Im Schatten von Assange - Anna Ardin - E-Book

Im Schatten von Assange E-Book

Anna Ardin

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Beschreibung

Anna Ardin ist eine der beiden schwedischen Frauen, die Wikileaks-Gründer Julian Assange 2010 wegen sexuellem Missbrauch angezeigt haben. Eine Entscheidung, die unabsehbare Konsequenzen von weltweitem Ausmaß zur Folge hatte. Während den letzten zehn Jahren waren die Vorwürfe gegen Assange immer wieder auf den Titelseiten, während dieser sich in der ecuadorianischen Botschaft in London verbarrikadierte, um nicht ausgeliefert zu werden. Anna Ardin hat lange geschwiegen. Jetzt erzählt sie ihre vollständige Geschichte. "Im Schatten von Assange" wirft ein neues und differenziertes Licht auf ein globales Ereignis, zu dem fast alle ihre Meinungen gemacht hatten, ohne je die andere Seite gehört zu haben. Anna Ardins Buch handelt detailliert von den Ereignissen im August 2010, und von den Wochen und Monaten danach, von der Macht des Mobs im Netz und den tiefgreifenden Folgen, die Hass und Drohungen auf ein individuelles Leben haben können. Ardins fesselndes Buch ist ein Plädoyer für Frauenrechte, die nach wie vor zu oft hinter scheinbar wichtigere Dinge gestellt werden. Ein Plädoyer für das Weitermachen und Weitergehen in Zeiten von existenzieller Bedrohung. Und eine Geschichte ohne Monster und ohne Engel, denn Anna Ardin schreibt nüchtern, präzise und schonungslos. Auch "Im Schatten von Assange" liegt die Wahrheit in den Grautönen, nicht im Schwarzen oder Weißen.

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Salis

ANNA ARDIN

IM SCHATTENVON ASSANGE

 

Anna ArdinIm Schatten von Assange

 

Elster & Salis AG, Zü[email protected]

Lektorat

Viktor Hilgemann

Korrektorat

Gertrud Germann

Umschlaggestaltung

Lotta Mellgren / Ester Stockholm / André Gstettenhofer

Umschlagbild

Joel Nilsson, unter Verwendung einer Fotografie von Julian Assange, Fairfax Media / Getty Images

 

1. Auflage 2021

 

© 2021, Elster & Salis AG, ZürichAlle Rechte vorbehalten

 

ISBN e-Pub 978-3-03930-021-1

 

ISBN Print 978-3-03930-020-4

 

 

Elster & Salis AG wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Für alle FeministInnen, jede einzelneund jeden einzelnen von ihnen

A wise woman wishes to be no one’senemy; a wise woman refuses to beanyone’s victim.

Maya Angelou

Ich bin eine der beiden Frauen, die 2010 Strafanzeige gegen Julian Assange wegen sexueller Übergriffe erstattet haben. Höchstwahrscheinlich wünschten alle Wikileaks-Fans weltweit, dass ich hierzu keinen Grund gehabt hätte – nicht zuletzt ich selbst wünschte das sehnlichst. Aber ich hatte einen. Ich weiß zwar nicht, wie man das, was passiert ist, juristisch genau bezeichnet, aber für mich war es ein Übergriff, und ich werde es auch weiterhin so bezeichnen.

Julian Assange wurde im Zuge seiner Arbeit mit Wikileaks noch wegen eines ganz anderen Verbrechens angeklagt: Spionage. Doch diesen Vorwurf halte ich für unberechtigt. Es handelt sich vielmehr um Wahrheitsfindung, Transparenz und freie Meinungsäußerung und nicht um eine Straftat. Die Anzeige wegen sexueller Übergriffe hingegen hat weder etwas mit Spionage zu tun noch mit freier Meinungsäußerung, sondern bezieht sich ausschließlich auf sein persönliches Verhalten. Natürlich geht es bei diesem Verhalten und der nachfolgenden Debatte im weitesten Sinn auch um Frauenrechte sowie um die Frage, ob sich prominente und einflussreiche Männer gegenüber Frauen benehmen dürfen, wie sie wollen. Aber letztendlich sind es zwei ganz unterschiedliche Tatbestände, die nichts miteinander zu tun haben. Ich bezichtige also nicht Wikileaks der sexuellen Übergriffe, auch wenn die Arbeit von Wikileaks kaum davon profitieren dürfte, wenn sich sein Repräsentant herausnehmen darf, was er will.

Ich war davon überzeugt, dass Wikileaks einen wichtigen Beitrag zu den Themen Transparenz und Frieden leistete. Aus diesem Grund habe ich mich dafür eingesetzt, Julian nach Stockholm zu holen, um dort Reden zu halten, und deshalb ließ ich ihn auch in meiner Wohnung übernachten. In diesem Zusammenhang kam es zu einem sexuellen Übergriff. Nur wenige Tage später übernachtete Assange bei einer anderen Frau, die später aussagte, dass ihr Ähnliches widerfahren sei. Mein Kontakt zu dieser Frau kam nur durch Zufall zustande, doch ich wollte sie nicht im Stich lassen. Deshalb habe ich sie zur Polizei begleitet und selbst eine Zeugenaussage gemacht. Es klingt banal, doch weiter als bis dahin ging meine Beteiligung in dieser Sache nicht.

In den nachfolgenden Jahren sind zwei verschiedene Tribunale abgehalten worden, um die Schuldfrage zu klären und die Wahrheit hinsichtlich unserer Strafanzeigen wegen der Sexualdelikte aufzudecken. Ein offizielles juristisches mit polizeilicher sowie gerichtlicher Beteiligung und eines in den Diskussionsforen im Internet und in den Zeitungen. Von beiden Tribunalen handelt dieses Buch; sowohl vom offiziellen Gerichtsverfahren, an dem Julian seine Mitwirkung verweigerte, als auch von der Hetzjagd, an der er aktiv teilnahm, während ich zehn Jahre lang alles getan habe, um mich ihr zu entziehen.

Mit all dem, was Staatsanwälte und Strafverteidiger, Regierungen und PR-Agenturen in dieser Zeit unternommen haben, hatte ich nicht das Geringste zu tun. Ich habe stattdessen abgewartet und zugehört. Wenn die Polizei oder die Staatsanwaltschaft mir Fragen stellten, beantwortete ich sie. Und auch die Belästigungen und Drohungen, mit denen ich mich nach Erstattung der Strafanzeige konfrontiert sah, meldete ich der Polizei. Doch um das laufende Gerichtsverfahren nicht zu beeinträchtigen, habe ich mich in all diesen Jahren nicht öffentlich zu dem tatsächlichen Geschehen von damals geäußert.

Wir werden zwar niemals erfahren, ob Julian juristisch betrachtet ein Straftäter ist, aber ich kann die Ereignisse aus meiner Sicht beschreiben. Anstatt im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, das nie stattgefunden hat, auszusagen, möchte ich jetzt meine Version schildern. Dieser Fall kann möglicherweise veranschaulichen, wie ein zukünftiger Dialog über Grauzonen und Übergriffe aussehen könnte. Ich bin schließlich nur eine von Millionen Frauen, die nicht als solche respektiert worden sind.

Dieses Buch berichtet davon, was sich hinter den Schlagzeilen einer zehn Jahre währenden Hetzjagd abspielte und wie der Hass im Netz auf mich einstürmte, weil ich meine persönliche Version eines Übergriffs dargelegt hatte. Es ist eine Geschichte ohne Engel und ohne Monster, in der Helden zu Schurken werden können und die Wahrheit vielleicht irgendwo in der Grauzone zwischen Schwarz und Weiß liegt.

Beim Schreiben dieses Buches war es mir wichtig, uneingeschränkt ehrlich und transparent zu sein. Dementsprechend habe ich meine persönlichen Erinnerungen sorgfältig abgeglichen mit Tagebuchaufzeichnungen und bislang unveröffentlichten Texten, mit Vernehmungsprotokollen und Notizen zu Gesprächen, die ich mit anderen Beteiligten geführt habe, sowie nicht zuletzt mit Zeitungsartikeln und Kommentaren in unterschiedlichen Internetforen. Dabei habe ich sehr genau darauf geachtet, den Verlauf der Ereignisse und deren Reihenfolge möglichst korrekt wiederzugeben. Zugleich lässt sich aber nicht leugnen, dass die meisten dieser Ereignisse schon viele Jahre zurückliegen. Es ist also durchaus möglich, dass ich den Wortlaut der Dialoge nicht immer exakt getroffen, oder mich im Tag, an dem eine bestimmte Sache geschah, geirrt habe. Und obwohl sämtliche Zitate von anonymen Internettrollen authentisch sind und sie somit die Stimmung des Hasses und der Drohungen gegen mich in unterschiedlichen Zeiträumen veranschaulichen, kann es durchaus sein, dass sie in diesem Text unter ein abweichendes Datum geraten sind.

Danke für Ihr Interesse an diesem Buch.

Anna Ardin, Visby, Dezember 2020

Inhalt

2010

Dienstag, 10. August 2010

Mittwoch, 11. August 2010

Donnerstag, 12. August 2010

Freitag, 13. August 2010

Samstag, 14. August 2010

Samstag, 14. August, abends

Sonntag, 15. August 2010

Montag, 16. August 2010

Dienstag, 17. August 2010

Mittwoch, 18. August 2010

Donnerstag, 19. August 2010

Freitag, 20. August 2010

Samstag, 21. August 2010

Sonntag, 22. August 2010

23. August 2010

24. August 2010

25. August 2010

26. August 2010

27. August 2010

28. August 2010

29. August 2010

30. August 2010

31. August 2010

1. September 2010

3. September 2010

4. September 2010

6. September 2010

7. September 2010

8. September 2010

9. September 2010

12. September 2010

16. September 2010

19. September 2010

22. September 2010

27. September 2010

15. Oktober 2010

18. Oktober 2010

19. Oktober 2010

22. Oktober 2010

13. November 2010

16. November 2010

18. November 2010

20. November 2010

22. November 2010

24. November 2010

28. November 2010

30. November 2010

2. Dezember 2010

5. Dezember 2010

6. Dezember 2010

7. Dezember 2010

8. Dezember 2010

9. Dezember 2010

10. Dezember 10

11. Dezember 2010

12. Dezember 2010

13. Dezember 2010

14. Dezember 2010

15. Dezember 2010

16. Dezember 2010

18. Dezember 2010

19. Dezember 2010

20. Dezember 2010

21. Dezember 2010

22. Dezember 2010

23. Dezember 2010

24. Dezember 2010

26. Dezember 2010

27. Dezember 2010

31. Dezember 2010

2011

1. Januar 2011

2. Januar 2011

4. Januar 2011

5. Januar 2011

7. Januar 2011

8. Januar 2011

9. Januar 2011

13. Januar 2011

17. Januar 2011

25. Januar 2011

26. Januar 2011

27. Januar 2011

28. Januar 2011

1. Februar 2011

7. Februar 2011

12. Februar 2011

17. Februar 2011

18. Februar 2011

24. Februar 2011

1. März 2011

2. März 2011

7. März 2011

14. März 2011

19. März 2011

24. April 2011

26. April 2011

27. April 2011

14. Mai 2011

18. Mai 2011

23. Mai 2011

25. Mai 2011

8. Juli 2011

18. Juli 2011

21. Juli 2011

27. Juli 2011

10. August 2011

11. August 2011

15. August 2011

18. August 2011

20. August 2011

1. Oktober 2011

2. Oktober 2011

6. Oktober 2011

11. Oktober 2011

12. Oktober 2011

14. Oktober 2011

23. Oktober 2011

24. Oktober 2011

2. November 2011

11. November 2011

21. November 2011

24. November 2011

26. November 2011

2012

7. Februar 2012

29. Februar 2012

30. März 2012

4. Mai 2012

30. Mai 2012

31. Mai 2012

3. Juni 2012

14. Juni 2012

19. Juni 2012

20. Juni 2012

17. Juli 2012

3. August 2012

16. August 2012

21. August 2012

20. Oktober 2012

29. Oktober 2012

9. Dezember 2012

12. Dezember 2012

16. Dezember 2012

2013

10. Januar 2013

21. Januar 2013

28. Februar 2013

6. März 2013

13. April 2013

10. Juni 2013

30. Juli 2013

21. August 2013

22. August 2013

13. September 2013

15. September 2013

23. September 2013

6. Dezember 2013

9. Dezember 2013

28. Dezember 28

2014

6. März 2014

16. Juli 2014

30. Juli 2014

31. August 2014

20. November 2014

8. Dezember 2014

21. Dezember 2014

2015

8. Januar 2015

13. März 2015

16. April 2015

9. Mai 2015

11. Mai 2015

29. Mai 2015

16. bis 17. Juni 2015

13. August 2015

17. August 2015

22. Dezember 2015

2016

21. Januar 2016

4. Februar 2016

5. Februar 2016

22. Februar 2016

26. Februar 2016

8. März 2016

31. März 2016

2. April 2016

25. Mai 2016

28. Mai 2016

19. Juli 2016

28. Juli 2016

8. August 2016

9. August 2016

22. August 2016

24. August 2016

16. September 2016

28. Oktober 2016

8. November 2016

9. November 2016

14. November 2016

2017

17. Januar 2017

7. April 2017

17. Mai 2017

18. Mai 2017

19. Mai 2017

20. Mai 2017

9. Juni 2017

14. August 2017

16. Oktober 2017

14. November 2017

2018

25. Mai 2018

17. September 2018

16. Oktober 2018

2019

18. Februar 2019

8. März 2019

10. März 2019

22. März 2019

29. März 2019

11. April 2019

12. April 2019

7. Mai 2019

8. Mai 2019

13. Mai 2019

20. Mai 2019

23. Mai 2019

29. Mai 2019

2. Juni 2019

6. Juni 2019

22. Juli 2019

31. Juli 2019

1. August 2019

9. September 2019

26. September 2019

27. September 2019

13. November 2019

14. November 2019

19. November 2019

20. November 2019

22. November 2019

9. Dezember 2019

2020

18. Februar 2020

19. Februar 2020

21. Februar 2020

22. Februar 2020

24. Februar 2020

25. Februar 2020

8. März 2020

9. März 2020

DANK

ENDNOTEN

QUELLEN

2010

Dienstag, 10. August 2010

»Der Wikileaks-Gründer plant, nach Schweden zu kommen. Habt ihr Interesse, ihn einzuladen und ein Seminar zu organisieren?« Die Frage kommt von einem Journalisten namens Donald und ist an die Socialdemokrater för tro och solidaritet (»Sozialdemokraten für Glauben und Solidarität«) gerichtet, eine Institution, die sowohl meine Arbeit als auch meine Freizeit ist. Wir hatten aufgrund unseres gemeinsamen Engagements für Menschenrechte in Palästina schon oft miteinander zu tun, doch seine Verbindung zu Wikileaks ist neu für uns.

Wikileaks ist eine Organisation, die im Verlauf des Frühjahrs und Sommers an zwei Enthüllungen mitgewirkt und damit weltweit Aufsehen erregt hat. Im April wurde »Collateral Murder« veröffentlicht, ein verwackeltes Bordvideo aus einem Kampfhubschrauber der US-Army, in dem wiederum amerikanische Soldaten filmen, wie sie auf zivile Iraker schließen und dabei 15 Personen töten, darunter zwei Reporter von der internationalen Nachrichtenagentur Reuters. Ende Juli wirkte Wikileaks an den »Afghanistan-Enthüllungen« mit, einer Sammlung geheimer Militärdokumente über den Kriegseinsatz der USA in Afghanistan, die zeitgleich im »Guardian«, der »New York Times« und anderen Medien weltweit veröffentlicht wurde.

Es ist kein Zufall, dass Donald ausgerechnet bei uns anruft und vorschlägt, ein Seminar mit Wikileaks abzuhalten. Der Verband Socialdemokrater för tro och solidaritet hat nach achtzigjähriger Erfahrung in der Friedensbewegung selbstverständlich auch gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan demonstriert und protestiert. Unsere Organisation nennt sich auch Broderskapsrörelsen (»Brüderlichkeitsbewegung«), nach der 1928 gegründeten Zeitung »Broderskap«, und hat sich von Beginn an für die Menschenwürde und auch den Respekt gegenüber der Natur eingesetzt. Sie ist also hinsichtlich dieser Frage eine Verbündete.

Der Film und die Dokumente, die Wikileaks in der ersten Jahreshälfte enthüllt hat, bilden für uns weitere wichtige, wenn auch widerwärtige Beweise für die unmoralische Kriegsführung der USA. Von den USA finanzierte Söldner begehen schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte im Irak, wobei die tatsächliche Anzahl der Getöteten in der Zivilbevölkerung höchstwahrscheinlich um ein Vielfaches höher ist als berichtet, und innerhalb der staatenverbindenden Diplomatie spielen Spionage sowie Korruption offenbar eine entscheidende Rolle. Diese Probleme müssen unbedingt ans Licht kommen, um gelöst werden zu können, und dank Wikileaks werden die relevanten Fragen diesbezüglich jetzt öffentlich erörtert.

Dies ist allerdings nicht nur wichtig für meinen Verband, sondern auch für mich persönlich. Ich bin eine liberal eingestellte Sozialdemokratin, halte nicht viel von Autoritäten und hasse Imperialismus sowie Angriffskriege. Ich verurteile es, wenn man Menschen aufgrund ihrer politischen Ansichten ins Gefängnis sperrt und Dissidenten keine fairen Gerichtsverfahren gewährt. Ich verabscheue es geradezu, dass der Westen seine Plünderungskriege in Begriffe wie Entwicklung, Terrorismusbekämpfung oder Stärkung der Rechte von Frauen hüllt, obwohl infolge dieser Kriege der Terrorismus und die Einschränkungen der Frauenrechte tendenziell noch zunehmen. Und außerdem ist mir an einem gerechten Frieden im Mittleren Osten besonders gelegen, weil ich erst kürzlich die Misere und Hoffnungslosigkeit im größten Freiluftgefängnis der Welt – dem vollständig zerbombten Gazastreifen – mit eigenen Augen gesehen habe. Wikileaks verfolgt offenbar dieselben Ziele wie ich und setzt sich zudem für eine Aufdeckung des Machtmissbrauchs ein, der diesen Kriegen zugrunde liegt, unabhängig von den Begriffen, in die er gehüllt wird.

Von Julian Assange hingegen habe ich noch nie zuvor gehört, und ich weiß auch nicht recht, was es bedeutet, der Gründer von Wikileaks zu sein. Wo bleiben beispielsweise der Generalsekretär, die Chefin oder der Geschäftsführer? Dennoch finde ich das Ganze ziemlich cool. Der Film aus dem Militärhubschrauber genügt mir als Argument.

Mein Chef nimmt Donalds Angebot an, und wir beschließen den Titel des Seminars: »Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit«1, nach den geflügelten Worten der britischen Frauenwahlrechtsaktivistin Ethel Annakin Snowden, mit denen sie 1915 kritisierte, dass die Rechte der Frauen als Argument für den Ersten Weltkrieg herangezogen wurden. Um Krieg führen zu können, bedarf es Lügen – Mythenbildung und Propaganda, die besagen, dass der Feind einer anderen, schlechteren Sorte Mensch angehöre, welche uns bedrohe – sowie einer Zensur der Kriegsfolgen. Die Wahrheit ist selten simpel, selbstverständlich oder absolut, das Streben danach jedoch immer eine Voraussetzung für Frieden und Gerechtigkeit.

Mit Unterstützung von Donald, unserem Geschäftsführer Peter, dem Geschäftsführer unserer Jugendorganisation, Victor, und dem schwedisch-israelischen Journalisten Johannes – unserer Kontaktperson bei Wikileaks in England – organisiere ich Julian Assanges Reise von London nach Stockholm. Darüber hinaus kümmere ich mich um die Buchung von Räumlichkeiten für das Seminar bei der Dachorganisation von Einzelgewerkschaften in Schweden, Landsorganisation (LO), verschicke Pressemitteilungen und lade diverse Leute ein. Alles muss ziemlich schnell gehen, und nicht nur die Zeit, sondern auch das Geld ist knapp.

Assanges Flugticket kostet mehr, als wir uns eigentlich leisten können, doch wir beschließen, dass es die Sache wert ist. Sein Besuch wird auf Fragen nach internationaler Solidarität, nach einem Ende des USA-Krieges und den Möglichkeiten, die Truppen in Afghanistan dem Mandat der Vereinten Nationen zu unterstellen, aufmerksam machen. Unter den besser Informierten in unseren Kreisen – Friedensaktivisten und anderen Personen, die sich für Wahrheitsfindung und Transparenz einsetzen – kennen viele die Internetplattform Wikileaks bereits und erachten sie als Symbol für berechtigten Widerstand.

Wir erfahren ebenfalls, dass Wikileaks daran interessiert ist, sich mit einer schwedischen Internetzeitung zu präsentieren, um von dem umfangreichen Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit in Schweden profitieren zu können. Deshalb diskutieren wir verschiedene Möglichkeiten, wie man Wikileaks dabei unterstützen könnte, sich als Organisation und Publikationsorgan in Schweden zu etablieren.

Das von uns organisierte Seminar ist für den Morgen des 14. August angesetzt. Julian Assange wird bereits am Donnerstag, dem 12. August erwartet, und wir müssen ihm dementsprechend eine Übernachtungsmöglichkeit für zwei Nächte besorgen. Er hat angekündigt, lieber nicht im Hotel, sondern so anonym wie möglich wohnen zu wollen. Da ich wegen eines Festivals in diesen Tagen sowieso nicht vor Ort sein würde, biete ich unserem Verband an, ihm meine Einzimmerwohnung in der Innenstadt von Stockholm zu überlassen. Eine kostengünstige Alternative für eine mittellose Organisation, noch dazu anonym – wie Julian es wünscht –, und zudem verleiht es auch mir selbst einen gewissen Status. Im Zentrum des Geschehens stehen zu dürfen und angesagte Leute kennenzulernen, ist in meinen Kreisen prestigeträchtiger als ein hohes Gehalt, ein Elektroauto oder andere Statussymbole.

Mittwoch, 11. August 2010

Das Interesse am Seminar ist enorm. Wir erwähnen in der Pressemitteilung, dass Journalisten Vortritt haben, doch es melden sich so viele Journalisten an, dass im Prinzip kein Platz mehr für andere Teilnehmer bleibt. Ich muss Hunderten von Leuten absagen.

Eine junge Frau namens Maria, die über Twitter vom Seminar erfahren hat, schickt uns eine Nachricht. Sie schreibt, dass sie uns gern als ehrenamtliche Helferin unterstützen würde, wenn sie dadurch einen Platz bekäme. Ihre Anfrage kommt in der stressigen Planungsphase des Seminars wie gerufen. Ich antworte ihr, dass wir zwar im Augenblick noch keine Aufgabe für sie hätten, sich aber jederzeit etwas ergeben könnte. Wenn sie also frühzeitig kommen und sich bereithalten würde, dürfte sie gerne teilnehmen.

Donnerstag, 12. August 2010

In Kumla findet gerade ein christliches Jugendfestival namens Frizon statt, an dem ich als Repräsentantin der Ung kristen vänster (»Jungen christlichen Linken«) teilnehme. Gemeinsam mit einigen anderen Leuten betreue ich unser Informationszelt. Wir diskutieren mit interessierten Jugendlichen über Themen wie internationale Solidarität, Religionsfreiheit, Gleichstellung und die Wahrung der Schöpfung. In einem Podiumsgespräch über Christentum und Politik, Glaube und Solidarität werde ich von christlichen Anarchisten heftig dafür kritisiert, nicht radikal genug zu sein. Draußen unter den Festivalbesuchern müssen wir uns hingegen mit pubertierenden Evolutionsleugnern herumschlagen, die Sätze äußern wie »Kann ja sein, dass es in deiner Familie Affen gibt, aber in meiner nicht«. Wir müssen es auch mit Gegnern des Abtreibungsgesetzes aufnehmen und Leuten, die sich allein durch unsere Anwesenheit provoziert fühlen, weil letztlich das Votum der christlichen Sozialdemokraten vor knapp einem Jahr zu dem Beschluss der Schwedischen Kirche geführt hat, Homo-Ehen zu gestatten. Doch am schlimmsten ist es, einigen Jugendlichen gegenüberzustehen, denen man offenbar eingetrichtert hat, die Welt aus religiösen Gründen in »Wir« und »Die anderen« einzuteilen.

Zur gleichen Zeit nimmt der Vertreter von Wikileaks in Stockholm ein Kuvert mit dem Schlüssel zu meiner Wohnung entgegen, das ich am Kiosk an der Ecke Götgatan/Blekingegatan hinterlegt habe.

Freitag, 13. August 2010

Eigentlich hätte ich bis Samstagmorgen in Kumla bleiben sollen, um von dort aus direkt zum LO-Hauptsitz zu fahren, wo das Seminar stattfinden soll. Doch der Ansturm auf die Veranstaltung, sowohl von all den Menschen, die vorhaben teilzunehmen, als auch den Journalisten, die darüber berichten wollen, ist so groß, dass sich nicht alles aus der Ferne organisieren lässt. Ich werde in Stockholm gebraucht, und außerdem ist mein Bedarf an Konfrontationsmomenten mit unsolidarischen, homophoben und rechtslastigen Christen fürs Erste gedeckt.

Ich kontaktiere Donald, der mir bestätigt, dass es für Julian Assange völlig in Ordnung sei, wenn wir gemeinsam in der Wohnung übernachteten. Also fahre ich heim und begegne Julian zum ersten Mal. Er begrüßt mich im Flur meiner eigenen Wohnung.

»Ich hab mal einen Blick in die Schublade mit der Unterwäsche geworfen«, sagt er und hält einen BH hoch. »Als ich die Körbchengröße sah, dachte ich, diese Frau würde ich gern treffen.«

Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einen Moment lang herrscht Schweigen. Dann wird mir die Stille allmählich unangenehm, und ich tue seine Bemerkung mit einem Lachen ab.

Wir verlassen die Wohnung, um in einer kleinen Kneipe in der Nachbarschaft etwas zu essen.

»Die spähen mich aus«, behauptet er.

»Aha«, sage ich.

»Die überwachen mich«, wiederholt er mit geheimnisvoll gesenkter Stimme.

Vier Stockwerke tiefer auf der anderen Seite meines Wohnhauses parken auf beiden Straßenseiten Autos. Er umrundet eines davon, um durch die Seitenfenster einen Blick hineinzuwerfen, sieht jedoch niemanden. Er nimmt ein anderes ins Visier. Keiner der Wagen hat getönte Scheiben, und keiner wirkt verdächtig. Ich bleibe stehen und schaue Julian an. Mir fällt es schwer, einzuschätzen, ob seine Worte ernst gemeint waren oder nur ein Scherz sein sollten, doch nach einer Weile scheint er genug gesehen zu haben, und wir können weitergehen.

Es wird ein netter Abend in der Blekingegata, in der Greta Garbo aufwuchs, mit Thai-Essen und Mineralwasser, und Julian ist so in seine Feeds auf Twitter vertieft, dass er nicht einmal hört, als die Bedienung ihn fragt, ob er noch mehr Reis haben möchte. Er zitiert gerade einen Satz aus einem Artikel in der englischen Boulevardpresse über seine Frisur und verkündet dann voller Stolz und Freude, wie er in England einmal von Paparazzi verfolgt wurde. Hier in Stockholm hingegen scheint ihn noch niemand erkannt zu haben, und auch hinter den Scheiben der parkenden Autos sind noch immer keine Undercover-Agenten auszumachen. Mir kommt wiederholt der Gedanke, dass er offenbar jemanden braucht, der sich um ihn kümmert.

Die Gespräche mit ihm sind angenehm, und er macht einen aufmerksamen und zugewandten Eindruck. Unsere Wertvorstellungen stimmen in vieler Hinsicht überein, und unsere strukturellen Analysen bezüglich der Frage nach der Emanzipation des Menschen verfolgen dasselbe Ziel. Ich muss ihm nicht erst erklären, warum ich Gleichstellung wichtig finde, oder ihm Gründe für das Streben nach Selbstachtung in einer friedlichen Welt liefern. Wir sind uns schnell einig und bauen unser Gespräch auf den Argumenten des anderen auf, genauso, wie ich es mit meinen besten Freunden erlebe, und das, obwohl wir uns erst wenige Stunden kennen. Auch die Frage der Menschenrechte beurteilen wir ähnlich. Feminismus und die Rechte von Frauen scheinen für ihn jedoch davon ausgenommen zu sein.

»Das ist aber doch ein gewaltiger Widerspruch, Julian«, sage ich.

Er lächelt entschuldigend und entgegnet:

»Die Feministen haben den Krieg in Afghanistan angestiftet.«

Ich lache auf. Der Mann, der, buchstäblich gesprochen, gerade die Helikopterperspektive auf die Weltpolitik einnimmt, kann doch unmöglich so dumm sein, ernsthaft zu glauben, dass sich der letzte in der Reihe aller Übergriffe durch Großmächte auf Afghanistan mit den Rechten der Frauen begründen lasse. Und das nur, weil es ihm als Argument gerade in die Hände spielt, um die Ansichten des Westens auf seiner Seite zu wissen. Doch er besteht lächelnd darauf, dass sowohl der Feminismus als auch der Anspruch auf Gleichstellung verantwortlich seien für diesen Krieg. Ich lache dennoch und beschließe, das Ganze als Scherz abzutun, denn ich weiß nicht, wie ich sonst damit umgehen soll.

Ich lege meine Hand auf seine Schulter und rüttele ein wenig daran, wie um ihn aufzuwecken, und schließlich antwortet er der Bedienung, dass er gerne noch mehr Reis nehmen würde.

Nach dem Abendessen gehen wir zu mir nach Hause und diskutieren weiter über die Weltpolitik und das morgige Seminar. Unter meinem Bett liegt eine Gästematratze, die ich für ihn herausziehe. Mein eigenes Bett habe ich bereits frisch bezogen, und auf Julians Matratze liegt eine weitere Garnitur Bettwäsche, doch er scheint nicht zu begreifen, dass er sie selbst beziehen muss. Er betrachtet abwechselnd mich und das Bettlaken mit neutralem Blick.

Als ich ihm einen Becher Tee reiche, streicht er unerwartet mit dem Daumen über meine Hand. Ich fühle mich überrumpelt und denke: Ups, was war das denn? Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, im bisherigen Verlauf des Abends hatten wir überhaupt nicht miteinander geflirtet. Ich tue so, als hätte ich es nicht gemerkt, und gehe hinaus in die Küche. Für eine Weile stelle ich mich auf den Balkon und blicke hinaus. Langsam wird mir klar, dass Julian Assange mehr von mir will.

Ich muss an Andreas’ spitze Bemerkung denken, als er erfuhr, dass der Wikileaks-Gründer in meiner Wohnung übernachten würde.

»Aha, du willst also mit Assange punkten.«

»Nein«, konterte ich, »ich werde gar nicht dort sein …«

Andreas und ich kamen vor vielen Jahren zusammen, als ich wegen meines Studiums nach Uppsala zog, und schon ein halbes Jahr später unternahmen wir eine gemeinsame Reise nach Kuba. Auf einem Markt in Madrid, wo wir zwischenlandeten, kauften wir uns für umgerechnet sieben Euro Ringe und verlobten uns. Er hatte gerade mit seiner Promotion in Medienkommunikation begonnen, und wir bezeichneten einander als Orangenhälften, entsprechend der spanischen Redewendung für Seelenverwandte. Wir engagierten uns gemeinsam in allen politischen Auseinandersetzungen, gaben große Partys, hatten fast ausschließlich die gleichen Freunde und liebten einander bedingungslos. Wir waren davon überzeugt, dass der Dauerstress, der dafür sorgte, dass er mir gegenüber häufig unaufmerksam war und des Öfteren aufbrauste, verschwinden würde, sobald er die lästige Dissertation fertiggestellt hätte. Und damit würden all unsere Paarprobleme ebenfalls verschwinden.

Doch nichts wurde besser, nachdem er promoviert worden war. Er bekam einen Chefposten bei einer Organisation und wurde noch unaufmerksamer und gereizter. Unsere Pläne, Kinder zu bekommen, sobald wir mit unserem Studium fertig wären, verschoben wir auf eine unbestimmte Zukunft. Wenn ich ihn umarmte, hingen seine Arme schlaff am Körper herunter, bis ich ihn bat, die Umarmung zu erwidern. Er nahm meine Liebe entgegen, gab aber fast nichts zurück. Wir blieben dennoch zusammen. Ich konnte mir einfach nichts anderes vorstellen.

Irgendwann meinte er, dass er einen Assistenten benötige. Er schaffte es nicht mehr, sich um den ganzen Bürokram zu kümmern, und in seinen Unterlagen herrschte Chaos. Ich erkundigte mich in unserem Freundeskreis, ob jemand einen Tipp hätte, und geriet so an eine Frau, die sich bestens zu eignen schien. Sie fing bei ihm an, und die beiden kamen gut miteinander klar.

Ein halbes Jahr später saßen wir in seiner kleinen Einzimmerwohnung in Kungsholmen, und er überreichte mir einen Brief. Während ich ihn las, saß er mir direkt gegenüber. Er schrieb, dass er nicht in der Lage sei, auszusprechen, was er mir mitteilen wolle. Mein Herz pochte so laut, dass ich kaum denken konnte, und das Blut in meinen Schläfen pulsierte heftig. Ich ahnte bereits, was in den folgenden Zeilen stehen würde. Er hatte ein Verhältnis mit der Frau, die wir gemeinsam eingestellt hatten.

Noch mehr als ein Jahr hielten wir an den Scherben unserer Partnerschaft fest. Er wollte die andere Liebesbeziehung vertiefen und zugleich mich behalten. Und ich war für ihn da, zurückgedrängt in eine Ecke seines Lebens. Mehrmals machte er Schluss, doch jedes Mal kam er weinend wieder zurück und versprach, dass sich von nun an alles ändern würde. Trotzdem verfiel er ständig wieder auf die Idee, dass es am besten wäre, wenn ich seinen Wunsch nach einem offenen Verhältnis akzeptieren würde.

Seine Worte schmerzten wie ein Stich mitten ins Herz. An manchen Tagen kam ich morgens überhaupt nicht mehr aus dem Bett. Ganze Nächte habe ich weinend durchwacht. Doch die vielleicht schwerwiegendste Komplikation nach der Beziehung mit Andreas war eine gegen mich selbst gerichtete Destruktivität.

Nach einem Gespräch mit einer Paartherapeutin war ich es schließlich, die unsere Beziehung beendete, und seit dem Frühjahr bin ich offiziell single, auch wenn wir uns noch immer sehen. Sowohl vor als auch nach dem Zeitpunkt, an dem ich mit ihm Schluss machte, habe ich ziemlich viele Männer getroffen. Ziemlich viele und ziemlich nette. Manchen von ihnen habe ich sofort wieder den Laufpass gegeben, an andere habe ich mich entweder geklammert oder sie in irgendeiner anderen Form verprellt. Zu einigen bin ich sogar ziemlich ekelhaft gewesen. Doch mein Herz hing noch immer an Andreas.

Eine der vielen Methoden, die ich ausprobiert habe, um meinen Schmerz zu lindern und die Trennung zu verarbeiten, bestand darin, ein »Modell für legale Rache in sieben Schritten«2 umzusetzen, das ich zu Jahresbeginn in irgendeinem Internetforum entdeckt hatte. Ich veröffentlichte den Link in meinem Blog, und Andreas reagierte ziemlich verletzt. Er nahm es mir übel, dass ich überhaupt Rachegedanken hegte.

Nachdem ich in diversen Wohnungen mein Dasein mit kurzen Verträgen und umfangreichen Wasserschäden als Mieterin und Untermieterin gefristet hatte, erwarb ich schließlich meine erste eigene kleine Wohnung in der Tjurbergsgata im Stockholmer Stadtteil Södermalm, in der ich jetzt wohne. Hier stehe ich gerade und schaue über den Balkon hinweg auf den Innenhof und die schätzungsweise 200 Fenster meiner Nachbarn. Mir geht es noch immer nicht gut, aber ich bin auf dem Weg der Besserung. »Mit Julian Assange zu punkten«, könnte doch ganz nett sein – und außerdem keine große Sache. Mit einem halbprominenten Australier. Gegenüber einem leicht verblendeten eifersüchtigen Ex-Verlobten.

Warum also nicht?, dachte ich.

Alle, mit denen ich in den vergangenen Tagen über das Seminar gesprochen habe, scheinen sich darin einig zu sein, wie spannend es ist, dass der Wikileaks-Gründer ausgerechnet bei mir wohnt. Die Massen an Fans, die dastanden und wie bei einem Rockkonzert schrien, als er vor einer Weile eine Rede hielt, verstärken noch das Bild von einem Menschen, der zumindest in gewissen Kreisen so cool erscheint, dass man selbst schon cool ist, wenn man nur ein Stück Papier mit seinem Konterfei darauf in der Hand hält. Und wenn die das meinen, muss er tatsächlich supercool sein.

Bezüglich der Auswahlkriterien in Sachen Männer, auf die ich mich einlasse, bin ich nach dem langen Hin und Her mit Andreas großzügig geworden. In den meisten Fällen ist es auch gut gelaufen und sogar richtig nett gewesen.

»Du hast also vor, mit Julian Assange zu punkten«, sagt Andreas erneut in meinen Gedanken.

»Ja, vielleicht«, denke ich.

Ich gehe zurück ins Zimmer und rüber zu Julian. Wir knutschen ein wenig herum und reden. Dann döst er voll bekleidet auf meinem kurzen, unbequemen Sofa weg. Er ist völlig fertig, und ich finde es beeindruckend, dass er einfach so abschalten kann. Ich mache mit meinem Handy ein Foto von ihm. Der große Assange schläft wie ein kleines Kind auf meinem Mini-Sofa, denke ich und stelle diese erholsame Vorbereitung auf das morgige Seminar bei Facebook ein. Umgehend trudeln in meinem Feed massenweise hochgereckte Daumen und anerkennende Kommentare von allen möglichen Verwandten, Jugendfreunden, Arbeitskollegen und sogar einer Wissenschaftlerin für Gender Studies ein. »Mögen Sie Präsidentin werden oder etwas dergleichen«, schreibt sie.

Ich bin ganz froh, dass er eingeschlafen und somit aus der Knutscherei nicht mehr geworden ist. Ich ziehe mein Nachthemd an, putze mir die Zähne und habe vor, mich ins Bett zu legen. Doch als ich die Deckenlampe ausschalte, wacht er unvermittelt auf und streicht über die Außenseite meines Oberschenkels. Er steht auf, küsst mich und schiebt mein Nachthemd hoch. Ich bin nicht darauf vorbereitet, und es gefällt mir auch nicht sonderlich, deshalb versuche ich, das Nachthemd wieder herunterzuziehen. Er hält mehrfach dagegen, immer stärker, bis es in den Säumen kracht. Dann versucht er, meinen Slip herunterzuziehen. Damit meine Nachtwäsche nicht kaputtgeht, lasse ich ihn gewähren. Ich will nicht, dass schlechte Stimmung aufkommt.

Seine Annäherungsversuche sind mir unangenehm, und außerdem geht mir das Ganze zu schnell. Ich werde den Eindruck nicht los, etwas in Gang gesetzt zu haben, das ich weder stoppen darf noch kann. Doch am Unangenehmsten ist mir, dass er mich plötzlich anders behandelt. Er redet nicht mehr mit mir. Und er hört jetzt auch weder auf meine Körpersprache noch auf meine Worte. Auf einmal sehe ich mich nicht mehr als die politisch und intellektuell Gleichgesinnte, die ich gerade eben noch war. Es ist, als würde er meine Daseinsberechtigung völlig auf den Kopf stellen. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass er denkt, ich sei ihm etwas schuldig, als hätte er dafür bezahlt. Dass ich irgendwann A gesagt hätte und er mir deshalb das Recht darauf abspräche, B zu verweigern.

Wenn ich völlig frei wäre, selbst zu entscheiden, würde ich seine Avancen auf der Stelle stoppen und ginge stattdessen ins Bett. Doch ich fühle mich nicht frei, im Gegenteil, ich fühle mich unmissverständlich aufgefordert weiterzumachen. Was mir ziemlich unangenehm ist, aber nicht unangenehm genug, um mich ihm zu verweigern. Nicht unangenehm genug, um irgendetwas Schlimmeres zu riskieren.

Wir legen uns ins Bett. Ich zuunterst und er auf mich. Für eine Weile ist es ganz nett, wir wälzen uns ein wenig herum, und er entledigt sich seiner Hose. In dem Augenblick nehme ich einen deutlichen Geruch wahr. Anscheinend Sperma. Er hat offenbar vergessen, alte Körperflüssigkeiten abzuduschen. Danach eskaliert mein Unbehagen. Er verschränkt meine Arme über dem Kopf und hält sie fest, während er seine Schulter ziemlich fest gegen meine Kehle presst. Ich bin gezwungen, meine gesamte Kraft aufzubieten, um das Kinn zur Brust zu ziehen, damit ich Luft bekomme und mein Kehlkopf nicht verletzt wird. Ich versuche, mich zu bewegen, und winde mich, doch er lockert den Druck nicht. Im Gegenteil, jetzt presst er seine Schulter so fest gegen meinen Hals, dass sich mir der Anhänger meiner silbernen Kette in die Haut bohrt.

Er klemmt meine Arme mit seinen schmalen, aber dennoch bedeutend stärkeren Händen an beiden Handgelenken zusammen. Sein Brustkorb liegt schwer auf meinem Oberkörper, und er versucht, mit einem Knie meine Beine auseinanderzuschieben. Wegen des massiven Drucks gegen meine Kehle bin ich einzig darauf fokussiert, Luft zu bekommen, was mich passiv macht. Doch genau das beabsichtigt er offenbar.

Nackt und die Arme über dem Kopf fixiert, begreife ich sehr wohl, was von mir erwartet wird. Oder besser gesagt, worauf ich mich eingelassen habe, als ich nicht protestierte – es also nicht aussprach. Nicht den feministischen Selbstschutz aktivierte, so wie ich es gelernt habe. Auch wenn ich die Sache am liebsten sofort beenden will, möchte ich weder als kompliziert noch als beschwerlich gelten. Ich will die Situation nicht unnötig dramatisieren oder gar ein großes Ding daraus machen, dass ich keine Lust mehr habe.

Normalerweise merken Männer so etwas. Bislang haben es jedenfalls alle kapiert, wenn ich nicht wollte. Dann haben sie sich neben mich gelegt und mich umarmt, bis wir schließlich gemeinsam eingeschlafen sind. Und irgendwann später haben wir es ein weiteres Mal versucht, wenn ich mehr Lust hatte. So sehen zumindest meine Erfahrungen mit dieser Art von Situationen aus. Doch dieser Mann reagiert ganz und gar nicht wie die anderen. Es ist vielmehr so, als würde er seine Rechte einfordern. Er fordert von mir, weiterzumachen. Merkwürdigerweise empfinde ich genau das, was er mir signalisiert, nämlich dass ich ihm etwas versprochen habe. Dass ich diesen Weg letztlich selbst eingeschlagen habe. Nach dem Motto: Ich habe schließlich die Zugtickets gekauft, und jetzt ist es an der Zeit loszufahren.

Obwohl ich am liebsten aufhören würde, akzeptiere ich seine Forderung. Allerdings unter einer Bedingung – ein Kondom zu benutzen. Doch Julian setzt alles daran, diese Bedingung auszuhebeln, wenn auch unausgesprochen.

Er versucht, mich mit Gewalt festzuhalten, um ohne Kondom in mich einzudringen. Ich entziehe mich ihm, indem ich meinen Unterleib wegschiebe. Doch er macht nicht im Mindesten irgendwelche Anstalten, loszulassen oder gar zu fragen, was ich wolle. Völlig unbeeindruckt presst er meinen Körper weiterhin auf die Matratze.

Sobald ich mich ihm entziehe, folgt er meiner Bewegung. Als ich ein ums andere Mal die Knie zusammendrücke und versuche, meinen Oberkörper in Richtung Nachttisch zu bewegen, woran er mich immer wieder hindert, wird deutlich, dass meine Meinung überhaupt nicht zählt. Es ist wie ein Ringkampf ohne Publikum und Schiedsrichter, bei dem ich hoffnungslos unterliege. Für ihn bin ich vermutlich gar nicht mehr anwesend. Nur mein Körper, mein gewaltsam entkleideter Körper, ist noch da. Ich bin kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich spüre vom unterdrückten Schluchzen bereits einen Kloß im Hals und fühle mich absolut machtlos.

Noch einmal ziehe ich mit aller Kraft, um meine Arme freizubekommen. Ich kauere mich unter ihm zusammen, bis es mir schließlich gelingt, beide Beine zur Seite zu schieben, sodass er sie nicht mehr auseinanderpressen kann.

Jetzt schreie ich auf. Unhörbar. Als ich realisiere, dass ich mit meiner Muskelkraft nichts gegen ihn ausrichten kann, entfährt mir etwas, das sich genau wie ein Schrei anfühlt. Ich breche das Schweigen.

»Was machst du denn?«, frage ich.

»Was machst DU denn?«, entgegnet er aufgebracht, geradezu vorwurfsvoll.

»Warum hältst du mich fest? Ich will, dass wir ein Kondom benutzen«, erkläre ich.

Er lässt mich los, damit ich eines holen kann.

Laut der »Definition« eines »echten Übergriffs« dürfte ich jetzt keinen Kompromiss eingehen. Ich müsste Nein sagen. Ich müsste Nein, Nein, Nein sagen. Ich müsste dieses Wort aussprechen, das einzige, was zählt. Ich müsste so laut schreien, dass die Nachbarn es bezeugen könnten. Ich müsste versuchen, aufzuspringen und aus der Wohnung zu rennen. Mit anderen Worten, ich müsste mich vor allen Leuten in meinem Treppenaufgang erniedrigen und für meinen eigenen Fehler einstehen, nämlich es überhaupt so weit kommen gelassen zu haben. Ich müsste Julian mit seiner absehbaren Wut und seiner Geilheit zurücklassen – falls er meine Flucht nicht verhindern würde – und die Wohnung verlassen. Ich sollte vielleicht sogar die Polizei rufen und sie darum bitten, ihn festzunehmen. Oder ich müsste es stattdessen darauf ankommen lassen, dass mein Nein ihn dazu bringen würde, mich loszulassen, damit ich seine Tasche packen und ihn auf der Stelle hinauswerfen könnte.

Doch die Kälte in seinem Blick und unser gemeinsames Wissen darüber, dass er stärker ist als ich, lassen mich die Situation anders beurteilen als in diversen rationalen nachträglichen Konstruktionen. Auch mein Eindruck, dass es ihm vollkommen egal ist, was ich will, und nicht zuletzt meine Überzeugung, dass er seinen Plan, mit mir zu schlafen, unabhängig von möglichen Einwänden meinerseits durchziehen wird, tragen dazu bei. Doch was am Ende letztlich mehr wiegen dürfte als alles andere: der Wunsch, ihm keine Szene zu machen. Die alles dominierende gedankliche Norm, das Geschehene nicht zu übertreiben.

Wenn ich jetzt Nein sage, zeigt es mit hoher Wahrscheinlichkeit Wirkung. Ein Nein ist potenziell ebenso unwiderruflich wie ein Tritt zwischen seine Beine oder ein Schrei, der die Nachbarn alarmiert. Und genau deswegen sage ich nicht Nein. Es wäre eine überzogene Reaktion, und außerdem denke ich, dass es bestimmt gleich besser wird. Schließlich erachte ich mich selbst als umgängliche Person und nicht als Drama-Queen.

Also reiche ich ihm das Kondom und warte darauf, dass er es überstreift. Doch er tut es nicht. Er hält es in der Hand und versucht, ohne Schutz weiterzumachen. Allmählich verliere ich die Geduld, denn meine Geste war unmissverständlich. Ich halte es für deutlich genug, einem Mann ein Kondom zu reichen und dann zu warten, ohne ihn ausdrücklich auffordern zu müssen, es überzustreifen. Auch wenn mein Widerstand damit ziemlich gering ist, empfinde ich sein Verhalten doch als dreist. Ich fordere Julian verbal auf.

Schließlich streift er es über, und ich komme wieder unter ihn zu liegen. Jetzt hält er meine Arme zwar nicht mehr fest, legt aber sein gesamtes Gewicht auf meinen Brustkorb. Dann dringt er in mich ein und presst seinen Oberkörper fest gegen meinen Hals, bis ich keine Luft mehr bekomme. Ich liege noch immer völlig eingeklemmt unter ihm, kämpfe aber dagegen an, bis es mir gelingt, das Kinn zur Brust zu ziehen und ihn von meinem Hals weg etwas nach oben zu schieben. Ich ringe weiterhin mit ihm, wenn auch abgeschwächter. Versuche, Kontrolle über die Situation zu erlangen, die Stimmung etwas zu entspannen, den Druck auszuhalten, die Augen zu schließen und mir einzureden, dass alles in Ordnung ist oder der Sex zumindest noch ganz okay werden kann. Eine meiner Strategien besteht sogar in dem Versuch, ihn zu genießen.

Möglicherweise bewirkt dieses Signal, dass ich loskomme. Julian verringert den Druck auf meinen Brustkorb und Hals. Ich kann endlich wieder durchatmen und hole tief Luft. Er gewährt mir die obere Position, und für einen Augenblick habe ich den Eindruck, die Situation zu kontrollieren.

Dennoch gibt er mir ein ums andere Mal zu verstehen, dass er bestimmt und nicht zuletzt stärker ist als ich – beispielsweise hält er mich etwas länger fest als nötig oder fasst bestimmte Körperteile grob an. Er wendet zwar keine Gewalt an, signalisiert aber Gewaltbereitschaft. Alle eventuellen Kompromisse scheinen vorauszusetzen, dass ich sein Weitermachen akzeptiere. Sobald ich mich wehren werde, wird er vermutlich keinerlei Zugeständnisse mehr machen. So verstehe ich es zumindest. Deshalb versuche ich, mich nicht zu wehren, jedenfalls nicht zu stark.

Er trägt noch immer sein Oberhemd. Ihm scheint offenbar viel daran gelegen zu sein, mich möglichst rasch nackt zu sehen, selbst aber so viel Kleidung wie möglich anzubehalten. Dieser Unterschied – ich entblößt, er angezogen – vermittelt mir den Eindruck, dass es ihm die Sache nicht wert ist, sich auszuziehen. Von seiner Seite kommen auch keinerlei Zärtlichkeiten, nicht einmal der Wunsch nach mehr Körperkontakt als nötig.

Ich versuche, ihm das Hemd auszuziehen, nicht weil mir an mehr Körperkontakt gelegen wäre, sondern um zu zeigen, dass ich selbst aktiv bin und somit kein passives Objekt, mit dem er nach Belieben umspringen kann. Doch er will es partout nicht ausziehen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, glaube aber, es ihm letztlich doch abgestreift zu haben.

Aktiv zu sein, einen Versuch zu unternehmen, die Kontrolle zu erlangen und am Ende sogar Erfolg damit zu haben, mindern das Gefühl der Erniedrigung. Vielleicht legitimiere ich damit sein Verhalten, doch in der aktuellen Situation dient es der Rettung meiner selbst. Ich erlebe sogar einen Mikroorgasmus, was uns etwas ebenbürtiger macht und dem Ganzen mehr Gegenseitigkeit verleiht als ein Übergriff und eine Machtdemonstration seinerseits.

Dann presst er meinen Hals wieder hinunter. Mich frustriert es, dass er offenbar nur auf sich selbst fixiert ist und es ihm völlig egal zu sein scheint, ob ich ersticke.

Kurz darauf ergreift er wieder brutal meine Arme, diesmal allerdings nur mit einer Hand, und zieht sich unvermittelt aus mir heraus. Zugleich höre ich ein deutliches Schnappgeräusch, so als würde ein Luftballon platzen. Ich bin überzeugt davon, dass er das Kondom abgestreift hat. Sein anfänglicher Widerstand dagegen lässt es zumindest logisch erscheinen. Ich winde eine Hand aus seinem Griff und prüfe es tastend. Nein, das Gummi ist noch da.

Die Tatsache, dass ich ihn davon überzeugen konnte, ein Kondom zu benutzen, und er es noch immer trägt, erleichtert mich ungemein. Ich komme mir geradezu wie ein Wurm vor, der dem Haken entronnen ist. Entschlossen schiebe ich meine Sorge über das Geräusch beiseite, und obwohl mein Körper noch immer unter seinem gefangen ist, lasse ich ihn weitermachen.

Nach ungefähr einer Viertelstunde ist er fertig.

Dann geschieht etwas Merkwürdiges: Er unternimmt einen halbherzigen Versuch, nach seinem Höhepunkt auch mich zum Orgasmus zu bringen. Angesichts seiner kühlen Gleichgültigkeit während der letzten halben Stunde verwirrt mich diese Geste.

Ein ums andere Mal habe ich überlegt, wie ich diesen Übergriff und mein eigenes Handeln in Worte fassen soll. Ich weiß, dass viele Leser eine Wahrheit in Form von Schwarz oder Weiß erwarten. Sie erwarten ein Monster, das sich an einem Engel vergreift, um akzeptieren zu können, was geschehen ist, und es auch wirklich als Übergriff bezeichnen zu können. Aber wie kann ich es vermeiden, es ihnen recht machen zu wollen? Wie umgehe ich es, das Stereotyp des Monsters anzuwenden, um stattdessen der bleigrauen Wahrheit näherzukommen? Und wie vermeide ich es, mein eigenes Handeln zu beschönigen, wie gehe ich mit der Inkonsequenz meines eigenen Verhaltens um? Schließlich vergreift sich in allen realen Schilderungen von Übergriffen kaum je ein Monster an einem Engel, sondern ein Mensch vergreift sich an einem anderen Menschen.

In den Kommentaren von Julians Unterstützernetzwerk zu diesem Buch wird ein Orgasmus, oder womöglich sogar zwei, zu einem wasserdichten Beweis dafür stilisiert werden, dass kein Übergriff stattgefunden hat. Für jene, die die Unschuld von Sexualstraftätern beweisen möchten, sind jegliche menschliche Inkonsequenzen des Opfers Munition. Und das wissen die Opfer auch. Doch oftmals liegt die Wahrheit genau dort, in diesem Bereich, der vielleicht eher menschlich als inkonsequent ist, in den Grauzonen.

Auf dem Laken erblicke ich einen großen feuchten Fleck.

»Was ist das denn?«, frage ich.

Wie konnte sein Sperma in meinen Unterleib und von dort wieder hinaus aufs Laken gelangen?

»Du warst total feucht«, antwortet er.

»Nein, Julian, das war ich nicht«, erkläre ich.

Denn das war ich wirklich nicht. Ganz offensichtlich stammt die Flüssigkeit von ihm, und das schnappende Geräusch war ein reißendes Kondom. Das ist ziemlich wichtig, denn ein gerissenes Kondom erfüllt keine Funktion mehr gegen jedwede Ansteckung oder eine unfreiwillige Schwangerschaft. Doch Julian bestätigt nicht, dass das Kondom gerissen ist, sondern tut stattdessen so, als wäre nichts geschehen. Sein rechter Daumennagel ist lang und spitz, und seine Lüge »du warst total feucht« beendet jede mögliche Diskussion.

Wir lassen das Thema fallen.

Der Begriff ist mir zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt, doch das, was Julian tut, ist Gaslighting. Eine Form der Manipulation, bei der Informationen verzerrt, verfälscht oder vorenthalten und mitunter auch bewusst Falschinformationen verbreitet werden. Die Absicht dahinter ist, das Opfer an seinen eigenen Erinnerungen, seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seinem Verstand zweifeln zu lassen. Es funktioniert außerordentlich gut.

Julian behauptet etwas, von dem wir beide wissen, dass es definitiv nicht stimmt. Doch indem wir beide so tun, als glaubten wir daran, beginnt sich die Realität mit seiner bewussten und für mich offenkundigen Lüge zu vermischen. Schon nach einer Weile bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verläuft.

Ich entdecke meine zerrissene Halskette neben mir auf dem Bettlaken und lege sie auf den Nachttisch.

Dann schlafe ich ein.

Samstag, 14. August 2010

Als ich morgens aufwache, finde ich das benutzte Kondom auf dem Fußboden und werfe es in den Müll.

Ich schreibe Julian eine kurze Nachricht.

Hallo Julian, der Sex mit dir hat mir ganz und gar nicht gefallen. Deshalb wird es zwischen uns beiden auch keine Fortsetzung geben. Doch für deine zukünftigen Partnerinnen würde ich dir gern ein paar Tipps ans Herz legen:

•Zerreiß ihre Halsketten nicht.

•Press deine Schulter nicht auf ihren Hals, bis sie fast ersticken.

•Spritz dein Sperma nicht in sie hinein, wenn sie es nicht wollen.

•Geh vorher duschen.

Ich lege den Zettel in eine Mappe, in der er Nachrichten von Fans, Quittungen für diverse empfangene finanzielle Unterstützungen und Spenden sowie Telefonnummern von Groupies aufbewahrt. Wenn er diese also aufschlägt, wird er auch meine Nachricht finden. Sie verleiht mir das Gefühl, den Konflikt zwar thematisiert, aber zugleich umgangen zu haben und wenigstens etwas zu meiner Verteidigung beizutragen.

Als Julian aufwacht, tun wir beide so, als sei nichts geschehen. Der Wikileaks-Mitarbeiter Johannes, mit dessen Unterstützung ich Julians Reise organisiert habe, wird ihn in einem Taxi abholen. Julian schlägt vor, dass ich mich ihnen anschließe, doch ich fahre schon vorher mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Wir stellen Julians Laptop in den Räumlichkeiten der LO bereit und versuchen, das Gerät an den vorhandenen Projektor anzuschließen. Doch es fehlt ein Adapter. Gleich nach ihrer Ankunft schicke ich unsere ehrenamtliche Helferin Maria los, um das benötigte Kabel zu besorgen.

Die Journalisten und Seminarbesucher strömen in den Saal und nehmen Platz. Julian hält seinen Vortrag über die Bedeutung von Wahrheit und Transparenz, um den Kriegsverbrechen ein Ende zu setzen. Ich habe eine lange Liste mit Journalisten vor mir liegen, die für ihre nachfolgenden Interviews Schlange stehen.

Eine der Journalistinnen, die nicht auf der Liste stehen – eine junge Repräsentantin der Piratenpartei –, hat ebenfalls an dem Seminar teilgenommen, das eher an eine Pressekonferenz erinnerte.

»Könnte ich ein Autogramm von dir kriegen?«, fragt sie Julian, nachdem es ihr gelungen ist, sich nach dem Vortrag vorzudrängeln.

»Nein«, antwortet er, »ich gebe aus Prinzip keine Autogramme.«

»Hey, kapierst du’s nicht, du bist doch mein Brad Pitt!«, entgegnet sie.

Die beiden debattieren noch eine Weile, dann verlässt sie eilig den Raum.

»Damn«, sagt Julian zu mir, »ich hätte sie nach ihrer Telefonnummer fragen sollen.«

Die ersten Interviews mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk für die Tages- und Abendnachrichten finden noch drinnen statt. Danach müssen wir die Räumlichkeiten verlassen und ziehen ins Freie um. Auf einer Parkbank neben der Statue des Sozialdemokraten August Palm sitzend, kümmere ich mich um die Einhaltung der Redezeiten. Die Journalisten stellen ihre Fragen, und Julian antwortet geduldig.

Aus irgendeinem Grund möchte er mitten in der heißen Sonne sitzen. Dabei löst sich seine Fernsehschminke in der sengenden Hitze rasch auf, und der mit Make-up vermischte Schweiß tropft vom Gesicht hinunter auf seine Kleidung. Jede Zeitung und Zeitschrift sowie jeder Radiosender bekommt seine versprochenen Minuten, während Julians Oberhemd immer feuchter wird.

Parallel zu Julians Interviews unterhalte ich mich mit unserer ehrenamtlichen Helferin Maria und den wartenden Journalisten.

»Schau mal auf seinen Ringfinger«, sage ich zu Maria. »Siehst du? Er sitzt da und dreht einen Verlobungsring hin und her.«

In meiner Wohnung hat Julian offenbar den Ring von meiner gelösten Verlobung mit Andreas gefunden. Ohne mich zu fragen, hat er ihn mitgenommen und sich angesteckt. Jetzt sitzt er demonstrativ vor den Journalisten und dreht ihn hin und her. Äußerlich lächle ich und sage, dass er bestimmt irgendwelche Spekulationen in Gang setzen will. Doch eigentlich finde ich sein Verhalten ganz und gar nicht in Ordnung.

Die Zeitungen »Arbetaren« und »Computer Sweden« sind die beiden letzten, die Fragen stellen dürfen.

»Ich hätte mir wirklich ihre Nummer geben lassen sollen«, sagt Julian erneut, nachdem der Strom an Fragen abgeebbt ist und die Journalisten gegangen sind. Er meint die junge Frau von der Piratenpartei. Dann wiederholt er ihre Äußerung, dass er aufgrund seines Sexappeals jetzt in die Liga von Brad Pitt aufgestiegen sei.

Ich habe Brad Pitt nie persönlich getroffen und will auch nicht daran mitwirken, neue Klischees in die Welt zu setzen, doch im Augenblick fällt es mir ziemlich schwer, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Mann zu sehen, der hier mit ungeputzten Zähnen und verschmierter Fernsehschminke im Gesicht sitzt und so tut, als hätte er sich verlobt. Ich bitte ihn, mir den Ring zurückzugeben, und er reicht ihn mir. Zugleich wird mir in der starken Hitze leicht übel.

Inzwischen ist es Nachmittag geworden, und alle sind hungrig. Mein Verband lädt die Mitwirkenden zum Imbiss ins Bistro Bohème in der Drottninggata ein. Auch Maria wurde wegen ihrer Hilfe mit dem Kabel von unserem Vorsitzenden Peter eingeladen und landet am Tisch direkt neben Julian. Die beiden flirten miteinander. Er füttert sie mit Knäckebrot, und die zwei scheinen sich zu mögen.

»Was hast du eigentlich heute Nachmittag noch vor, Julian?«, frage ich.

»Weiß nicht genau«, antwortet er.

»Ich könnte dir ein interessantes Museum zeigen«, schlägt Maria vor.

Nach dem Mittagessen verlassen die beiden das Lokal zusammen.

Schön für ihn, denke ich, doch noch angenehmer finde ich es, nun keine Verantwortung mehr für ihn übernehmen zu müssen. Stattdessen bleibt mir ein wenig Zeit für die Planung eines Krebsessens. Donald meint, dass Julian von dieser schwedischen Tradition im August bereits gehört habe und sehr gern an so einem Fest teilnehmen würde. Dementsprechend hat er vorgeschlagen, ein solches ausfindig zu machen.

Ich gehe meine Event-Einladungen durch und frage ein wenig herum. Da ich jedoch keine passende Veranstaltung finde, an der er teilnehmen könnte, kaufe ich die Krebse selbst und lade ein paar Leute auf eine Bottleparty zu mir nach Hause ein.

Julian hat inzwischen zweimal bei mir übernachtet, so wie wir es verabredet hatten, doch bis jetzt ist er noch nicht ausgezogen. Ich möchte nicht, dass er noch länger in meiner Wohnung bleibt. Eine Freundin aus der Piratenpartei, die ich von der Studentenvereinigung in Uppsala kenne, vermittelt mir den Kontakt zu einem in der Nähe wohnenden Pärchen. Die beiden versprechen, Julian ihr Gästezimmer zur Verfügung zu stellen. Sie können oder wollen zwar selbst nicht an der Party teilnehmen, werden aber etwas später kommen, um ihn abzuholen.

An meiner U-Bahn-Station erblicke ich einen Teilnehmer des heutigen Seminars und begrüße ihn. Wir unterhalten uns ein wenig, und ich lade ihn ebenfalls zum Krebsessen ein. Doch er hat heute Abend leider keine Zeit. Dennoch möchte er mir mit etwas Schnaps für die Party aushelfen. Ich finde ihn auf eine unschuldige Art ziemlich süß, er lächelt einnehmend, und sein Blick ist liebevoll. Ich folge ihm bis zu seiner Wohnung, um den Schnaps entgegenzunehmen, und er meint, dass wir uns vielleicht irgendwann anders einmal treffen könnten. Unbedingt, versichere ich, das wäre super!

Petra, eine meiner engsten Freundinnen, kommt zu mir nach Hause, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Wir sind uns zum ersten Mal in der Fachschaft der Universität Uppsala begegnet, wo sie sich genau wie ich mit Gleichstellungsfragen befasste. Sie promoviert gerade in Statistik, hat Schweden schon bei internationalen Schachturnieren repräsentiert, und ich bezeichne sie gerne als das einzige Genie, das ich kenne. Petra ist außerdem eine unglaublich scharfsinnige feministische Analytikerin.

»Es war total unangenehm, der übelste Sex meines Lebens«, sage ich.

Meine eigene Stimme klingt skeptisch und fragend, als ich ihr erzähle, was am Vorabend geschehen ist. Langsam geht mir auf, dass das Geräusch nicht von einem platzenden Kondom stammte, sondern von einem zerrissenen. Obwohl Julian nur eine Hand dafür benutzte, ging es ziemlich schnell. Außerdem wirkte es technisch ziemlich versiert, als ob er das schon oft zuvor getan hätte.

»Er hat das Kondom also absichtlich zerrissen?«, frage ich, als wollte ich es selbst nicht glauben.

»Wie bitte? Echt krass«, meint Petra. »Aber warum sollte er das tun?«

Ich habe keine Antwort darauf. Obwohl es tatsächlich so war und ich selbst hörte, wie das Gummi kaputtging, und außerdem noch merkte, dass er in mir kam, konnte er mir glaubhaft versichern, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Wenn sich keine Antwort darauf finden lässt, warum jemand so etwas tun sollte, wird der Gedanke unlogisch, dass es tatsächlich passiert ist. Ich bin also gezwungen, zwischen Logik und Tatsachen zu wählen. Die Geschichte erscheint mir logischer, wenn ich die Wirklichkeit ignoriere. Ein Paradox, das ich nicht auflösen kann.

Samstag, 14. August, abends