Im Schatten des Schamanen - Kerstin Groeper - E-Book

Im Schatten des Schamanen E-Book

Kerstin Groeper

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Beschreibung

Luca Marchetti, Commissario in Siena, steht vor einem Rätsel, als ausgerechnet im beschaulichen Fungaia ein indianischer Schamane tot in einer Schwitzhütte aufgefunden wird. Konfrontiert mit hysterischen Frauen, die bei dem Schamanen einen Kurs gebucht hatten, offenbart sich schnell eine gewisse Abhängigkeit zwischen einigen dieser Teilnehmerinnen und dem Schamanen. Liegt hier ein Beziehungsdrama vor? Und wie kommt ein indianischer Schamane ausgerechnet in die Toskana? Zum Glück erfährt Marchetti erneut Unterstützung von dem deutschen Kommissar Isedor, der extra zur Settimana Gastronomica, der Feinschmeckerwoche der Contrada dell’Aquila, gekommen ist. Kurzerhand wird Isedor wieder der italienischen Behörde zugeteilt und verschafft den Ermittlern ganz andere Einblicke in das Leben des Schamanen … Wer steckt wirklich hinter dessen Identität, und warum wurde er ermordet? Die beiden Ermittler dringen tief in eine Welt aus Schein und Trug ein.

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EPUB
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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Kerstin Groeper und Giuseppe Bruno

Im Schatten des Schamanen

Ein weiterer Fall für Luca Marcetti

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2018 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-040-2

www.heypublishing.com

Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Mutter Erde

Rhythmisches Trommeln dröhnte durch das alte Gebäude, das etwas abgelegen unter den hohen Kiefern der Toskana stand. Ein hoher Zaun aus Metallgittern umfasste den Garten, der mit Olivenbäumen, Zypressen und Kiefern bewachsen war. Eine Schotterstraße führte auf das Anwesen zu und verengte sich hinter dem Haus in einen ausgefahrenen Feldweg. Hier gab es sonst nichts mehr.

Das Anwesen lag auf einem der vielen toskanischen Hügel, und von einer Terrasse hatte man einen weiten Blick über die grüne Landschaft aus Steineichen, Kiefern und den silbergrünen Olivenbäumen. Es hatte in diesem Jahr viel geregnet, sodass der Wald nach dem Sommer noch grün war. Hin und wieder ragte in der Ferne ein anderes Haus aus dem Grün heraus, ansonsten war die Gegend wenig besiedelt. Hinter dem Haus fiel der Garten in ein steiles Tal ab, das völlig ursprünglich war und durch das ein kleiner Bach floss. Zwei Falken schwebten am Himmel, gingen in einen Sturzflug über und verschwanden außer Sichtweite. Der Himmel färbte sich in ein grelles Orange, als die Sonne langsam hinter den Wipfeln verschwand.

Nur der Klang der Trommeln passte nicht zu diesem Bild. Wenn es das Stakkato der mittelalterlichen Marsch-Trommel wäre, das zum Palio oder beim Fahnenschwingen gerührt wurde, dann hätte es zu der Umgebung gepasst, doch der dumpfe Klang von mehreren Indianertrommeln war surreal, als wäre irgendwie der Ort vertauscht worden. Auch die indianische Schwitzhütte im Garten hätte man eher in Süd-Dakota erwartet, aber nicht vor den Toren Sienas.

Auf der großen gefliesten Terrasse hob der Mann mit langem, wallendem Haar, in das sich bereits einige graue Strähnen gemischt hatten, die Arme bittend nach oben und ließ seine sonore Stimme erklingen. Die langen Fransen seiner Lederjacke fielen übertrieben lang nach unten und wehten in der Brise ein wenig hin und her. An den Fingern des Mannes steckten einige Ringe mit Türkisen. Um den Hals hatte der Mann eine indianische Kette. Er war braungebrannt und wirkte mit einer tiefen Falte auf der Stirn wie ein Schamane aus alter Zeit. Sein Alter war schlecht zu erraten, denn er war drahtig, und seine Haut wirkte durch die Bräune frisch und jung. Man schätzte ihn auf Anfang vierzig, er konnte aber auch schon wesentlich älter sein. Um ihn herum saßen an die zwölf Frauen auf Kissen, schlugen im gleichmäßigen Takt ihre Trommeln und hielten nun inne, um den Worten des Meisters zu lauschen.

„Fühlt ihr die Kraft der Natur?“, rief der Mann mit donnernder Stimme.

Die Trommeln stimmten wieder ein. „Ja!“, riefen die Frauen voller Hingabe.

Wieder wurde es still. „Fühlt ihr, wie ihr mit der Trommel und dem Universum eins werdet?“

Der Mann wartete die Antwort nicht ab. „Hört ihr den Herzschlag von Mutter Erde? Hört ihr die Ahnen, die zwischen den Sternen wandeln? Fühlt ihr, wie die Trommel euer spirituelles Bewusstsein öffnet und euer Herz den Frieden des Universums spürt?“

Der Schamane streckte die Hände nun nach oben. „Die Trommel bringt das Kosmos zum Schwingen, und der Frieden in unseren Herzen öffnet unser Bewusstsein. Wir durchschreiten das Tor zu den Sternenwesen. Mit ihrer Hilfe können wir Mutter Erde heilen, und hier finden wir unsere spirituelle Quelle, um anderen Menschen zu helfen.“

Langsam ließ der Mann die Hände sinken, und die Frauen nahmen ihr Trommelkonzert wieder auf. Summend schwangen sie hin und her, gerieten immer mehr in Ekstase und sangen flehend in einer fremden Sprache. Es klang nach we-ho-we-ho. Der Schamane nahm eine Räucherschale in die Hände, entzündete sie mit betont langsamen Bewegungen und verteilte dann den Rauch mit einer Vogelschwinge. Die Frauen inhalierten den Rauch und setzten ihren Singsang fort.

„Die Frauen sind die Hüterinnen der Mutter Erde!“, fuhr der Schamane fort. „Sie tragen die zukünftigen Generationen in ihrem Leib, sie sind die Vertrauten der Mondfrau und die Trägerinnen uralten Wissens. Fühlt dieses alte Wissen in eurem Leib, das euch von euren Müttern und Großmüttern weitergegeben wurde. Fühlt eure Weiblichkeit, die euch von Mutter Erde geschenkt wurde. Die Trommel öffnet dieses uralte Wissen in euch. Ihr seid berufen, der Trommel zu dienen. Findet eure Krafttiere, und sucht eure Kraftorte, um dieses alte Wissen in euch zu erwecken. Lernt die Sprache der Trommel, um dann euer Wissen weiterzugeben.“

Mit einem tiefen Seufzen beendeten die Frauen ihren Trommelschlag, legten die Trommel achtsam neben sich auf die Decke und lächelten dann beglückt. Ihre Augen hingen an der Gestalt des Mannes, der sich zufrieden zurücksinken ließ und den Frauen wohlwollend zulächelte. „Habt ihr es gespürt?“, fragte er.

Eine Frau in einem geblümten Schlabberkleid und Birkenstocksandalen nickte eifrig. „Ich konnte den Tanz der Sterne fühlen!“, berichtete sie. „Alles war in Bewegung.“

„Selbstverständlich!“, stimmte der Schamane zu. „Alles ist in Bewegung. Auch die Vergangenheit, die Zukunft und das Jetzt. Das Leben ist ein Kreislauf, ebenso wie die Natur oder die Ausdehnung des Universums.“

Die Frauen sahen sich verzückt an. Einige waren schon älter, und sahen sich bereits als Heilerinnen, andere waren noch jünger. Bei allen fiel auf, dass sie eher unmodische Kleidung trugen. Die Frauen bevorzugten gemütliche Tunika, Jogginganzüge oder Sommerkleider. Alle trugen bequeme Sandalen oder Gesundheitslatschen. Einige hatten ihre Haare mit einem bunten Tuch hochgebunden. Verliebt und voller Hingabe himmelten sie ihren Meister an, der sich in diesem Interesse geradezu sonnte.

„Morgen werden wir für jede Frau den persönlichen Kraftort suchen“, versprach er.

„Werden wir auch etwas über das Medizinrad erfahren?“, erkundigte sich eine Frau.

Der Schamane lächelte freundlich. „Freilich! Diese Woche wird euch tiefe Einblicke in euer Seelenleben geben. Ihr werdet erfahren, wer ihr wirklich seid. Und wer ihr einst gewesen seid. Das Medizinrad wird euch offenbaren, wo eure Fähigkeiten sind und auf welche Reise ihr euch noch begeben müsst. Der Kurs initiiert euch als Schamanin, euer spiritueller Name wird sich euch offenbaren und zum Schluss erhaltet ihr die heilige Pfeife. “

„Werden wir auch heilige Lieder lernen?“, fragte eine weitere Teilnehmerin.

„Aber sicher! Ihr lernt den Pfeifengesang zum Füllen der Pfeife, lernt, wie man die Geister einlädt und wie man seine Gebete spricht. In der Schwitzhütte werdet ihr zu den Ahnen sprechen und sie um Hilfe anflehen. Ich habe die Zeremonie bereits vorbereitet. Wir gehen jetzt dorthin, entkleiden uns und reinigen unseren Körper und unsere Seele. Das ist notwendig, ehe wir mit der Ausbildung anfangen können.“

Die Frauen fieberten vor Aufregung und folgten dem Schamanen zu der kleinen Schwitzhütte im hinteren Teil des Gartens. Eine Frau erwartete sie dort, die bereits Steine in einem Feuer neben der Schwitzhütte erhitzt hatte. Sie stellte sich als „Healing Sun“ vor, die Lebenspartnerin des Schamanen und ebenfalls Medizinfrau. Die Frauen nickten vor Ehrfurcht. Die meisten hatten bisher nur über E-Mail mit der Dame zu tun gehabt, als sie sich über die Homepage zu dem Kurs angemeldet hatten.

Healing Sun zeigte auf eine Bank, auf die die Frauen ihre Kleidung legen konnten. „Mein Partner führt euch durch die Zeremonie. Danach kann jede sich auf ihrem Zimmer duschen. Wir sehen uns am Morgen wieder, denn ich fahre noch nach Rom, um zwei weitere Gäste abzuholen."

„Ach, ist das schade“, meinte eine Frau. „Die haben ja dann die Schwitzhütte verpasst.“

Healing Sun lächelte verbindlich. „Das ist leider so. Der Flug ging nicht anders. Sie werden die Zeremonie morgen Abend nachholen. Natürlich darf jeder daran teilnehmen, wenn er das möchte. Morgen Nachmittag werde ich euch auf eine Kräuterwanderung führen.“

Sie verabschiedete sich, indem sie den Frauen nacheinander beide Hände reichte, und verschwand dann in Richtung des Hauses.

Der Schamane wartete, bis sie außer Sichtweite war, und nickte dann den Frauen auffordernd zu. „Ich lege die heißen Steine in die Grube und warte dann auf euch. Legt alles ab, damit nichts zwischen euch und den Geistern steht.“

Einige der Frauen kicherten etwas albern, als sie sich zögernd entkleideten. Eine Frau schielte etwas besorgt auf den Schamanen, der bereits völlig nackt war und nun mit einer Mistgabel die glühenden Steine ins Innere der Schwitzhütte schaufelte. Dann stand er abwartend am Eingang und hielt die Decke in die Höhe, damit die Frauen eintreten konnten. Zögernd krabbelte eine nach der anderen ins Dunkle, manchen hielten sich die Arme vor die Brüste, als sie an dem Mann vorbeikamen. Dann saßen alle im Kreis um eine Grube und warteten gespannt, was nun folgen würde. Als Letztes trat der Mann ein und ließ die Decke vor den Eingang fallen. Bis auf die glühenden Steine in der Grube, die wie die Augen eines lebendigen Tieres leuchteten, war es dunkel. Der Schamane warf etwas Salbei auf die Steine, das sofort verglühte und ganz kurz die niedrige Hütte erhellte. Betend hob der Schamane die Hände nach oben und forderte die Frauen auf, es ihm nachzumachen. Er lächelte, als sein Blick kurz über die Brüste streifte. Dann ließ er die Hände wieder sinken und griff nach einer Pfeife, die neben ihm auf einem kleinen Gestell lag. Er stopfte sie mit Tabak, sang dabei ein fremdes Lied, entzündete sie, nahm einen Zug, stieß den Rauch theatralisch nach oben und reichte dann die Pfeife an die Frau neben sich. Als er die Hand zurückzog, streifte er dabei wie unabsichtlich ganz leicht ihre Brüste. Die Frau zuckte zusammen, nahm dann aber einen Zug aus der Pfeife, als der Schamane wieder geschäftig nach dem Salbei griff, um es auf die Steine zu legen. Die Pfeife machte die Runde. Es wurde gesungen, und der Schamane lud mit kräftiger Stimme die Geister ein, dann schüttete er Wasser auf die Steine. Augenblicklich breitete sich heißer Dampf aus, der den Frauen den Schweiß aus den Poren trieb und ihnen den Atem nahm. Noch nie hatten sie erlebt, dass Luft so heiß sein konnte. Sie vergaßen alles um sich herum und hörten nur noch den eintönigen Singsang des Mannes, der ihnen wohltuende Schauer über den Rücken laufen ließ.

Luca Marcetti

Luca Marcetti befand sich auf der Rückfahrt von Genua und war bester Laune. Er hatte das ganze Wochenende bei Mercedes verbracht, und die kleine Affäre, in die er quasi dienstlich geschlittert war, vertiefte sich in einer angenehmen Richtung. Er hatte Mercedes aus der Prostitution gerettet und ihr eine anständige Arbeit in Genua verschafft. Sie sollte dort in Sicherheit sein, bis der Prozess mit diesem widerlichen Schuft vorbei wäre. Der Prozess hatte längst stattgefunden, und der Zuhälter saß im Knast. Kein Grund, sich weiter um Mercedes zu kümmern, doch das zierliche Mädchen aus Haiti hatte es ihm angetan. Sein Beschützerinstinkt war angesprungen, und er hatte sich Hals über Kopf in dieses zarte Wesen verliebt. Wann immer es sein Beruf zuließ, sauste er über das Wochenende nach Genua, um sich davon zu überzeugen, dass es ihr gutging. Bisher war es nur ein Flirt. Sie gingen aus, unterhielten sich, genossen ein schönes Essen und wechselten verliebte Blicke. Er wollte ihr nach den schrecklichen Erfahrungen Zeit lassen. Doch nun hatte er ihr einen Job in Siena vermittelt, sodass sie in seiner Nähe sein würde. Das fühlte sich gut an! Sehr gut sogar! Er konnte vielleicht einen Schritt mehr wagen und sie in seine kleine Wohnung einladen. Selbstverständlich ganz ohne Hintergedanken. Schließlich war er ein Ehrenmann.

Marcetti donnerte die Autobahn in Richtung Siena entlang und schaffte es tatsächlich, mit nur zehn Minuten Verspätung vor der Questura zu halten. Er parkte seinen roten Alfa Romeo GTV in einer Seitenstraße und hastete die Treppe in den ersten Stock hoch. Sein Kollege Pietro Balloni schaute ihn über den Rand seiner Brille vorwurfsvoll an. „Ciao!“, knurrte er.

Auch die Assistenten Giulia musterte ihn kopfschüttelnd. Aber eher, weil er offensichtlich noch in Räuberzivil war: weiße Leinenhose, gestreiftes Hemd und unrasiert. Marcetti schnappte sich aus einer Schublade einen Rasierapparat und verschwand auf der Toilette. Seine beiden Mitarbeiter wechselten einen langen, vorwurfsvollen Blick und vertieften sich dann wieder in ihre Arbeit.

Balloni nahm das schnurlose Telefon aus der Halterung, das die Stille des Morgens mit einer futuristischen Melodie unterbrach. „Balloni, Squadra Mobile!“, meldete er sich. Er konzentrierte sich auf die Stimme am anderen Ende und machte sich gewissenhaft Notizen. „Va bene!“, sagte er schließlich. „Wir sind unterwegs.“ Geschäftig stand er auf und zog eine bequeme Jacke über. Mit seiner Kurzhaarfrisur und seinen blauen Augen erinnerte er irgendwie an eine spitzbübische Comicfigur.

„Wir müssen zu einem Mordfall“, informierte er seine Kollegin mit ruhiger Stimme.

„Oh?“ Giulia sah ihn interessiert an. Sie war keine Schönheit, hatte aber sympathische Augen und ein kumpelhaftes Wesen. Sie passte perfekt zu Marcetti, der sich von einer allzu hübschen Kollegin sonst wohl ablenken ließ. Giulia arbeitete ihm zu, war lustig, aber ganz und gar nicht weiblich. Mit Balloni verband sie inzwischen eine tiefe Freundschaft, denn beide deckten immer wieder sehr solidarisch die Eskapaden ihres Chefs. „Ein Mord? Was ist denn passiert?“

Balloni winkte ab. „Ich weiß noch nichts. Wir fahren erst einmal hin. Sag doch schon mal dem Staatsanwalt Bescheid. Er soll an diese Adresse kommen.“ Er hielt der Assistentin den Zettel hin, damit sie die Adresse abschreiben konnte. „Fungaia“, murmelte sie erstaunt. „Da ist doch nichts.“

Balloni zuckte mit den Schultern und wartete auf Marcettis Rückkehr. „Ein Mord!“, informierte er ihn. „Wir müssen nach Fungaia. Nehmen wir dein Auto oder rufen wir eine Pantera?“ Balloni wartete ruhig auf die Antwort, obwohl er sie schon ahnte, denn Marcetti hasste es, in einem blauen Polizeiauto irgendwohin gefahren zu werden.

Marcetti versteckte den Rasierapparat wieder in der Schublade und runzelte die Stirn. „Nein, wir fahren mit meinem Auto. Fungaia ist ja nicht weit. Was ist denn passiert?“

Balloni schob ihn zur Tür hinaus und erzählte ihm im Gang, was er bereits erfahren hatte. „Ein Mann ist tot in einer Schwitzhütte aufgefunden worden.“

Marcetti riss verwundert die Augen auf. „In was?“

„Einer Schwitzhütte“, wiederholte Balloni geflissentlich. „So ein Ding, wie es Indianer benutzen.“

Marcetti hatte immer noch ein großes Fragezeichen in seinem Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf. „Und da liegt eine Leiche drin?“

„Genau! Zumindest erzählt das die Polizei. Ich habe Brandesa verständigen lassen.“

„Gute Idee!“ Marcetti seufzte zufrieden. Staatsanwälte waren nicht sein Fall, aber mit Brandesa hatte er in der Vergangenheit immer ganz gut zusammengearbeitet. „Hoffentlich hat er Zeit und schickt uns nicht irgendeinen anderen Deppen.“

Balloni zog den Kopf ein und schwieg. Grundsätzlich hatte Marcetti ja recht, aber Balloni hatte immer Angst, dass irgendwann jemand so eine respektlose Äußerung seines Chefs mitbekam.

Marcetti dagegen grinste gut gelaunt. Endlich mal wieder ein Mord. Er hatte gerade die Nase voll von illegalen Einwanderern, Menschenschmuggel und Einbrüchen. Aus dem Kofferraum holte er sich eine lange Hose und ein Jackett, zog die kurze Hose aus und schlüpfte hüpfend in die lange Hose. Mit der Hand suchte er das Gleichgewicht, indem er sich an seinem Wagen abstützte. Balloni stand kopfschüttelnd daneben und grinste frech, als er beobachtete, wie sein Chef sich in Sekundenschnelle in einen seriösen Ermittler verwandelte.

„Gut?“, erkundigte sich Marcetti.

„Gut!“, bestätigte Balloni.

Marcetti setzte sich ans Steuer und fuhr die Via San Marco hinunter, um die Stadt über die Porta San Marco zu verlassen. Er überquerte die Autobahn, fuhr nach Costafabbri und von dort die Strada degli Agostoli entlang. Das war eine Abkürzung, außerdem liebte er die mit Steineichen überwachsene Straße. Er fuhr in Richtung Santa Colomba und bog nach einer Weile rechts in eine Staubstraße ab, die nach Fungaia führte. Der Wagen holperte über die ausgefahrene Schotterpiste, und nun tat es Marcetti doch leid um seinen schicken Oldtimer. Er würde wieder durch die Waschanlage fahren müssen. Balloni konnte seine Gedanken scheinbar riechen, denn er kicherte leicht.

„Halt die Klappe!“, meinte Marcetti böse.

„Ich sage doch gar nichts“, verteidigte sich Balloni.

„Aber du denkst!“

Sie erreichten den kleinen Ort, in dessen Mitte ein riesiger Baukran hochragte. Einige alte Häuser sollten restauriert werden, doch die Baustelle war wie ausgestorben. „Der Kran steht hier auch schon seit über 15 Jahren“, meinte Marcetti kopfschüttelnd.

„Die sind pleite“, wusste Balloni. „Die Bank versucht nun, die Häuser einzeln zu versteigern.“

„Und?“

„Wer will hier schon wohnen? Schwierig!“

„Aha! Und wo müssen wir jetzt hin?“ Marcetti hielt kurz und wartete auf Anweisungen. Hinter ihm bremste ein weiteres Auto. Es war der Wagen des Staatsanwalts, wie Marcetti durch den Rückspiegel erkennen konnte. Grüßend hob er die Hand und bog dann links in eine kleine Straße ein. Hier waren die Schlaglöcher noch tiefer, wenn das überhaupt noch möglich war. Marcetti hatte Angst, dass sein Auto einfach darin verschwinden würde. Vorsichtig kurvte er drumherum und fuhr schließlich in einen Hof. Hier warteten bereits zwei Polizeiautos, dahinter schaute ihnen eine Gruppe Menschen entgegen. Rechts davon befand sich ein größerer Parkplatz, auf dem mehrere Autos standen. Sie hatten ausschließlich deutsche Kennzeichen. Marcetti stellte sich hinter die Polizeifahrzeuge, stieg aus und begrüßte erst einmal Signore Brandesa. „Schön, dass Sie da sind!“, meinte er ehrlich. Dann schüttelte er den Kollegen von der Polizei die Hände. „Also, was habt ihr?“ Er ging sofort zu einem vertraulichen „Du“ über.

Der erste Polizist deutete auf eine junge Frau, die völlig aufgelöst und mit verweinten Augen in der Gruppe von Frauen stand. Auch die anderen Frauen sahen schockiert aus. „Diese Frau hat heute Morgen einen Mann tot in der Schwitzhütte gefunden“, berichtete der Polizist. „Die Spurensicherung ist gerade da, danach können wir uns das ansehen.“

„Wann genau?“, erkundigte sich der Staatsanwalt. Er hatte bereits Papier und Kugelschreiber gezückt und auch Balloni machte sich Notizen.

„So gegen neun.“

„Name?“

Der Polizist zuckte mit den Schultern. „So weit sind wir noch nicht. Die Kommunikation ist etwas schwierig. Es sind alles Deutsche.“

„Deutsche?“, wunderte sich Marcetti. „Schon wieder?“ Der letzte Mordfall, den er vor einem Jahr bearbeitet hatte, war auch ein Deutscher gewesen. „Siena scheint ein gefährlicher Ort für Deutsche zu sein!“

Auch der Staatsanwalt wunderte sich und warf ihm einen erstaunten Blick zu. Marcetti grinste und hob unschuldig die Schultern. „Ich kann nichts dafür!“ Er wandte sich wieder an den Polizisten. „Nehmen Sie die Personalien auf, dann rede ich gleich mit den Damen. Ich möchte zuerst diese Schwitzhütte sehen.“

Der Polizist führte die Ermittler hinter das Haus und zeigte auf die Polizeiabsperrung und die Schwitzhütte, die dahinter lag. Männer in weißen Schutzanzügen waren damit beschäftigt, Spuren aufzunehmen. Trotzdem konnte man durch den offenen Eingang eine Gestalt erkennen, die dort am Boden lag. Einer der Männer kam auf Marcetti und Brandesa zu. „Guten Morgen!“, grüßte er höflich.

Die beiden grüßten ebenfalls und ließen sich erste Erkenntnisse mitteilen. „Den genauen Todeszeitpunkt kann ich erst später nennen, aber der Mann liegt dort bestimmt schon seit gestern Nacht.“

„Und die Todesursache?“

„Na, die ist sonnenklar! Er wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.“

„Also kein Unfall?“, stellte Marcetti fest. „Herzinfarkt, oder so etwas?“

„Nein! Außer, er ist auf einen Stein gefallen. Aber die Steine, die dort in der Schwitzhütte liegen, wurden nicht bewegt, und er ist auch nicht draufgefallen. So viel weiß ich schon. Nein, jemand hat ihm von hinten einen gehörigen Schlag verpasst.“

„Habt ihr die Mordwaffe gefunden?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es müsste Blut dran kleben. Aber hier an den Steinen ist nichts.“

„Haben Sie eine Vermutung, was es sein könnte?“ Marcetti kniff angestrengt die Augen zusammen. Das war alles sehr mysteriös.

Der Mann von der Spurensicherung kicherte erheitert, was im Falle dieses ernsten Ereignisses nicht ganz passte. „Ich tippe auf eine Kriegskeule.“ Er deutete auf die Schwitzhütte. „Der Typ da drin sieht aus wie ein Indianer, da liegt die Vermutung nahe, dass er mit einem Tomahawk erschlagen wurde.“

Oje! Marcetti ahnte bereits die Schlagzeile: Indianer in der Toskana mit Tomahawk erschlagen! Sie mussten unbedingt die Presse von hier fernhalten!

Marcetti ließ die Männer weiterarbeiten und ging wieder zu den verschreckten Frauen. Er stellte sich als Luca Marcetti von der Squadra Mobile in Siena vor und fragte höflich, ob denn jemand Englisch verstehe. Nur zwei der Damen meldeten sich, und Marcetti seufzte verzweifelt. Das würde allerdings mega-schwierig werden.

Einer der Polizisten, der sich von den Frauen die Ausweise vorzeigen ließ, machte bereits einen völlig genervten Eindruck. Seine Stimme war nahe am Schreien, als ob die Personen ihn dann besser verstehen könnten. Er erreichte damit das Gegenteil, denn die Damen waren inzwischen völlig verängstigt. So würde man aus ihnen keine vernünftigen Informationen bekommen.

Luca Marcetti stellte sich dazu und hob beruhigend seine Hände. „Piano, piano!“

Er ließ sich von dem Polizisten die Ausweise geben und fragte eine der Damen, die etwas Englisch konnte, ob sie wohl so freundlich wäre, seine Worte zu übersetzen. „Wir nehmen jetzt nur die Personalien auf“, erklärte er ruhig. „Bitte beruhigen Sie sich!“ Er wartete kurz, bis die Dame übersetzt hatte, und wandte sich dann fragend an die Frauen. „Wer von Ihnen hat denn die Leiche gefunden?“

Eine jüngere Frau meldete sich, die zum Glück Englisch verstand. Sie stellte sich als Susanne Körber vor. Sie zitterte immer noch am ganzen Leib und fuhr sich nervös durch ihr blondes Haar. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid und helle Espadrilles. Ihr Haar war strubbelig, als hätte sie es heute noch nicht gekämmt.

„Können wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte Marcetti. Er drückte Balloni die Ausweise in die Hand, damit er die Daten aufschrieb.

Susanne Körber führte Marcetti ins Haus, das im Halbdunkel des Morgens lag, weil die Fensterläden noch geschlossen waren. Irgendjemand öffnete sie, und Marcetti blinzelte, als das Sonnenlicht ihn blendete. Der Raum war wie ein großer Seminarraum eingerichtet, allerdings fehlten Stühle und Tische, stattdessen lagen überall Kissen auf dem Boden. Wie selbstverständlich nahm die Frau darauf Platz, und Marcetti setzte sich ihr gegenüber. Auf diese Weise hatte er eine Vernehmung noch nie geführt!

Er zückte ein Taschentusch, als die Frau schniefte, und sie putzte sich dankbar die Nase.

„Sie haben also die Leiche gefunden?“, erkundigte sich Marcetti in seinem holprigen Englisch.

„Ja, heute Morgen“, bestätigte die Frau. Wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht. „Wir waren gestern in der Schwitzhütte, und ich wollte noch einmal die Stimmung aufnehmen; da habe ich ihn liegen sehen.“

„Sie konnten ihn also sehen, ohne die Schwitzhütte zu betreten?“

„Ja, ich habe gleich gesehen, dass etwas nicht stimmt, und bin hingegangen, um nach ihm zu sehen. Er hatte Blut am Kopf. Ich habe mich zu ihm gesetzt und sofort erkannt, dass er tot war. Da bin ich zum Haus gerannt und habe um Hilfe geschrien.“

„Woran haben Sie erkannt, dass er tot war?“, fragte Marcetti. „Haben Sie ihn angefasst?“

Susanne Körber schüttelte den Kopf. „Nein, er starrte mich mit toten, geöffneten Augen an. Es war so schrecklich.“

„Und dann sind Sie wieder ins Haus gelaufen?“

„Ja! Ich war völlig hysterisch. Die anderen haben dann auch nach ihm geschaut, und eine hat die Polizei angerufen. Es war schwierig, denn wir kennen uns hier nicht aus. Die Seminar-leiterin ist ja auch nicht da.“

„Welche Seminarleiterin?“, erkundigte sich Marcetti.

„Healing Sun. Sie ist nach Rom gefahren, um noch zwei Teilnehmer abzuholen.“

„Healing Sun?“ Marcetti schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ja, sie heißt so. Sie ist eine große Medizinfrau.“

„Aha!“ Marcetti versuchte, die Informationen zu ordnen. Er war hier anscheinend auf eine Art Sekte gestoßen. „Und Sie kennen den Mann, der getötet wurde?“

Wieder schluchzte die Frau vor Verzweiflung. „Aber natürlich! Es ist Minninewah! Er ist ein großer Schamane! Ich habe schon einige Kurse bei ihm besucht. Dieser Kurs sollte mich als Schamanin initiieren.“

„All diese Damen sind also wegen des Kurses hier?“, wollte Marcetti wissen.

„Aber ja!“

„Wann sind Sie denn angereist?“

„Gestern! Wir wollten den Kurs mit einer Schwitzhütte beginnen. Heute hätten wir mit der Ausbildung angefangen.“ Sie weinte wieder. „Wer tut denn so etwas? Er war doch so ein guter Mensch! Ein Heiler! Ein Wissender!“

Marcetti reichte ihr ein weiteres Taschentuch. „Es tut mir wirklich leid. Aber können Sie mir sagen, wann Sie ihn das letzte Mal lebend gesehen haben?“

Die Frau zögerte kurz, als müsste sie darüber nachdenken, dann senkte sie den Kopf. „Nach der Schwitzhütte! Wir saßen noch zusammen und haben uns unterhalten.“

„Allein?“, wunderte sich Marcetti.

Die Frau nickte. „Ja, das macht er manchmal. Wir haben ja auch ganz persönliche Fragen an ihn.“

„Ach so! Können Sie einschätzen, wie spät es war, als Sie ihn verlassen haben?“

„Vielleicht gegen Mitternacht?“

„Hmh!“ Marcetti machte sich Notizen und wurde dann abgelenkt, als draußen hektische Rufe erklangen. Er klappte sein Notizbuch zu und nickte der Frau freundlich zu. „Sie werden alle hierbleiben müssen, bis wir Sie vernommen haben. Könnten Sie das bitte den anderen sagen? Ich versuche einen Dolmetscher aufzutreiben.“

„Selbstverständlich!“ Susanne Körber erhob sich ebenfalls, um dem Commissario nach draußen zu folgen. Die Frauen standen immer noch beisammen und blickten einem Auto entgegen, das gerade die Einfahrt hochfuhr.

Viola Hämmerlein

Der ältere Ford hielt hinter den Polizeiautos und Marcettis Alfa Romeo, und drei Frauen stiegen aus. Susanne Körber eilte auf sie zu, und ehe Marcetti es verhindern konnte, hatte sie der Frau über den Todesfall berichtet. Fassungslos begann die Frau hysterisch zu weinen und versuchte sich an den Polizisten vorbeizudrängen, die sie gerade in Empfang nehmen wollten.

„Mein Mann!“, rief sie hysterisch. „Mio marito!“

Marcetti seufzte gequält, als er erkannte, dass hier gerade die Ehefrau vom Tod ihres Mannes erfahren hatte. Zwei weitere Frauen standen völlig verdattert neben ihren Koffern und schienen überhaupt nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. Marcetti nickte Balloni zu, dass er sich um die Ankömmlinge kümmern sollte, während er zu der weinenden Ehefrau ging.

„Prego!“, bat er mit eindringlicher Stimme. „Sie dürfen gleich zu Ihrem Ehemann, aber wir müssen warten, bis die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig ist.“

„Was ist denn passiert?“, fragte die Frau völlig aufgelöst.

„Ihr Mann wurde heute früh ermordet aufgefunden. Wir wissen noch gar nichts. Bitte kommen Sie ins Haus, und beruhigen Sie sich erst einmal.“ Behutsam führte Marcetti die völlig verstörte Ehefrau ins Haus und ließ sie auf einem Kissen Platz nehmen. Nebenbei stellte er befriedigt fest, dass die Frau anscheinend ganz gut Italienisch konnte. Das würde die Sache erleichtern. Er reichte ihr ein Taschentuch und sah besorgt auf seinen schwindenden Vorrat.

Der Staatsanwalt trat ebenfalls näher und setzte sich dann mit einem Stirnrunzeln auf ein Kissen. Marcetti ignorierte ihn und konzentrierte sich ganz auf die Frau. Sie war mittleren Alters, mit dunklen strähnigen Haaren, braunen Augen und einem eher ungepflegten Äußeren. Make-up oder Friseur schienen für die Dame unnötige Ausgaben zu sein. Sie trug ein Batik-T-Shirt, das schon vor dreißig Jahren unmodern gewesen war, eine einfache Jeans und industriell hergestellte Mokassins. Auffallend war eigentlich nur der Indianerschmuck, den sie am Hals und an den Händen trug.

Marcetti räusperte sich und suchte die Aufmerksamkeit der Frau, die immer wieder versuchte, zum Fenster hinauszuschauen. Sie war unkonzentriert, und Marcetti wusste, dass er heute nicht mehr viel von ihr erfahren würde.

„Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“, bat er freundlich.

„Natürlich!“ Die Frau kramte in einer mit Fransen besetzten Tasche, holte den Geldbeutel heraus und suchte nach dem Ausweis. Es war ein deutscher Personalausweis, auf dem der Name Viola Hämmerlein stand. Als Adresse war tatsächlich Fungaia angegeben. Also hatten sie das Anwesen gekauft oder angemietet.

„Und der Tote ist ihr Ehemann?“

Wieder schniefte die Frau, fasste sich dann aber relativ schnell. „Ja!“

„Können Sie mir bitte seinen Namen nennen?“

„Eugen Gustav Hämmerlein. Geboren 1967 in Memmingen.“

„Und dieser andere Name, Minni …?“

„Minninewah? Das ist sein spiritueller Name, der ihm vom Schöpfer gegeben wurde. Es bedeutet Heiliger Wind.“

„Ach so!“ Marcetti vertiefte die Frage nicht weiter. „Und Sie bieten hier Seminare an?“

„Ja! Wir bilden Menschen zu Schamanen aus. Wir öffnen das Bewusstsein eines jeden zu seiner eigenen Spiritualität und zeigen ihm den Weg zur Erkenntnis.“

Marcetti verzog die Lippen. Was für ein Unsinn! Aber die Frau glaubte offensichtlich daran.

„Aber gestern waren Sie nicht hier?“, fragte er höflich. Es war eine rhetorische Frage.

„Nein, ich habe noch jemanden in Rom vom Flughafen abgeholt. Ich bin abends weg und habe dann in Rom übernachtet.“

Marcetti sah sich kurz im Raum um und kniff die Augen zusammen. „Wer hätte ein Interesse, Ihren Mann tot zu sehen? Hatte er irgendwelche Feinde?“

Frau Hämmerlein schniefte und rieb sich mit der Hand über die Nase. „Neider gibt es genug in der Szene. Aber hier?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir dachten, dass wir hier in Ruhe und ohne Anfeindungen leben könnten.“

Marcetti machte sich eine Notiz. Szene! Was das wohl bedeutete? „Welche Neider?“, erkundigte er sich neugierig.

„Ach, es gibt ein ganzes Online-Forum, dessen Teilnehmer Jagd auf Schamanen machen! Sie machen alles schlecht. Und dann gibt es noch jede Menge Leute, die nicht so erfolgreich sind und die unwahre Dinge über uns behaupten.“

„Zum Beispiel?“

„Mein Mann wurde von seinem Großvater initiiert. Er war ein Chickasaw-Indianer. Der Vater meines Mannes war in Deutschland als Soldat stationiert. Er hieß Welsh. Ihm zu Ehren nennt mein Mann sich James Welsh. Unter diesem Namen haben wir auch die Website. Es gibt immer wieder Leute, die das nicht glauben und uns schlechtmachen, aber die wissen gar nichts.“

„Hmh!“ Marcetti versuchte, darin einen Sinn zu sehen. Ein Name, egal ob richtig oder falsch, schien ihm kein plausibles Tatmotiv zu sein. Wenn jemand die Geschichte nicht glaubte, musste er sich zu keinem Schamanenkurs anmelden. Basta! Das war eher so ein Hickhack unter Insidern.

„Was kostet denn so ein Kurs?“, wollte er wissen. Geld war immer ein gutes Tatmotiv.

Frau Hämmerlein knabberte nervös an den Lippen, und Marcetti notierte sich ein weiteres Ausrufezeichen in seinem Gehirn. Hier gab es definitiv eine Spur.

„Ach …“, meinte Frau Hämmerlein ausweichend. „Das ist ganz unterschiedlich. Manche wollen nur einen Trommelkurs oder ein Wochenende mit Schwitzhütte ….“

„Ich rede von diesem Kurs!“, betonte Marcetti.

„Nun, einige sind hier zum ersten Mal. Dann ist es der Grundkurs. Er kostet 2800 Euro für die Woche.“ Sie zögerte kurz und machte eine fahrige Handbewegung. „Natürlich mit Kost und Logis!“

„Aha!“ Marcetti legte nachdenklich den Kopf schief. Draußen hatte er mehr als zehn Teilnehmer gesehen. Sie sprachen hier also locker von 30 000 Euro. Ein einträgliches Geschäft!

„Und die Teilnehmer wohnen hier?“

„Ja, wir haben genügend Zimmer. Bad und Toilette sind aber auf dem Gang.“

„Gibt es auch ein Esszimmer, in dem wir nicht auf dem Boden sitzen müssen? Oder ein Büro?“

Frau Hämmerlein schniefte wieder. „Oben habe ich ein Büro.“

„Wir werden es wohl durchsuchen müssen. Vielleicht finden wir da einen Hinweis.“ Marcetti wartete die Zustimmung nicht ab. Er sah auf, als Balloni ins Zimmer trat.

„Die Leiche wurde freigegeben. Wir können sie in die Gerichtsmedizin transportieren lassen.“

Marcetti sah den Staatsanwalt fragend an, und dieser nickte sein Einverständnis. „Das wird ganz schön kompliziert“, meinte er.

Marcetti teilte dessen Meinung. „Oje …“ Dann wandte er sich an seinen Kollegen: „Sag der Polizei, sie sollen alle Unterlagen sicherstellen, die sie finden. Außerdem will ich für morgen einen Dolmetscher. Organisiere das bitte! Ich möchte, dass das Anwesen rund um die Uhr bewacht wird und keiner das Grundstück verlässt. Wenn die Damen etwas brauchen, dann soll ihnen das ein Polizist bringen. Ich will alle Ermittlungsergebnisse auf meinem Tisch, und sag Mandriani, er soll sich mit der Obduktion beeilen.“

„Ja, Chef!“ Balloni grinste breit und machte sich ebenfalls Notizen. Er wusste, dass der Gerichtsmediziner ein Freund von Marcetti war und sicherlich schnell die gewünschten Informationen liefern würde.

Brandesa wandte sich an Marcetti und streckte ihm die Hand zu. „Sie halten mich auf dem Laufenden und melden sich, wenn Sie etwas brauchen! Und keine Eskapaden!“ Er lächelte schief.

Marcetti wusste natürlich, auf was der Staatsanwalt anspielte, und zuckte unschuldig mit den Schultern. „Natürlich nicht!“, versicherte er.

„Keine Zeugin mehr auf eigene Faust in Sicherheit bringen …“ Der Staatsanwalt funkelte Marcetti an.

„Nein, nein!“ Marcetti bemühte sich um Professionalität. Er sah dem Staatsanwalt nach, wie er das Haus verließ und wandte sich wieder Frau Hämmerlein zu. „Kommen Sie, ich führe Sie zu Ihrem Ehemann.“

Die Frau hatte sich etwas gesammelt und reagierte nun gefasst. Ihr Mann lag bereits auf einer Transportwanne und so war sein blutiger Hinterkopf nicht zu sehen. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, und so war es nicht möglich, ihm die Augen zu schließen. Kurz ließ die Ehefrau den Anblick des Toten auf sich wirken, dann hob sie ein Tuch über das Gesicht. „Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Voller Leben und Güte.“

Sie ging neben den Männern her, die die Transportwanne trugen und ließ es zu, dass er in einen Leichenwagen geschoben wurde. „Was passiert nun mit ihm?“

Marcetti schluckte schwer. Es war immer schlimm, einen Mordfall zu untersuchen. „Wir bringen ihn in die Gerichtsmedizin und untersuchen die Todesursache und vor allen Dingen den Todeszeitpunkt. Anschließend können Sie sich um die Beerdigung kümmern. Es wird ein paar Tage dauern. Sollen wir Ihnen bei der Überführung nach Deutschland helfen?“

Frau Hämmerlein schüttelte den Kopf. „Nein, er war glücklich hier. Ich möchte ihn hier beerdigen lassen.“

„Gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden müssen?“

Frau Hämmerlein lachte verächtlich. „Höchstens welche, die hier was absahnen wollen. Aber hier gibt es nichts zu holen.“

„Und die Kurseinnahmen?“

„Die laufen auf uns beide!“, erklärte Frau Hämmerlein.

„Und Sie sind auch die Erbin?“ Marcetti runzelte die Stirn.

„Quasi. Die Akademie läuft auf uns beide. Jeder ist auch allein zeichnungsberechtigt. So kann jeder auch allein die Geschäfte weiterführen.“

Frau Hämmerlein sah Marcetti von der Seite an. „Keine Sorge! Es reicht gerade so zum Leben.“

Marcetti setzte sein Pokerface auf. „Wir werden die Konten prüfen. Das gehört zu unseren Ermittlungen. Mord aus Geldgier war schon oft ein gutes Tatmotiv.“

Frau Hämmerlein nickte harmlos. „Tun Sie das! Ich habe nichts zu verbergen. Die Akademie dient der Verbreitung schamanischen Wissens. Natürlich leben wir davon, aber Reichtümer kann man davon nicht anhäufen.“

„Naja, bei 30 000 Euro Einnahmen …“ Marcetti ließ den Satz unvollendet.

„Ach, wissen Sie … da kommen die Miete für das riesige Haus, Steuern, laufende Kosten … so viele Kurse kann man im Jahr gar nicht anbieten. Ich will nicht jammern, aber so viel verdient man hier nicht.“

Frau Hämmerlein wandte sich wieder dem Leichenwagen zu, der bereit zur Abfahrt war. Sie ging einige Schritte mit und kehrte dann mit gesenktem Kopf zum Haus zurück, wo sie von den anderen Damen getröstet wurde.

Marcetti verschwand wieder im Haus und ließ das Ganze auf sich wirken. Balloni schloss sich ihm an, und gemeinsam wanderten sie durch das Haus und den Garten. Kopfschüttelnd sahen sie sich die Schwitzhütte an, die immer noch von einer Polizeilinie abgesperrt war. Neugierig sah Marcetti hinein. „Die Spurensicherung hat rein gar nichts gefunden. Auch keine Blutspritzer — außer an der Stelle, wo der Mann gelegen hat. Vielleicht wurde er bewegt?“

„Du meinst, dass der Tatort woanders ist?“

„Wäre doch möglich? Oder kannst du mir erklären, warum hier keine Blutspritzer sind?“

Balloni schüttelte den Kopf. Marcetti kletterte in die Schwitzhütte hinein und sah sich um. Eine niedrige Hütte, die aus Ästen gebaut und mit Decken abgedichtet worden war. In der Mitte eine Grube mit Steinen, sonst nichts.

Er kam wieder heraus und winkte Balloni, ihm zu folgen. „Schauen wir uns mal die Zimmer an.“

Er bat Frau Hämmerlein freundlich darum, ihm das Anwesen zu zeigen, und die Dame führte die Ermittler willig durch das Haus. Es war ein alter, heruntergekommener Palast, der insgesamt zwei Stockwerke hatte. Unter dem Dach lagen die früheren Unterkünfte der Bediensteten. Die Decke war niedriger als im Rest des Hauses. Nur wenige Zimmer waren als Gästezimmer hergerichtet worden. Frau Hämmerlein war schweigsam und abgelenkt, sodass sie kaum etwas sagte. Im ersten Stock lagen weitere Zimmer, die von den Seminarteilnehmern bewohnt wurden. Am hintersten Ende war ein Durchgang, der zum privaten Teil des Hauses führte. Hier befanden sich zwei getrennte Schlafzimmer, ein Badezimmer und ein Büroraum.

Ein Polizist packte gerade einige Unterlagen in eine Kiste und stellte den Computer sicher. Zum ersten Mal regte sich bei Frau Hämmerlein Widerstand. „Bekomme ich den denn wieder? Da sind alle meine Unterlagen und Anmeldungen gespeichert.“

Marcetti beschwichtigte sie. „Aber sicher! Wir prüfen ihn auf verdächtige Mails oder andere Hinweise, und dann bekommen Sie ihn zurück.“

„Wie lange kann das dauern?“

„Zwei, drei Wochen, vielleicht auch einen Monat. Es kommt darauf an, was wir finden.“

„So lange!“ Wahre Verzweiflung klang in der Stimme mit. „Sie legen ja die ganze Akademie damit lahm!“

Der Commissario zuckte mit den Schultern. „Ein Mord ist eben kein Kavaliersdelikt.“

Er deutete auf die Schlafzimmer. „Sind das die Zimmer von Ihnen?“

Die Frau nickte.

„Sie haben getrennte Schlafzimmer?“

Frau Hämmerlein ging in Verteidigungshaltung. „Ja! Mein Mann und ich waren mehr wirtschaftliche Partner. Ich habe mich um das Marketing gekümmert.“

„Dafür haben Sie aber reichlich betroffen reagiert“, stellte Marcetti fest.

„Entschuldigen Sie mal! Ich kenne meinen Mann nun schon seit zehn Jahren! Wir gehen sehr respektvoll miteinander um und haben uns auf einer ganz anderen Ebene wiedergefunden. Natürlich bin ich entsetzt und betroffen. Ich habe meinen Partner und einen lieben Menschen verloren!“

„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen!“ Marcetti zog den Kopf ein und gab Balloni das Zeichen zum Rückzug. „Welche Räume gibt es im Erdgeschoss?“, lenkte er ab.

„Nur den Seminarraum, eine große Küche und ein großes Esszimmer. Außerdem einen Wirtschaftsraum, eine Art Abstellkeller und einen weiteren kleinen Seminarraum, der zur großen Terrasse führt.“

„Ganz gut geeignet für so ein Ausbildungszentrum“, stellte Marcetti fest.

Frau Hämmerlein nickte gedankenverloren. „Hier ist es absolut ruhig. Niemand beschwert sich, wenn wir trommeln oder in der Schwitzhütte unsere Lieder singen.“

Marcetti trat wieder in den Seminarraum und ließ diesen Raum auf sich wirken. Erst jetzt betrachtete er die großen Fotografien genauer, die hinter imposanten Glasrahmen an der Wand hingen. Sie zeigten den Schamanen in immer wieder anderen Posen: mit erhobenen Händen und wallendem, wehendem Haar vor einem Sonnenuntergang; mit Ringen bestückt eine Pfeife den Himmel entgegen haltend; ein Foto zeigte ihn in indianischer Lederkleidung, vor einem Wasserfall stehend. Die Wände waren geschmückt mit indianischen Artefakten. Marcetti sah bemalte Trommeln, Traumfänger, gemusterte Decken, Schilde und Federschmuck. Nur einen Tomahawk fand er nirgends. Na ja … wäre ja auch unwahrscheinlich, dass die Tatwaffe einfach so an der Wand hing. Trotzdem trat er näher und untersuchte, ob irgendwelche Nägel aus der Wand schauten, an denen nichts aufgehängt war. Aber auch hier wurde er nicht fündig.

Die Küche und anderen Nebenräume waren ebenso unauffällig. In der Küche hingen ein paar Fotos von anderen Kursen und ihren glücklichen Kursteilnehmerinnen, die ein Zertifikat in den Händen hielten. Bei einem Kurs war tatsächlich auch mal ein Mann vertreten, aber ansonsten waren die Teilnehmer ausschließlich weiblich.

Der zweite Seminarraum war genauso ausgestattet wie der erste, nur dass hier nicht nur Kissen, sondern auch eine breite Matratze lag. Auch hier war eine Egowand des Schamanen ausgestellt. Zudem hing an einer Seite auch ein großes Bild von Frau Hämmerlein. „Healing Sun“ stand in verschnörkelter Schrift darauf. Einige kleinere Fotos zeigten Healing Sun bei der schamanischen Arbeit: wie sie Wasser auf einige Steine goss, Kräuter sortierte und eine Schale mit Räuchergut in den Händen hielt. Marcetti wurde einfach nicht schlau daraus. Wer sollte ein Interesse haben, zwei völlig abgedrehte Menschen so zu hassen, dass man einen davon ermordete? Einen Pfarrer ermordete man doch auch nicht! Wieder überprüfte Marcetti die Wände, aber auch hier war nichts zu finden. Nichts war verändert worden.

Frau Hämmerlein hatte geschwiegen und sah ihn nun fragend an.

„Frau Hämmerlein …“

„Healing Sun!“, wurde er unterbrochen. „So lautet nun mein Name.“

„Frau Hämmerlein!“, wiederholte Marcetti unbeeindruckt. „Ich bin von der Mordkommission und nicht bei Peter Pan. Nimmerland ist gerade abgebrannt, und wir zwei stellen uns jetzt mal ganz schnell der Realität. So leid es mir tut! “ Er räusperte sich, und eine steile Falte erschien auf der Stirn. „Sie haben also beide schamanisch gearbeitet?“ Er wollte wissen, welche Auswirkungen der Tod des Mannes auf das Unternehmen hatte.

„Ja!“, gab Frau Hämmerlein zu. „Aber der Magnet war mein Mann.“

„Das bedeutet, dass sein Tod für Sie finanziell ebenfalls ein Verlust ist. Und nicht nur menschlich?“

Frau Hämmerlein schaute ihn entsetzt an, und Marcetti machte eine verlegene Geste. „Ich muss das fragen, weil ich immer noch nach einem Tatmotiv suche. Sorry, wenn ich ein wenig kühl wirke.“

Die Frau schluckte schwer und nickte dann voller Verständnis. „Natürlich! Es klang halt so abgebrüht! Aber es ist schon so, wie Sie es sagen. Finanziell ist das ein Desaster. Die meisten Teilnehmer kamen natürlich wegen Minninewah. Trotzdem habe auch ich immer einen Teil der Ausbildung übernommen. Zum Beispiel die Kräuterführungen, die Mondphasen, das Räuchern oder eben Frauenthemen.“

„Aha!“ Marcetti nahm die Information auf und speicherte sie ab. Er wusste noch nicht, ob er sie irgendwie brauchen konnte. Er sah aus den Augenwinkeln, dass Balloni eifrig mitschrieb, und nickte ihm zufrieden zu.

Geschäftig wandte er sich wieder der Frau zu. „Wir überprüfen selbstverständlich alle Alibis. Können Sie bitte meinem Kollegen das Hotel sagen, in dem Sie übernachtet haben? Wir werden das überprüfen. Reine Routine!“