Im Schutz des Drachen - Suza Hensson - E-Book

Im Schutz des Drachen E-Book

Suza Hensson

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Beschreibung

Nach einem Streit verlässt Judith ihren Freund Tom und verschwindet spurlos. Angeblich ist sie gegangen, um woanders neu anzufangen. Aber Tom glaubt an ein Verbrechen. Verzweifelt versucht er herauszufinden, was Judith zugestoßen ist. Die Wahrheit ist nahe, doch um sie zu sehen, muss er Türen öffnen, die er einst für immer verschlossen hat. Luisa ist nach Parlow gekommen, um ihre todkranke Mutter zu pflegen. Diese wird von Wahnvorstellungen verfolgt und bürdet ihrer Tochter auf dem Sterbebett eine Aufgabe auf, die sie voller Fragen zurücklässt. Ablenkung bietet der ebenso attraktive wie geheimnisvolle Jaxon, der als Untermieter bei ihrem Nachbarn Tom eingezogen ist. Luisa spürt die Gefahr, dennoch lässt sie sich auf ihn ein und kommt unverhofft dem Geheimnis auf die Spur, das ihre Mutter jahrzehntelang umgetrieben hat.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Eins

Zwei

Drei

Vier

Teil 2

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Teil 3

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Epilog

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Prolog

April 2014

Die Nacht, die alles veränderte, war sternenklar; die Dunkelheit hier draußen schwärzer, als sie es je erlebt hatte. Mit nackten Füßen blieb sie im tiefen Sand stehen und lauschte auf die Geräusche, die sie umgaben. Ein Flattern und Zirpen. Irgendetwas Kleines, Schnelles, das ihr über den Fuß krabbelte. Etwas, das ihr Gesicht streifte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in das endlose, vollkommene Universum hinauf. Bis sie ihn herannahen hörte und sie ein Frösteln überkam.

Sie schlang sich die Arme um den Leib. »Warum hier?«, fragte sie.

Er wirkte erschöpft. Sie hatten nicht geschlafen. Außerdem hatten sie den Wagen vor drei Kilometern stehenlassen und zu Fuß durch den tiefen Sand bis hierhin laufen müssen.

»Hier ist es sicher«, sagte er.

Sie sah sich um. In dem dunklen Betongebäude, das in ihrer Nähe aus dem Sand ragte, erkannte sie trotz der Dunkelheit zahllose Einschusslöcher.

»Meinst du?«

»Ganz bestimmt.« Er ließ den Rucksack von seinem Rükken in den Sand gleiten, als würde er dreißig Kilo wiegen. Aber das tat er nicht. Sie wusste genau, was drin war.

»Vertrau mir«, sagte er.

Sie sah den Rucksack an, der zwischen ihnen lag wie ein dunkler, runder Findling, und spürte, wie Angst und Zweifel wieder in ihr zu nagen begannen.

So vertraut. So lästig.

Eine Weile standen sie einfach nur schweigend nebeneinander. Er fuhr sich mit dem langen Ärmel seines beigefarbenen Hemdes über die schweißnasse Stirn. In der Dunkelheit sahen seine hellblauen Augen dunkel aus. Millionen Sterne spiegelten sich darin. Er wirkte unheimlich ruhig, aber sie kannte ihn und wusste, wie angespannt er war.

Er wartete.

Sie sah sich um, lauschte in die Nacht, aber da war nichts. Sie konnte ihm vertrauen, der Ort war sicher.

Sie schluckte. »Geh schon vor«, durchbrach sie irgendwann die Stille. »Ich brauche noch einen Moment.«

Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Er rollte die Schultern, griff wieder nach dem Rucksack und stapfte durch den tiefen Sand auf das verwitterte Gebäude zu.

Sie sah ihm nach, ihr Herz klopfte wild und Angst schnürte ihr die Kehle zu. In ihrer Hosentasche ertastete sie das Leder ihrer Handyhülle. Sie wusste, es gab noch einen einzigen, einen allerletzten Ausweg.

Es war fast drei Uhr nachts, aber wenn es um sie ging, existierten für ihn keine Uhrzeiten. Sie entfernte sich ein paar Schritte von dem Gebäude, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit zitternden Fingern seine Nummer.

Der Ort war sicher, ja. Aber er, er würde sie überall finden. Sie hatte ihm ein Zeichen hinterlassen und er würde kommen und sie hier herausholen.

Sie wartete. Das Klingeln dauerte an. Es dröhnte in ihrem Kopf.

Er ging nicht dran. Diesmal nicht.

Als der Rufton irgendwann endete, ließ sie das Handy sinken und wusste, dass es endgültig war.

Reglos stand sie da. Erleichterung durchflutete sie, während ihr Herz in ihrer Brust hämmerte.

Er war nicht drangegangen. Es war entschieden.

Tränen stiegen ihr in die Augen und sie ließ sie einfach laufen. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihr Handy immer noch in der Hand hielt, ließ sie es fallen und schob mit dem Fuß Sand darüber, bis es nicht mehr zu sehen war. Dann drehte sie sich um und ging auf das Gebäude zu.

Teil 1

Eins

Tom wusste, sie würde ihn nicht verlassen. Nicht wirklich. Deshalb blieb er auch sitzen, als sie Matilda hochhob, obwohl die mittlerweile fast zu schwer für sie war, und ihm einen hasserfüllten Blick zuwarf. Aber sie hasste ihn ja nicht wirklich.

»Heute ist ihr Geburtstag.«

Er sagte nichts und sie verließ die Küche und stapfte die Treppe hinauf. Er wusste, was jetzt kam: Sie setzte Matilda im Schlafzimmer auf dem Bett ab, riss die Schranktüren auf und stopfte ein paar Anziehsachen in ihre dunkelgrüne Adidas-Sporttasche. Dann holte sie den rosafarbenen Kinderkoffer aus dem obersten Schrankfach und ging nach nebenan ins Kinderzimmer, wo sie die Prozedur mit den Sachen von Matilda wiederholte.

Stumm und mit weit geöffneten Augen folgte Matilda ihr, sammelte so schnell sie konnte ihre wichtigsten Spielsachen ein und packte sie in den Koffer, bevor Judith ihn schloss.

Und wenn er dabei im Türrahmen stand und zusah, sich für seine unmögliche Art entschuldigte und ihr versprach, sich zu ändern, wurden ihre Bewegungen nur noch energischer, ihr Blick noch giftiger.

Den Weg zum Auto musste sie, seit Matilda älter war und ihren Koffer selbst tragen konnte, nur noch einmal zurücklegen, das machte ihn eindrucksvoller als in den vergangenen Jahren.

Und dann verschwand sie für zwei bis drei Tage und ließ nichts von sich hören. Das war ihre Strafe für ihn und sie hatte ihre Wirkung. Weil er wusste, dass sie zu Kent ging. Und das wollte er nicht.

Er schaffte es sitzenzubleiben, bis er hörte, dass sie in Matildas Zimmer hinüberging, dann stand er auf und lief mit ein paar Schritten die Treppe hinauf. In der Tür zum Kinderzimmer blieb er stehen und sah zu, wie Judith die Schranktür aufriss. Ihre Wangen waren gerötet.

»Jetzt versaust du ihr den Geburtstag«, sagte er. »Meinst du, sie will den Tag auf der Autobahn verbringen?«

In der Hoffnung auf ein wenig Unterstützung von ihrer Seite sah er Matilda an, aber die schien sich ihre Meinung darüber, wer ihr den Geburtstag verdarb, zweifelsfrei gebildet zu haben.

Judith stopfte einen ziemlich großen Stapel Kleidung in den Koffer. »Keine Sekunde lang kaufe ich dir ab, dass dich das auch nur im Geringsten interessiert«, sagte sie, aber Tom konnte den Blick nicht mehr von dem Koffer wenden.

»Was soll das? Wieso nimmst du alle ihre Hosen mit?«

Judith räumte das nächste Schrankfach leer. Matildas Koffer war mittlerweile zum Bersten gefüllt.

»Dumme Frage. Damit sie in Zukunft nicht ohne rumlaufen muss.«

»Lass den Mist, Judith.« Sein Tonfall war ungewohnt scharf, aber das schien ihren Packeifer nur noch zu steigern.

»Ich hab‘s dir gesagt, Tom.« Sie sah ihn nicht an, sondern drückte den Koffer zu und versuchte, den Reißverschluss zu schließen. »Ich habe dir gesagt, dass es reicht.«

»Das meinst du nicht ernst.«

»Und wie ernst ich das meine.« Der Reißverschluss klemmte, aber mit Gewalt bekam sie ihn zu. Sie richtete sich auf und als sie ihn ansah, glänzten ihre Augen ganz seltsam.

»Jetzt tu doch nicht so, als ob es dich wer weiß wie kümmert, dass du uns loswirst«, sagte sie. »Dass dir am Familienleben nichts liegt, hast du in den letzten Jahren oft genug bewiesen.« Sie ging an ihm vorbei. Sie trug Matildas Koffer selbst, weil er so schwer war. Ihr Spielzeug hatte nicht mehr reingepasst. Matilda hatte die Arme voll damit, als sie hinter ihrer Mutter herlief.

Tom folgte den beiden die Treppe hinunter. In der geöffneten Haustür blieb er stehen und sah zu, wie Matilda auf der Beifahrerseite in den alten Passat kletterte und Judith den Koffer ins Auto hievte. Dann kam sie zurück und ging an ihm vorbei, um den zweiten zu holen.

Tom rührte sich nicht, bis sie die Treppe aus dem oberen Stockwerk wieder herunterkam, die Schublade der Flurkommode aufzog und die rote Mappe herausholte, in der sie Matildas Unterlagen aufbewahrten. Dann ihr Sparbuch.

»Judith …«

»Ich verlasse dich, Tom.«

»Nein.«

»Doch.« Sie nahm Laikas Leine vom Haken neben der Kommode und das hatte sie, ebenso wie die Sache mit der Mappe und dem Sparbuch, noch nie getan.

»Warte …«

»Worauf? Darauf, dass du dich änderst? Dass ich nicht lache. Wir haben Matilda einen schönen Geburtstag versprochen. Und wir streiten jetzt seit«, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »mehr als drei Stunden. Ist dir das eigentlich klar?«

Sie geht, wie sie sonst auch geht, sagte er sich. Für ein paar Tage. Er brauchte sich einfach nur volllaufen zu lassen und darauf zu warten, dass sie zurückkam und sie wieder von vorne anfangen konnten.

Aber etwas in ihrem Tonfall, in ihrer ganzen Art, machte ihn nervös. Sie sah ihn an und er merkte, dass er ihr den Weg nach draußen versperrte.

»Geh zur Seite.«

»Wo gehst du hin?« Er wusste nicht, wieso er fragte. Er wusste, wohin sie ging.

»Wir fahren nach Berlin und feiern eine Party. Wie es sich gehört.«

Sie fuhr zu einem anderen. Wahrscheinlich schlief sie auch mit ihm, wenn sie und Matilda bei ihm waren. Auch wenn sie immer sagte, dass sie das nicht tat. Er glaubte ihr nicht.

Als würden sich seine Gedanken in seinem Gesicht widerspiegeln, verlor Judith plötzlich etwas von ihrer Selbstsicherheit. Sie ging einen halben Schritt zurück und stieß gegen Laika, die hinter ihr stand und erschrocken fiepte.

»Komm schon, Tom, du weißt, dass wir zu Kent fahren. Du hast es immer gewusst. Also lass mich einfach vorbei.«

Er machte einen Schritt auf sie zu und griff nach ihr, erwischte sie am Arm, obwohl sie auswich. Sie schrie auf, aber er zog sie zu sich heran und stieß sie heftig auf den Hof hinaus. Sie stolperte die ausgetretene Treppe hinunter und starrte ihn an, die Augen aufgerissen, so dass sie mehr denn je aussah wie Matilda.

»Tom!«

Er warf den Koffer hinter ihr her und es gelang ihr, ihn festzuhalten, so dass er nicht umkippte. Er sah, dass ihre Hände zitterten.

»Hau ab!«, schrie er sie an und merkte, dass es ihm auf einmal nicht schnell genug gehen konnte, sie loszuwerden. »Los, hau ab! Geh zu Kent und fick ihn!«

Den Bruchteil einer Sekunde schien sie zu wanken, unsicher, wie sie reagieren sollte, aber der Moment war ebenso schnell vorbei wie er gekommen war. Sie packte den Koffer mit der einen Hand, Laikas Halsband mit der anderen und beeilte sich, zum Auto zu kommen. Sobald sie ihm den Rükken zugekehrt hatte, warf Tom die Tür zu und lehnte sich dagegen. Er atmete heftig, obwohl er sich kaum bewegt hatte, und schloss die Augen, während er zuhörte, wie Judith den Passat startete und mit knirschenden Reifen den Hof verließ.

Scheiße, was war bloß in ihn gefahren? Sie stritten sich ständig, fast jeden Tag, aber er schrie sonst nicht und noch nie, in über dreißig Jahren nicht, hatte er Judith grob angefasst.

Aber was fing sie auch an, von diesem Kent zu reden?

Als er den Wagen nicht mehr hörte, stieß er sich von dem dunklen Holz ab und lief die Treppe in sein Arbeitszimmer hinauf. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie anzurufen und sich zu entschuldigen, aber als er sich in seinen Stuhl fallen ließ und den leeren Hundekorb neben seinem Schreibtisch sah, verflog das Bedürfnis wieder. Dass sie Laika mitgenommen hatte, war eine absolut unnötige Aktion und nur darauf ausgelegt gewesen, ihn weiter zu schwächen. Seit Matilda auf der Welt war, und das waren heute auf den Tag genau fünf Jahre, war ausschließlich er es gewesen, der sich um den Hund gekümmert hatte. Laika gehörte ihm, Matilda ihr. So war die Aufteilung.

Er lehnte sich zurück, schaltete den Monitor seines Computers ein und überlegte, ob er erst den nächsten Auftrag abarbeiten und wegschicken, oder sofort mit dem Trinken anfangen sollte. Aber der Stress, den er seit heute Morgen zu ertragen gehabt hatte, beantwortete diese Frage schnell und er stand auf und schenkte sich einen Whisky ein. Die Flasche nahm er gleich mit zum Schreibtisch zurück und die nächsten Stunden dachte er fast nicht mehr an Judith.

***

»Wie geht es dir heute?«

»Es geht schon.«

»Besser als gestern?«

»Es geht schon.«

»Möchtest du ein Glas Wasser?«

»Nein.«

»Musik hören?«

»Vielleicht.« Ihre Mutter sprach mit geschlossenen Augen und hob den Kopf nicht vom Kissen. Als Luisa die Vorhänge öffnen wollte, runzelte sie die Stirn, als schmerzte sie die Helligkeit, und Luisa ließ sie geschlossen, obwohl es im Zimmer schlecht roch und der Himmel blau war. Kleine, schneeweiße Wolken trieben darüber hinweg.

Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit und schaltete den CD-Player ein, der auf dem Schreibtisch vor dem Fenster stand. Dann setzte sie sich in den Sessel neben das Bett, zog die Beine an und nahm die Hand ihrer Mutter. An der dünnhäutigen Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger konnte sie ihren Puls spüren wie ein kleines, schnelles Tier, das auf der Flucht vor irgendetwas Großem ist.

Eine Weile schwiegen sie, während Musik von Eros Ramazzotti leise durch den Raum schwappte. Die Hand, die in ihrer lag, war so schlaff, dass Luisa glaubte, ihre Mutter sei eingeschlafen. Dann öffnete sie die Augen.

»Ich habe Albträume«, sagte sie in dem Moment, in dem das erste Lied vorbei war.

Luisa hatte ebenfalls Albträume. Sie träumte, dass ihre Mutter gestorben war. In ihren Träumen ging sie den Flur entlang, der viel länger als in Wirklichkeit war, zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Hatte sie endlich die Tür erreicht, klemmte sie und war schwer zu öffnen. Sie musste sich mit ihrer ganzen Kraft dagegenstemmen. Und dann lag sie da auf dem Bett, nackt und grau und eingefallen, die Augen blicklos zur Decke gerichtet. Für immer verstummt.

»Ich habe Albträume«, wiederholte ihre Mutter. »Seit ich hier bin, träume ich schlecht.«

»Was träumst du?«

»Von einem endlosen Feld, über das ich laufe und laufe und ich komme doch nicht vom Fleck.« Sie schluchzte auf, als gäbe es keine schlimmere Vorstellung. »Ich komme einfach nicht voran, so sehr ich mich auch anstrenge. Da ist überall Treibsand.«

»Ich kann Doktor Rother Bescheid sagen. Er hat bestimmt Tabletten dagegen.«

Ihre Mutter entzog ihr die Hand und drehte den Kopf zur Wand. »Du solltest nach Hause fahren«, sagte sie. »Du bist schon viel zu lange hier.«

»Ach was.« Luisa versuchte, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen. »Mir gefällt es hier. Ich kann mich gut konzentrieren.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Es stimmt aber.«

Es stimmte nicht. Sie vermisste das unbeschwerte Zusammensein mit Arne, den sie normalerweise fast jeden Tag sah. Und von ihrer Bachelorarbeit hatte sie, seit sie hier war, gerade mal eine halbe Seite geschrieben, obwohl sie sich einen Stapel Bücher mitgebracht hatte und die Arbeit in einer Woche abgeben musste. Es war zwar ruhig hier, aber sie konnte sich dennoch nicht konzentrieren, wegen der Träume nachts und weil ihre Mutter nur ein Zimmer weiter lag und von innen zerfiel.

»Worüber schreibst du?«, fragte sie.

»Über Ängste.«

Und zwar dreißig Seiten, für die sie mindestens vier Wochen eingeplant hatte. Drei davon waren bereits um.

»Was für Ängste?«

»Bindungsängste.«

Ihre Mutter lachte. Sie lachte eine ganze Weile, dann begann sie zu husten. »Bindungsängste. So ein Quatsch. Du solltest lieber über richtige Ängste schreiben«, sagte sie, dann verstummte sie mit geschlossenen Augen.

Als die CD einmal durchgelaufen war, stand Luisa auf, schaltete den Player aus und verließ das Zimmer.

Zuerst wollte sie sich wieder an ihre Arbeit setzen, aber weil das sowieso darauf hinauslaufen würde, dass sie die kommenden Stunden auf den blinkenden Cursor ihres Laptops starrte, verließ sie stattdessen das Haus, durchquerte den Vorgarten und zog ihr Handy aus der Tasche.

Sie hatte schon fast das Ufer des Sees erreicht und überlegte, ob sie ihn einmal umrunden wollte, als ihre Schwester abhob und einen Gruß in den Hörer nuschelte.

»Weißt du, wie lange es dauert, einmal um den See zu gehen?«, fragte Luisa.

»Welchen See?«

»Den bei Mama.«

»Keine Ahnung. Ewig. Der ist doch riesig. Deswegen rufst du an? Um mich das zu fragen?«

»Nein. Eigentlich will ich deinen Kenntnisstand auffrischen. Also, Mama wird nicht mehr lange durchhalten, Amelie. Es ist schlimm. Sie redet wirres Zeug und hat Albträume von endlosen Feldern und Treibsand.«

Luisa ging los, nach links, obwohl sie nicht wusste, ob die Straße überhaupt einmal um den ganzen See herumführte. Sie konnte immer noch umkehren.

Am anderen Ende der Republik brummte Amelie Unwilliges in den Hörer und öffnete eine Getränkedose.

»Treibsand? Artax aus der Unendlichen Geschichte ist im Treibsand versunken, weißt du noch?«

»Amelie, Mama geht’s nicht gut.«

»Ja, ich weiß es ja.«

»Ihr Arzt hat die Morphiumdosis erhöht. Du weißt, was das bedeutet. Und sie weiß es auch.«

Amelie schlürfte und seufzte und das nervte Luisa fast noch mehr als ihre Abwesenheit.

»Was soll das? Denkst du nicht, es ist Zeit für dich, endlich herzukommen?«

»Ja … doch …«

»Ja, doch?«, echote Luisa. »Das hört sich verdammt nochmal nicht danach an, als würdest du dich gleich ins Auto setzen. Ich brauche dich hier. Ich muss in einer Woche meine Bachelorarbeit abgeben und hab nicht mal eine Seite geschrieben.«

Amelie schwieg eine Weile. Luisa hörte sie herumlaufen und die Dose in der Hand zerdrücken.

»Am Montag fangen meine Kurse an.«

»Was du nicht sagst. Weißt du was? Meine auch.«

»Dann musst du eben auch zurückkommen. Meine Güte, das Leben geht weiter.«

»Und wer kümmert sich um unsere Mutter?«

»Ich weiß nicht«, sagte Amelie. »Kann sie nicht in ein Hospiz oder so?«

»Hör auf zu quatschen, du willst sie nicht wirklich alleine sterben lassen. Komm wenigstens für ein paar Tage her, um mich abzulösen.«

Und dich von ihr zu verabschieden, blöde Kuh.

Amelie seufzte wieder, leiser diesmal. »Ist ja gut.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, ich … gucke, ob ich es einrichten kann, okay?«

Es war nicht okay, aber Luisa schluckte ihren Ärger hinunter. Sie verließ die Straße und schlug sich nach rechts in einen zugewachsenen Waldweg hinein, der näher an den See heran- und hoffentlich um ihn herumführte. Sie hätte ihrer Schwester gerne gesagt, dass sie ein egozentrisches Miststück war, es lag ihr schon auf der Zunge, aber sie waren beide erwachsen, sahen sich nicht mehr häufig und versuchten, einen Streit am Telefon so gut es ging zu vermeiden. Das tat auch Amelie, denn sie wechselte das Thema.

»Wie sieht es aus, gibt es mittlerweile Telefonleitungen und geteerte Straßen, oder ist immer noch nichts los in Parlow?«

Luisa schob ein paar Zweige beiseite und bemühte sich, den Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Seit sie losgegangen war, hatte sie außer ein paar Staren beim Nestbau, einer dösenden Katze und einer Handvoll Enten kein Lebewesen zu Gesicht bekommen.

»Alles unverändert hier, würde ich sagen.«

»Scheiße. Mein Navi würde das Kaff also sowieso nicht wiederfinden.« Luisa hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete und die Balkontür öffnete. Kurz darauf das leise Tuckern eines Frachtschiffes. Es erinnerte sie daran, dass Amelie so nah am Rhein wohnte, dass sie von ihrem Balkon aus direkt ins Wasser spucken konnte, wenn sie wollte.

Unwillkürlich blieb Luisa stehen. Sie hätte gerne mit ihrer Schwester getauscht. Diese ganze Verantwortung jemand anderem überlassen. Jemandem, der stärker war als sie. Aber sie wollte auch wissen, was das war, das ihre Mutter so nah an den Abgrund getrieben hatte.

***

Er hatte geglaubt, wenn er das erste Mal nach beinahe sechs Jahren durch Tor eins auf die Straße trat, würde irgendwas mit ihm passieren. Er hatte nicht genau gewusst was, dafür war zu viel Zeit vergangen, aber er war davon ausgegangen, dass da irgendwas sein würde. Freude vielleicht, oder Erwartung, oder Erleichterung.

Aber alles, was er fühlte, war ein leises Unbehagen, als sich das schwere Tor summend hinter ihm schloss und ihn aussperrte.

Sarah hatte ein Stück die Straße hinunter im Schatten geparkt. Sie stand neben einem dunkelgrünen BMW. Mit ihrem hellen Haar, der khakifarbenen Hose und der weißen Bluse sah sie hübsch aus; wie eine Blume. Sie winkte ihm zu und er entfernte sich von der sechs Meter hohen Mauer, die das rotweiße Ziegelgebäude hinter ihm umgab, und ging ihr entgegen.

Er hatte eine Tasche mit ein paar Sachen dabei und er trug seit langer Zeit wieder so etwas wie eigene Klamotten. Er hatte sie am Vortag im Gefängnisladen gekauft, aber er hatte sich so lange nichts mehr selber ausgesucht, dass es ihm schwergefallen war, auch wenn die Auswahl nicht groß gewesen war. Letztendlich hatte er irgendwas genommen, das passte: eine schwarze Outdoorhose, die ihm wegen der vielen Taschen gefiel, und ein dunkelgrünes T-Shirt mit dem Chiemsee-Klippenspringer auf dem Rücken.

»Hi«, sagte er, wechselte den Rucksack auf die linke Schulter und umarmte Sarah mit dem rechten Arm. Sie roch gut, nach Vanille und irgendwas, das ihn an Frühling erinnerte. Vielleicht waren es aber auch die blühenden Bäume, unter denen sie geparkt hatte.

Über ihren Kopf hinweg besah er sich den Wagen näher. Es war ein ziemlich neuer X5. Jaxon musste zugeben, dass er ihr so viel Geschmack gar nicht zugetraut hätte. Wahrscheinlich gehörte er ihrem Freund. Und wahrscheinlich hatte dieser tatsächlich so viel Geld, wie sie behauptet hatte.

Er wollte sich von ihr lösen, aber Sarah hatte ihre Arme um seine Taille geschlungen und wollte ihn noch nicht loslassen und so wartete er. Sein Blick wanderte in die Ferne und die Erkenntnis, dass die Zeit der Überwachung und des Eingesperrtseins vorbei war, überwältigte ihn. Er konnte wieder gehen, wohin er wollte, essen, worauf er Lust hatte, anrufen, wen er sprechen wollte. Er hatte seine Freiheit zurück.

Er löste sich aus der Umarmung. »Fahren wir.«

Ihre Wohnung war schön; im gewissen Sinne ebenso geschmackvoll wie ihr Auto, das sie in der Garage unter dem Haus geparkt hatten. Sie lag im dritten Stock eines Neubaus, war klein und hell und hatte einen Balkon mit Blick auf den Kemnader Stausee. Die Möbel sahen neu aus, der Fußboden war mit Parkett ausgelegt und an den Wänden hingen Kunstdrucke. Modernes, abstraktes Zeug in kräftigen Farben, nichts Kitschiges.

Jaxon blieb im Flur vor einem rotgerahmten Bild stehen, auf dem rote, weiße und schwarze ineinander verschlungene Kästchen zu sehen waren. Als er bemerkte, dass direkt darunter die Kommode aus dem Haus seiner Mutter stand, ging er einen Schritt zurück. Sie hatte an der Wand zwischen Wohnzimmer und Küche gestanden, erinnerte er sich. Sie hatten ihre Mützen und Schals für den Winter darin aufbewahrt. Kurz bevor er Levin erschossen hatte, hatte er sie das letzte Mal gesehen.

»Schön hast du es hier«, sagte er, als ihm auffiel, dass Sarah ihn gespannt beobachtete.

»Ja. Du weißt ja, Phil wohnt auch hier«, sagte sie, wie um ihn daran zu erinnern, und öffnete die Tür direkt neben der Kommode.

»Das ist dein Zimmer, wenn du möchtest.«

Es war eine Art Arbeitszimmer mit einem Schlafsofa. Vielleicht war es auch ein Gästezimmer. Etwas größer als seine Zelle, aber nicht viel. Und die hatten sie die meiste Zeit zu viert bewohnt, seit Sandros Entlassung vor ein paar Monaten zu dritt.

»Gefällt es dir?«

Jaxon legte seinen Rucksack auf dem Sofa ab, nickte und sagte: »Danke.«

Sarah ging an ihm vorbei zum Fenster, das zur Straße hinausging, und zog die weißen Vorhänge zur Seite. Auf der Fensterbank wuchs in einem länglichen Tongefäß etwas, das wie Kräuter aussah. »Bedank dich nicht«, sagte sie.

»Warum nicht?« Jaxon musterte die offenen Holzregale, den Schreibtisch, das Bild über dem Sofa. Dies würde sein Zimmer werden. Vorübergehend. Es war eine Voraussetzung für seine Entlassung gewesen, dass er bei seiner Schwester einzog. Oder bei einem seiner Elternteile. Ob er wollte, oder nicht.

Sarah drehte sich um. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert. »Weil du mein Bruder bist«, sagte sie, »und so lange hierbleiben kannst, wie du willst oder musst.« Sie sprach in einem Tonfall, den sie immer dann anschlug, wenn sie über ihre Schuld bei alldem sprach.

»Hör schon auf«, sagte er. »Wenn du all das tust, weil du denkst, du hast irgendwas wiedergutzumachen, sollten wir da dringend drüber sprechen.«

Den letzten Satz hatte er von Linda, seiner Psychologin, aber das wusste Sarah ja nicht.

»Nein, so ist es nicht.«

»Ich denke schon, dass es so ist.«

»Ich denke bloß, dass wir als Familie zusammenhalten sollten. Und was die Schuldfrage angeht …«

»Solltest du aufhören, überhaupt noch daran zu denken, was passiert ist.« Er selbst hatte das bereits vor Jahren getan, nachdem er sich mit Linda so hinreichend erschöpfend mit seinen Taten auseinandergesetzt hatte, dass es seiner Meinung nach einfach keinen Aspekt gab, den sie noch nicht beleuchtet hatten.

Sarah mied seinen Blick und sah stattdessen die Buchrükken auf dem Regal an, vor dem sie stand.

»Das sagst du, als ob das so einfach wäre.«

Jedenfalls einfacher, als im Gegenteil ständig daran zu denken, fand er und ließ sich zwischen die Kissen auf das Sofa fallen. Er fühlte sich plötzlich müde, obwohl es erst zehn Uhr morgens war.

Sarah drehte sich um. »Ich lass dich dann mal alleine, was?«

Als sie ging, zog sie die Tür hinter sich zu und Jaxon saß eine ganze Weile bewegungslos auf dem Sofa und versuchte sich klarzumachen, dass sie nicht abgeschlossen war.

Schließlich stand er auf und öffnete sie einen Spaltbreit.

***

Judiths Behauptung, er würde keinen einzigen Tag im Jahr mal nicht arbeiten, war übertrieben. Seit Matilda auf der Welt war, legte er seine beruflichen Aktivitäten weitestgehend um den Sonntag herum und meistens verbrachten sie den Tag zu dritt. Weil Judith wollte, dass Matilda wie ein normales Kind aufwuchs, taten sie familiäre Dinge wie Kochen, Schwimmen gehen oder Gesellschaftsspiele spielen.

Wieso hatte er das Argument bei ihrem Streit eigentlich nicht vorgebracht, fragte sich Tom, während er über den Hof zum Tor schlenderte. Es war erst zehn Uhr morgens und er litt sonst nie an Antriebslosigkeit, aber er hatte es versäumt, sich rechtzeitig umzuorganisieren und der Sonntag lag lang und leer vor ihm.

Er sollte etwas angehen. Er könnte heute sogar etwas tun, das Judith friedlich stimmen würde, wenn sie im Laufe des Tages zurückkommen würde. Die zerbrochenen Dachziegel austauschen, zum Beispiel. Oder der Frage nachgehen, warum die Dusche im ersten Stockwerk seit zwei Monaten ausschließlich kaltes Wasser lieferte. Er könnte auch etwas ganz anderes tun. Für die nächste Woche vorarbeiten, zum Beispiel, oder eine Runde um den See gehen.

Aber auf gar keinen Fall sollte er am Tor herumstehen und die Straße hinuntersehen. Und ebenso wenig sollte er auch nur daran denken, Judith anzurufen, die höchstwahrscheinlich in ebendiesem Moment neben dieser Missgeburt Kent aufwachte und ihm ihren Traum von vergangener Nacht ins Ohr flüsterte.

Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er sich vom Tor weg. Kalt duschen störte ihn nicht im Geringsten und ohne Hund spazieren zu gehen, kam ihm ziemlich sinnlos vor.

Er war gerade den halben Weg zum Haus zurückgegangen und entschlossen, den Tag im Arbeitszimmer zu verbringen und Judith, wenn sie später zurückkam, zur Abwechslung mal eine richtige Szene zu machen, als er das Mädchen sah. Vielleicht war es auch kein Mädchen mehr, ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie folgte dem Trampelpfad, der am See entlangführte. Als sie ihn sah, änderte sie ihren Kurs und kam auf ihn zu.

»Hallo«, sagte sie, von dem Anstieg leicht keuchend. »Hier gibt’s ja doch jemanden. Ich bin, seit ich losgelaufen bin, keiner Menschenseele begegnet.« Sie kam näher und lächelte ihn an und irgendwie sah es aus, als würde ihr das überhaupt keine Mühe machen.

»Das hier ist Privatgelände.«

»Wirklich?« Sie sah sich um, als würde sie sich erst jetzt ihrer Umgebung bewusstwerden. »Das hab ich gar nicht mitbekommen. Ich komme von dahinten und plötzlich war der Weg zu Ende.«

»Er war am Zaun zu Ende.«

»Da war kein Zaun.«

»Doch, da ist einer. Er ist nur kaputt an der Stelle.«

Und ihn zu reparieren, stand auf seiner Prioritätenliste bisher ziemlich weit unten. Weil hier in sechs Jahren noch nie irgendjemand außer er selbst entlanggegangen war.

»Ach so. Das wusste ich nicht.« Sie sah plötzlich aus, als würde sie sich unbehaglich fühlen und Tom beschloss, ein bisschen freundlicher zu ihr zu sein. Sie war doch noch ein Mädchen, fand er, bestimmt nicht viel älter als zwanzig. Außerdem war sie hübsch. Ihre grünen Augen und geschmeidigen Bewegungen erinnerten ihn an die einer Katze. Sie hatte dunkle Haare bis zu den Ellbogen. Um die schmalen Handgelenke trug sie bunte Bänder. Ihrem Stil und Dialekt nach zu urteilen, kam sie nicht von hier, doch er erinnerte sich daran, sie in letzter Zeit ein paar Mal in der Gegend gesehen zu haben.

»Ich kann dich am Tor vorne rauslassen«, sagte er und wies sich mit dem Schlüssel in der Hand über die Schulter. »Ansonsten musst du den Weg zurückgehen.«

Das Mädchen sah zum Tor hinüber. Dann sah sie sich das Haus an und sein Auto, das davorstand. Es war ein nagelneuer, mattgrauer VW Amarok, der noch kein einziges Mal Regen gesehen hatte. Judith fand ihn familienuntauglich und sah nicht ein, wozu Tom unbedingt einen Pickup brauchte. Aber ihm gefiel er so sehr, dass er sogar überlegte, ihm aus der Scheune neben dem Haus eine Garage zu bauen. Eigentlich auch etwas, das er heute angehen könnte.

Das Mädchen ging neben ihm her. »Wohnst du hier?«, fragte sie.

»Die meiste Zeit.«

»Dann kennst du bestimmt meine Mutter. Gabriella. Sie wohnt direkt auf der anderen Seeseite.« Sie wies über den See hinweg und Tom folgte ihrem Blick und konnte das Haus auf der anderen Seite erahnen. Hell und flach duckte es sich unter alte, ausladende Linden.

»Ich glaube nicht. Ich bin nicht so oft da drüben.« Er angelte nach dem Schloss, steckte den Schlüssel hinein und zog die Kette aus dem Tor.

»Ich glaube, du bist ihr nächster Nachbar«, sagte sie, während sie durch das geöffnete Tor auf die verlassene Kopfsteinpflasterstraße hinaustrat. Sie drehte sich zu ihm um und da war etwas in ihrem Blick, das ihn festhielt, so dass er nicht gleich wieder wegsehen konnte. Er lehnte mit der Schulter am Tor. Die Kette klirrte leise, als er sie in seine offene Hand fallen ließ und wieder herausholte.

»Bist du zu Besuch bei deiner Mutter?«

Sie nickte. »Ich kümmere mich um sie. Sie ist … sehr krank.«

»Ach so.« Tom beschloss, lieber nicht zu fragen, was das genau bedeutete. Er vermied das Thema Krankheiten, so gut es ging.

»Und du?«, sagte sie unvermittelt, als spürte sie, dass ihm das Thema nicht behagte. »Was tust du hier so den ganzen Tag? Du wohnst doch bestimmt nicht ganz alleine hier, oder?«

»Tja.« Tom sah über die Schulter zum Haus zurück. Matildas Fahrrad lag davor, eine Schaukel war an einem der untersten Äste einer der belaubten Bäume befestigt, gefährlich nah an seinem Pickup. Er hatte sie aus einem Brett und ein paar alten Seilen gebastelt, als Matilda drei Jahre alt geworden war.

»Gute Frage, eigentlich.«

Zwei

Die Ursachen der Bindungsangst liegen für gewöhnlich in einem gestörten Verhältnis zu den Eltern, las Luisa zum wiederholten Mal ihre rosa markierte Textpassage.

Sie kaute auf dem Ende ihres Kugelschreibers herum und überlegte, ob sie diese These auf ihr Fallbeispiel anwenden konnte. Der Augenblick war günstig. Ihre Mutter hatte einen relativ guten Tag gehabt, den besten seit Langem. Sie hatten sogar gemeinsam zu Mittag gegessen und jetzt schlief Gabriella sicher noch eine Weile und würde sie nicht wegen irgendwelcher Getränke- oder Musikwünsche ans Krankenbett rufen. Luisa wusste, wenn es ihr jetzt nicht gelänge, etwas Sinnvolles niederzuschreiben, würde sie es nie schaffen.

Sie rutschte auf dem alten Holzstuhl in eine bequemere Position und versuchte, ihre Gedanken in die richtigen Bahnen zu zwingen. Warum nochmal hatte sie sich ausgerechnet für das Thema Bindungsängste entschieden?

Ihr Blick schweifte aus dem Küchenfenster in den hinteren Garten und den dahinterliegenden Wald. Weil sie den Verdacht gehabt hatte, selbst darunter zu leiden. Die Beziehungen, die sie bislang geführt hatte, waren alle oberflächlich und schnelllebig gewesen. Aber nach sechs Semestern Psychologie wusste sie, dass das weniger an ihr, sondern vielmehr an den Männern lag, mit denen sie ausging. Und die jedes Mal, wenn es drohte, verbindlicher zu werden, um ihre Freiheit fürchteten und Panik in den Augen bekamen.

Motorengeräusch vor dem Haus unterbrach Luisas Gedanken. Ein schweres Fahrzeug parkte vor dem Bungalow, kurz darauf hörte sie Türenschlagen und Schritte, die sich dem Haus näherten.

Dankbar für die Ablenkung stand sie auf, ging in das Wohnzimmer hinüber und erkannte Arnes verbeulten Transporter, der neben dem Gartenzaun stand. Ihr Herz machte einen Satz.

»Das gibt’s doch nicht«, rief sie in dem Moment, in dem sie die Haustür aufzog und ihm gegenüberstand. »Was machst du denn hier?«

Arne grinste sie an und sie fiel ihm in die Arme. Sein Körper roch nach Zigarettenrauch und harter Arbeit und sie merkte erst jetzt, wie gottverdammt einsam sie hier war.

»Warum hast du denn nicht Bescheid gesagt, dass ihr in der Nähe seid?«

»Ich wollte dich überraschen.« Er küsste sie, dann ließ er sie los und ließ seinen Blick erst über sie, dann über die Hausfassade wandern.

»Ich dachte, wir könnten hier eine nette Nacht zusammen verbringen, bevor es morgen früh weitergeht.«

Luisa antwortete nicht. Sie konnte nicht fassen, in dieser Blase aus Stille und Krankheit, in der sie sich seit drei Wochen befand, so unverhofft einer vertrauten Person aus ihrem wahren Leben gegenüberzustehen.

»Ist irgendwas zu essen da? Ich bin am Verhungern.« Mit dem Rucksack über einer Schulter und seinen schweren Sicherheitsschuhen stiefelte Arne an ihr vorbei in die Küche. Luisa folgte ihm und begann damit, ihre Unterlagen auf dem Küchentisch zusammenzuschieben und im Ordner zu verstauen.

»Aah.« Arne hob die Deckel der Töpfe auf dem Herd an und entdeckte das restliche Curry vom Mittagessen. »Kann ich einen Teller haben?«

»Klar.« Luisa klappte den Ordner zu und reichte ihm einen der blauen Porzellanteller aus dem Buffetschrank. Sie sah zu, wie er ihn mit Curry belud und sich am Kopfende des Tisches fallenließ.

»Das war vielleicht eine Maloche«, sagte er, nachdem er die ersten Löffel verschlungen hatte. »Artur war heute nicht da, also waren wir nur zu dritt. Wir haben sechs Stunden für den Abbau gebraucht. Und dann ist auch noch der Neue von der Traverse gefallen, kurz vor Schluss.« Er machte eine Redepause und löffelte weiter. Luisa sah ihm beim Essen zu. Trotz des harten Arbeitstages und der Autofahrt wirkte er aufgeräumt, beinahe entspannt.

»Ich verstehe nicht, warum Artur diese Hiwis immer anheuert«, fuhr er irgendwann fort. »Die machen mehr Stress als alles andere …«

»Kannst du leiser reden? Meine Mutter schläft.«

»Ich dachte, ich brauche drei Stunden von Leipzig bis hierhin. Aber der Berliner Ring war sowas von …«

»Arne!«

»Was?« Er sah sie mit einem Ausdruck an, als wäre ihm gar nicht bewusst, dass ihre Mutter hier wohnte; als würde sie einfach ihre Ferien an diesem lauschigen Plätzchen verbringen. Aber wahrscheinlich hatte er wirklich nicht daran gedacht. Luisa hatte Arne erst letztes Jahr bei einem Philipp-Poisel-Konzert kennengelernt und es bisher versäumt, ihn ihrer Mutter vorzustellen. Aber Luisa wusste auch so, dass sie ihn nicht mögen würde. Gabriella hatte eine beinahe pathologische Abneigung gegen biertrinkende Arbeitertypen wie ihn.

»Meine Mutter.« Luisa wies in Richtung Schlafzimmer. »Du weißt doch, dass sie krank ist.«

»Ja, natürlich.« Arnes Tonfall war neutral, aber Luisa wusste, dass ihm dieses Thema gerade noch gefehlt hatte. Er senkte den Blick wieder auf sein Curry und fuhr zu essen fort. Als er fertig war, schob er den leeren Teller von sich und sah sich um.

»Und was machst du hier den ganzen Tag lang?«, fragte er.

Luisa zuckte die Achseln. »Ich schreibe meine Bachelorarbeit«, sagte sie, obwohl davon keine Rede sein konnte. Bevor sie hergekommen war, hatte sie geglaubt, diese Wochen würden genau die richtige Zeit und Parlow der richtige Ort sein, um zu schreiben. Dass die Sterbebegleitung ihrer Mutter sie gedanklich dermaßen vereinnahmen würde, hatte sie nicht erwartet.

Sie bemerkte, dass Arne sie musterte. »Du wirkst ganz schön gestresst, Lu.«

Luisa ließ die Schultern fallen. Ihr fiel auf, dass sie immer noch am Buffetschrank stand und an ihrem Daumennagel kaute. Eine Unart, die sie eigentlich bereits abgelegt hatte, als sie vierzehn gewesen war.

Arne lehnte sich zurück, zog mit einer Armbewegung Zigaretten und Feuerzeug aus seiner Jacke an der Stuhllehne und klopfte sich eine Kippe aus der Schachtel. »Wann willst du eigentlich zurückkommen?«

Luisa starrte auf seine Hände und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

»Würdest du die Zigaretten wegpacken? Meine Mutter liegt zwei Räume weiter und stirbt gerade an Lungenkrebs!« Ihre Stimme klang schrill und sie versuchte mühsam, sich wieder zu beruhigen, da war Arne schon aufgestanden und stand vor ihr.

»Hey«, sagte er und zog sie an sich. Er senkte den Kopf und streifte mit den Lippen ihren Hals. »Du solltest wirklich mal abschalten.«

Luisa sah den Flur entlang Richtung Schlafzimmertür und musste den Reflex unterdrücken, ihn von sich zu schieben.

»Vergiss das alles mal für eine Weile«, drängte Arne. »Ich bin einen riesigen Umweg gefahren, um bei dir zu sein. Also tu mir den Gefallen, okay?«

Er hat Recht, dachte Luisa. Doktor Rother hatte ihr vor zwei Wochen schon gesagt, dass sie sich Auszeiten nehmen musste, wenn sie auf den Beinen bleiben und all das durchstehen wollte. Wenigstens für ein paar Stunden.

»Okay.« Luisa stieß ein Seufzen aus. »Lass uns zum See runtergehen.«

Arne hob den Kopf. »Was?« Er schielte in Richtung Wohnzimmer. »Ich habe eher an das Sofa gedacht, um ehrlich zu sein.«

Luisa schüttelte den Kopf. »Ich muss mal raus hier.«

***

Als Judith zurückkam, flickte Tom gerade das Dach. Für ihn ohnehin keine vollkommen schwindelfreie Angelegenheit. Er hielt in seiner Arbeit inne, steckte den Hammer in seinen Werkzeuggürtel und ließ sich auf die spröden, ausgeblichenen Ziegel sinken. Die Erleichterung durchflutete ihn mit einer Heftigkeit, die eigentlich nur damit zusammenhängen konnte, dass sie einen Tag länger weg gewesen war als sonst. Und er heute damit angefangen hatte, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, sie könnte ihn wirklich verlassen haben.

Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er eigentlich sauer auf sie war.

Sie parkte ihren Passat neben seinem Pickup, stieg aus und überquerte den Hof, ohne ihn zu beachten. Entweder, weil sie ihn wirklich nicht bemerkte, oder weil sie keine Lust auf ihn hatte.

Sie war alleine, was er seltsam fand, außerdem ließ sie die Haustür offen, als würde sie gleich wieder wegwollen.

Tom wartete eine Minute, bis sein Kreislauf wieder rund lief, dann machte er sich an den Abstieg und betrat hinter ihr das Haus. Judith war im oberen Stockwerk, im Kinderzimmer.

»Hallo!«, rief er nach oben, dann ging er in die Küche, legte den schweren Gürtel auf die Anrichte und holte eine Flasche Gin aus dem Schrank.

Wenig später erschien Judith in der Küche, das Gesicht unergründlich und noch bleicher als sonst. Tom hielt in der Bewegung inne. Er wollte sie fragen, was los war, aber er starrte sie nur an. Sein erster Gedanke war, dass etwas mit Matilda war.

»Ich hatte gehofft, du wärst nicht da, wenn ich zurückkomme«, sagte sie.

Irgendwie machte das, was sie sagte, keinen Sinn und Tom schloss den hölzernen Hängeschrank so vorsichtig, als wäre er aus Porzellan. Er drehte sich zu ihr um. Sein Mund fühlte sich trocken an. Es wurde höchste Zeit für seinen Drink.

»Ich gehe weg«, sagte sie und obwohl sie seinem Blick nicht auswich, spürte er, dass es ihr schwerfiel. »Richtig weg, meine ich.«

Tom räusperte sich. »Warum?«

Sie zuckte die Achseln, als läge die Antwort auf der Hand und wäre ohne große Bedeutung. »Ich steige aus.«

»Du steigst aus? Woraus steigst du aus?«

»Aus allem.«

Er schüttelte den Kopf und setzte zu einer Erwiderung an, aber sie fiel ihm mit einer Handbewegung ins Wort. »Und genau deshalb hatte ich gehofft, dir nicht noch mal zu begegnen«, rief sie. »Damit du gar nicht erst versuchen kannst, mich davon abzubringen. Es ist beschlossene Sache, Tom. Am besten gibst du dir hier unten ordentlich die Kante und ich gehe wieder nach oben und packe, in Ordnung?«

Einen Atemzug lang war er versucht, ihr den Rücken zuzudrehen und ihrem Vorschlag zu folgen, sie einfach fortgehen zu lassen. Aber er wusste ja, auf wessen Mist diese Idee gewachsen war. Und ebenso, dass Judith kaum allein mit Kind und Kegel das Land verlassen würde.

»Ich hoffe, du hast ihn nicht als Umzugshilfe herbestellt«, blaffte er, »weil er sich nämlich eine Kugel einfängt, wenn er auch nur einen Fuß auf dieses Grundstück setzt.«

»Hör auf damit, Tom.« Sie klang gereizt. »Hier fängt sich niemand eine Kugel ein.«

Er goss sich einen ordentlichen Schwung Gin auf das Eis, nahm einen Zug und stellte das Glas wieder ab. Die Stille zwischen ihnen war ohrenbetäubend.

»Es wird nicht funktionieren«, sagte er.

»Wieso nicht?«

»Wenn ihr es richtig machen wollt, braucht ihr Geld. Und du hast keins. Dein Kent mag ja seine versteckten Qualitäten haben, aber zufällig weiß ich, dass er im Kohlemachen eine richtige Null ist.«

Und um nichts anderes ging es in der Branche, in der Kent seit fast zwanzig Jahren vergeblich versuchte, erfolgreich zu sein. Tom begriff nicht, wieso er es nicht längst aufgegeben hatte. Wahrscheinlich ließ er nicht davon ab, weil ihm der Lifestyle gefiel. Und Judith natürlich.

»Er hat einen Plan.« Sie sprach jetzt leiser und sah an ihm vorbei in den Garten.

»Da bin ich aber mal gespannt, auf seinen Plan. Ist bestimmt absolut wasserdicht. Wen hat er denn alles im Boot? Etwa Dima?«

»Das geht dich nichts an.«

»Natürlich geht es mich was an.«

»Ich will mit dir da nicht drüber sprechen.«

»Du willst nicht? Du meinst, du darfst nicht.« Wahrscheinlich hatte Kent ihr Verschwiegenheit eingetrichtert, aber Tom kannte Judith und war sich sicher, sie würde den Plan liebend gern mit ihm auf eventuelle Schwächen hin durchgehen.

»Wie auch immer, ich werde es nicht tun.« Sie hatte die Arme verschränkt und jetzt senkte sie die Brauen so tief über die Augen, dass er gegrinst hätte, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Es stimmte schon: Sie stritten sich den lieben langen Tag. Aber was sie vergessen hatte zu erwähnen, war, dass sie sich jede Nacht wieder versöhnten.

»Dann eben nicht. Aber tu mir einen Gefallen und bleib aus der Schusslinie.« Er sah sie kaum an, während er das sagte, und klang gleichgültig, aber in Wahrheit drehte sich ihm der Magen um bei dem Gedanken daran, Judith könnte in eine üble Geschichte geraten. Auf Kent war in dieser Hinsicht kein Verlass, das wusste er.