der Schuss war vor sechzehn Minuten gefallen. Sie war um 19 Uhr mit Jake zum Abendessen in seinem Haus in Bayside verabredet, sie musste sich beeilen. Sie lief ins Wohnzimmer hinüber, um dort die Rouleaus vor zwei bestimmten Fenstern ganz und vor einem anderen drei Viertel nach unten zu ziehen. Gewohnheiten oder vielmehr Rituale, die sie vor Jake verbarg, weil ihr verstorbener Mann Michael sie als zwanghaft, manchmal gar als krankhaft bezeichnet hatte. Sie war im Begriff, die beiden Nachtlichter wie üblich beim Einnachten im Wohnzimmer einzustecken, als sie zwei Sirenen hörte. Gleichzeitig fing ihr Handy an zu klingeln. Sie schob die Glastür zur Veranda auf, sah, wie die Katze ins Freie witschte und im Garten verschwand, trat hinaus und hob ab, erstaunt, wie kühl es in wenigen Minuten geworden war.

»Muscheln sind dein Lieblingsessen, nicht?«

Am Telefon klang Jake Blakes Stimme noch ruhiger und gelassener als sonst.

»Wolltest du mich nicht überraschen, Jake?«

»Hast du zufällig Zitronen im Haus?«

»Aber die Muscheln muss ich nicht auch mitbringen?«

»Wer sagt, ich koche Muscheln? Bringst du Zitronen?«

»Stets zu Ihren Diensten, Sir!«

»Wann fährst du los, Co?«

»In ein paar Minuten.«

»Was ist denn für ein Heidenlärm bei dir?«

Um das Gellen der Sirenen auszusperren, trat sie ins Cottage zurück und schloss die Glastür hinter sich.

»Die Idioten von Norwood sind mal wieder besonders fleißig.«

Weshalb erzählte sie Jake nicht vom Schuss und vom Mann am Boden? Log man, wenn man etwas verschwieg?

»Fahr vorsichtig, ja? Und denkst du bitte an die Zitronen?«

»Mach ich, Jake. Ich freu mich.«

»Ich freu mich auch. Bis gleich. Co.«

Der Satz »Liebe hat oft etwas Zerstörerisches«, den Jake ganz am Anfang ihrer Beziehung gesagt hatte, beiläufig und leichthin, als besitze er kein Gewicht, fiel ihr ein. Bis jetzt hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen, was er damit eigentlich meinte, obwohl er ihr häufig durch den Kopf ging und eine Angst einjagte, die sie nicht verstand. Außer als Warnung.

Sie lief in ihr Schlafzimmer in der oberen Etage; sie wollte die schwarze Jeans anziehen, die Jake gefiel und den Pulli, den er ihr bei Josephine an der Elm Street in Camden gekauft hatte. Und sie musste ihre Reisetasche holen, die gepackt im Schrank stand. Noch war sie nicht bereit, ihre Sachen in seinem Haus zu lassen, nicht einmal die Schminksachen oder ihre Zahnbürste.

2Silberfeuerzeug

Der Sheriff stand mit gezogener Waffe im Schutz seines Streifenwagens links der Straße, während zwei Officer der Rockland Police die Fahrer überprüften, die Spruce Head Island verlassen wollten. Ihr Streifenwagen stand auf der rechten Fahrspur unmittelbar vor der Brücke aufs Festland; wie Corinna aus der Courier Gazette wusste, hatte die Stadt den Chevy Tahoe letztes Jahr angeschafft. Sie hielt hinter einem Laster, aus dessen Ladekabine Wasser tropfte. Der ältere Officer trug eine Sonnenbrille, der jüngere hieß Coor, sie hatte ihn im Juli zur Leiche von Norman Dunbar geführt, die in der Bucht der Shofestallers angetrieben worden war. Sie fasste ihre Haare im Nacken und band sie zusammen, da setzte sich der Lastwagen vor ihr in Bewegung, und sie fuhr langsam vorwärts, bis Coor sie mit einer unwirschen Handbewegung aufforderte anzuhalten. Sie ließ das Fenster nach unten gleiten und schaltete den Motor aus.

»Ihre Papiere, Ma’am.«

Sie öffnete das Handschuhfach und nahm die Wagenpapiere heraus; ihr Führerschein lag in der Handtasche auf dem Beifahrersitz.

»Den Führerschein auch?«

Er nickte, sie nahm den Ausweis aus der Handtasche, reichte ihm alle Dokumente durchs Fenster und begriff im selben Moment, dass sie auch den älteren Officer kannte: Im Sommer war ihr Auto gestohlen worden und nach einigen Tagen am Ufer des China Lake etwa fünfzig Meilen im Landesinnern aufgefunden worden; er hatte ihr damals den Schlüssel ausgehändigt. An seinen Namen konnte sie sich nicht erinnern. Erkannte er sie ebenfalls?

»Leben Sie auf der Insel?«, fragte Officer Coor, während er ihre Papiere studierte.

»An der Rockledge Road.«

»Nummer?«

»15. Das Cottage mit …«

»Bin gleich zurück, Ma’am«, unterbrach er sie, »legen Sie die Hände aufs Steuerrad und steigen Sie nicht aus.«

Coor ging zum anderen Officer hinüber, reichte ihm wortlos ihre Papiere und kam dann sofort wieder zu ihr zurück. Er ging wie ein Mann, der sie beeindrucken wollte: breitbeinig und mit wiegenden Hüften. Die rechte Hand am Hüftholster, die linke auf dem Dach ihres Wagens, beugte er sich lächelnd zu ihr hinab; die Spuren eines Kammes in seinen nach hinten gegelten, offensichtlich schwarz gefärbten Haaren erinnerten sie an Ackerfurchen.

»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Heute?«, fragte sie scheinheilig.

Wie jeder Polizist wusste er bestimmt, dass man jemanden am ehesten zum Reden brachte, indem man abwartete und geduldig schwieg. Die menschliche Unfähigkeit, Stille auszuhalten, löste nahezu jede Zunge. »Heute Nachmittag«, sagte er nachsichtig lächelnd.

Der andere Officer saß jetzt auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens, trug eine Lesebrille und sprach in ein Mikrophon, ihre Papiere in der Hand. Den Sheriff nicht zu beachten, der weiterhin mit gezogener Waffe in Deckung seines Wagens stand, war nicht einfach.

»Ich habe einen Schuss gehört. Ziemlich sicher von einem Gewehr.«

»Sind Sie Waffenexpertin, Ma’am?«

»Ein Motorrad hab ich auch gehört, es ist kurz nach dem Schuss schnell nordwärts weggefahren.«

»Wann war das? Ungefähr?«

»Punkt 17:53 Uhr.«

»Das wissen Sie so genau, weil …«

»Weil ich auf die Uhr geschaut habe, als ich den Schuss hörte.«

»Und das Motorrad ist sofort losgefahren, nachdem der Schuss gefallen war?«

»Vielleicht zwanzig Sekunden später.«

»Sind Sie nicht die Polizistin aus der Schweiz?«

»Ex-Polizistin. Doch. Ich habe Sie zur Leiche von Norman Dunbar geführt.«

»Ich erinnere mich, Ma’am. Das Motorrad fuhr Richtung Norden, da sind Sie sich sicher?«

»Ganz sicher. Klang nach einer Crossmaschine.«

»Interessant.«

»Höchstens 250 Kubik. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»Wissen Sie das nicht?«, gab er zurück und musterte sie eindringlich.

Sie war nicht noch einmal an den Rand des Steinbruches getreten, bevor sie sich auf den Weg zu Jake machte, obwohl sie zu gerne gewusst hätte, von wie vielen Streifenwagen der Widerschein der Warnlichter stammte, der über die Büsche auf ihrem Grundstück strich, und ob die Ambulanz bereits eingetroffen war.

»Woher sollte ich?«

»Ich darf Ihnen leider nichts sagen«, sagte Officer Coor und blickte die Island Road hoch.

Im Rückspiegel sah Corinna, wie ein Auto hinter ihr anhielt, an dessen Steuer ihr Nachbar David Byrd saß; sie hob die Hand, und er erwiderte den Gruß, indem er ihr verunsichert lächelnd zuwinkte. Sein brauner Labrador Spots hockte auf dem Beifahrersitz und sah gelassen durch die Frontscheibe, ohne zu verraten, ob er sie wahrnahm oder nicht. Davids Partner Jeff hatte sich am Tag vor Labor Day von ihr verabschiedet, weil er nach Louisiana zurückkehrte, wo ihnen eine Anwaltskanzlei gehörte.

Officer Coor strich sich geistesabwesend mit gespreizten Fingern durch die Haare, während er seinem Kollegen zusah, der mit steinerner Miene auf sie zukam, den Kopf schüttelte und ihm die Papiere reichte. Als ihm bewusst wurde, dass er die Lesebrille aufhatte, nahm er sie ab, klappte sie zusammen, steckte sie in die Tasche seiner Uniformjacke und ging zum Heck ihres Wagens.

»Ich muss Sie bitten, den Zündschlüssel abzuziehen und auszusteigen, Ma’am«, sagte Officer Coor, reichte ihr die Papiere durchs Wagenfenster und trat zur Seite, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Machen Sie den bitte auf«, sagte der ältere Officer und deutete mit dem Kinn auf ihren Kofferraum.

Corinna stieg aus und ging zum Heck ihres Wagens, ohne die Fahrertür zuzuwerfen. Es war jetzt fast ganz dunkel; der Wind hatte aufgefrischt und trug den abgestandenen, fauligen Geruch des Meeres über die Insel. Letztes Abendlicht fiel durch ein Loch in der Wolkendecke und ließ einen Teil der Baum Bay aufleuchten, als werde er elektrisch beleuchtet. Bis auf einen Klappstuhl, eine Wolldecke, einen Regenschirm und ein Starthilfekabel war ihr Kofferraum leer. Der Beamte beugte sich hinein, ohne etwas anzufassen, nickte ihr wortlos zu, ging dann über die Straße und setzte sich gähnend auf den Beifahrersitz des Streifenwagens.

»Sie können weiterfahren, Ma’am. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Officer Coor legte ihr für einen Moment die Hand auf den Unterarm, als wolle er sich für das Verhalten seines Kollegen entschuldigen, tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Mütze und wandte sich von ihr ab. Bevor Corinna einstieg, nickte sie David Byrd zu, der sie aber nicht beachtete, weil er gedankenverloren in den dunklen Himmel starrte.

Sie fuhr über die kurze Brücke, die Spruce Head Island mit dem Festland verband, vorbei am Lobster Lane Book Shop, der seit dem Labor Day am 3. September zu war und erst am Memorial Day Ende Mai wieder öffnen würde, und hielt auf dem Parkplatz vor dem Mussel Ridge, um sich eine Zigarette anzuzünden und sich zu beruhigen. Der Grocery Store, in dem neben Frühstück, Burger und Enchiladas eine passable Pizza mit Blue Cheese serviert worden war, hatte Ende Sommer aufgegeben und fand keinen Käufer. Nach mehr als vier Jahren hatte sie vor Kurzem wieder angefangen zu rauchen, vier, selten fünf Zigaretten am Tag, heimlich, weil sie keine Lust hatte, mit Jake darüber zu diskutieren, wie klug es war, einer früheren Sucht nachzugeben, nachdem es ihr mit viel Mühe gelungen war, von ihrer Xanax-Abhängigkeit loszukommen.

Michaels ehemaliges Silberfeuerzeug, das mit Benzin betankt wurde und an einen amerikanischen Straßenkreuzer der fünfziger Jahre erinnerte, lag schwer in ihrer Hand; er hatte die Joints damit angezündet, die er abends gelegentlich rauchte, um sich zu entspannen. Sie nahm eine Zigarette aus dem flachen Etui aus gebürstetem Metall, das sie vor vielen Jahren auf dem Flohmarkt in Zürich gekauft hatte und im Handschuhfach vor Jake versteckte. Sie rauchte hastig, das Fenster einen Spalt geöffnet, sah zu, wie Wolken landeinwärts trieben und ließ den Rauch genüsslich durch die Nasenlöcher strömen. War der Mann angeschossen worden, oder war er tot? Hätte sie Coor von den Spuren erzählen sollen, die sie gefunden hatte? In einem der drei kleinen Mietapartments in der Etage über dem Grocery Store brannte Licht. Sie stieg aus und warf die aufgerauchte Zigarette in den Aschenbecher neben der stillgelegten Eismaschine, die der frühere Besitzer des Store offenbar mitsamt dem Inventar verkaufen wollte.

Um das Wageninnere durchzulüften, ließ sie alle Fenster nach unten gleiten, ich beseitige Spuren, ging ihr durch den Kopf, und startete die CD, die Jake für sie gebrannt hatte, Leo Kottke, John Renbourn, Bert Jansch, Ry Cooder, Jim Croce, Gitarrenmusik, vieles davon akustisch. Sie kam nicht gern zu spät, sie musste sich beeilen.

 

Auf Höhe der Kirche der Harmony Bible Church an der Route 73 North kurz vor South Thomaston fiel ihr ein, dass sie die Zitronen vergessen hatte! Vor dem Hintergrund des dichten Waldes wirkte der weiß gestrichene Bau bei Sonnenschein wie ein Segelschiff, das im Begriff war, in See zu stechen. Vorletzten Sonntag hatte ein Mann vor der Kirche geweint, die Arme ausgebreitet, als wolle er den Schmerz umarmen, der ihn plagte.

Die Luft im Keag war abgestanden, es roch nach angebratenen Zwiebeln, einzig ein Tisch war nicht besetzt. Linda saß auf einem Stuhl hinter der Verkaufstheke und las in einer Illustrierten; sie hatte ihre grauen Haare zu einem Knoten gebunden und mit einem Clip in Schmetterlingsform zusammengefasst.

»Pech gehabt, Co«, sagte sie, zuckte entschuldigend mit der Schulter und deutete auf die leere Vitrine, »hab den letzten Donut schon verkauft.«

Linda verriet Corinna nicht, wer ihr die Zimtdonuts lieferte oder ob sie sie selber buk. Es gab Tage, an denen war Corinnas Verlangen nach einem der Donuts so groß wie noch vor Kurzem nach der beruhigenden Wirkung von Benzodiazepin.

»Dafür hast du bestimmt Zitronen für mich«, sagte Corinna und zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche.

»Was soll ich denn mit Zitronen? Kann man die rauchen?«

3Zehn Minuten für Keith Richards

Die Wimpern von Jakes rechtem Auge strichen ihr über die Wange, ein Schmetterlingskuss, der sie weckte. Ohne sich zu rühren sah sie, wie der Wind Regengarben gegen die Bogenfenster trieb, hörte sie, wie Tropfen über ihren Köpfen auf das Dach von Jakes Turm prasselten, in dem sich sein Schlafzimmer und darunter seine Gitarrenwerkstatt befanden. Das Licht des frühen Morgens fiel flach und ohne Kraft über das Meer, das als undurchdringliche schwarze Fläche in der Bucht vor ihr lag. Von der Brandung war bis auf ein verschämtes Rauschen, das sie sich vielleicht bloß einbildete, nichts zu hören. Unten am Strand, der zu Jakes Grund gehörte, war das Donnern so gewaltig, dass es unmöglich war, sich in normaler Lautstärke zu unterhalten. Bei ihrem letzten Strandspaziergang hatten sie Treibholz für die Windspiele gesammelt, die sie seit einigen Wochen machte, und Muscheln aus Seetangmatten geklaubt, aus denen Wolken schwarzer Fliegen aufstiegen. Angespülte Schaumfetzen hatten in der Sonne geglitzert. Der hinterste Abschnitt des Strandes diente als Rastplatz für Zugvögel, die Felsen waren weiß von ihrem Kot.

Jake schmatzte im Schlaf, lächelnd, das Gesicht schutzlos entspannt. Sie betrachtete die Krähenfüße um seine Augen, die grauen Haare an den Schläfen und die winzige Narbe am Kinn, von der sie noch immer nicht wusste, woher sie stammte. Seine Blechgitarre stand bedenklich schräg in ihrem Gestell, und sie fragte sich, wann er zuletzt darauf gespielt hatte. Langsam wurde das Licht über der Bucht gespenstisch gelb, sie sah, wie aufgewühlt der Atlantik war und wo er aufhörte und wo der Himmel anfing. Es war kühl im Raum, fröstelnd ließ sie ihren Blick über die Tonfigur auf der Kommode, den Stapel Langspielplatten an der Wand, ihre Schuhe und Jakes Bikerstiefel auf dem weiß gestrichenen Bretterboden gleiten. Gestern Abend hatte sie auch im Southend Grocery Store keine Zitronen erhalten und darum im Hannaford vor Camden haltmachen müssen; Jake hatte kein Wort darüber verloren, dass sie beinahe eine halbe Stunde zu spät gekommen war. Gemeinsam hatten sie die Muscheln und einen Salat zubereitet und sich später auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Cottages Mud mit Matthew McConaughey in der Hauptrolle auf DVD angesehen, in dem Sam Shepard eine seiner letzten Filmrollen spielte.

Das Laken war kühl, das Bettzeug duftete nach Jasmin. Sie spürte ihren Pulsschlag in der Schläfe, den Anflug von Kopfschmerzen; das Wetter schlug um, der Sommer war wohl vorbei. Nach dem Film hatte Jake von einem Flug von Boston nach Seattle erzählt, auf dem die unbekannte Frau, die neben ihm saß, ihn fragte, ob sie während der Landung seine Hand halten dürfte. Nachdem die Maschine sicher auf der Landebahn aufgesetzt hatte, waren sie schweigend Hand in Hand sitzen geblieben; nach einer Weile hatte sie ihren Sicherheitsgurt gelöst und war ohne sich zu verabschieden ausgestiegen.

Corinna verspürte den Wunsch, Jake über Wangen und Kinn zu streichen, wie sie es machte, wenn sie ihm das Sägemehl des Holzes, aus dem er seine Gitarren baute, aus den Bartstoppeln wischte, doch sie wollte ihn nicht wecken und stieg vorsichtig aus dem aus Eisenbahnschwellen gezimmerten Bett, schlich auf Zehenspitzen ins kleine Bad, setzte sich auf die Toilette, löste mit angehaltenem Atem Wasser, als mache das ihr Plätschern unhörbar, und sah dabei aufs Meer hinaus. Die Wellen trugen Silberkronen, weit, weit draußen glitt eine Fähre vorbei, ein Koloss im dunklen Wasser, undeutlich wie ein Geisterschiff in einem Traum.

Bevor sie sich hinlegte, warf sie einen Blick aus dem Fenster hinter dem Bett: Die Straße glänzte im Regen, sie hörte das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt, ohne irgendwo ein Auto zu sehen. Obschon kein Sonnenlicht die Bäume traf, schien der Wald jenseits der Straße vor lauter Farben zu explodieren. Das Rot war von unglaublicher Intensität und leuchtete, als stehe es unter Strom. Noch vor wenigen Tagen waren die Blätter grün gewesen, nun war der Wald ein endloses Meer in satten Bunttönen, Rot, Gelb und Orange, das im Wind hin und her wogte.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«

Sie hatte nicht bemerkt, dass Jake erwacht war; er lag auf dem Rücken, die Finger hinter dem Kopf verschränkt. Seine Stimme klang schläfrig, sein Silberblick war so irritierend und aufregend wie am Tag, an dem sie sich in der Buchhandlung Owl & Turtle in Camden begegnet waren. Sie kroch zu ihm unter die Decke und presste sich an ihn.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«, fragte er noch einmal.

»Nur die Frauen.«

»Genau wie bei uns.«

»Es regnet.«

»Dann ist es am gemütlichsten hier oben.«

»Wie in einem Zelt.«

»Wird der Wind stärker, ist das da unten bald ein Kessel aus brodelndem Weißwasser«, sagte er und zeigte auf die Bucht. »Die Dünung wühlt den Schlamm auf, und du siehst nicht mal mehr den Grund.«

»Futter für die Fische«, sagte sie.

Er nickte, berührte sie am Schlüsselbein und legte ihr die Hand auf den Arm; seine Finger rochen nach Zitrone, sein Silberarmband auf ihrer Haut war warm und schwer.

»Glaubst du, der Mann ist tot, Co?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du bist dir sicher, dass er angeschossen wurde?«

»Ganz sicher. Wieso sollten sie sonst alle Wagen kontrollieren, die die Insel verließen?«

Sie hatte ihm ausführlich beschrieben, was am vergangenen Abend auf Spruce Head Island passiert war, und die Reifenspuren und das Loch im Kies erwähnt, das ziemlich sicher von einem Motorradständer stammte.

»In der Schweiz ist es bestimmt nicht so einfach, an eine Schusswaffe zu kommen wie bei uns, richtig?«

»Allzu schwierig ist es nicht. An die 800000 sind registriert, dabei gibt es geschätzte drei Millionen. Hast du eine Waffe?«

»Früher hatte ich eine, ja.«

»Und heute?«

»Nicht mehr.«

»Eine Pistole oder ein Gewehr?«

»Ist doch egal. Und du, Co?«

»Ich hab meine Pistole abgegeben, als ich den Dienst quittierte.«

Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen solle, wie gern und gut sie geschossen hatte, war sich aber nicht sicher, was das für ein Licht auf sie warf, und verschwieg es.

»Meine Tochter Patti Lee hat uns zu Thanksgiving eingeladen.«

»Die Ärztin?«, fragte sie.

»Amy ist die Ärztin. Die Jüngere. Patti Lee ist Violinistin.«

»In welchem Orchester spielt sie noch mal?«

»Boston Symphony Orchestra.«

Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nasenkuppe und die Brauen, als wolle er sich versichern, dass sie tatsächlich neben ihm in seinem Bett lag.

»Wie alt ist Patti Lee?«

»Vierunddreißig. Sie möchte dich gern kennenlernen. Begleitest du mich?«

»Gerne, Jake. Wann ist Thanksgiving?«

»Am letzten Donnerstag im November. Am 28.«

Ihr Sohn Thomas und seine schwangere Freundin Charlotte hatten im Juli zwei Wochen Ferien in Maine gemacht, und sie waren zwei Mal mit Jake zum Abendessen zusammengekommen; an einem wolkenlosen Tag waren sie frühmorgens mit dem Segelboot eines seiner Freunde in See gestochen und hatten einen unbeschwerten Tag auf der Künstlerinsel Moneghan verbracht.

»Als Kind hat Tom es geliebt, Löcher zu graben.«

»Das tun alle Jungen.«

»Er war fasziniert, wie schnell sich seine Fußspuren im Sand mit Wasser füllten, und hat mit dem Schäufelchen unermüdlich ein Loch nach dem anderen gegraben, nur um zuzusehen, wie sie volllaufen.«

»Amy hat nie Sandburgen gebaut, immer nur Türme, Türme, Türme. Je höher, desto besser. Wer weiß, vielleicht hab ich das hier«, er zeigte mit dem Zeigefinger um sich, »auch wegen ihr gebaut. Meinen Turm.«

»Tom hat mich gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche haben.«

»Möchte Schnee schwitzen?«, fragte er lachend. »So was?«

»Genau. Wäre Salz gern süß?«

»Will eine Kugel aus der Pistole fliegen? Wie alt war er da?«

»Sieben. Will der Spiegel, dass man sich in ihm betrachtet!«

»Großartig! Soll ich Musik anmachen?«

Sie nickte und sah zu, wie er die Beine aus dem Bett schwang, auf allen vieren zu den LPs hinüberkroch, als wolle er sie auf den Arm nehmen, den Plattenstapel durchblätterte, eine herauszog und sie auflegte. Neben dem Namen Daniel Lanois war auf der Hülle das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden, geheimnisvoll lächelnden Mannes abgebildet, der sie an einen Indianer erinnerte.

»Weißt du, was meine Frau nach ihrer letzten Affäre zu mir sagte? ›Ich habe es für uns getan!‹«

»Ich habe es für uns getan? Ernsthaft?«

Daniel Lanois Stimme löste Bilder in ihr aus, die sie ablenkten, Bilder, die sie irritierten; sie sah einen breiten dunklen Strom, der träge an ihr vorbeifloss, sah ein Floß, auf dem sie saß, dabei stand sie doch am Ufer.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jake.

»Die Musik gefällt mir. Ich habe es für uns getan? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ich hab die idiotische Ausrede in jedem Streit gebraucht. Wenn ich besoffen war: Ich habe es für uns getan! Wenn ich die Nerven verlor: Ich habe es für uns getan! Als ich unser Auto zu Schrott fuhr: Ich habe es für uns getan!«

»In den zwei Wochen vor seinem Unfall hat Michael die Zahnpastatube nicht mehr zugemacht, in Zimmern das Licht brennen lassen, dauernd seine Schlüssel verlegt und gelächelt, immer nur gelächelt. Als wüsste er was, was ich nicht weiß.«

»Entschuldige bitte, wenn ich das frage, Co, aber war es ganz bestimmt ein Unfall?«

»Weißt du, wie oft ich mich das gefragt habe?«

»Und? War es ein Unfall?«

»Ich denke schon, ja. Die erste Zeit danach habe ich mich gefühlt wie der Schatten, den mein toter Michael wirft.«

Offenbar war Ebbe, jedenfalls bemerkte sie Fels- und Sandbänke, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, an denen sich die hereinrollenden Wellen brachen. Die aufspritzende Gischt wirkte, als sei sie in der Bewegung erstarrt und in der Luft festgefroren, so dicht folgten die Sets der Wellen aufeinander.

»Gibt es Sturm?«

Jake schüttelte den Kopf, räusperte sich und schob die Decke von sich; er roch nach Holz und ganz leicht nach Schweiß.

»Auflaufende Flut, kaum Wind, kein Grund zur Sorge. Vor einem Sturm sieht’s anders aus.«

Die Wellen bauten sich aus dem Nichts auf und krachten mit dumpfem Knallen auf die Felsbänke. Die Fähre war verschwunden, dafür kämpfte sich ein Zodiak durch die kabbelige See.

»Seit wann rauchst du eigentlich wieder?«, fragte Jake leichthin.

»Rauch ich?«

»Ach komm, Co! Für jede Zigarette, die du rauchst, nimmt Gott dir zehn Minuten weg.«

»Eine, manchmal zwei am Tag, mehr nicht, Herr Lehrer.«

»Zehn Minuten, die er Keith Richards gibt.«

»Ich glaube nicht an Gott, Jake.«

»Und an die Stones?«

»Ich bin Beatles-Fan!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul McCartney raucht. Du?«

Sie schüttelte den Kopf und strich ihm mit der flachen Hand über den nackten Rücken.

»Was hast du damals eigentlich in Seattle gemacht, Jake?«

»Einen Musiker besucht, für den ich eine Zwölfsaitige baute.«

»Berühmt?«

»Ein Studiomusiker und großartiger Gitarrist, den keiner kennt. Er hat mir erklärt, was für ihn die wichtigsten Werte sind: Mut. Tapferkeit. Und Sanftheit. Mutig alles in die Hand nehmen, tapfer das Scheitern ertragen und sanft sein zu Mensch und Tier. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.«