Im Schatten des Klosters - Richard Dübell - E-Book

Im Schatten des Klosters E-Book

Richard Dübell

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Eine verschwundene Reliquie, finstere Gestalten und ein mutiger Archivar im mittelalterlichen Köln

Köln, 1193. Bruder Ulrich, Archivar des Klosters Sankt Albo, wird mit einer heiklen Mission betraut: Er soll die jüngst entwendete Reliquie des Klosters, den Schädel des Namenspatrons, wiederbeschaffen. In Begleitung Rinaldos, eines durchtriebenen italienischen Sängers, und Jörgs, eines unglücklichen Kreuzritters, dringt Ulrich in die für ihn Schrecken erregenden Gassen Kölns vor. Schon bald weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Er ist sich nur in einer Sache sicher: Die geheimnisvolle junge Frau, die ihm immer wieder über den Weg läuft, will ihn töten - und er hat keine Ahnung, warum ...

Spannend, abwechslungsreich und meisterlich erzählt!

Weitere historische Romane von Bestsellerautor Richard Dübell bei beTHRILLED: Die Tochter des Bischofs, Die Die Braut des Florentiners und Krimis der Tuchhändler-Reihe.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 367

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40

Über dieses Buch

Eine verschwundene Reliquie, finstere Gestalten und ein mutiger Archivar im mittelalterlichen Köln

Köln, 1193. Bruder Ulrich, Archivar des Klosters Sankt Albo, wird mit einer heiklen Mission betraut: Er soll die jüngst entwendete Reliquie des Klosters, den Schädel des Namenspatrons, wiederbeschaffen. In Begleitung Rinaldos, eines durchtriebenen italienischen Sängers, und Jörgs, eines unglücklichen Kreuzritters, dringt Ulrich in die für ihn Schrecken erregenden Gassen Kölns vor. Schon bald weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Er ist sich nur in einer Sache sicher: Die geheimnisvolle junge Frau, die ihm immer wieder über den Weg läuft, will ihn töten – und er hat keine Ahnung, warum …

Über den Autor

Richard Dübell, geboren 1962, lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Niederbayern und ist Träger des Kulturpreises der Stadt Landshut. Er zählt zu den beliebtesten deutschsprachigen Autoren historischer Romane. Seine Bücher standen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurden in 14 Sprachen übersetzt. Mehr Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: www.duebell.de

Richard Dübell

Im Schatten desKlosters

beTHRILLED

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2005 by Richard Dübell, Ergolding

Copyright © 2010/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia di Stefano unter Verwendung von Motiven © shutterstock: photocell | denispro; © pixabay: cocoparisienne

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5400-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Jede Nacht füllte das Kerzenlicht die leeren Augenhöhlen mit Leben. Die Messen untertags verliefen wie gewohnt, doch schon bei der Komplet – im Winter bereits bei der Vesper – begann dieses Zucken, dieses Tanzen der Schatten, das wie ein Augenzwinkern war, ein kaltes, spöttisches Blinzeln. Bruder Ulrich konnte nicht anders, als ständig hinzusehen; es war ein Zwang, der ihn regelmäßig in der Hitze des Sommers frieren und in der Kälte des Winters schwitzen ließ. Dieses unheilige Schattenleben in den leeren Augenhöhlen verschwand nicht einmal, wenn Prior Remigius an hohen Feiertagen von Großzügigkeit überwältigt wurde und das Kircheninnere in der schieren Masse der Unschlittkerzen waberte und auf goldenem Licht zu schweben schien … strahlendes Gleißen überall, bis auf die blauen Schatten in den Augenhöhlen des Knochenschädels, der Ulrichs Blicke zurückgab und mit seinem unvergänglichen Totengrinsen dem Klosterarchiv zuflüsterte: Du gehörst mir, du gehörst mir, du gehörst mir … zwei dunkle Tunnel in die Angst in der Pracht des Kerzenschimmers …

Sanctis apostolis …

Inmitten Dutzender vibrierender Mönchskehlen schluckte Bruder Ulrich trocken und krächzte mit, so gut es ging. Sein Herz hämmerte und trieb ihm den Schweiß oder Kälteschauer über den Leib, je nachdem, ob im Obstgarten des Klosters der Schnee oder die Blüten die Zweige weiß färbten.

… omnibus sanctis …

Die leeren Augen des Totenschädels verfolgten Ulrichs Not und zwinkerten kalt, spöttisch und gnadenlos.

… dona nobis pacem …

Es half Bruder Ulrich in seiner Angst kein bisschen, dass der Schädel die einzige, geheiligte Reliquie des Klostergründers Sankt Albo war.

Kapitel 2

Der Heilige ist weg!«

Ulrich fuhr aus seinem unruhigen Schlummer auf und sah sich mit schlechtem Gewissen nach allen Seiten um, noch bevor er begriff, was geschehen war. Er begegnete Bruder Fredegars Blick, der verschleiert war und bar aller Intelligenz, und konstatierte in diesen ersten wirren Augenblicken des Erwachens aus dem Schlaf während der Laudes, dass zumindest Fredegar ihm ein Bruder in der Sünde war … man konnte nur hoffen, dass die Klostergemeinschaft sich nicht am schlechten Beispiel des Torhüters und des Archivars orientierte, Vater vergib uns …

Dann glomm Leben in Fredegars Augen auf, und er folgte dem Blick Ulrichs hin zur Menge der gemeinen Brüder, die vor dem Altar auf dem Boden lagen.

Einer der Mönche lag nicht auf den Knien, sondern hüpfte geradezu gotteslästerlich auf und ab. Sein Finger zeigte nach vorn zum Altar. Sein Gesicht bestand aus drei runden Löchern: zwei kleinere die Augen, ein großes der Mund, aus dem ein immer schrilleres Heulen drang.

»Der Heiiilige ist weeeg!«

»ruhe!«, donnerte hinter dem Altar der Prior Remigius, dessen Predigt beim ersten Aufschrei mit einem hörbaren Knirschen zum Halten gekommen war. »Bruder Konrad, hör sofort auf!«

»Aber … ehrwürdiger Vater!« Bruder Konrad suchte in heller Aufregung nach Worten. »Aber, o heiliger Albo …«

Ulrich sah es wie eine Woge durch die aufgeschreckten Brüder gehen. Ein Kopf nach dem anderen hob sich und folgte dem Fingerzeig Bruder Konrads, und ein Gesicht nach dem anderen verwandelte sich in ein Abbild des seinen: riesige Augen und ein weit aufgerissener Mund.

Prior Remigius starrte in das metallbeschlagene Kästchen, das auf einer Säule hinter dem Altar stand. In der Dunkelheit der kleinen Kirche, die nicht viel mehr war als eine Kapelle und in der nur so viele Unschlittlichter brannten, wie es brauchte, damit die Brüder auf dem unebenen Boden nicht stürzten, glomm matt der Zierrat. Das Innere des Schreins selbst war eine dunkle Höhle, in der man kaum Umrisse zu erkennen vermochte, und doch …

Bruder Konrad hatte Recht.

»Also gut«, sagte Remigius.

Der Reliquienschrein war leer.

»Licht«, sagte Remigius und griff sich eine der krumm gezogenen Kerzen vom Altar. Als er den Reliquienschrein damit beleuchtete, ging ein Aufstöhnen durch die Gemeinschaft der Brüder. Wie es schien, hatte der Schädel sich irgendwie aus seinem Behältnis befreit, ohne Deckel oder Schloss des Schreins zu beschädigen und ohne die übertrieben teure Glasscheibe – Bruder Ulrich hatte ihretwegen auf den Ankauf eines wunderschön gemalten Codex aus einem irischen Kloster verzichten müssen – an ihrer Vorderseite zu zerbrechen. Das Silbernetz, das die Reliquie umhüllt hatte, lag auf dem dunkelroten Samtkissen. Albos Schädel war gleichsam nackt entflohen.

Remigius ließ die Kerze sinken und drehte sich langsam um.

Ulrich suchte Fredegars Blick. Die Augen des alten Mönchs waren zusammengekniffen, doch starrte er nicht zu Remigius oder zum leeren Schrein hinüber, sondern zu den Brüdern in der Kapelle. Deren erstem Aufstöhnen folgte ein zweites; dann begann das Wispern: »Er ist verschwunden!« – »Er ist tatsächlich weg!«, und immer lauter: »Sankt Albo, beschütze uns!« – »Heiliger Albo, errette uns aus der Verdammnis!« – »Sankt Albo, hilf uns Sündern!« – »sankt albo, komm zurück!«

Bruder Konrad stand inmitten der Aufregung wie Lots Weib. Emmeran und Peter, die beiden anderen beamteten Brüder auf der jenseitigen Seite des Altars, sahen vom leeren Reliquienschrein zu Prior Remigius und zurück zum Schrein. Emmeran blinzelte plötzlich wie jemand, dem ein Licht aufgeht, und legte langsam den Kopf in den Nacken, während sein Mund sich öffnete. Seine Augenbrauen, die eher wuchernden Gestrüppen glichen und über der Nasenwurzel in einem dichten Büschel zusammengewachsen waren, kräuselten sich verzückt, als er zum Gewölbe der Kapelle emporstarrte.

»Sankt Albo, warum hast du uns verlassen?«

Die jüngeren Mönche brachen in Tränen aus. Ulrich beobachtete fassungslos die Aufregung. Das war ja, als hätte man den Brüdern schlagartig den Boden unter den Füßen weggezogen, nur weil dieser potthässliche Schädel plötzlich …

Ulrich spähte aus dem Augenwinkel in Fredegars knorriges Narbengesicht und sah, wie der alte Mönch die Lippen zusammenpresste. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze.

»Schluss damit!«, brüllte der Prior und knallte die Kerze auf den Altar, dass sie in mehrere Stücke zerbrach und das heiße Unschlitt über Remigius’ Finger spritzte. Das obere Stück der Kerze rollte über die Steinplatte, ohne dass die Flamme erloschen wäre. Remigius drosch sie mit geballter Faust aus.

»Ite, missa est!«, rief er und schlug wild entschlossen das Kreuzzeichen.

Die Brüder regten sich nicht.

»Wo ist Sankt Albo?«, piepste eine Stimme aus ihrer Mitte.

Remigius’ schmale Gestalt schien zu versteinern. Sein Gesicht lief dunkel an.

»Diese Kleingläubigen«, presste Fredegar zwischen den Zähnen hervor und richtete seine hagere Gestalt auf, als wäre er noch der Krieger im Namen Gottes, der mit König Konrad dem Staufer ins Heilige Land gezogen und als einer von wenigen lebend zurückgekommen war. »Der Geist von Citeaux ist viel zu schwach hier!«

»Pareo iam!«, donnerte Prior Remigius. Er fasste erregt ans Vorderteil seiner Kukulle und zerrte sie aus dem Strick um seine Hüften. »Ich verlange Demut und Gehorsam!«

Die Brüder duckten sich – bis auf einen. Ulrich sah, wie Konrad sich langsam in Bewegung setzte. Das Gesicht des jungen Mannes war bleich und voller Angst. Als er voran schlurfte, kam auch in die anderen Mönche Bewegung. Alle Blicke hingen an dem leeren Schrein. Remigius blies die Backen auf und stopfte die Kukulle wieder zurück hinter den Leibstrick. Er schien unschlüssig, was ihn mehr erschütterte: das Verschwinden der Reliquie oder die Aufregung, die sich ob dieses Vorfalls in der Gemeinschaft ausgebreitet hatte.

Ulrich sah wohl als Erster das Entsetzen, das Konrads Züge verzerrte, bevor dieser sich herumwarf und zum Altar stürmte, wobei er buchstäblich über die Brüder hinwegstampfte, die sein Ansturm zu Boden geworfen hatte. Schreckensschreie hallten zur Decke der Kirche empor. Konrad setzte über den Altartisch hinweg und prallte auf Remigius, brachte den schmächtigen Prior ins Wanken, ohne ihn jedoch zu Fall zu bringen. Remigius schlang die Arme um den Bruder und drängte ihn vom Schrein weg. Konrad kämpfte gegen die Umklammerung seines Ordensoberen, schlug um sich und stöhnte, sank plötzlich in sich zusammen, umfing Remigius’ Beine und brach in Schluchzer aus, die seinen Körper schüttelten. Die Brüder beobachteten die Szene mit schreckgeweiteten Augen und kalkweißen Gesichtern. Über Remigius’ Antlitz huschten Zorn, Mitleid und ein anderes Empfinden, in dem Ulrich blankes Entsetzen über die Panik unter den Brüdern zu erkennen glaubte; es war ein Ausdruck, den Ulrich am liebsten nicht gesehen hätte, denn er wirkte verheerender auf ihn als alles Gekreische der Novizen.

Dann reckte der Prior sein Kinn nach vorn, und seine Augen wurden schmal, als er zu Ulrich und Fredegar herübersah. Ulrich stellte fest, dass er schon halb zum Altar gestürzt und dabei von Fredegar nicht einmal abgehängt worden war. Er verlangsamte seinen Schritt.

»Was soll jetzt aus uns werden?«, stöhnte Konrad.

Remigius bückte sich und machte Konrads Arme los. Dann half er ihm auf die Beine und zeichnete den Segen auf seine Stirn. »Geht in Frieden, Brüder«, sagte er leise zu der Gemeinschaft und strich Konrad über den Kopf. »Auch du, mein Sohn.« Konrad winselte. »Alles wird gut.«

Es dauerte lange, bis die Brüder endlich draußen waren, und ihr Abgang verlief in einer Stille, die selbst Ulrich quälte, der das mönchische Schweigen von Kindheit an gewöhnt war. Verschlimmert wurde das Ganze vom Schluchzen, das der eine oder andere Bruder nicht unterdrücken konnte. Remigius stand am Altar, das Gesicht noch immer dunkel; seine Haltung war wie die einer Steinfigur. Schließlich räusperte er sich und suchte die Blicke seiner beamteten Brüder: Fredegar, Ulrich, Emmeran und Peter. Von draußen erklang das letzte Schlurfen der Sandalen und das letzte Schluchzen eines ängstlichen Novizen. Remigius brauchte nichts zu sagen; die vier Brüder setzten sich in Bewegung und stapften zum Altar hinüber. Ulrich machte den Abschluss. Er spürte, wie sein Herz mit Verspätung zu hämmern begann und seine Kehle verschloss.

Fredegar, der als Bruder Torhüter über sämtliche Schlüssel verfügte, öffnete den Schrein, holte mit spitzen Fingern das silberne Netz heraus und reichte es an Prior Remigius weiter. Ulrich starrte in die gähnende Dunkelheit des Behälters und fand, dass er leer nicht weniger unheimlich aussah als sein auf so wundersame Weise verschollener Inhalt. So nahe an dem Behältnis hatte er nicht mehr gestanden, seit er dem alten Prior Gregor als Junge bei der Messe geholfen hatte. Wenn man bedachte, dass damals gerade Kaiser Rotbart seinen Krieg gegen die italienischen Städte begonnen hatte und seitdem dreißig Sommer ins Land gegangen waren, konnte man das als rekordverdächtige Leistung im Sich-Drücken werten. Ulrich wandte sich ab; der leere Schrein schien ihn anklagend anzurufen. Remigius legte das Netz zurück und klappte mit lautem Knall den Deckel zu. Bis auf Fredegar fuhren alle zusammen.

Fredegar betrachtete seinen Schlüssel und dann das kleine Schloss an der Oberseite des Schreins. »Zugeschlossen!«, knurrte er. »Er war zugeschlossen.«

»Ein Wunder ist geschehen!«, flüsterte Peter, der Kellermeister.

Fredegar hielt den Schlüssel in die Höhe.

»Unsinn!«, schnappte er. »Schau dir diesen Schlüssel an. Ein einfacher Haken. Ein Weib hätte das Schloss mit einer Kleiderspange aufbringen können. Wir waren zu leichtgläubig.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Ulrich.

»Viel … vielleicht ist er in den Himmel aufgefahren«, stammelte der Kellermeister. »Vielleicht hat ein Engel des Herrn ihn aus seinem Schrein befreit?«

Emmeran, der Sakristan, gab ein Geräusch von sich. »Ich habe von Ferne einen süßen Laut vernommen, der sich wie himmlische Chöre anhörte, und ein seltsames Licht schien dazu …«, begann er.

Ulrich verdrehte die Augen und stellte sich ein wenig abseits.

Prior Remigius schnaubte. »Fredegar will sagen, dass man uns den Schädel gestohlen hat«, sagte er. Seine Augen lagen tief in den Höhlen.

»Hast du jemanden in Verdacht?« Fredegar, immer der Mann für das Nächstliegende.

Remigius schüttelte so lange und heftig den Kopf, dass er wie ein Schläfer wirkte, der sich gewaltsam ins Wachsein rütteln will. »Was weiß ich …«

»Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir einen Reliquienhändler unter unserem Dach beherbergt haben. In diesem Fall werden wir den Schädel niemals wiedersehen«, sagte Fredegar.

»Wie kommst du darauf?«

»Ein gewöhnlicher Dieb hätte das silberne Netz mitgehen lassen.«

Remigius seufzte und zuckte mit den Schultern. Er schien sich für Fredegars Theorie zu erwärmen. »Die Liste der Interessenten fängt wahrscheinlich beim Erzbischof an … von unten gesehen. Seit Erzbischof Rainald seinerzeit die Heiligen Drei Könige nach Köln überführt hat, ist jeder seiner Nachfolger ganz wild auf einen ähnlich gelungenen ›Fund‹.«

»Hast du schon von einem Mann namens Antonius gehört?«, fragte Fredegar und verzog verächtlich den Mund. »Es heißt, er würde lieber eine Todsünde begehen, als eine Reliquie zurückzulassen. Wenn er gerade in der Nähe ist und hinter Albo her war, ist das Rennen gelaufen, bevor es angefangen hat.«

»Antonius?«, fragte Ulrich.

Fredegar machte mit einer seiner großen Hände eine Bewegung in der Luft und ahmte eine Raubvogelkralle nach, die zuschnappt. »Er ist schon bei jedem hohen Herrn des Reichs bedienstet gewesen, wenn es darum ging, die Knochen eines Heiligen heimzuführen.« Dank Bruder Fredegars Betonung erkannte selbst Ulrich, dass im Zuge dieser Heimführungen wahrscheinlich auch so manche Seele eines Lebenden, der sich Antonius in den Weg gestellt hatte, heimgeführt worden war. Er schluckte trocken.

Prior Remigius sagte leise: »Ihr habt gesehen, wie die Brüder reagiert haben. Der Schädel muss wieder her!«

Ulrich warf einen Blick in den leeren Schrein und schlug die Augen sofort wieder nieder. Er spürte, wie sein Mut sank, und schalt sich dafür. Hatte er etwa gehofft, der Schädel sei endgültig verloren? Und dass Remigius sich in das scheinbar Unvermeidliche fügte? Was für ein Sakrileg! Vater, vergib mir armem Sünder … und lass das Ding nie wieder auftauchen. Ulrich begann im Stillen ein Paternoster zu beten, um auf andere Gedanken zu kommen.

Fredegar deutete auf die versammelten Brüder. »Und wer soll ihn suchen? Draußen, in der sündigen Welt? Keiner von uns ist seit Jahren weiter von hier fort gewesen als in einer der Grangien unseres Klosters. Und du weißt so gut wie ich, dass wir nur wenige davon haben, und alle sind ganz in der Nähe. Das Leben da draußen folgt nicht den Regeln von Citeaux, schon gar nicht in der Stadt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass wir diesen Regeln folgen sollten.«

»Ich glaube, ich verstehe.«

Fredegar zuckte mit den Schultern. »Fasse es nicht als Zurechtweisung auf, ehrwürdiger Vater, aber …« Er ließ den Rest des Satzes im Raum hängen. Remigius zerrte an seiner Kukulle und stopfte sie wieder zurück. Er schien nach einer Antwort zu suchen, die er nicht hinausbrüllen musste. Ulrich hatte ihn selten so ratlos und erschüttert gesehen.

»Es war ein Licht wie vom Antlitz eines Engels«, erklärte Emmeran und deutete zur Decke der Kapelle. »Es kam von da und richtete sich direkt auf mich, und ich vernahm ein Singen …«

»Wozu brauchen wir diesen Schädel, ehrwürdiger Vater?«, hörte Ulrich sich plötzlich sagen. »Wir beten zu Jesus Christus am Kreuz, nicht zu einem alten Knochen.«

Fredegar und Remigius sahen Ulrich an. Dieser kam sich plötzlich wie ein Knabe vor, der sich in eine Unterhaltung mischt, die er nicht verstanden hat. »Unsere Gemeinschaft braucht ihn«, erklärte der Prior schließlich mit einem Unterton der Resignation. »Wir tragen die Regeln von Citeaux zwar in unseren Köpfen, aber in unseren Herzen sind sie noch nicht angekommen, wie Fredegar zweifellos bald unserem Mutterkloster berichten muss.«

Fredegar verzog das Gesicht.

Ulrich warf die Hände in die Luft. »Es kann nicht sein«, rief er, »dass unsere Gemeinschaft davon abhängt, ob ein Jahrhunderte alter Totenkopf sein Gebiss aus seinem Kästchen herausbleckt! Wenn doch, haben wir ein größeres Problem als einen verschwundenen Schädel.«

»Ulrich …«

»Ehrwürdiger Vater, verstehe mich nicht falsch, aber wovon reden wir denn? Wir haben das Zeugnis, das uns von Sankt Albos heiligem Leben überliefert ist. Wir haben den Brunnen in unserem Garten, den er hat emporsprudeln lassen, als die Heiden ihn verfolgten. Wir haben unsere schöne Gemeinschaft, und wir haben nun auch die heiligen Regeln der Zisterzienser, die im Übrigen sagen, es ist Götzenverehrung, wenn …«

»Ich kenne die Regeln von Citeaux!«, sagte Remigius.

»Ist es denn nicht ein Sakrileg, einem Körperteil unseres Heiligen die ewige Ruhe zu verwei…«

»Ich glaube, ich habe das seltsame Licht auch gesehen«, sagte Peter, der Kellermeister.

Emmeran riss die Augen auf. »Nicht auch du, Bruder!«

»Und die himmlischen Chöre vernommen …«

»Stimmen wie Honig und Morgentau!«, sagte Emmeran verzückt.

»Ich hörte, wie ein Engel direkt neben mir …«

»… über deinen Aberglauben fluchte«, sagte Ulrich, der sich aus seiner Argumentationskette gerissen fühlte und seinen Zorn über die beiden Mitbrüder nicht bezähmen konnte.

»Du kannst es nicht wissen, denn du hast es nicht vernommen«, erklärte Peter verträumt.

»Und du wirst zwei Psalmen beten für deine Blasphemie gegenüber einem Engel unseres Herrn«, sagte der Prior. Er räusperte sich und zerrte energisch am Vorderteil seiner Kutte. »Wir können uns nicht einfach damit abfinden, dass die Reliquie verschwunden ist. Mag sein, dass dein Glaube stark genug ist, Bruder Ulrich, aber bei den einfachen Brüdern ist es nicht so. Sie brauchen etwas, woran sie ihren Glauben festmachen können. Du hast doch gesehen, wie Konrad reagiert hat.«

»Wir haben das Kreuz, wir haben die Hostie, wir haben …«

»Engelschöre«, sagte Emmeran. »Stimmen wie Honig und Morgentau!«

»Das ist meine Herde. Lieber nehme ich die Strafe des ehrwürdigen Abts für mein Versagen auf mich und gestehe, dass ich es nicht vermocht habe, meine Schäfchen auf den Weg von Citeaux zu führen … als dass ich zulasse, dass diese Gemeinschaft zerfällt! Wir werden den Schädel wiederbeschaffen, und wenn wir ihn aus den Klauen des Verderbers persönlich reißen müssen.« Remigius zerrte seine Kukulle halb hinter dem Leibstrick hervor. »Wer begibt sich auf diese Pilgerfahrt?«

Schweigen breitete sich aus. Ulrich, der sich wegen Remigius’ Zurechtweisung noch immer wie ein gescholtener Novize fühlte, seufzte innerlich. Das Schweigen zog sich so in die Länge, dass es peinlich wurde. Remigius packte seine Kukulle, schien plötzlich aber keine Kraft mehr zu haben, sie noch weiter herauszuzerren.

»Er ist in den Himmel emporgefahren, ehrwürdiger Vater«, flüsterte Emmeran und lächelte entrückt.

»O Wunder …!«, sekundierte Peter.

Fredegar räusperte sich. »Willst du denn wirklich die Brüder in die sündige Welt schicken, auf der Suche nach Sankt Albos Schädel? Sie werden alle miteinander verderben.«

»Nicht die Brüder«, verbesserte Remigius ihn mit leiser Stimme. »Einen Bruder.«

»Einer? Einer allein ist da draußen verloren. Bedenke doch, wie die Welt heutzutage aussieht: gestrandete, verrohte Heimkehrer von der Pilgerfahrt, Kaiser Rotbart und der Herzog von Schwaben tot, der zweite Sohn des Kaisers noch ohne wirkliche Macht, eifersüchtige Barone, die danach trachten, das Vermögen wiederzuerlangen, das sie auf der Pilgerfahrt verloren haben, verlotterte Edelleute, Krankheiten, verderbte Weiber, Gurgelabschneider, Menschen wie Bruder Antonius …«

»Deshalb muss es einer sein, der Erfahrung in der sündigen Welt hat und mit den schurkischen Kräften des Teufels umzugehen versteht.«

Fredegar verschränkte die Arme über der Brust. »Du kannst doch wohl nicht mich meinen, ehrwürdiger Vater!«

Remigius, der zierliche, kleine, kahlköpfige Mann, der in jedem Gespräch um einen Kopf größer wirkte als seine Gesprächspartner, gab den Blick des alten Kriegers zurück. Wieder einmal erkannte Ulrich, dass Remigius tatsächlich sehr klein war. Selbst Fredegars Gestalt, an der Tunika und Kukulle nur so schlotterten, als führe ständig der Wind hindurch, wirkte massig im Vergleich zu ihm. Remigius’ Hände klammerten sich in die unordentliche Tuchfahne, als die seine Kukulle über dem Strick um seine Hüften hing.

»Wen sonst, Bruder Fredegar?« Er wies auf die anderen. In Ulrich stieg Empörung auf, mit Emmeran und Peter in einen Topf geworfen zu werden. Er öffnete den Mund, doch Emmeran kam ihm zuvor. »Engelschöre …«, seufzte der Sakristan.

»Ehrwürdiger Vater, ich bin von Otterberg hierher gekommen, um deinem Vorgänger und dir in der Unterweisung der Mönche in den heiligen Regeln von Citeaux beizustehen. Ich wollte es nicht, aber unser Vater Abt hat Demut von mir gefordert, und ich bin ihm gefolgt, ohne dass ich es in all den Jahren, die ich nun in dieser Gemeinschaft lebe, jemals bereut hätte. Ich leiste auch dir Gefolgschaft, wie die Regeln es gebieten, aber ich werde nicht gegen das Gelübde verstoßen, das ich beim Verlassen der Welt getan habe: Ich kehre nicht mehr dorthin zurück. Nun kannst du mich strafen, wie du es für richtig hältst und wie ich es verdient habe, aber es wird nichts daran ändern, dass ich meinem Schwur treu bleibe.«

Fredegar senkte die Arme an beiden Seiten herab und neigte den Kopf vor Remigius. In dieser Haltung blieb er stehen. Ulrich hatte nie zuvor erlebt, dass der alte Mann so viel an einem Stück geredet hatte. Remigius seufzte.

»Du hast keine Strafe verdient, Bruder Fredegar. Mir wäre lieber, du würdest … ich brauche dich dort draußen.«

»Die Gemeinschaft braucht den Schädel nicht.«

»Wir sind noch nicht so weit.«

»Dann sollten wir diese Möglichkeit dankbar annehmen, um zu lernen und zu wachsen.«

Remigius zerrte seine Kukulle doch noch ein Stück hervor. »Die Gemeinschaft wird auseinander brechen«, zischte er.

»Wird sie nicht. Glaube daran!«

»Doch, sie wird.« Remigius atmete tief aus. »Du hast Recht mit allem, was du gesagt hast, Bruder Fredegar, und doch rufe ich: Herr vergib mir, die Gemeinschaft wird daran zerbrechen!«

Fredegar gab Remigius’ Blick zurück. Ulrich, der noch immer neben den beiden stand, als wäre er lediglich ein architektonischer Bestandteil der Kapelle, fühlte die Blicke, als würden sie seine Eingeweide zusammenpressen. Remigius war seit zwei Jahren Prior; seine erste Amtshandlung hatte darin bestanden, an der Tür zu der kleinen Kammer neben der Tagestreppe, die den Mönchen das Parlatorium und dem Prior das Auditorium war, die zweite Regel des Benedikt anzubringen (Remigius hatte sie mit eigenen Händen geschrieben und illuminiert, während der Nacht vor seiner Weihe, in der er sich auf das Amt vorbereitete): Wisse, dass die Verantwortung auf den Hirten fällt, wenn es bei seinen Schafen einen Missertrag gibt.

Prior Remigius, der gute Hausvater seiner kleinen Gemeinschaft. Wenn sie scheiterte, scheiterte Remigius’ ganzes Leben.

»Ich kann nicht selbst gehen, das weißt du, Bruder Fredegar. Nicht in einer Zeit wie dieser. Wenn ich die Gemeinschaft jetzt allein lasse …«

»Ich gehe«, platzte Ulrich heraus.

Schweigen.

Langsam wurde Ulrich sich bewusst, was er da gesagt hatte.

Remigius starrte ihn an. Fredegar wandte den Kopf. Ulrich spürte den leeren Schrein zu seiner Linken und die Schatten in den Augen des Schädels so deutlich, als wäre Sankt Albo immer noch bei ihnen.

»Ich gehe!«, bekräftigte Ulrich und bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen.

Remigius starrte ihn immer noch an.

»Unsinn«, sagte der Prior dann und wandte sich Fredegar zu. »Im Namen des Herrn, der da sagte: ›Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, aber Dein Wille geschehe‹, bitte ich um deinen Gehorsam, Bruder Frede …«

»Nein, warte!« Ulrich hob die Hände. »Du darfst nicht verlangen, dass Fredegar gegen sein Gelübde verstößt. Ich nehme die Bürde freiwillig auf mich!«

»Bruder Ulrich, ich erkenne deine Begeisterung für die Rettung unseres Heiligen an, umso mehr, da niemand besser weiß als ich, wie sehr du dich immer dafür eingesetzt hast, dass die Reliquie beerdigt wird und wir den gemeinen Brüdern beibringen, ihren Glauben nicht an Symbolen festzumachen.« Remigius’ Augen funkelten. »Um nicht zu sagen, ich weiß, wie sehr du Sankt Albos sterbliche Reste gehasst hast.«

»Ehrwürdiger Vater, ich …«

»Erzähl mir nichts, Bruder Ulrich. Ich bin der Schäfer dieser Herde und erkenne, was meine Schäfchen bedrückt. Du bist nicht der Richtige für diese Aufgabe. Fredegar wird sie übernehmen.«

»Nein!«, rief Ulrich. »Du machst einen Fehler.«

»Ich danke dir für die Bereitschaft, Fredegar das Kreuz abzunehmen, Bruder Ulrich, aber …«

»… auch der Herr Jesus Christus hat es einen anderen tragen lassen!«

»Das reicht jetzt«, befand Remigius. »Ulrich, ich erinnere dich an die Geschichte, als alle Brüder in die Stadt ausschwärmen mussten, nur weil du …«

»Diese Geschichte ist maßlos übertrieben worden!«

»Es ist ein Zeichen …«, sagte Fredegar plötzlich.

Remigius schloss die Augen. »O bitte, nicht auch noch du.«

»Ja, Bruder, ein Zeichen!«, jauchzte Emmeran.

»… das für Bruder Ulrich gemeint ist«, beendete Fredegar unbeeindruckt seinen Satz.

»Was soll das heißen?« Ulrich stellte fest, dass er und Remigius gleichzeitig gesprochen hatten.

»Ich bin der Ansicht, hier zeigt sich Gottes Plan am Werk«, erklärte Fredegar. »Der Allmächtige hat Ulrichs Angst vor der Reliquie erkannt, und er will, dass ihr euch aussöhnt. Wie könnte das besser geschehen als indem du ihn aus der Diaspora der Habgier und Gewinnsucht befreist? Der Herr hat den schnöden Dieb als Werkzeug benutzt, um dich und den heiligen Albo einander näher zu bringen, Ulrich!«

»Aber das ist …«

»… vollkommen im Einklang mit den heiligen Regeln von Citeaux, ehrwürdiger Vater.«

»Er wird den Schädel niemals finden. Er hat seit Jahren die Nase nicht aus unserem Kloster hinausgestreckt!«

»Es kommt auch nicht darauf an, ob der Schädel gefunden wird oder nicht.«

»Natürlich kommt es darauf an! Der Schädel ist das Symbol für unsere Gemeinschaft und muss erhalten bleiben.«

Remigius und Fredegar starrten sich an. Ulrich, der seine Zunge nur mit Mühe bezähmte, weil er wusste, dass jedes Wort von seiner Seite Remigius’ Ablehnung nur weiter gefördert hätte, sah, dass die Hände des Priors zitterten. Armer Remigius, dachte er, du hast Angst, dass dein Lebenswerk vom Erfolg eines Versagers wie mir abhängt. Herr, hilf mir. Ob ich auch durch ein dunkles Tal wandle, du bist bei mir, das weiß ich wohl; dennoch fürchte ich mich. Wie um alles in der Welt konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, diese Aufgabe schultern zu wollen? Herr, gib, dass Remigius sich nicht von Fredegar überzeugen lässt.

Laut hörte er sich sagen: »Ich bitte um die Absolution, ehrwürdiger Vater, damit ich unbelastet losziehen kann.«

Remigius zerrte hilflos an seiner Kutte.

»Das ist ein schlechter Traum«, murmelte er.

Kapitel 3

Im Traum war da immer die Hand. Sie presste sich auf Barbaras Mund. Sie roch nach Schweiß und nach all den intimen Orten, an denen sie sich in den letzten Wochen aufgehalten hatte, und sie schmeckte bitter nach Leder und Metall. Barbara versuchte zu schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Sie hörte ihren eigenen Atem in der Nase pfeifen, spürte ihren Herzschlag und erkannte, wie die Panik in ihr hochschwappte und Todesangst von ihr Besitz ergriff.

An dieser Stelle wachte Barbara meistens auf. In den ersten Wochen hatte sie festgestellt, dass sie doch geschrien hatte; es gab keine Traumhand, die ihre wirklichen Entsetzensschreie hätte dämpfen können. Mittlerweile hatte sie sich das Schreien abgewöhnt. Vielleicht lag es daran, dass man sogar gegen die Wiederkehr der schrecklichsten Erinnerungen abstumpfte. Sicherlich halfen auch die finsteren Blicke Walters, die sie spürte, wann immer er in ihre Nähe kam, dass Barbara sich zusammenriss. Die Kratzer in Walters Gesicht waren fast verheilt, besser jedenfalls als die Bisswunde in seinem Handballen. Er machte einen weiten Bogen um Barbara, und sie um ihn. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihre Schwester davon überzeugt hatte, dass sie, Barbara, aus dem Haus zu weisen sei. Dann würde ihr langer Absturz beginnen …

… nur dass sie ihn sehr kurz gestalten würde. Sie würde die Klinge aus dem Körper des Ungeheuers ziehen und das letzte peinvolle Aufflackern des Lebens in seinen Augen genießen, und mit seinem Verlöschen würde sie sich die blutige Klinge selbst in die Kehle stoßen. In ihren kurzen, zornigen Gebeten jede Nacht bat sie den Herrn nur darum, Walters Geduld so lange anhalten zu lassen, bis Iver (das feige Aas!) wieder auftauchte und ihr den Weg weisen würde – und sie das Ungeheuer fand und töten konnte. War sie erst obdachlos, würde man sie schnell aus der Stadt weisen, und dann wäre ihre Rache unmöglich.

Rache …

Manchmal spürte sie die Hand auch außerhalb des Traums, zwinkerte die Tränen des Hasses, der Demütigung und der Trauer fort und biss die Zähne zusammen, bis die Hand wieder verschwunden war.

Sie hatten sie zusehen lassen. Die eine Hand auf ihrem Mund hatte Barbara aufrecht gehalten; die andere Hand in ihrem Mieder hatte verhindert, dass sie sich losreißen konnte. Dann hatten sie das Versteck des Säckchens aus Gregor herausgefoltert. Er hatte einzulenken versucht. Sie hörte noch sein entsetztes: »Tut ihr nichts, sie weiß nichts!«, und eindringlicher als sein Flehen die Stimme des Ungeheuers: »Ich glaube, dass du uns zuerst sagst, was du weißt, mein Freund.« Dann hatten die Schreie eingesetzt. Sie hatten Barbara nicht daran hindern können, die Augen zu schließen; aber die Ohren hatte sie sich nicht zuhalten können. Gregor schrie und schrie …

Wenn der Traum sie so weit in die Erinnerung führte, schrie auch Barbara. Kein ärgerlich brummender Walter und keine zärtliche Umarmung ihrer Schwester würde dies jemals ändern können, und auch kein noch so angestrengtes Unterdrücken ihrer Gefühle.

»Und was ist mit der Metze?«, hatte die hechelnde Stimme hinter ihrem Rücken gefragt, und die Hand in ihrem Mieder hatte zu kneten angefangen. »Wir könnten sie doch …«

»Töte sie oder lass sie leben, ganz wie du willst«, hatte das Ungeheuer erwidert. »Aber mach schnell.«

Das Ungeheuer war Barbaras letzter Anblick gewesen, bevor die Faust an ihre Schläfe krachte und die Welt fürs Erste auslöschte.

Walter und Hildegard fuhren auseinander, als Barbara hereinkam. Sie stellte den Korb mit den Lebensmitteln, die sie auf dem Markt besorgt hatte, ächzend auf den Boden. Die Badestube war um diese frühe Stunde noch nicht in Betrieb, doch Hildegard hatte bereits Tücher in die beiden lecken Zuber gebreitet, und der Herd für das heiße Wasser verbreitete eine ungesunde, feuchte Hitze überall dort, wo die Zugluft sie nicht davonwehte. Barbara brach augenblicklich der Schweiß aus. Walter und Hildegard blickten schuldbewusst drein; ihr Schweigen kündete beredt davon, dass sie sich soeben noch in eifrigem Gespräch befunden hatten, und wer der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war. Barbara hörte das Knacken des Herdes und von oben das Husten der drei Unseligen, die sich in die medizinische Obhut Walters begeben hatten und sich nun das einzige Bett in der zugigen Kammer auf dem Dachboden teilten.

»Die alte Griet sagt, es ist das letzte Mal, dass sie dir auf Pump verkauft«, erklärte Barbara und wies auf den Korb.

»Die Alte soll sich nich’ so anstellen«, brummte Walter. Er warf einen Blick zur Decke. »Wenn sich wieder ’n Knecht bei ihrem Gretchen ansteckt, wer treibt’s ihm dann aus, ohne zu den Schöffen zu laufen, wenn nich’ ich?«

»Barbara kann doch nichts dafür«, sagte Hildegard.

»Barbara kann nie was dafür.«

»Ich bin sicher, wenn du oder ich gegangen wären, die Griet hätte uns gar nichts gegeben. Sei froh, dass stattdessen Barbara auf ’n Markt ist.«

Barbara schwieg. Tatsächlich hatte ihre Schwester den Kern getroffen, doch Griets Großzügigkeit hatte einen Stachel gehabt: »Ach Gottchen, Kind, dir geb ich was. So wie ’se dir mitgespielt haben … den guten Gregor totgeschunden und was noch alles. Und wer kann schon sagen, was ’se dir angetan haben, als du nich’ bei Sinnen warst. Weiß man’s?« Griets Tochter, Margarete, hatte sie mitleidig angelächelt; Barbara hatte die Bemerkung hinuntergeschluckt, dass die Kleine ihr Mitleid lieber für sich behalten und die Alte sich mehr um ihre Tochter sorgen solle. In Margaretes Gesicht prangte ein schillerndes Veilchen, das vor zwei Tagen noch nicht da gewesen war, und die Pusteln um ihre Mundwinkel zeigten deutlich, dass derjenige, der ihr das Veilchen verpasst hatte, auch nicht ganz unversehrt aus ihrem Bett gekommen war. Wahrscheinlich würde der Betreffende sich in den nächsten Tagen bei Walter einfinden und sich dessen zweiwöchiger Schwitzkur unterziehen, in der Hoffnung, die unkeusche Krankheit damit loszuwerden. Barbara hatte sich lediglich bedankt und versprochen, Walter auf seine Schulden aufmerksam zu machen.

Früher hättest du das Getriefe der alten Hexe zurückgewiesen, überlegte sie, während sie den Korb nach Hause schleppte. Kann es sein, dass all deine Kraft zerbrochen ist?

Walter stapfte heran. Barbara trat einen Schritt zurück, als er nach dem Korb griff, ihn aufhob und davontrug. Hildegard glättete eines der Tücher besonders sorgfältig. Barbara beobachtete ihre Schwester. Wieder breitete sich Schweigen aus. Sie hörte Walter den Verschlag aufreißen, der am jenseitigen Ende des Erdgeschosses als Vorratskammer diente. Hildegard zerrte und zupfte an dem Laken, bis das Schweigen lauter wurde als jedes Geschrei.

»Was willst du mir sagen?«, fragte Barbara schließlich.

Hildegard seufzte, zupfte noch ein letztes Mal eine Falte aus dem Tuch und lehnte sich schließlich gegen den Zuber. »Komm her«, sagte sie und streckte die Arme aus. Barbara schmiegte sich in die Umarmung ihrer Schwester. Ihr Herz klopfte laut. Hildegard fuhr ihr übers Haar.

»Das hier is’ doch nichts für dich«, sagte sie endlich. »Dauernd umgeben von den kranken Kerlen. So lang denen die Pfeife tropft, verfluchen sie uns alle miteinander als teuflische Weiber, die ihnen die Krankheit angehängt haben; wenn sie gesund sind, wollen sie dir sofort unter ’n Rock. Und wenn das nich’ is’, regt sich bestimmt irgendein scheinheiliger Frömmler auf, und du kannst dich vom Rat verhören lassen und musst noch dankbar sein, wenn man dir dabei nich’ die Glieder ausreißt.«

»Ich habe kein Zuhause mehr außer dem hier …«

»Du musst wieder auf die Beine kommen, Kleine. Gregor lebt nich’ mehr, und das is’ schlimm, aber nu’ isser tot, und es wird Zeit, dass du damit zurechtkommst. Wir haben jetzt Mariä Himmelfahrt durch, und geschehen isses nach Karfreitag. Das Leben geht weiter. Und erzähl mir nich’, dass in deinem Herzen kein Platz war außer für ihn, den alten Sack …«

»Ich war seine Frau und habe geschworen, ihm in allem beizustehen. Stattdessen habe ich ihn sterben gesehen und konnte ihm nicht helfen. Reicht das nicht?«

»Is’ ja gut, Kleine, is’ ja gut.« Hildegard seufzte. »Ich meine ja bloß. Wenn Walter abkratzen würde, was Gott der Herr verhüten möge, würd ich das Ding hier einfach weiterführen. Ich würde mir vom Rat die Erlaubnis geben lassen und den Kerls selber den Sud eintrichtern, bis denen der Dampf zu den Ohren rauskommt.«

»Ich kann Gregors Geschäfte nicht weiterführen. Sie haben ihn umgebracht!«

»Nee, nee, die alten Knochen zu verhökern, wo die feinen Herren so scharf drauf sind, is’ nichts für dich … das is’ überhaupt nichts für unsereinen. Gregor hätt auch die Finger davon lassen sollen. Er wusste doch gar nich’, worauf er sich einlässt. Aber ich red mich leicht, ich hab ja was, das mich über die Runden bringt, ob wir nun bei der alten Griet in der Kreide stehen oder nicht.«

»Obwohl das hier doch ›nichts ist‹?« Barbara lächelte, ohne es zu wollen.

»Für so ’n junges Ding wie dich nich’. Ich bin ’ne alte Kuh, bei mir is’ das anders.«

»Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.«

»Ja, und das is’ mehr als genug! Gott der Herr hat uns Weibern die schöneren Gesichter gegeben, aber er hat auch dafür gesorgt, dass sie uns schnell wieder genommen werden. Fang wieder zu leben an, Kleine, bevor’s zu spät is’!«

»Keine Angst, große Schwester, ich habe mich nicht aufgegeben.«

»So?«

»Nein.« Ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen, dachte Barbara. Für die reicht meine Kraft noch.

»Und was is’ mit den schlechten Träumen? Wann hören die auf?«

Barbara löste sich aus der Umarmung Hildegards und nahm deren Hände. Sie waren rot und rau. Barbara nahm an, dass die Hände ihrer Mutter sich genauso angefühlt hätten, wenn Gott ihnen beiden die Gelegenheit zum Händehalten gegeben hätte.

»Hat Walter gesagt, du sollst mit mir reden?«

»Du musst ihn verstehen, Kleine. In der Schänke haben se’ ihn ausgelacht wegen seiner Visage, und seine Hand heilt so schlecht, dass ich mir selber Sorgen mache.«

»Ich habe mich doch schon entschuldigt. Ich hab’s ja nicht absichtlich getan …«

»Weiß ich doch, weiß ich doch. Aber du hast so schrecklich geschrien … und das gerade in der Nacht, nachdem Walter wieder mal in der Schöffenstube antanzen musste. Er hatte Angst, dass man dich bis nach draußen hört und dass dann die Schwierigkeiten erst anfangen.«

»Hildegard, du weißt doch, was sie mir …«

»Er hätt dir nich’ den Mund zuhalten sollen, hast ja Recht. Aber was sollte er machen? Und dass du so auf ihn losgegangen bist, war auch nich’ richtig.«

»Ich habe doch gar nicht gewusst, was ich tue. Ich war doch noch mitten im Traum.«

Hildegard zog ihre Schwester wieder zu sich heran und hielt sie fest.

»Arme Kleine«, brummte sie, »arme Kleine, was machen wir nur mit dir? So müde siehst du aus. Leg dich hin und schlaf, bevor hier der Rummel losgeht.«

»Glaub mir, Hildegard, wenn ich wüsste, dass ich aufwachen kann, bevor die Träume kommen – ich würde ein ganzes Jahr lang schlafen, und nicht mal die Posaunen des Jüngsten Gerichts würden mich wecken.«

Kapitel 4

Das Rumoren der Brüder weckte Rinaldo. Er blinzelte in die Dunkelheit. War es schon Morgen? Er hatte doch kaum geschlafen! Rinaldo horchte mit jener Verwirrung in die Finsternis, die jeder kennt, der sich zur Unzeit aus dem Schlaf gerissen fühlt. Maledetto, so einen Lärm hatten die Mönche bis jetzt noch nie vollführt! Wurde das Kloster angegriffen? Rinaldo stellte fest, dass er zu erschlagen war, um sich darüber aufzuregen.

Die wievielte Nacht war das nun? Die vierte? Fünfte? Der Gleichklang des Lebens hinter den Klostermauern (der nur heute nicht zur Geltung zu kommen schien) hatte Rinaldos Zeitempfinden schon gelähmt, oder lag es vielmehr daran, dass er gar nicht wissen wollte, wie lange er schon hier lag und die Tage vertrödelte und darauf wartete, dass die Mönche mit dem Gesetz der Gastfreundschaft für eine Nacht Ernst machten und ihn vor die Tür setzten?

Langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass es tatsächlich noch mitten in der Nacht war. Irgendetwas musste geschehen sein. Die Klosterbrüder bewegten sich sonst schweigend; das Einzige, was man von ihnen hörte, war das Klatschen ihrer Ledersandalen. Nicht dass sie unfreundlich wären, madonna, nein. Sie schienen nur einer Regel zu folgen, die da lautete: Sprich nicht mit den Menschen von draußen. Rinaldo nahm es ihnen nicht übel; er hatte genug zu denken, als dass er auch noch Gespräche mit einem mageren Klosterbruder hätte führen wollen über die Lehren des Aristoteles, oder dass man Obstbäume am besten bei Neumond schnitt, oder warum er nicht selbst dem sündigen Leben entsagte und zum Dienst an Gott in eine Klostergemeinschaft eintrat.

Mit dem Erwachen kam der leise Schmerz, der Rinaldos hartnäckiger Begleiter während des Tages war. Der gerissene Sattelgurt und der scheinbar harmlose Sturz vom Pferd vor ein paar Jahren … damals hatte er sich noch Sorgen gemacht, ob die Dame, die ihn begleitet hatte, unverletzt geblieben war. Das war der Fall gewesen, und sie hatten darüber gelacht und den Umstand, dass sie übereinander im Gras zu liegen gekommen waren, gleich genutzt. Nur dass sich in den Wochen darauf ein schleichender Schmerz in Rinaldos Lenden bemerkbar gemacht hatte, der an manchen Tagen kaum zu spüren, an anderen aber so schlimm war, dass Rinaldo es nur gekrümmt auf einer weichen Unterlage sitzend aushielt. Das Lederkorsett, das er bei einem Sattler in Siena in Auftrag gegeben hatte, half (es reckte seine kleine, schmale Gestalt sogar noch in die Höhe, was ein zusätzlicher Vorteil bei den Damen war), doch im Schlaf konnte er es nicht tragen, und heute schien wieder einer jener Tage zu werden, an denen der Schmerz stärker als gewöhnlich an die Tür klopfte.

Rinaldo horchte in die Stille des Schlafraums unter dem Dach des Hospizgebäudes. Bis gestern hatten die Pilger sich noch gedrängelt und zum Teil zu zweit ein Lager geteilt – heute lag Rinaldo ganz allein unter den Dachbalken. Ihn hatte keiner von den Pilgern gefragt, ob er sich zu ihm legen dürfe. Dabei waren ein paar Frauen darunter gewesen, und als vollendeter Ehrenmann hätte er ein hilfloses Weib natürlich niemals abgewiesen, hahaha … doch sie waren ihm aus dem Weg gegangen und hatten ihn nicht einmal angesprochen. Vielleicht hatten sie ihn für einen Muselmanen gehalten, mit seiner dunklen Haut, dem dichten Schopf schwarzen Haars, das sich wie eine Helmzier auf seinem Scheitel sträubte, und dem schmalen Sarazenenbart um sein Kinn, den er sich aus Trotz gegen alle und niemanden so rasierte. Rinaldo der Aufmüpfige. Rinaldo, der Mann, der immer irgendetwas anders machen musste als alle anderen. Rinaldo, dem man nicht gänzlich trauen konnte und von dem man sich immer ein bisschen früher verabschiedete, als man ursprünglich geplant hatte … Rinaldo der Heimatlose, Rinaldo der Freundlose, Rinaldo der Einzelgänger in einer Welt, in der Absonderung gleichbedeutend mit Absonderlichkeit war und in der Gefährten nicht nur für ein Gefühl der Gemeinschaft sorgten, sondern buchstäblich das Überleben sicherten auf den gefährlichen Straßen. Rinaldo hatte bis jetzt allein überlebt; er steckte den Kopf für keinen in die Schlinge. Das musste aber nicht heißen, dass diese Lebensführung ihm gefiel.

Geld? Nein.

Freunde? Nein.

Gönner? Nein.

Geliebte? Nein, aber viele gebrochene Herzen auf dem Weg hinter sich.

Zukunftsaussichten? Machst du Witze?

Rinaldo seufzte in sich hinein. Er war so sicher in einer Sackgasse gelandet wie eine Ratte, die in eine Latrine gekrochen ist. Die Stadt … die nahe, große Stadt. Da hätte sich bestimmt etwas für ihn ergeben, und wenn er nur in einem der teureren Badehäuser die Laute geschlagen und schlüpfrige Lieder gesungen hätte, um die Zögernden zu einem Techtelmechtel mit einer Bademagd und die von einem solchen Zurückgekehrten zu einer neuen Runde zu überreden. Immerhin hatte er mit dieser Art Beschäftigung mehr als die Hälfte seines Sängerlebens bestritten, und es gab Schlimmeres (zum Beispiel, in einem Straßengraben zu verhungern). Aber die Stadt war ihm verschlossen. Die Bürgersleute hatten Scharen abgerissener, stinkender, kranker, nörgelnder Pilger eingelassen, aber ihn, Rinaldo, hatten sie an drei Stadttoren abgewiesen! Dann hatte er erst einmal aufgegeben, damit seine Person bei den Stadtwachen nicht zu bekannt wurde, und war einer Gruppe von Reisenden, die Angst vor der Stadt gehabt hatten, hierher gefolgt.

Hätte er in Mailand bleiben sollen? Die Stadt hatte förmlich gebrummt vor Aktivität. Der Wiederaufbau vieler Gebäude, die bei der Belagerung durch Kaiser Rotbart zerstört worden waren, war noch in vollem Gange, und die Milanesen selbst hatten die Schrecknisse der Belagerung, von denen ihre Großeltern erzählten, zwar nicht vergessen, schienen aber förmlich angestachelt, das Leben zu genießen. Wer konnte schon sagen, wann der nächste selbstherrliche Gebieter über das Heilige Römische Reich kam und Missfallen über die freien reichen Handelsstädte empfand.

Jedenfalls war Rinaldo in Mailand zu einer Art lokaler Berühmtheit aufgestiegen. Manche Männer waren ins Badehaus gekommen, um ihn spielen und singen zu hören – eine der Hübschlerinnen zu beschlafen, war beinahe schon zur Nebensache geworden –, und der Bordellwirt hatte Rinaldos Einsatz großzügig vergolten.