Im Schatten des Mangrovenbaums - Liv Winterberg - E-Book

Im Schatten des Mangrovenbaums E-Book

Liv Winterberg

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gestrandet an Sumatras Küste Anfang des 19. Jahrhunderts brechen Lillian, ihr Mann Joseph, Handelsagent der East India Company, und der Botaniker Elliot Wilberforce von London nach Singapur auf. Die Reise endet in einer Katastrophe, denn auf hoher See geht das Schiff in Flammen auf. Mit nichts als ihren Kleidern am Leib finden sich Lillian, Joseph, Elliot und die Schiffsmannschaft an der kaum besiedelten Westküste Sumatras wieder – und vor der schwierigen Aufgabe, sich durch den Dschungel zurück in die Zivilisation zu kämpfen. Unter den extremen Bedingungen kommt es zu einem unerwarteten Rollentausch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 386

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Liv Winterberg

Im Schatten des Mangrovenbaums

Historischer Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Die Hoffnung ist es,

die die Liebe nährt.

Ovid, *43 v. Chr., †17 n. Chr., römischer Dichter

Personenübersicht

Lillian Markers, 25 Jahre, verheiratet mit

Joseph Markers, 39 Jahre, Handelsagent der East India Company, in zweiter Ehe mit Lillian verheiratet. Seine erste Frau Alice starb in Singapur

Elliot Wilberforce, 33 Jahre, Botaniker, bester Freund von Joseph

Ruth Lloyd, Schwester von Joseph

Kapitän Johnson, Kapitän der HMS Maryanne

Thomas, auch der Pestküsten-Mann genannt, Matrose der HMS Maryanne

Henrik, auch Goldlöckchen genannt, Matrose der HMS Maryanne

Ed und Andrew, Marinesoldaten, die im Auftrag der East India Company die HMS Maryanne begleiten

Andris, ein Malaie, der in Singapur im Hause des Ehepaares Markers arbeitet

Bintang, die Frau von Andris, Köchin im Hause der Markers

Radja Sulang, Oberhaupt eines Batak-Dorfes im Norden Sumatras

Panjang, er lebt in einem Batak-Dorf im Norden Sumatras

Aninda, sie lebt in einem Batak-Dorf im Norden Sumatras

 

Der Roman wird im Anhang um ein Glossar und ein Nachwort zum historischen Hintergrund ergänzt.

Prolog

Sie hob den Kopf und sah Haare.

Offensichtlich hatte ihr Zopf sich gelöst.

Dunkel schienen die Strähnen über und neben ihrem Kopf zu schweben. Dahinter, weit über sich, konnte sie – überraschend hell – die Wasseroberfläche erkennen.

Sie schob die Arme empor, als wollte sie sich in die Höhe ziehen, und spürte, dass diese kleinen Bewegungen nichts gegen die Wassermassen auszurichten vermochten. Über- und Unterrock hatten sich in ein Geflecht aus Stoffbahnen verwandelt, das ihre Waden fest umschloss und jede Bewegung nahezu unmöglich machte. Luftblasen quollen aus ihrem Kragen hervor und trieben dem Licht entgegen, während sie weiter in die Tiefe sank.

Warum hatte ihr nie jemand das Schwimmen beigebracht? Sie sah die zahlreichen Monate ihres Lebens, die sie an der Küste verbracht und in denen sie stets das Wasser gemieden hatte, im blaugrauen Halbdunkel an sich vorbeiziehen.

Für einen Moment riss sie den Blick vom Licht los und ließ ihn schweifen, ob sie irgendwen entdecken konnte. War noch irgendwer ins Wasser gestürzt? Irgendeiner der Männer des Schiffes, der ihr vielleicht per Handzeichen mitteilen würde, was zu tun sei?

Doch um sie herum war nichts.

Nicht einmal Fische.

Unvermittelt spürte sie die Kälte des Wassers. Gleichzeitig begriff sie, dass sie die Luft nicht mehr ewig würde anhalten können.

Und das war der Augenblick, in dem die Wut sie überkam. Rasende Wut, die siedend heiß durch ihren Leib schoss. Abrupt stieß sie die Arme in die Höhe und strampelte die Beine aus dem Stoffgewirr, bis sie kraftvoll ins Leere traten.

Nein!, schrie es in ihr. Das kann nicht alles gewesen sein, so wird mein Leben nicht enden!

 

Vom großen Auftritt der Liebe

Sicher, es ist eine berechtigte Frage, wie Lillian Markers in eine derart missliche Lage geraten konnte. Aber trotz aller Panik, die sie durchlebte, war es ein erhebender Moment, an den zumindest ich mich gern erinnere. Denn Hoffnung äußert sich nicht immer milde, gelegentlich ist sie auch schmerzhaft und wild.

Bevor ich mich an einer Erklärung dafür versuche, warum eine junge Frau in den Tiefen des Indischen Meeres um ihr Leben kämpft, möchte ich gleich vorweg anmerken, dass dieses Unglück einer gehörigen Portion Naivität geschuldet war. Es ist generell erstaunlich, wie naiv die Menschen sind. Immer ist es die Liebe, auf die sie allesamt hoffen.

Auch Lillian Markers war dieser irrigen Annahme erlegen und hatte sich auf eine Reise über die Weltmeere gemacht.

Wäre sie nur in London geblieben, hätte sie dort nur weiterhin von der Liebe geträumt, die dem Leben einen Sinn geben und selbst die Ewigkeit überdauern soll. Die Grenzen zu überwinden, zu retten und zu heilen vermag – ich kann kaum aufzählen, was noch alles in sie hineingedeutet wird. Was waren das für Zeiten, als das Zusammenleben von Mann und Frau noch ohne diese gefühlige Aufladung auskam!

Warum erkennt ihr nicht, wie wankelmütig diese allseits herbeigesehnte Liebe ist? Wie schnell sie sich abwendet, wenn es ihr langweilig wird? Die Liebe, sie bevorzugt den großen Auftritt, in die Niederungen des Alltags will sie sich selten hinablassen. Jeder Mensch, der wahrhaft liebt, wird wissen, wie viel Anstrengung es kostet, dieser flatterhaften Gefühlswallung ein Fundament zu schaffen, um sie im Alltag zu bewahren.

Nicht dass jetzt der Eindruck entsteht, ich wolle hier einen Abgesang auf die Liebe halten oder ihre tatsächlich immense Kraft schmälern. Wolle die gelungenen Seiten ihres Schaffens nicht anerkennen, nein, dem ist nicht so.

Einig sind wir uns sicherlich in der Feststellung, dass denjenigen Erfüllung beschieden ist, denen sie ihre dauerhafte Gunst schenkt.

Doch seien wir ehrlich: Wie oft tut sie das?

Sehen wir uns nur die Weltliteratur an – wie oft endet die Liebe als Desaster?

Im Drama?

Gar tödlich?

Man sagt, die Liebe mache blind, ich kann euch versichern: Sie selbst ist blind!

Nicht im wörtlichen Sinne, eher auf eine übertragene Weise, denn sie würde nie sehen, welche Schneisen der Verwüstung sie das eine oder andere Mal gezogen hat und auch heute noch immer wieder zieht. Sich jetzt zurückzulehnen und zu sagen, diese Blindschleiche sei für das Elend, das sie oft hinterlässt, ganz allein verantwortlich, ist allerdings zu kurz gegriffen.

Denn das Elend ist hausgemacht.

Von euch und euren Erwartungen, versteht ihr?

Ihr Menschen erwartet, dass euch alles in den Schoß gelegt wird. Und was wollt ihr dafür tun?

Nichts!

Ihr erwartet Großartigkeit, Vollkommenheit und Einzigartigkeit von der Liebe. Wenn sich der anfängliche Rausch anders als erhofft entwickelt – sich meist als banaler, kleiner und enttäuschend entpuppt –, dann wendet ihr euch mir zu. Nicht wenige liegen dann auf Knien vor mir und flehen mich an.

Mich, die Hoffnung.

Und ich soll es dann richten.

Manchmal bin ich es leid.

Ich kann dieses Liebesgesäusel nicht mehr hören.

 

Gut, das war jetzt ein wenig hart formuliert, aber auch ich habe mal einen schlechten Tag.

Natürlich gibt es Momente, in denen die Liebe und ich Wundervolles bewirken. Im Kleinen wie im Großen. Aber meist bin ich es, die ihr den Weg weisen muss, während sie – aufpoliert und blendend schön – herumrauscht. Die Zusammenarbeit mit dieser Gefühlswallung ist derart anstrengend, davon kann sich niemand eine Vorstellung machen. Die Lorbeeren erntet aber immer sie. Von mir erwartet sie, ihr Erscheinen mit all meinem Können vorzubereiten. Wenn ihr Auftritt misslingt (oh ja, Pfusch ist bei ihrem Wirken keine Seltenheit), habe ich dafür zu sorgen, dass noch ein wenig Hoffnung bleibt, damit die Verzweiflung nicht zugreift. Denn die Liebe kann diese Widersacherin nicht ausstehen. Weil sie ebenfalls mächtig ist. Sobald jedoch die Verzweiflung mal schneller ist als ich, darf ich mir anhören, ich könnte mich ein wenig mehr ins Zeug legen, anstatt herumzunörgeln.

Ich und herumnörgeln!

Nur weil ich die Dinge realistisch betrachte!

Auch das kann die Liebe nicht ausstehen.

 

Also muss selbst im gebrochenen Herzen noch ein Türchen offen bleiben, damit unsere Schöne, wenn es ihr passt, noch einmal vorbeischauen kann.

Mir ist klar: Ich muss konkreter werden, um das Zusammenspiel mit der Liebe zu verdeutlichen. Mit der eingangs erwähnten Lillian Markers habe ich ein Beispiel herausgegriffen, das nicht schon auf Tausenden Papierseiten ausgebreitet und mit zahlreichen Tränen eifriger Leserinnen übergossen wurde.

Wir werden also, wenn es euch recht ist, auf jene Zeit schauen, in der die aus rationalen Beweggründen geschlossene Vernunftehe zunehmend verdrängt und die Heirat zu einem neuen Betätigungsfeld der Liebe wurde. Aber auch ihr unterlaufen – wie bereits angedeutet – hin und wieder Fehler. Und bei Lillian und ihrem Gatten leistete sie sich einen erheblichen.

Doch gehen wir zurück bis zum Anfang.

 

Von der Maßlosigkeit

In den Jahren von 1791 bis 1800 wurden in London 18767 Menschen geboren. Pro Jahr waren das also gut 1876, womit im Schnitt fünf Kinder pro Tag das Licht der Welt erblickten. Eine mickrige Zahl, mag jetzt die eine oder der andere denken, aber seinerzeit lebten nur eine Million Menschen in der Hauptstadt des Britischen Empires.

Der 21. Februar 1793 sticht aus den Geburtslisten der dreiundneunzig Kirchspiele heraus. Jener Tag, an dem in London sechzehn Kinder geboren wurden, von denen zwölf Mädchen waren. Zehn der zwölf Mädchen entstammten einfachen Verhältnissen oder jenen Kreisen, die wir heute als bürgerliche Mittelschicht bezeichnen würden. Sieben von ihnen sollten das fünfte Lebensjahr nicht erreichen:

Zwei raffte eine Scharlachepidemie dahin, die anderthalb Jahre später durch die Gassen dieses an der Themse gelegenen Molochs jagte und reichlich Kinder mit sich riss.

Ein weiteres erlag einer anderen Kinderkrankheit, eines starb an Wundstarrkrampf.

Ein Mädchen, ein ohnehin sehr zartes Wesen, erkrankte an einem Durchfall unbekannter Ursache und verreckte elendig.

Nicht minder grauenvoll war der Tod einer Kleinen, über die eine Postkutsche hinwegrollte.

Der Siebten war es vorherbestimmt, bei einem Hausbrand das Zeitliche zu segnen. Leider konnten die Flammen von den Nachbarn erst eingedämmt werden, nachdem das Kohlenmonoxid das Schicksal der schlafenden Familie besiegelt hatte, aber immerhin früh genug, um ein Übergreifen auf umstehende Häuser zu verhindern.

Das Leben jener eingangs erwähnten Lillian entwickelte sich unter gänzlich anderen Umständen. Sie war eines der zwei Mädchen, die es besser getroffen hatten.

In jenen letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung ihren Lauf, und die Menschen drängten in die Städte. London, dessen Einwohnerzahl sich binnen hundert Jahren fast versechsfachte und daranmachte, die Sieben-Millionen-Marke zu überspringen, war inzwischen zur größten Stadt der Welt geworden. In manchen Zeiten überlebte in diesem Elend nur jedes zweite Kind die ersten fünf Lebensjahre. Es war, als würde die Stadt ihre Kinder fressen.

Doch Lillian entging diesem unbändigen Appetit.

 

Sie stammte aus gutem Hause und wurde mit anderthalb Jahren – durch einen beruflich bedingten Umzug ihres Vaters, des Reverends James Brandon – aufs Land gebracht. Genau genommen verschlug es die Familie in die Grafschaft Hampshire. Niemand kann behaupten, dass diese Gegend in irgendeiner Form beeindruckend war, Ackerflächen und Weiden mit Vieh prägten das Bild. Doch immerhin mussten die Bewohner dieses Landstriches, der in einer der Kornkammern des Landes lag, nicht hungern. Niemand musste die Hälfte seines Monatslohns für Brot ausgeben. In London war dies durchaus immer wieder der Fall, wenn es zu Lebensmittelengpässen kam.

Am Rande eines der Dörfer zwischen Winchester und Basingstoke bezog die Familie ein stattliches Haus mit Seitenflügeln. Neben zwei Aufenthaltsräumen, sieben Schlaf-, einem Studier- und vier Ankleidezimmern gab es Wirtschaftsräume und den großzügig angelegten Park, der das Haus zu umarmen schien. Abgerundet wurde das Idyll durch einen gut bestellten Garten und Ställe, in denen allerlei Getier gehalten wurde, das den Speiseplan bereicherte. Zudem gab es genügend Personal, nicht einmal die Kutsche musste vom Reverend selbst gelenkt werden, und den weiblichen Familienmitgliedern stand ein Mädchen zur Verfügung, das beim An- und Auskleiden half.

Der Reverend zählte nicht zu jenen Erneuerern der Kirche um John Wesley – einen Namen, den ihr euch nicht merken müsst –, die nach einer Stärkung der Religiosität riefen. Der gestrenge Vater unserer Lillian gehörte zu den weltlichen Glaubensmännern, die ein Studium absolviert hatten und an ihrer Tätigkeit schlichtweg das sichere Einkommen schätzten.

Seinerzeit war es durchaus üblich, Kinder nur wenige Monate nach der Geburt in die Obhut von Pflegeeltern zu geben, die, meist im selben Dorf lebend, den Nachwuchs betreuten, bis dieser aus dem Gröbsten herausgewachsen war. Eleonore Brandon, die resolute Gattin des Reverends, konnte sich dafür nicht erwärmen. Gemeinsam sorgten die Eltern dafür, dass die Kinder, neun an der Zahl, von ihnen selbst erzogen wurden: Die fünf Jungen wurden in den ersten Jahren vom Vater unterrichtet und erhielten eine überdurchschnittliche Ausbildung, an die ein Schulbesuch anschloss. Später besuchten sie das St.John’s College in Oxford. Zwei von ihnen gingen sogar auf Kavaliersreise durch Europa, eine Bildungsreise, die ihre Erziehung abrundete.

Die Mädchen wiederum besuchten ein Pensionat in Reading, das Teil eines Klosters war. Gegen ein reichlich bemessenes Schulgeld erwarben sie eine solide Bildung, die allerlei Nützlichkeiten umfasste wie Grundkenntnisse der französischen Sprache, Tanz, Gesang, Stickerei, das Schneidern von Hemden, die Reinigung der Kleidung, die Vorbereitung eines Dinners oder auch das Harfenspiel. Sie konnten allesamt lesen und hatten arithmetische Kenntnisse, wussten das Personal anzuweisen und verstanden sich auf die Führung eines Haushaltes, der – die Bediensteten mit einbezogen – ohne Weiteres aus zwanzig Personen und mehr bestehen konnte.

Die solchermaßen auf das Leben vorbereiteten Mädchen waren als Frauen in der Lage, bei der täglichen Arbeit mit anzupacken. Sie behielten sich aber häufig vor, ihr Augenmerk, neben ein wenig Handarbeit, auf die Ausgaben für die Haushaltsführung zu richten, damit sie die Kosten vor ihrem Ehegatten belegen und rechtfertigen konnten.

Die Erziehung von Mädchen wohlhabender Eltern zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hatte also ein klares Ziel, dem sich auch der Reverend nebst seiner Gattin verschrieben hatte: eine künftige Ehefrau zu erschaffen, die sich in den gehobenen Kreisen mit Anmut zu bewegen wusste. Dies gelang den Brandons bei drei Töchtern ausnehmend gut, die frühzeitig heirateten und in vorbildlichen Ehen aufblühten.

Bei Lillian lag der Fall anders.

Vielleicht ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, dass man ihr, dem jüngsten Spross der Familie, erlaubte, die Bibliothek zu nutzen. Nach Lillians Rückkehr aus dem Pensionat meinten die Eltern, mit den mehr als sechshundert Büchern könne die Tochter sich die Zeit vertreiben. Da saß sie, las Buch um Buch, schrieb Brief um Brief, besuchte gelegentlich gezwungenermaßen Tanzveranstaltungen und wuchs zu einer nahezu mausgrauen jungen Frau heran.

Tatsächlich hatten sich die Demut und Bescheidenheit ihrer derart angenommen, dass sie der Liebe und mir durchs Netz schlüpfen konnte. Über Jahre hinweg!

 

Ich glaube, Lillian nahm damals noch an, uns beiden würde etwas Anrüchiges anhaften. Der Versuch, auf Liebe zu hoffen, war für sie eine gedankliche Form der Maßlosigkeit. Als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren erstmals darin versuchte, war sie fast doppelt so alt wie jene Backfische, deren kurzsichtiges Betteln nach Liebe mir sonst die Ohren verstopfte.

 

Das frühe Stadium: Verliebtsein

Das erste Mal begegnete ich Lillian im August 1818, und ich war überrascht, einer jungen Frau gegenüberzustehen, die von der Männerwelt bisher gänzlich unbemerkt geblieben war. Auch wenn sie auf den ersten Blick unscheinbar wirkte, war sie auf den zweiten Blick durchaus gefällig anzuschauen. Das dunkle, fast schwarze Haar schien, streng gesteckt, einen Rahmen um ihr blasses Gesicht zu bilden. Ihre Züge waren ebenmäßig, die Augenfarbe changierte zwischen Grau und Blau. Sie war mittelgroß, schlank und in allem durchschnittlich, auch ihre Kleidung war so unauffällig wie nur möglich. Das Kleid war unter der Brust geschnürt, jedoch hochgeschlossen, ohne den üblichen Ausschnitt. Obwohl es Sommer war, fehlte dem Stoff das Luftige und den Ärmeln das Gepuffte, Verspielte der Schulterpartie. Die Riemchenschuhe waren flach und bequem, so, wie es die Frauen jener Zeit schätzten.

Zweckmäßig wäre das Wort, das ich rückblickend wählen würde, um Lillian zu beschreiben. Alles an ihr wirkte zweckmäßig.

 

Die Familie war drei Wochen zuvor nach Bath aufgebrochen, um, wie es sich seinerzeit gehörte, die Sommermonate standesgemäß zu verbringen. Sie residierte, wie auch die Jahre zuvor, am Queens Square. Die Mutter und zwei ihrer Freundinnen waren zur Brunnenhalle aufgebrochen, um das Wasser zu trinken, dem eine heilende Wirkung bei Gicht nachgesagt wurde.

Da Lillian unpässlich war, blieb sie zu Hause. Später am Tag, als sie sich besser fühlte, nahm sie am Tisch Platz und betrachtete den Briefbogen, der dort lag. Schon mehrfach hatte sie den Federkiel in die Tinte halten wollen, um dann doch zu zögern. Einen Brief an ihre Freundin Ruth Lloyd wollte sie schreiben.

Die beiden Frauen trafen einander alljährlich in Bath, doch in diesem Sommer hatte sich ein Ereignis zugetragen, das Lillian geradezu verstörte. Ruth hatte einen älteren Bruder namens Joseph. Bisher war er stets in den Kolonien unterwegs gewesen, die rund um das Indische Meer gelegen waren, als Handelsagent im Auftrag der East India Company. In Gegenden, die Lillian auf einer Landkarte nie hätte finden können, weil sie sich die seltsam fremd klingenden Namen nicht hatte merken können. Verheiratet war er zudem, und so hatte sie nie sonderlich genau zugehört, wenn Ruth ihn erwähnt hatte.

Beim Dinner vor drei Tagen war er jedoch zugegen gewesen, und noch einmal tauchte Lillian in die Stunden dieses Abends ab.

Schräg gegenüber von ihr saß er am Tisch. Das Bild eines erfolgreichen Mannes, aus dem eine der grausamen Krankheiten – zumindest ließ er das alle glauben – in weit entfernten Ländern inzwischen nicht nur einen Witwer gemacht hatte. Aber ich will nicht vorgreifen. Vom Leben gebeutelt, sah er älter als neununddreißig Jahre aus, seine Haut war von der Zeit auf See und der ostindischen Sonne gegerbt. Ein Hauch Schwermut lag auf seinen Zügen, der, obwohl Joseph die Klaviatur der Konversation perfekt beherrschte, nicht schwinden mochte.

Schweigend lauschte sie seinen Geschichten, von denen eine fantastischer war als die andere: »Von Javas Ostküste aus begaben wir uns auf eine eintägige Reise und erreichten einen Ort, dessen Bewohner noch nie einem Menschen mit heller Haut begegnet waren«, erzählte er. »Sie reagierten verschreckt, als sie uns bemerkten. Einige der Frauen brachten ihre Kinder in Sicherheit, ganz so, als wollten sie ihnen schlechte Träume durch unseren Anblick ersparen. Nach und nach traten Männer vor und wollten wissen, was wir seien. Die Betonung liegt auf dem ›was‹, denn es erschien ihnen unvorstellbar, dass wir von ihrem Schlage sein könnten. Einige näherten sich mir, es waren die Mutigeren unter ihnen. Sie betasteten mein Haar, manche auch die Haut der Wangen oder Hände. Dann das Hemd, die Hose, nicht minder befremdet über das, was wir am Leibe trugen. Nach einer Weile wurden die Kinder zurückgeholt und in unserer Nähe auf den Boden gesetzt, wo sie uns, brav wartend, anstarrten. Auch Kranke wurden herbeigeschleppt, und es brauchte einen Augenblick, bis ich verstand: Ich sollte sie berühren. Erst nahm ich an, es wäre ein Ritual zur Begrüßung, aber bald dämmerte mir der wirkliche Grund: Sie hielten mich für eine Gottheit.«

Lillian schaute in die Runde, die Damen hingen an seinen Lippen, und die Männer konnten nicht verbergen, wie sehr die Geschichte sie beeindruckte. Wer konnte schon von sich behaupten, jemals als Gottheit verehrt worden zu sein?

»Hoffentlich dürfen wir dich weiterhin Joseph nennen«, unterbrach Ruth ihn, und selbst Lillian stimmte in das gemeinsame Gelächter mit ein.

»Die anderen schon, du nicht, Schwesterherz«, konterte Joseph, und dieses Mal waren die Lacher auf seiner Seite.

Als er fortfuhr zu erzählen, hatte Lillian das Gefühl, selbst in Javas Dschungel zu stehen, den Monsun auf das Blätterdach trommeln zu hören und die regennasse Schwüle der Luft zu spüren. »Es war ein nicht endender Strom von Menschen, denen ich meine Hand aufs Haupt legen musste. Die Ernsthaftigkeit aller sprang auf mich über, und so kam es, dass wir alle die Zeremonie, die, genau betrachtet, keine war, feierlich erlebten.«

 

Das war der Moment.

Der, in dem ich spürte, es würde für mich bald etwas zu tun geben. Denn Lillians Blick glitt über seine Hände, die, in die Luft erhoben, seine Worte unterstrichen. Und mit einem Mal wünschte sie sich nicht mehr und nicht weniger, als seine Hände zu fühlen, auf ihrem Gesicht, dem Hals, den Armen. Sie errötete ob des Gedankens, nahm einen großen Schluck Wein und fürchtete sich.

Wovor, das wusste sie nicht.

Aber sie ahnte: Das Gleichmaß in ihrem Leben war in Gefahr. Und sie sollte recht behalten, denn die Wohltat des einförmigen Rhythmus war schon mit jenem begehrenden Aufflackern ins Wanken geraten.

 

So saß Lillian also wenige Tage später, die sich in ihrer Wahrnehmung endlos in die Länge gedehnt hatten, am Tisch und marterte sich. Der Bruder ihrer liebsten Freundin Ruth, Witwer dazu, ein Mann auf Durchreise in England, zog ihre Gedanken auf sich und verursachte in ihrem Unterleib prickelnde Unruhe. Wieder und immer wieder. Das Denken – es fühlte sich an, als würde sie etwas Verbotenes wagen.

Nach einer Weile hatte sie die Worte an die Freundin gefunden und sich damit arrangiert, einen Vorwand zu nutzen. Die Anfrage, wann die beiden einander wieder treffen könnten, vielleicht auf einen Tee oder einen Spaziergang, diente vornehmlich dem Zweck, Joseph wiederzusehen.

Vermutlich war es meine Gesellschaft, die sie ermutigte, zum Abschluss des Briefes nicht nur den üblichen Gruß an die Familie, sondern auch einen explizit an den Bruder mit aufzunehmen.

Mit zitternden Fingern schob sie das feine Papier in den Umschlag und rief den Dienstboten. Es war ein Bursche mit wachem Blick, eine Tatsache, die für ihn sprach. Er würde nicht vom Weg abkommen, wenn er auf seinesgleichen traf, er würde den Brief nicht in seine Hosentasche schieben, vergessen und irgendwo verlieren, es erst auf dem Heimweg bemerken und Geschichten ersinnen, wo er sich herumgetrieben hatte.

Kurz musterte sie seine Hände, ob sie sauber genug waren, den kleinen Umschlag in Empfang zu nehmen und im Hause Lloyd zu übergeben. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, räusperte sie sich. »Bringe das bitte zu Mrs Lloyd und beeile dich.« In Gedanken fügte sie hinzu: Denn an diesen Zeilen hängt mein zukünftiges Leben.

Die Voraussicht dieser jungen Frau bewies mir, dass die Liebe bereits vorbeigeschaut und eine Kostprobe ihres Wirkens hinterlassen hatte.

Das Verliebtsein.

Eine beeindruckende Gefühlswallung, die sie perfekt zu schüren versteht. Dementsprechend musste ich keinen besonderen Aufwand betreiben, denn im frühen Stadium des Verliebtseins gibt es bei den Betroffenen in der Regel keine Zweifel oder Unsicherheiten. Die Emotionen bringen oft bis dahin unbekannte Seiten der Verliebten ans Tageslicht. Der Zaghafte wird waghalsig, die Angepasste zeigt sich rebellisch, der Grobian wandelt sich zum Weichling. Ich vermute, die meisten haben diese Beobachtungen in ihrem Umfeld schon einmal selbst machen können. Die so häufig auf den Rausch folgende Ernüchterung eingeschlossen. Aber dazu kommen wir noch. Lillian, durch ebenjenen wunderbaren Rausch befeuert, ertrug die Warterei auf eine Antwort. Erst am nächsten Nachmittag wurde sie erlöst.

Mit einem Schreiben, in dem sie zwei Tage später samt ihrer Familie zu einem gemeinsamen Picknick eingeladen wurde.

Ihr Herz machte einen Sprung, und ich seufzte.

 

Bevor ich aufbrach, um mich anderen Aufgaben zu widmen, erlebte ich noch – ein wenig gelangweilt, wie ich zugeben muss –, wie Lillian sich ihrem Äußeren widmete. Sie zerbrach sich den Kopf, mit welcher Flechtfrisur und in welchem Kleid sie zu einem Picknick gehen sollte und welches Schuhwerk das passende sein könnte. Sie führte sich erstmalig in ihrem Leben so auf, wie es Millionen anderer Mädchen und Frauen vor ihr bereits getan hatten und wie es Millionen anderer Mädchen und Frauen nach ihr noch tun würden, jede Einzelne mit der unverrückbaren Überzeugung, ihr Erleben sei einzigartig.

Zu gern hätte ich darauf verwiesen, dass nicht einmal feststand, ob Joseph überhaupt noch zugegen oder nicht längst nach London abgereist war. Und wenn er nach wie vor in Bath verweilte, ob er abermals an einem Treffen mit ihrer Familie teilnehmen würde. Schließlich war er ein gern gesehener Gast in den Salons des Ortes und musste sich seine Zeit gut einteilen, um allen Einladungen nachkommen zu können. Falls er beabsichtigte zu erscheinen, blieb fraglich, ob er sie überhaupt bemerken würde. Es war wenig charmant von mir dies anzunehmen, aber nichts ermutigte zu dem Gedanken, Lillian habe bei der ersten Begegnung einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. So schürte ich, wider besseres Wissen, ein Fünkchen Hoffnung. Denn ich wusste: Sollte ich der armen Frau ihre Zuversicht rauben, würde dies wieder endlose Diskussionen mit der Liebe nach sich ziehen.

Wenn ich darüber nachdenke, kann man diese Gutmütigkeit meinerseits, die auch mit einem Maß Bequemlichkeit gepaart war, durchaus derart werten, ich hätte meinen Teil dazu beigetragen, Lillian in das Elend zu treiben, das sie erwartete.

Während also die einst so pragmatisch und zurückhaltend veranlagte Frau sich herausputzte, war sie mit einem Mal gewillt, das Gleichmaß ihres Lebens zu opfern.

Obwohl Joseph zum Picknick erschien, ahnte er nichts von den Gefühlswallungen der Freundin seiner Schwester, die auch sein Leben tief greifend verändern würden. Vielmehr war er, trotz seiner Anwesenheit, zu dieser Zeit innerlich meilenweit entfernt.

 

Vom Säen der Hoffnung

Wenn ich Hoffnung gesät habe – im Übrigen, eine Formulierung, die ich wenig schätze, denn sie vermittelt den Eindruck, mein Wirken würde aus lumpigem Saatgut bestehen, das ich beliebig um mich herum verstreue –, breche ich auf, um mich der nächsten Aufgabe zuzuwenden.

Doch ich spüre, wenn meine Hinterlassenschaft beginnt, in sich zusammenzufallen. Das oft erwähnte Schwinden der Hoffnung beschreibt genau jenen Verfallsprozess, der von mir nie unbemerkt bleibt.

Tatsächlich irritierte es mich, so kurz nach meinem Eingreifen erneut auf Lillian aufmerksam zu werden. Ihre Zuversicht schwand, auch wenn sie noch längst nichts davon ahnte oder vielmehr alles daransetzte, es nicht ahnen zu wollen.

Die Situation, in der ich das noch frisch vermählte Ehepaar Markers in London antraf, war nicht unüblich zu jener Zeit. Solltet ihr jetzt überrascht sein – seid ihr es zu Recht, denn tatsächlich hatten die beiden geheiratet, aber auch darauf komme ich später noch einmal zurück. Joseph saß also, bevor um zehn Uhr das Frühstück serviert wurde, mit einer Tasse chinesischen Tees, einer Sorte, die er von der letzten Reise mitgebracht hatte, im Schreibzimmer, darin vertieft, einen Brief zu schreiben:

 

Mein guter Elliot!

 

Die Zeit meines Aufenthalts in heimischen Gefilden fliegt nur so dahin, und gern hätte ich Dich öfter gesehen als bisher. Doch meine Tage sind einerseits ausgefüllt mit Verhandlungen und Gesprächen mit den Herren Direktoren der Company, andererseits nehme ich Einladungen wahr. Das heißt, ich eile von Dinner zu Dinner und gebe die Erlebnisse meiner Reisen zum Besten. Sosehr ich mich auch bemühe, den werten Zuhörerinnen und Zuhörern zu vermitteln, dass ich ein Kaufmann bin, dem sie beispielsweise den Pfeffer verdanken, mit dem sie just in diesem Moment ihre Speisen würzen, nehmen sie mich nicht als hart arbeitenden Mann wahr. Sie halten mich für einen Abenteurer. Einen, der das Weite gesucht hat und verantwortungslos durch die Häfen der Welt tändelt, an jeder Hand ein Liebchen. Dabei sehe ich in leuchtende Augen und stelle fest, mit welcher Gier sie jedes Wort, das ich aus der Ferne berichte, aufsaugen. Sie erhoffen sich alle, so scheint es mir, die alten, abgeschmackten Geschichten von halb nackten Wilden und Menschenfressern, garniert mit Bildern von blauem, spiegelglattem Meer, von Palmen, Sandstränden und süßesten Früchten, die niemand hier kennt. Nicht minder hoch im Kurs stehen Vorstellungen von Goldminen, deren Reichtum unter dünnen Staubschichten darauf wartet, von mir im Alleingang abgetragen zu werden. Was es bedeutet, Kolonien anzulegen, zu führen und zu erhalten, und das in diesen kriegsgetränkten Zeiten, will niemand hören. Jene Begebenheiten langweilen die Menschen schnell. Häufig ermüdet es mich, immer die gleichen Geschichten zu erzählen. Der Monsunregen, die Anstrengungen der Pfefferernte oder des Bergbaus, die mühseligen Verhandlungen mit den jeweiligen Stammesfürsten, sie interessieren nicht.

Erst gestern erreichte die Company eine Nachricht von Oberst William Farquhar aus Singapur, das sich zur Eingangspforte nach Ostasien entwickelt. Sicherlich hast Du vom Oberst gehört, er zählt zu Sir Stamfords Getreuen und ist von ihm als Kommandeur in Singapur eingesetzt worden. Ganz gleich, welche Geschichten diesen Mann begleiten, er ist ein Kenner der Region. Er hatte, so sagt man sich, großen Anteil an der Unterzeichnung der Verträge zur Errichtung der Handelsniederlassung. Er schrieb, seit der Gründung im Februar 1819 haben sich Tausende Menschen dort angesiedelt. Es sind überwiegend Chinesen, die sich an den Flussufern ihr Leben aufbauen. Während wir zwei hier in London unseren Geschäften nachgehen, entsteht ein Chinesenviertel, eng, laut und produktiv.

Täglich trotzen diese Menschen dem Dschungel Baum um Baum weitere Fläche ab. Sowohl Häuser als auch windschiefe Hütten schießen aus dem Boden wie Pilze nach einer Regennacht im Herbst. Trotz der Schnelligkeit verläuft dieses Wachstum nicht willkürlich, sondern durchdacht, zum Beispiel sorgt ein sorgsam geplantes Straßennetz für Übersicht.

Inzwischen haben sich die Gemüter bei der Company ob Sir Stamfords Vorstoß zur Gründung Singapurs ein wenig beruhigt. Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Singapur wurde nicht besetzt! Es gab keine militärischen Auseinandersetzungen. Stattdessen erhielt diese Handelsaußenstelle das Recht, eine britische Enklave aufzubauen. Der Sultan streicht dafür Geld ein, jährlich mehrere Tausend spanische Dollar, und natürlich wird ihm Schutz durch unsere Soldaten zugesichert. Es war ein kluger Schachzug von Sir Stamford, diese Ansammlung von Fischerhütten zu einem freien Hafen ohne Handelssteuer zu erklären.

Offiziell erfolgt die Leitung der Außenstelle durch den Gouverneur von Bencoolen, also durch Sir Stamford. Bencoolen liegt auf Sumatra, also weit entfernt von Kalkutta, dem Sitz des Generalgouverneurs von Bengalen, der die Geschicke der Region verantwortet. Und so sorgt sich die Company, dass Sir Stamford weiterhin eigenmächtig handelt, es gibt auch Gerüchte, er sei erkrankt. Immer wieder ist von Cholera- und Fieberepidemien die Rede, die Hunderte von Opfern fordern.

Ganz nebenbei: Auch dies ist ein Thema, das geneigte Zuhörer lieben. Ich kann beobachten, wie sie sich schaudernd zurücklehnen, und ahne, wie sie ihr Paradies, das sie sich zurechtfantasiert haben, in seltsamsten Krankheiten untergehen lassen. Bizarr, sage ich Dir, manche dieser Gespräche muten bizarr an.

Aber zurück zum Thema: Unter uns gesagt, ich erkenne Sir Stamfords Handeln an. Bevor er die britische Flagge auf diesem Fleckchen Erde hisste, haben die Niederländer uns sehr zugesetzt. Sie kontrollierten den gesamten Archipel. Ihre Schutzzölle machten einen Handel in diesen Gefilden schwer, ja nahezu unmöglich, und so gab es tatsächlich Bedarf, Tatsachen zu schaffen.

Trotzdem war sein Vorstoß ein Wagnis. Was wäre geschehen, wenn der brüchige Frieden mit den Niederländern – trotz ihres Gebarens, unsere Geschäfte in den Kolonien einzudämmen – gefährdet worden wäre?

Die Company musste sich distanzieren, man sprach sogar öffentlich vom zügellosen Benehmen Sir Stamfords. Die Herren Direktoren warten nun auf eine Rückmeldung des Generalgouverneurs, denn der eigenmächtige Vertragsschluss mit dem Sultan soll rückgängig gemacht werden.

Wir beide ahnen: Nichts dergleichen wird vermutlich geschehen. Derzeit will man die Niederländer schlichtweg besänftigen. Mein Auftrag besteht darin, nach Singapur zu reisen und die Situation vor Ort in Augenschein zu nehmen. Dabei werde ich – wie gewohnt – als Handelsagent der Company auftreten, allerdings mit klaren Instruktionen ausgestattet, was zu tun ist, wenn die Situation sich anders darstellt als bisher mitgeteilt.

Mit weiteren Details will ich Dich nicht belasten. Für Dich ist es sicherlich wichtig zu erfahren, dass alles bleibt, wie wir es besprochen haben. Sobald der Termin der Abreise feststeht, werde ich mich zeitnah an Dich wenden. Vermutlich werden wir Anfang November aufbrechen, und Du wirst auf unserer Fregatte mitreisen können. Im Laderaum wird Platz für Dich freigehalten, das habe ich bereits veranlasst. Dann kannst Du alles, was Du für Deine botanischen Studien benötigst, mit auf die Reise nehmen.

Zu guter Letzt möchte ich Dir noch etwas mitteilen, das Dich sicher beruhigen wird: Ich habe erneut geheiratet. Jetzt fragst Du Dich vielleicht, warum ich Dich darüber nicht früher informiert habe. Bitte wundere Dich nicht, selbst meinem Personal habe ich am Morgen nur eine Notiz mit dem Hinweis hinterlassen, sie bräuchten kein Frühstück vorzubereiten, da ich außer Haus sei, um zu heiraten. Wir haben in der New Church in Marylebone die Trauung vollzogen. Du siehst, eine Hochzeit ganz ohne gesellschaftlichen Vorteil und die meinem Stand zukommende Aufmerksamkeit. Meine Frau, Lillian, scheint mir zugetan. Sie ist weder jung noch sonderlich hübsch, aber ihren Aufgaben geht sie gewissenhaft nach, und mit ihrer Anwesenheit kehrt wieder ein wenig Leben in mein Haus ein.

 

Elliot, mein Guter, sobald es sich einrichten lässt, werde ich Dich aufsuchen, damit wir beide unsere Reise planen können. Es freut sich auf dieses gemeinsame Abenteuer

 

Dein treuer Freund

Joseph

 

Sicherlich ist es erhellend, daneben den Brief zu legen, den Lillian – und ich schwöre, dass es so war – zeitgleich an ihre Schwägerin schrieb. In Soho Square, im Hause ihres Ehemannes, ein Stockwerk über ihm, saß sie an einem Schreibpult und formulierte folgende Zeilen:

 

Liebste Ruth,

 

für einen Moment habe ich überlegt, Dich mit »Liebste Schwägerin« anzuschreiben, und ich musste lächeln bei dem Gedanken. Noch immer ist es für mich unglaublich, die Ehefrau Deines Bruders zu sein und nunmehr hier, in London, zu leben. Eine grässliche Stadt, sage ich Dir, so laut, so voll, so schmutzig, manchmal glaube ich, als Tochter eines Reverends hier vollkommen falsch zu sein. Aber das Haus ist wundervoll – ich erfreue mich immer wieder an dessen Eleganz und Josephs geschmackvollen Mitbringseln von seinen Reisen, die allesamt wilde Geschichten erzählen.

Joseph ist sehr beschäftigt und häufig außer Haus. Wenn er sich nicht mit seinen vielfältigen Aufgaben befasst, widmet er sich seinen Studien. Seinen Geist beständig zu schulen – es liegt ihm so viel daran, und ich bin so stolz auf ihn. Er ist, aber das wirst Du wissen, fleißig und schont sich nie.

Es ist wirklich schade, dass Euer Besuch sich nicht einrichten ließ, aber ich verstehe, dass Du auf Deine Gesundheit achten musst. Vielleicht ist es mir in den kommenden Wochen möglich, mich einen Tag meiner Pflichten zu entledigen und zu Euch zu fahren. Furchtbar gern würde ich erleben, wie Du mit Stolz Dein Kind unter dem Herzen trägst. Sollte sich ein Wiedersehen nicht einrichten lassen, verspreche ich Dir, werde ich Euch, sobald die Kleine das Licht der Welt erblickt hat, besuchen kommen. Ja, ich schreibe »die Kleine«, denn ich bin überzeugt, Du wirst einem Mädchen das Leben schenken. Meine Aufgabe ist es dann, sie mit Geschenken zu überhäufen. Dich auch, aber das verrate ich Dir jetzt nicht …

Allerdings ist mein Besuch nur unter der Voraussetzung möglich, dass ich noch in London weilen werde. (Die Geschenke werden die Kleine und Dich aber trotzdem erreichen, dessen kannst Du Dir sicher sein.)

Sicherlich wirst Du Dich fragen, wo ich sonst sein sollte?

Meine Eltern besuchen? Weit gefehlt!

Bei meinem Lieblingsbruder vorbeischauen? Um Himmels willen, seine Frau redet ohne Unterlass.

Um es nicht länger spannend zu machen: Joseph und ich brechen im November nach Singapur auf. Die Vorbereitungen sind bereits in vollem Gange, und ich bin sehr aufgeregt! Ich werde mit ihm die Welt bereisen, ausgerechnet ich, das Mädchen vom Land, das schon in London an seine Grenzen gerät. Ja, es ist ein Gedanke, der mich schmunzeln lässt, aber ich versichere Dir: Ich bin sehr dankbar, nicht über Jahre von meinem Gatten getrennt zu sein. Und ich bereite mich vor, unentwegt.

Du weißt: Ich habe schon immer viel gelesen, auch jetzt widme ich mich dieser Beschäftigung. In den letzten Wochen habe ich nahezu alle Reiseberichte verschlungen, die ich in Josephs Bibliothek finden konnte. Hin und wieder habe ich mir zudem aus dem ebenfalls wohlsortierten Bücherschatz meines Vaters verschiedene Werke schicken lassen. Und so weiß ich um die Strapazen, die uns erwarten. Aber ich werde es überstehen, ich bin, auch wenn man es mir nicht ansehen mag, aus einem Holz geschnitzt, das Seekrankheit auf einem schlingernden Schiff, Hitze, Erdbeben und dauerndem Regen trotzt. Auch dunkelhäutige Menschen habe ich auf zahlreichen Bildern gesehen. Aus irgendeinem Grund denke ich, es wird mir ein Leichtes sein, einen guten Zugang zu ihnen zu finden, schließlich komme ich auch gut mit Kindern zurecht.

In einem der Bücher wurde erwähnt, mancher dieser Flecken dort in der Ferne erwecke den Eindruck, die Natur habe all die Schönheit, die sie zu schaffen vermag, an einem Ort zusammenführen wollen. Das möchte ich sehen, hören, schmecken, riechen, ja, am eigenen Leib erfahren.

Lass mich raten, jetzt schmunzelst Du über meine Begeisterung? Das kann ich Dir nicht verdenken, aber ich möchte Dich wissen lassen, mit welcher Leidenschaft und Ernsthaftigkeit ich mich vorbereite.

In unseren gemeinsamen Stunden versuche ich Joseph immer wieder anzuregen, mir von seiner Zeit in den Kolonien zu erzählen. Aber er ist dann oft schweigsam, ich befürchte, dass ihn die Erinnerung an SIE schmerzt. Denke jetzt bitte nicht, ich wäre betrübt darüber. Das Gegenteil ist der Fall, ich verspüre Mitleid und bin fest davon überzeugt, den Schleier, der sich hin und wieder über sein Gemüt legt, lüften und dauerhaft von ihm nehmen zu können. Du kannst mir glauben, Dein Bruder ist bei mir in liebevollen Händen, und Geduld war schon immer eine meiner Stärken (glaube ich zumindest).

Nun muss ich schließen, sobald wir einen genauen Abreisetermin haben, melde ich mich bei Dir!

 

Mit herzlichsten Grüßen, Deine Dir zutiefst ergebene

Lillian Markers

 

So weit, so gut, mag man meinen. Ein Ehepaar in Reisevorbereitungen. Doch Joseph Markers hielt noch eine – nennen wir es – Überraschung für seine Gattin bereit, die er ihr wenig später präsentierte.

 

Vom Weichen der Hoffnung

Etwa eine Woche nach dem Versand des Briefes saß Joseph in gewohnter Manier in seinem Arbeitszimmer über verschiedenen Berichten und war geneigt, sich zu ärgern. Wieder einmal hatten die Herren der East India Company einen Boten in der Leadenhall Street losgejagt, um ihm einen Brief auszuhändigen. Erneut betonten die Herren die Dringlichkeit seines Auftrages. Dabei hatte man ihm bereits in mehreren Gesprächen eingeschärft, wie viel Fingerspitzengefühl für seinen Auftrag in Singapur vonnöten war.

Wozu noch dieser Brief? Wollten die Herren ihm die Informationen demnächst noch als Tätowierung stechen lassen? Um sicherzugehen, dass er ihr Anliegen verstand? Erschöpft rieb er sich die Augen. Vermutlich war diese Genauigkeit der politisch angespannten Situation zuzuschreiben. Wenn nicht, musste er sich Gedanken machen, in welcher Weise seine bisherige Arbeit wahrgenommen wurde.

Regen trommelte an die Fensterscheiben, und tief hängende graue Wolken nahmen dem Tag sein Licht. Im Kamin brannte ein Feuer, und das leise Knistern der brennenden Scheite unterstrich, wie nasskalt der Sommer bisher ausgefallen war. Die Flammen flackerten unruhig hin und her, als die Tür geöffnet wurde.

Lillian betrat das Zimmer, und Joseph spürte, dass er seine Frau noch immer wie einen Gast des Hauses wahrnahm. Sie trug eine Tasse Tee, die sie neben ihm auf dem Tisch abstellte. »Befasst du dich wieder mit den Reisevorbereitungen?«, fragte sie.

Den Klang ihrer Stimme mochte er, so weich und sanft, niemals störend, ganz gleich, wie viel sie sprach. Eine Tonlage, die er, wenn er wollte, überhören konnte. Doch diese Sanftheit konnte über ihre Neugier und den forschen Blick, den sie über die Papiere gleiten ließ, nicht hinwegtäuschen. Mit einem Seufzen schob er die Berichte zusammen, die sie nichts angingen. Er lehnte sich zurück und wartete darauf, dass sie das Zimmer wieder verlassen würde.

Doch Lillian zog sich einen Stuhl an seinen Schreibtisch heran. »Hast du einen Moment Zeit für mich?«

Eine seltsame Frage befand Joseph, natürlich hatte er keine Zeit. Ein Umstand, der an den sich stapelnden Unterlagen auf dem Schreibtisch deutlich ablesbar war. Er entschloss sich, seinen Unmut über die Störung zurückzuhalten. »Was kann ich für dich tun?« Die Frage erschien ihm angebracht, denn inzwischen saß seine Frau ihm gegenüber. Ihr lag offensichtlich etwas auf dem Herzen.

»Welche Reisevorbereitungen müssen noch getroffen werden? Wie kann ich dich unterstützen? Die Bediensteten sind so eifrig dabei, alle Arbeiten zu erledigen, und ich möchte meinen Teil dazu beitragen.« Die Sätze rollten nur so aus ihr heraus, und sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie sprach. Er konnte zusehen, wie ihre Wangen sich mit jedem Atemzug röteten.

»Es rührt mich, mit welchem Eifer du dich einbringen möchtest, aber ich kümmere mich um alles selbst, wenn eine Reise ansteht. Immer. Nur die Besorgungen, die ich nicht dringend selbst erledigen muss, überlasse ich dem Personal. Sie kennen das bereits. Das heißt, es gibt nichts weiter zu tun. Für dich zumindest.«

»Für Ruth habe ich verschiedene Geschenke zur Geburt des Kindes vorbereitet. Was hältst du davon, wenn wir einen Brief hinzufügen, alles in einem großen Karton, einem hübschen versteht sich, zusammenpacken und ihn dem Personal übergeben? Sie können ihnen, sobald die Kleine das Licht der Welt erblickt hat, diese Aufmerksamkeit zukommen lassen.«

»Die Kleine?«

»Ja, ich denke, es wird ein Mädchen. Frage mich nicht, warum ich davon ausgehe.« Sie lächelte und wirkte fast verlegen dabei.

»Und wenn es nun ein Junge wird?«

»Die Geschenke sind auch für einen Jungen brauchbar, darauf habe ich bei der Auswahl geachtet.«

»Ja, das ist ein guter Gedanke, wir können das so machen. Wir weisen das Personal an.« Er schaute verstohlen über seinen Schreibtisch. Es wartete Arbeit, viel Arbeit, und er verschwendete seine Zeit mit Geschenken für ein Ungeborenes. Fast hätte er aufgeseufzt.

»Soll ich das kleine Hemdchen mit dazulegen?«

Joseph zuckte zusammen. Er lehnte sich zurück und spürte einen Druck auf seiner Brust. »Welches Hemdchen?«

»Das in deinem Schrank.«

»Was hast du an meinem Schrank zu suchen?«

»Letzthin habe ich deine Wäsche aufgeräumt. Hast du es nicht bemerkt?«

»Ach, doch. Natürlich, ich dachte nur, das Mädchen wäre es gewesen. Aber lass das Hemdchen bitte erst einmal liegen. Ich bin nicht sicher, ob es Ruth gefallen würde.«

»Ich finde es ganz entzückend …«

»Gut, gut! Ich werde noch einmal darüber nachdenken.«

»Wunderbar, sage mir Bescheid. Aber meinst du nicht, ich könnte dem Personal wenigstens dabei behilflich sein, mich mit um meine Belange zu kümmern?«

Joseph spürte Ungeduld in sich aufsteigen. Waren die Fragen seiner Frau unkonkret, oder war er nicht aufmerksam genug, um zu verstehen, was sie meinte? »Wovon redest du? Welche Belange?«, fragte er gedehnt.

»Welche Kleidung benötige ich beispielsweise? In Singapur ist es sehr heiß, und die Luft soll sehr feucht sein, oder? Es werden überwiegend leichte Stoffe getragen, stimmt das? Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, würde ich in den kommenden Tagen einen Termin beim Schneider machen. Dafür wüsste ich gern, worauf ich achten soll, wenn ich mir entsprechende Kleidung nähen lasse.«

Joseph spürte seine linke Augenbraue in die Höhe schnellen. »Du benötigst keine weitere Kleidung …«, er geriet ins Stocken.

»Dann lass uns doch bitte zusammen auswählen, was sich aus meiner Garderobe anbieten würde. Oder soll ich alles einpacken?« Lillian sprang auf. »Du hast recht, ich kann mir auch vor Ort das Passende anfertigen lassen. Sicherlich ist das günstiger. Ich werde nur das Nötigste packen. Dann weiß ich jetzt, wie ich vorgehe, vielen Dank und verzeih mir die Störung, aber all das ist so aufregend.« Sie huschte zur Tür.

»Halt, bitte warte! Ich glaube, du hast mich falsch verstanden.«

Lillian hielt an der Tür inne und drehte sich langsam zu ihm um.

»Wie kommst du auf die Idee, dass du mitreisen wirst?«

Von einem Wimpernschlag zum nächsten entglitten ihr die Gesichtszüge. Sie schluckte heftig. Die Hand rutschte von der Türklinke und suchte nach Halt im Stoff des Rocks.

»Wie …? Ich bin deine Frau. Natürlich begleite ich dich. Das mache ich gern. Wo gehört eine Frau hin, wenn nicht an die Seite ihres Mannes?«

»Nein, es tut mir leid, aber du bleibst hier und kümmerst dich um das Haus.«

»Bitte, ich möchte dir nicht widersprechen, aber …«

»Dann lass es!«, entfuhr es Joseph. »Das Klima in diesen Regionen ist ungesund. Nicht einmal der Regen ist wie hier, er ist unfassbar heftig. Er macht krank, und die Luft ist sehr feucht, oft wehen unangenehme Winde, die ganz anders sind als unsere kühlen klaren Seewinde. Außerdem gibt es Lava spuckende Vulkane sowie Erd- und Seebeben, denen grässliche Springfluten folgen. Es ist viel zu gefährlich.«

»In deinen Erzählungen klang es immer anders …«

»Ja, natürlich, es gibt viel Sonne, blaues Meer, palmengesäumte Buchten und eine Blütenpracht, die niemand ermessen kann, der sie nicht erlebt hat. Das sind die Geschichten, die alle erwarten, aber es sind Anekdoten, die der Unterhaltung dienen und das verdecken, was das Leben in der Ferne so schwierig macht.«

Und so gab sich Joseph alle Mühe, die Dinge aufzuzählen, von denen er hoffte, sie würden die junge Frau das Fürchten lehren: »Natürlich werde ich bei einem Dinner nicht erwähnen, dass Tiger die Menschen anfallen, Spinnen und Schlangen beißen oder Skorpione ihr Gift verspritzen, Blüten nicht duften und Vögel, anstatt zu singen, nur schreien, und das auch zu später Stunde. Meinst du, ich erwähne die zahllosen Nächte, in denen man nicht zur Ruhe kommt, weil die Luft kaum abkühlt? Soll ich all das ausmalen? Oder vielleicht beschreiben, wie die Kleidung Tag um Tag stinkend vom Schweiß am Leib klebt? Selbst die geschicktesten Malaien-Mädchen bekommen den Gestank nicht herausgelöst, obwohl sie die Kleidung beim Waschen mit aller Kraft auf Steine schlagen.«

Jedes seiner Worte entsprach der Wahrheit, aber es war eine – sagen wir – durchaus einseitige Darstellung, da Ostindien mehr zu bieten hatte als die erwähnten Schreckensszenarien.

Auch Lillian schien das nicht zu entgehen, denn sie fragte: »Wie ertragen das die anderen Frauen, die ihre Ehemänner begleiten dürfen?«

Joseph wusste, wie andere Frauen das ertrugen. Die meisten von ihnen ertrugen das Leben in der Ferne sogar ausgesprochen gut. Aber das gehörte nicht in dieses Gespräch, und so blieb ihm nichts als eine Erwiderung, die ein weiteres Gespräch ausschließen musste und zudem eine Steigerung seiner vorangegangenen Antwort war.

»Das ist mir völlig gleich«, erwiderte er. »Und was soll diese Frage überhaupt? Glaubst du mir nicht? Dann erkläre ich dir jetzt mal, wie es den Soldaten, also gestandenen Männern ergeht, die nach Ostindien geschleppt wurden. Die Pest grassiert dort immer wieder, und das ist nur eine der tückischen Krankheiten, von denen die Menschen dahingerafft werden, hinzu kommen Fieber und blutige Durchfallerkrankungen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Widerlichkeiten deinen Leib befallen und zerstören könnten. Warte! Warte, hier, gleich habe ich es«, sagte er und wühlte auf seinem Tisch herum. Ungeduldig schob er zwei Bücher und mehrere Blätterstapel beiseite, er hatte doch gestern erst wieder den Bericht eines deutschen Händlers gelesen, der von seinem Aufenthalt in Ostindien schrieb.

Wo war dieses verdammte Ding?

Er wühlte, doch der schmale Band blieb verschwunden. Stattdessen fiel ihm Cooks Reisebericht in die Hände. Eigentlich war das Werk zu alt, aber trotzdem blätterte er hastig in den Seiten. Sein Blick blieb bei den Beschreibungen zu Batavia hängen, die er auswendig kannte. Dieser Ort unterstand den Niederländern.

Ob sie das wusste? Aber das war auch gleich, es ging nicht um Niederländer oder Engländer, es ging um weit mehr: »Hier, das schreibt James Cook zu Batavia, und du kannst mir glauben, es ist heute noch so. Die Altstadt ist auf sumpfigem Gelände gebaut, es ist ein unansehnlicher Ort: Die Kanäle führen stinkendes und fauliges Wasser, und vor allem in der heißen Jahreszeit geht von ihnen ein kaum erträglicher Gestank aus. Die Bäume stehen so dicht, dass kein Wind den Dunst davontragen kann. Noch schlimmer wird die Situation in der nassen Jahreszeit: Dann steigt das Kanalwasser an, es tritt über die unbefestigten Ufer und überschwemmt die tiefer gelegenen Ortsteile. Das Wasser fließt in die Häuser und hinterlässt, wenn es zurückgeht, Dreck. Stinkenden, schlammigen Dreck, durchsetzt mit Kot. Verstehst du? Dieses Zeug muss aus den Häusern geschippt werden, und dann liegt es modernd in den Gassen, bis der nächste Regen kommt und es wieder in die Kanäle spült. Cook geht auch auf die Lage der Soldaten ein, die von Europa dorthin gebracht wurden: Sie sterben wie die Fliegen an Krankheiten. Und nicht nur den Europäern ergeht es so: Du kannst Stunden durch Batavia laufen, und dir wird kaum ein Mensch begegnen, der sich einer guten Gesundheit erfreut.«