Im Schneeregen - Thomas Schenk - E-Book

Im Schneeregen E-Book

Thomas Schenk

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Beschreibung

Man hat ihn, halb erfroren, im Wald gefunden: Matthias Schwitter. Jetzt liegt er in der Klinik, und durch seinen Kopf jagen Erinnerungen, Bilder, Schatten eines Lebens, das nicht weit zurückliegt. Und noch lange nicht gelebt ist. Was hat er tagaus, tagein in der Bank zu tun gehabt? Auf welchen Wegen ist er durch Zürich geirrt? Warum hat sich eine Liebe nicht verwirklicht?

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Seitenzahl: 96

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Thomas SchenkIm Schneeregen.Eine Geschichte

Impressum

Thomas Schenk

Im Schneeregen.

Eine Geschichte

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2010

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

unter Verwendung eines

Motivs von

© Hansgeorg Schöner

Foto Thomas Schenk

© Christof Schürpf

Satz und Herstellung ebookPublikations Atelier, Dreieich

isbn 978-3-86337-050-3

thomasschenk.chweissbooks.com

Das haben Sie davon, hatte Gruber gesagt, stundenlang in diesem Wald zu sitzen, an eine Tanne gelehnt, das machen die Bronchien nicht mit. Soll sich verloren haben, Schwitter, vom Weg abgekommen und auf eine abschüssige Bahn geraten sein. In einer Mulde kam er zur Ruhe. Die Wolken ließen sich mit den Fingern berühren, sie hatten sich im Haar verfangen, es schwer werden lassen. Seine Zirkulation, das war von Anfang an klar, würde dem Wetter nicht standhalten. Aber jetzt fühlte er sich gut, er hatte sogar die Kapuze zurückschlagen müssen, so warm war ihm. Dasitzen und schauen. Der Boden zerfurcht, überall kleine Öffnungen, in die Schwitter eindringen wollte, um die Tiere zu beobachten, die in den Gängen lebten unter ihm. Die gesunde Luft atmen, mit der sie versorgt wurden, er konnte sie riechen, ruhig und gleichmäßig strömte sie ins Erdinnere, dort im Dunkeln verharrte die Luft einen Augenblick, bevor sie ebenso ruhig wieder ausströmte. Und all die Bäume, wie aufrecht sie standen, er musste nach ihren starken Stämmen tasten, über Rinde streichen, den Widerstand der Borke spüren. In Furchen drang er und in Spalten, seine Finger stauten das Wasser, das sich auf den Verästelungen niedergelassen hatte und nun zu den Wurzeln strebte. Scharf und deutlich war alles, als wäre es eben erschaffen worden. Er war es, der es erschaffen hatte. Haushohe Bäume hatte er aufgerichtet aus eigener Kraft, mit den Handflächen die Kronen gerundet, Wurzelkanäle gebohrt mit bloßen Fingern.

Schnee und Regen ließen sich nieder, und Schwitter saß da und schaute. Jede Flocke vermochte er wahrzunehmen und jeden Tropfen, so langsam ging das vor sich. Das Wetter ließ ihm Zeit. Wie ungleich sie doch waren, verspielt der Schnee, geradlinig und atemlos der Regen, und doch in einer Art Tanz vereinigt, harmonisch und, ja, von einer Leichtigkeit, die sich festsetzte im Gedächtnis. Nicht einmal die Hände brauchte er auszustrecken, um das Glück zu befühlen. Er sah, wie ein Schneekristall sich zärtlich auf einen Tannenarm legte, und schon schlug sein Herz stärker, der ganze Körper pulsierte. Und wenn ein Regentropfen auf eine der Wurzeln traf, die den Boden wie Adern überzogen, drang die Erschütterung bis in sein Rückenmark. So saß er da, Hemd und Hose mit Wasser vollgesogen.

Im Schneeregen, sagte Schwitter zu Gruber, sind mir Tränen gekommen. Jahrelang war die Drüse verhockt gewesen, und hier, hart an der Schneefallgrenze, löste sich das Augenwasser. Nein, nicht aus Verzweiflung darüber, sich verlaufen zu haben, auch nicht wegen der Kälte. Es war dieses Stechen im Hals, immer stärker wurde es, doch statt dass er aufschrie vor Erregung, überliefen ihm die Augen. Stoßartig flossen sie anfangs, die Tränen, sie mussten sich den Weg erst bahnen, durch Sedimente und Krusten dringen. Bodensatz wurde abgetragen, Hindernisse unterspült, bis es ruhig strömte nach einer Weile. Endlich war das Tränenbett ausgewaschen, es plätscherte und gurgelte, keine Schreie, kein hastiges Schnappen mehr nach Luft, leise und flach ging der Atem, so wie im Schlaf. Er lag im Wald, leicht und frei, über sich nur Schnee und Regen, Wattebäusche und durchscheinende Kugeln, zu einem riesigen Mobile verbunden mit feinstem Nylonfaden. Die Atmosphäre weinte sich aus, und er war Zeuge, schloss sich der Reinigung gleich an, tat seine Tränen dazu, das Wasser kam zusammen, schwemmte Gräben weg und alles, was hätte erzählen können von früher.

Aber wie kann ein erwachsener Mensch in eine solche Lage geraten? Er las die Frage in Grubers Augen, doch noch bevor er antwortete, legte sich sein Bettnachbar auf den Rücken. Länger als eine Viertelstunde gelang es ihm nicht, wach zu bleiben. Schwitter ließ ihn dösen, sie würden, dachte er, noch genügend Zeit haben miteinander. Dass sie Gruber so plötzlich holten, war nicht vorauszusehen. Jetzt steht die Mineralwasserflasche unnütz auf dem Nachttisch, das Bett ist leer. Immerhin, denkt Schwitter, haben sie es noch nicht frisch bezogen. Vielleicht bringen sie Gruber noch einmal zurück.

Die Aufforderung, die von der bereitgelegten Klinge ausgeht, ist unmissverständlich. Selbst wenn nur ein paar Stoppeln zu sehen sind, die Rasur muss sein. Noch einmal verstreicht Schwitter die weiße Masse. Er atmet schwer. Um nichts vom Schaum in den Mund zu kriegen, presst er die Lippen aufeinander. Schon eine ganze Weile zieht er die Luft durch die Nase. Die Nasenflügel wirken kalt und, das ist ihm vorher gar nicht aufgefallen, sie bewegen sich überhaupt nicht. Erst als er ganz tief Luft holt, kann er sehen, wie sich die Öffnungen zusammenziehen, ganz wenig nur. Beim Ausatmen nehmen sie wieder den ursprünglichen Durchmesser an. Er wäscht sich die Hände und greift nach dem Rasierer. Zwischen Zeigefinger und Daumen dreht er ihn, probt ein paar Bewegungen in der Luft, bis er sich sorgfältig über die rechte Wange fährt. Schaum wölbt sich vor der Klinge, dahinter kommt bleiche Haut zum Vorschein. Zu Hause rasiert er sich trocken. Umständlich zieht er die Klinge ein zweites Mal über das Kinn, bleibt hängen, er muss etwas stärker drücken, darauf ein Zucken, ein brennender Schmerz.

Er legt den Rasierer weg und schaut, die Hände aufs Waschbecken gestützt, in den Spiegel. Noch ist kein Blut zu sehen, kein Punkt, der größer wird, um bald im Schaum zu zerfließen. Vielleicht kommt es noch. An ihm solls nicht liegen, er hat Zeit, er kann hier stehen bleiben, bis es dunkel wird. Doch die Blutbahn ist verstockt. Egal wie lange er wartet, es ist kein Rot zu sehen. Also wischt er sich den Schaum vom Kinn, und nun kommt der Riss zum Vorschein, eine deutliche Spur, Schwitter bewegt die Fingerkuppen darüber, um die Kerbe zu befühlen. Mit den Daumen versucht er die Haut zu dehnen, tatsächlich öffnet sich der Spalt ein bisschen, zeigt sein Inneres, blasses Fleisch, aber noch immer kein Blut, selbst wenn er die Haut zusammendrückt. Er beginnt zu massieren, lässt den Daumen auf der versehrten Stelle kreisen, drückt gegen den Unterkiefer, bis der Knochen schmerzt und die Haut sich rötet. Er wünscht, er könnte seine Lippen auf die Wunde pressen und daran saugen, um das Blut zum Fließen zu bringen.

Dass er an Blutarmut leidet, kann ausgeschlossen werden. Eine Störung von solchem Ausmaß wäre ihm längst aufgefallen, und auch sein Arzt hätte etwas merken müssen bei der letzten Untersuchung. Die Blässe seines Gesichts lässt sich mit seiner Erschöpfung hinreichend erklären, und er kann nicht sagen, dass das Wetter einer gesunden Hautfarbe förderlich gewesen sei. Das Gewebe, kein Zweifel, wird korrekt durchblutet, er braucht sich nur die Hand auf die Wange zu halten, um Wärme zu spüren. Trotzdem, denkt er, wäre es nicht unverhältnismäßig, Hilfe zu verlangen. Die Wunde muss gereinigt werden. Wenn kein Blut austritt, bleiben die Keime im Gewebe, sie können ja sonst nirgends hin. Immer wieder hört man von gefährlichen Spitalinfektionen. Vor einem halben Jahr musste die Frau vom Amstutz ins Spital, etwas mit der Milz, Routineeingriff, kurz die Bauchdecke geöffnet und wieder geschlossen, aber nach ein paar Tagen begannen die Bazillen zu wuchern, bis sie den eigenen Mann nicht mehr kannte. Jetzt arbeitet der Amstutz nicht mehr bei ihnen, habe die Performance, sagte der Chef, einfach nicht mehr gebracht.

Er wäscht sich den restlichen Schaum ab, macht der Prozedur ein Ende. Im Spiegel kann er das halb rasierte Gesicht erkennen, er kommt sich lächerlich vor. Wenigstens die Haare, denkt er und greift nach dem Kamm, bevor er ins Bett humpelt. Vielleicht sollte er klingeln und nach einem Pflaster verlangen. Sonst macht er, falls doch etwas Flüssigkeit austreten sollte, die Bettwäsche schmutzig. Er friert, das Fieber muss gestiegen sein. Am Morgen hatte er bereits 38,3 Grad. Die Pflegerin zeigte keine Reaktion, als sie den Wert ablas, vergessen Sie Ihren Tee nicht, sagte sie nur, bevor sie aus dem Zimmer ging.

Hell ist es geworden, Schwitter richtet sich auf, damit er sehen kann, wie Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen. Der Raum wirkt in diesem Licht noch reiner als sonst. Über den lehmfarbenen Linoleumboden gleitet sein Blick zum Holztisch, den Stühlen davor und weiter zu den beiden Sesseln, zu Grubers leerem Bett, daneben der fahrbare Beistelltisch, darauf die Wasserflasche. Das Zimmer, wundert er sich, entspricht genau seiner Vorstellung. Als wären alle Spitalzimmer nach dem gleichen Plan gebaut, mit den gleichen Gegenständen eingerichtet. Das letzte Mal war er wegen einer akuten Blinddarmentzündung im Spital, über zehn Jahre ist das her, alles sah aus wie hier, mitten im Urlaub hatten die Schmerzen eingesetzt, er musste sofort operiert werden. Die Arztgehilfin war so freundlich, ihn gleich in ihrem Wagen in die nächste Klinik zu fahren, ein roter Alfa Romeo, in rasanter Fahrt gings das Prättigau hinunter, sie schien es richtig zu genießen, auf die Sanität, sagte sie, warte man bei solchem Wetter vergebens, ein prächtiger Wintertag, als er aus der Narkose erwachte, schien noch immer die Sonne.

Damals teilte er das Zimmer mit diesem Schindler, noch keine fünfzig war er, sah aber aus wie siebzig. Lungenemphysem, hatte er geflüstert und ihn angeblickt, als wäre es eine Auszeichnung, verliehen vom Arzt, der sich jeden Morgen an den Fuß des Bettes stellte. Wissen Sie, war dem Mann nach einer schweren Nacht erläutert worden, bei Ihnen sind die Bronchien irreversibel verengt, da dürfen Sie von den Alveolen keine Wunder mehr erwarten. Ein Plastikschlauch führte aus der Wand ans Bett, der Sauerstoff, der lautlos durch die Leitung strömte, zögerte das Ersticken ein paar Wochen hinaus.

Ohne Gruber ist es ganz ruhig, nur den eigenen Atem kann er hören. Er wundert sich, dass er noch immer alleine ist. So wie er versichert ist, hat er kein Anrecht auf ein Einzelzimmer. Andere Menschen werden beim Fliegen bevorteilt, seine Bürokollegen erzählen gerne davon, zeigen allen auf der Bank ihren Stolz, wenn sie ihre Beine in der Business Class ausstrecken durften, als wäre das Upgrade ihr Verdienst gewesen. Sie essen und trinken sich, kaum ist die Maschine in der Luft, durch die ganze Menükarte. Schwitter muss sich die zahlenden Passagiere vorstellen, wie sie alles angewidert beobachten, aber davon berichten seine Kollegen nichts, das fällt denen nicht einmal auf. Ihm ist es noch nie passiert, und er ist froh darüber, denn er würde kaum etwas essen und sich auch sonst anstrengen, um nicht erkannt zu werden als einer, der die Klasse wechseln durfte.

Schwitter regt sich nicht, er will die Stille bewahren, unterdrückt den Impuls, sich auf den Rücken zu drehen, die Beine anzuwinkeln. Er liegt auf der Seite und blickt zum Fenster, sieht, wie sich der Vorhang im Rhythmus seiner Lunge bewegt. Könnte er den Atem anhalten, den Luftstrom abdrehen, wäre die Regungslosigkeit vollkommen. Turbulenzen, als jemand die Tür öffnet. Arbeitsgeräusche dringen ins Zimmer, gedämpfter, an den Wänden des Flurs gebrochener Schall, Klappern von Geschirr, der Hall zielstrebiger Schritte, dann wird die Tür geschlossen und er ist wieder allein.