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Vor 500 Jahren war der Eukalyptus ein in Australien heimischer Baum, der Dodo lebte friedlich auf einer Insel im indischen Ozean und Holz war das wichtigste Brennmaterial. Heute gibt es rund um den Globus Eukalyptusplantagen, der Dodo ist ausgestorben und die Welt verbraucht jeden Tag 95 Millionen Barrel Erdöl. Menschen und Materialien sind in nie gekanntem Umfang in Bewegung, die ökologischen Folgen unseres Lebensstils sind Schlüsselthemen der Weltpolitik. Doch nur wenigen Menschen ist klar, in welchem Ausmaß unser Reden und Handeln über Umweltfragen von der Vergangenheit geprägt ist. Die Krise der Gegenwart Klimawandel, Umweltverschmutzung, Artensterben versteht man aber erst dann wirklich, wenn man sie als Ergebnis einer langen, wechselvollen Geschichte begreift. Frank Uekötter verfolgt in dieser Umweltgeschichte der Moderne, wie sich ökologische Verwerfungen und Konflikte im Laufe der Jahrhunderte entwickelten. Er zeigt zudem die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren hinter den weltweiten Weichenstellungen auf, die von den reichen Gesellschaften des Westens geprägt wurden.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Frank Uekötter
Im Strudel
Eine Umweltgeschichte der modernen Welt
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Vor 500 Jahren war der Eukalyptus ein in Australien heimischer Baum, der Dodo lebte friedlich auf einer Insel im indischen Ozean und Holz war das wichtigste Brennmaterial. Heute gibt es rund um den Globus Eukalyptusplantagen, der Dodo ist ausgestorben und die Welt verbraucht jeden Tag 95 Millionen Barrel Erdöl. Menschen und Materialien sind in nie gekanntem Umfang in Bewegung, die ökologischen Folgen unseres Lebensstils sind Schlüsselthemen der Weltpolitik. Doch nur wenigen Menschen ist klar, in welchem Ausmaß unser Reden und Handeln über Umweltfragen von der Vergangenheit geprägt ist. Die Krise der Gegenwart – Klimawandel, Umweltverschmutzung, Artensterben – versteht man aber erst dann wirklich, wenn man sie als Ergebnis einer langen, wechselvollen Geschichte begreift. Frank Uekötter verfolgt in dieser Umweltgeschichte der Moderne, wie sich ökologische Verwerfungen und Konflikte im Laufe der Jahrhunderte entwickelten. Er zeigt zudem die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren hinter den weltweiten Weichenstellungen auf, die von den reichen Gesellschaften des Westens geprägt wurden.
Vita
Frank Uekötter lehrt seit 2013 Geschichte und geisteswissenschaftliche Umweltforschung an der Universität Birmingham in Großbritannien. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur deutschen und internationalen Umweltgeschichte. Bei Campus erschien 2011 sein Buch »Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert«.
Prolog: Eine neue Geschichte für ein junges Jahrhundert
Wege durch das Buch
Teil 1: Grundbedürfnisse
Einleitung
Potosí — Reich an Metallen
Im Untergrund
Boomtowns
Hinterlassenschaften
Zucker — Die neue Landwirtschaft
Kleine Inseln, globale Netzwerke
Machtspiele
Das süße Leben
Der Canal du Midi — Die neue Mobilität
Transportfragen
Verbunden
In Bewegung
Nachhaltige Forstwirtschaft — Bäume und Mächte
Einen Wald besitzen
Eine Art Schadensabwicklung
Bäume ohne Förster
Abwracken in Chittagong — Überbleibsel
Resteverwertung
Das Müllgeschäft
Gewissensbisse
Teil 2: Aneignungen
Einleitung
Landbesitz — Ein Recht auf Land
Ordnung im Land
Agrarreformen
Allen Zweifeln zum Trotz
Die Brotfrucht — Entscheidungen über das Essen
Auf der Suche nach Innovationen
Nummernspiele
Raubtierfütterung
Guano — Das Geschäft mit der Bodenfruchtbarkeit
Fäkalien als Handelsgut
Farmers’ Little Helpers
Erschöpfungssymptome
Walfang — Maritime Ressourcen
Die Jagd nach Profit
Margarine aus dem Meer
Am Ende der Jagd
United Fruit — Großunternehmen
Vertikale Integration
Unruhe im Land
Mehr als ein Krake
Teil 3: Unumkehrbar
Einleitung
Der Dodo — Das Sterben der Arten
Naturgeschichte
Das sechste Mal
Vom Bewahren der Biodiversität
Der Baumwollkapselkäfer — Die Nemesis der Monokultur
King Cotton
Eine Frage der Größe
Kein Weg zurück
Providence Canyon — Erodierende Böden
Neuland
Die Retter des Landes
Wen kümmert Bodenerosion wirklich?
Bufo marinus — Einwanderungsfragen
Es war einmal eine gute Idee
Invasiv
Metamorphosen
Saudi-Arabien — Die Ressourcen der Staaten
Der größte Preis
Der richtige Preis
Der Preis des Öls
Teil 4: Die Macht der Technik
Einleitung
Smog in London — Im Zeitalter der Kohle
Großstadtprobleme
Der Staat in Aktion
Prioritäten
WC — Die Technologie der Hygiene
Sauberkeit
Systemfragen
Der Dreck der Städte
Die Schlachthöfe von Chicago — Fleisch als Industrieprodukt
Warenkette mit Tieren
Kettenreaktionen
Konsumenten in Ketten
Stickstoffdünger — Ackern mit Chemie
Das Trägheitsmoment der Technik
Viel hilft viel
Stoffkreisläufe
Die Klimaanlage — Die Atmosphäre kontrollieren
Klima als Manipulationsobjekt
Versiegelt
Körperliche Bedürfnisse
Zwischenspiel: Opium
Teil 5: Umbrüche
Einleitung
Cholera — Die Natur der Krankheit
Angst vor dem Kollaps
Suche nach Kontrolle
Krankheitswelten
Baedeker — Ratgeber für die Reise
Bücher für eine neue Zeit
Alle Macht den Büchern
Massen auf Reisen
Gandhi und das Salz — Die Welt verändern
Promis
Die Macht der Ideen
Alternative Projekte
Ein Treffen in Tokio — Internationale Konventionen
Diskussionen und Resolutionen
Buzzwords
Ernsthafte Versprechen
Das Erdbeben von Tangshan — Die Natur der Katastrophe
Erschütterungen
Im Krisenmodus
Die menschliche Dimension
Teil 6: Die letzten Reserven
Einleitung
Der Kruger-Nationalpark — Natur im Reservat
Die beste Idee
Im Zeitalter der Territorialität
Eine Form von Apartheid
Der Eukalyptusbaum — Das beste Holz
Wachstumsraten
Botanischer Austausch
Kampf der Giganten
Hybridmais — Die Macht der Züchtung
Das Manhattan-Projekt der Landwirtschaft
Rechtstitel
Geschäftsmodelle
Der Assuan-Staudamm — Die Kontrolle des Wassers
57 985 Shades of Grey
Hydraulische Macht
Pfadabhängigkeiten
Der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum — Die Erfahrung der Dependenz
Im Traum
In der Theorie
Mythenpflege
Teil 7: Das Katastrophenzeitalter
Einleitung
Holodomor — Hunger und Politik
Sowjetische Landwirtschaft
Der Hunger der Moderne
Schuldfragen
Die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe — Ein Kampf um Land
Marschbereit
Lebensraum
Entwicklung planen
Chemurgie — Die Geburt des Biokraftstoffs
Priester einer neuen Zeit
Märkte machen
Essen im Tank
Autobahn — Der Endsieg des Automobilismus
Kampf um die Straße
Eine Frage der Freiheit
Sackgassen
Die Kiefernwurzeln-Kampagne — Der totale Krieg
Nationale Mobilmachung
Mobilisierung der Wissenschaft
Landschaften des Krieges
Teil 8: Die Große Sklerose
Einleitung
Das Käfighuhn — Das industrialisierte Tier
Geschäftsideen
Der Preis der Freiheit
Befreiungsbewegungen
Glücklicher Drache Nr. 5 — Atome ohne Grenzen
Globale Kontamination
Nukleare Pläne
In der Luft
DDT — Aus einem Buch lernen
Wundermittel
Eine Frage der Demut
Verbannt in alle Ewigkeit
Torrey Canyon — Das Scheitern der Technik
Die Welt war Zeuge
Lernen aus der Katastrophe
Begrenzte Sichtbarkeit
Die Plastiktüte — Flüchtiger Konsum
Material der Moderne
Konsumentscheidungen
Dissipationen
Leben und Überleben im Strudel. Eine Schlussbemerkung
Die Große Externalisierung
Das Große Aussieben
Ein Patchwork namens Moderne
Historiographisches Nachwort I: Vom Vermessen eines Strudels
Umweltgeschichte auf einem komplizierten Planeten
Der Strom der Geschichte
Lernkurven: Die Erfahrung der Moderne
Kumulative Verstrickungen
Auf dem Weg zu einer Sozialgeschichte des ökologischen Lernens
Die Geschichte und ihre Öffentlichkeiten: Für eine ökologische Erinnerungskultur
Erinnerungsforschung ohne Grenzen
Ein Vorschlag zur Lektüre
Historiographisches Nachwort II: Die Qual der Wahl
Am Ende einer Odyssee
Anhang
Anmerkungen
Potosí: Reich an Metallen
Zucker: Die neue Landwirtschaft
Der Canal du Midi: Die neue Mobilität
Nachhaltige Forstwirtschaft: Bäume und Mächte
Abwracken in Chittagong: Überbleibsel
Einleitung zu Teil 2
Landbesitz: Ein Recht auf Land
Die Brotfrucht: Entscheidungen über das Essen
Guano: Das Geschäft mit der Bodenfruchtbarkeit
Walfang: Maritime Ressourcen
United Fruit: Großunternehmen
Einleitung zu Teil 3
Der Dodo: Das Sterben der Arten
Der Baumwollkapselkäfer: Die Nemesis der Monokultur
Providence Canyon: Erodierende Böden
Bufo marinus: Einwanderungsfragen
Saudi-Arabien: Die Ressourcen der Staaten
Einleitung zu Teil 4
Smog in London: Im Zeitalter der Kohle
WC: Die Technologie der Hygiene
Die Schlachthöfe von Chicago: Fleisch als Industrieprodukt
Stickstoffdünger: Ackern mit Chemie
Die Klimaanlage: Die Atmosphäre kontrollieren
Zwischenspiel: Opium
Einleitung zu Teil 5
Cholera: Die Natur der Krankheit
Baedeker: Ratgeber für die Reise
Gandhi und das Salz: Die Welt verändern
Ein Treffen in Tokio: Internationale Konventionen
Das Erdbeben von Tangshan: Die Natur der Katastrophe
Einleitung zu Teil 6
Der Kruger-Nationalpark: Natur im Reservat
Der Eukalyptusbaum: Das beste Holz
Hybridmais: Die Macht der Züchtung
Der Assuan-Staudamm: Die Kontrolle des Wassers
Der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum: Die Erfahrung der Dependenz
Einleitung zu Teil 7
Holodomor: Hunger und Politik
Die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe: Ein Kampf um Land
Chemurgie: Die Geburt des Biokraftstoffs
Autobahn: Der Endsieg des Automobilismus
Die Kiefernwurzeln-Kampagne: Der totale Krieg
Einleitung zu Teil 8
Das Käfighuhn: Das industrialisierte Tier
Glücklicher Drache Nr. 5: Atome ohne Grenzen
DDT: Aus einem Buch lernen
Torrey Canyon: Das Scheitern der Technik
Die Plastiktüte: Flüchtiger Konsum
Leben und Überleben im Strudel. Eine Schlussbemerkung
Historiographisches Nachwort I: Vom Vermessen eines Strudels
Historiographisches Nachwort II: Die Qual der Wahl
Bildquellenverzeichnis
Register
»If you know exactly what you are going to do, what is the point of doing it?«
Pablo Picasso
Geschichtsschreibung spiegelt stets die Erfahrungen ihrer Zeit, und Synthesen werden in besonderem Maße vom Strom der Ereignisse beeinflusst. Zu den Erfahrungen, die das vorliegende Buch geprägt haben, gehört zum Ersten ein Bündel von Entwicklungen, das heute üblicherweise als Globalisierung bezeichnet wird. Ein welthistorisches Projekt bedarf keiner langen Begründung in einer Zeit, in der die Welt intensiver und auf ganz unterschiedliche Weisen vernetzt ist als je zuvor. Glücklicherweise gab es in den vergangenen 20 Jahren auch einen Boom einschlägiger Forschungen und besonders einen Aufschwung wissenschaftlicher Studien, die sich mit Umweltproblemen jenseits der westlichen Welt beschäftigen. Die Zeiten sind vorbei, in denen eine Weltgeschichte von Europa oder Nordamerika ausgehen musste, weil der Stand der Forschung nichts anderes erlaubte.
Zum Zweiten haben wir in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, dass der Zustand unseres Planeten Anlass zu großer Sorge gibt. Es fehlt nicht an Erfolgen bei bestimmten Themen und an bestimmten Orten, aber die Gesamttendenz im Wechselspiel zwischen den Menschen und ihren natürlichen Umwelten ist offenkundig negativ. Anthropogener Klimawandel, Verlust biologischer Vielfalt, Verschmutzung, Ressourcenprobleme – wir kennen den ökologischen Preis der globalen Modernität in großer Detailfülle und mit mehr Gewissheit als jemals zuvor. Wir wissen auch, dass sich die Probleme auf absehbare Zeit nicht von selbst lösen werden. Jeder weiß, dass ökologische Herausforderungen zu den Schlüsselfragen des 21. Jahrhunderts gehören.
Keiner dieser beiden Aspekte ist grundsätzlich neu. Das Gewicht der ökologischen Krise und die globale Vernetzung der Probleme haben Umwelthistoriker seit den 1970er Jahren beschäftigt und angetrieben. Sie haben auch in Joachim Radkaus Natur und Macht und John McNeills Something New under the Sun ihren Niederschlag gefunden, den beiden großen Weltumweltgeschichten, die passenderweise im Jahr 2000 zum Beginn eines neuen Jahrtausends erschienen. Ich bin dieser Tradition zu großem Dank verpflichtet – zweifellos mehr, als die Fußnoten dokumentieren –, aber dieses Buch geht noch von einer dritten Erfahrung aus, die einen Bruch mit einem wesentlichen Teil der bisherigen Forschung markiert. Ökologische Herausforderungen sehen im 21. Jahrhundert anders aus als die Probleme, über die frühere Generationen von Forschern und Aktivisten schrieben.
Als sich die heutige Umweltbewegung in den 1970er Jahren konstituierte und Wissenschaftler sich neu orientierten (darunter mit professionstypischer Verspätung auch die Historiker), standen meist die unbeabsichtigten Folgen des technisch-industriellen Fortschritts im Mittelpunkt. Das muss man den Zeitgenossen nicht rückblickend zum Vorwurf machen. Ich habe selbst in den 1990er Jahren meine Doktorarbeit über ein solches Folgeproblem – die Luftverschmutzung in deutschen und amerikanischen Städten – geschrieben. Aber nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und speziell der Art und Weise, wie sich klassische Umweltprobleme mit Ernährungs- und Ressourcenkrisen verquickt haben, scheint es geboten, ökologische Themen als Teil des Gesamtprozesses der Ressourcenallokation in seiner ganzen Komplexität zu diskutieren. Das ist kein ganz neuer Gedanke. Es ist eine Rückkehr zu einem breiteren Verständnis von Umweltgeschichte, das sich in umwelthistorischen Darstellungen avant la lettre wie etwa Fernand Braudels Werk über das Mittelmeer und die mediterrane Welt zur Zeit Philipps II. niedergeschlagen hat, in dem Braudel im weiten Ausgriff auch die natürliche Umwelt in den Blick nahm. In diesem Buch geht es um viel mehr als um Nebenfolgen. Es geht um das Leben und Überleben auf einem kleinen und ziemlich komplizierten Planeten.
Ökologische Herausforderungen sind im neuen Jahrtausend nicht nur größer, sondern auch schwerer zu verstehen als in früheren Zeiten. Akteure, Nationalstaaten, Prioritäten, sogar die Definition von Problemen – Kategorien, die vor einer Generation noch selbstverständlich waren, sind heute unscharf und Gegenstand kontroverser Diskussionen. Es gibt im globalen 21. Jahrhundert augenscheinlich keinen Weg zurück zu einem gemeinsamen Verständnis ökologischer Herausforderungen. Mehr noch: Immer deutlicher kristallisiert sich heraus, dass die Vorstellung eines weltumspannenden Konsenses stets mehr Wunsch als Realität war – und dass sich dahinter eine kulturelle Hegemonie des Westens verbarg, die inzwischen unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. In einem globalen Zeitalter müssen wir eine Umweltgeschichte der modernen Welt gleichermaßen vom Standpunkt des industrialisierten Westens und des Globalen Südens schreiben, des Politikers und des Konsumenten, des Experten und des Laien, des Stadtbewohners und des Landwirts und so weiter.
All dies bedeutet, dass eine Umweltgeschichte der modernen Welt im 21. Jahrhundert sowohl dringlicher wie auch komplizierter ist als je zuvor. Manche Autoren haben – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Anthropozän-These – den Versuch unternommen, diese Komplexität unter Rückgriff auf die vermeintlich unerschütterlichen Ergebnisse der Naturwissenschaften zu umgehen und Kategorien einfach zu setzen, aber ein solches Unterfangen ist letztlich zum Scheitern verurteilt: Es gibt in unserer Zeit keinen archimedischen Punkt mehr. Dieses Buch verfolgt deshalb einen anderen Weg, indem es die Komplexität selbst zum Gegenstand der historischen Analyse erhebt. Es verfolgt, wie sich Ambivalenzen, Verwerfungen und Konflikte im Laufe der Zeit entwickelten und wie diese jeweils in materiellen Interessen, Artefakten, Machtbeziehungen, Institutionen und kulturellen Topoi verankert waren. Komplexität fiel nicht einfach vom Himmel. Sie entstand in konkreten Zusammenhängen mit realen Menschen auf eine Weise, die man historisch und vielleicht auch nur historisch verstehen kann.
Eine solche Geschichte bietet mehr Überraschungen und auch mehr Irritationen als vergleichbare Darstellungen, aber sie hat nicht nur historiographische Meriten. Wir gewinnen auf diesem Weg auch einen neuen Blick auf die ökologische Debatte der Gegenwart. Wenigen Menschen ist klar, in welchem Ausmaß unser Reden und Handeln über Umweltfragen von der Vergangenheit geprägt ist: Was auf den ersten Blick ein geschichtsfreier Raum zu sein scheint, in dem sich Politiker und Naturwissenschaftler nach Lust und Laune austoben können, ist in Wirklichkeit ein Feld voller historischer Traditionen, die vor allem deshalb wirkmächtig sind, weil sie nur selten als solche erkannt werden. Dabei ist von vornherein zu betonen, dass die Vielfalt der Sichtweisen nicht auf ein postmodernes anything goes hinausläuft. Tatsächlich läuft es auf das genaue Gegenteil hinaus. In einem Zeitalter, in dem sich ganz verschiedene, zum Teil jahrhundertealte Traditionen zu einem globalen Netz versponnen haben, das fest in Technologien, Materialitäten, politischen Entscheidungen und kulturellen Deutungsmustern verwurzelt ist, gibt es nicht mehr viele Dinge, die einfach »gehen«.
Die methodischen Prämissen dieses Buches werden in einem historiographischen Nachwort vertieft, das den Freunden der Geschichtstheorie eine Menge Futter bieten wird. Hier mag die Feststellung genügen, dass es sich um eine neue Art von Geschichtsschreibung handelt, in dem sich Menschen und andere historische Akteure in einem mächtigen Strom der Geschichte wiederfinden – genauer gesagt einem Strudel –, der gängige Vorstellungen von Kausalität und Handlungsmacht fraglich werden lässt. In diesem Buch ist die Umweltgeschichte moderner Gesellschaften auch ein Prozess, in dem Menschen immer wieder an Grenzen gerieten: materiell, technisch, institutionell, kulturell. Wenn man die Moderne als gigantischen Strudel versteht, der gleichermaßen Menschen, Massen, Technologien und Umwelten umfasst, entsteht eine neue, dynamische Form der Geschichtsschreibung, vor allem dann, wenn man diesen Strudel nicht nur aus der Vogelperspektive betrachtet. Für jene, die im Strudel gefangen sind, geht es darum, wie die Dinge in Bewegung kommen, wie sich Wesen und Formen der Dinge verändern, wie sich plötzlich neue Arrangements ergeben und wie Menschen der Macht der Naturgewalten ausgesetzt sind oder sich jedenfalls so fühlen. Die folgenden Seiten führen den Leser deshalb mehr als einmal auf eine ziemlich turbulente Reise, und das mit voller Absicht. Dieses Buch entstand auch aus einer Unzufriedenheit mit Weltgeschichten, die einen Geist von Ordnung verströmen.
Dieses Buch ist deshalb ein subversives Projekt. Es fordert sogar die Grundordnung jedes Buches heraus: die Kapitelstruktur. Das Inhaltsverzeichnis enthält eine Reihenfolge der Kapitel, aber das ist eigentlich nur ein Tribut an die legitimen Wünsche der Druckerei, die wissen wollte, wie die Seiten vor dem Binden sortiert werden sollten. Jeder Leser ist hiermit aufgefordert, die vorgegebene Struktur zu unterwandern und einem der folgenden Wege durch das Buch zu folgen. Diese Wege betonen unterschiedliche Gesichtspunkte, Herausforderungen, Themen oder Naturräume und geben dem Leser damit die Möglichkeit, im Lichte der eigenen Interessen zu lesen. Bei aller Vielfalt der Themen, Orte, Zeiten und Perspektiven vermitteln sämtliche Kapitel einen Eindruck von der Dynamik, den Wechselwirkungen und den zahlreichen reversiblen und irreversiblen Entscheidungen, die Menschen getroffen haben, während der Strom der modernen Geschichte sich in einen Strudel verwandelte. Die Erfahrungen der Menschen im Strudel sind nie homogen gewesen und werden das auch nie sein. Das Gleiche sollte für die Erfahrungen der Leser dieses Buches gelten.
Normalerweise weiß man bei einem Umweltbuch nach ein paar Seiten, wer die Guten und wer die Bösen sind. Solche Gewissheiten bietet dieser Band genauso wenig wie eines der gängigen Horrorszenarien. Die Apokalypse dominiert die ökologische Imagination in westlichen Gesellschaften, aber das wahrscheinlichere Szenario ist, dass sich zahlreiche kleine und mittelgroße Probleme in den kommenden Jahrzehnten wechselseitig aufschaukeln werden. Ohnehin zerfließt im Folgenden auch die Grenze zwischen Problemen und Lösungen, denn einige unserer größten Erfolge sind mit hartnäckigen Herausforderungen aufs Engste verbunden. In diesem Buch ist das »Projekt der Moderne« das kumulative Ergebnis ganz unterschiedlicher Bauunternehmen mit verschiedenen Plänen, die nicht unbedingt voneinander wussten. Viele Lernkurven führten von der Euphorie zur Aporie, und sie haben uns mit Unsicherheiten und ungelösten Spannungen zurückgelassen, die wir auf eigenes Risiko ignorieren.
All das bedeutet gewiss nicht, dass wir nun ökologisch gesehen in einer Welt jenseits von Gut und Böse leben. Ganz im Gegenteil tritt die Notwendigkeit ethischer Reflexion in den folgenden Seiten eher noch stärker hervor. Es gibt mehr als einen Weg, in einem Strudel über Wasser zu bleiben, aber es ist selten eine gute Idee, sich einfach treiben zu lassen. Es geht eher darum, dass wir heute aus schmerzlicher Erfahrung wissen, dass es von guten Absichten zu guten Ergebnissen ein langer Weg ist. Dieses Buch ist eine Weltgeschichte für ein Zeitalter, in dem die Dinge irgendwie nicht zusammenfinden – in dem wir wissen, was kommt, in dem wir über jede Menge Erfahrung und technische und andere Mittel verfügen, aber irgendwie nicht die Kurve kriegen. Das bedeutet nicht, dass uns der Strudel unweigerlich verschlingen wird. Aber wir werden es nicht schaffen, uns mit der Dynamik der modernen Welt zu arrangieren, wenn wir uns nicht mit dem Weg oder vielmehr den vielen Wegen auseinandersetzen, die uns zu diesem Punkt gebracht haben.
Der Weg der Landwirtschaft: Zucker, Landbesitz, die Brotfrucht, Guano, United Fruit, der Baumwollkapselkäfer, Providence Canyon, Bufo marinus, die Schlachthöfe von Chicago, Stickstoffdünger, Opium, Hybridmais, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, Holodomor, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Chemurgie, das Käfighuhn, DDT.
Der Weg der Industrie: Potosí, Abwracken in Chittagong, Guano, Walfang, United Fruit, Saudi-Arabien, Smog in London, die Schlachthöfe von Chicago, Stickstoffdünger, die Klimaanlage, Hybridmais, der Assuan-Staudamm, Chemurgie, die Kiefernwurzeln-Kampagne, das Käfighuhn, Glücklicher Drache Nr. 5, DDT, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der Waldweg: Nachhaltige Forstwirtschaft, die Brotfrucht, der Kruger-Nationalpark, der Eukalyptusbaum, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, die Kiefernwurzeln-Kampagne.
Der Weg des Bergbaus: Potosí, Guano, Saudi-Arabien, Smog in London.
Der Weg der Tiere: Guano, Walfang, der Dodo, der Baumwollkapselkäfer, Bufo marinus, die Schlachthöfe von Chicago, der Kruger-Nationalpark, das Käfighuhn, DDT.
Der Weg der Infrastrukturen: Der Canal du Midi, WC, die Schlachthöfe von Chicago, die Klimaanlage, Cholera, der Assuan-Staudamm, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Autobahn, Torrey Canyon.
Der Weg der Energie: Zucker, Nachhaltige Forstwirtschaft, die Brotfrucht, Walfang, Saudi-Arabien, Smog in London, Stickstoffdünger, die Klimaanlage, Opium, der Assuan-Staudamm, Chemurgie, Autobahn, die Kiefernwurzeln-Kampagne, Glücklicher Drache Nr. 5, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der Weg der Verschmutzung: Potosí, Abwracken in Chittagong, Smog in London, WC, Stickstoffdünger, Cholera, ein Treffen in Tokio, Glücklicher Drache Nr. 5, DDT, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der koloniale Weg: Potosí, Zucker, Nachhaltige Forstwirtschaft, Abwracken in Chittagong, Landbesitz, die Brotfrucht, Guano, Walfang, United Fruit, der Dodo, der Baumwollkapselkäfer, Bufo marinus, Saudi-Arabien, Opium, Gandhi und das Salz, ein Treffen in Tokio, der Kruger-Nationalpark, der Eukalyptusbaum, der Assuan-Staudamm, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, Holodomor, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, DDT, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der Wasserweg: Der Canal du Midi, Abwracken in Chittagong, Guano, Walfang, WC, Cholera, der Assuan-Staudamm, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der Weg der Chemie: Potosí, Guano, Walfang, Stickstoffdünger, Opium, Chemurgie, die Kiefernwurzeln-Kampagne, DDT, die Plastiktüte.
Botanischer Austausch: Zucker, die Brotfrucht, der Baumwollkapselkäfer, Bufo marinus, der Eukalyptusbaum, Hybridmais.
Von der Bildung der Staaten: Potosí, Zucker, der Canal du Midi, Nachhaltige Forstwirtschaft, Landbesitz, Walfang, United Fruit, Saudi-Arabien, Smog in London, Opium, Gandhi und das Salz, ein Treffen in Tokio, das Erdbeben von Tangshan, der Kruger-Nationalpark, der Assuan-Staudamm, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, Holodomor, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Chemurgie, Autobahn, die Kiefernwurzeln-Kampagne, das Käfighuhn, Glücklicher Drache Nr. 5, DDT, Torrey Canyon.
Der Weg der Professionen: Nachhaltige Forstwirtschaft, die Brotfrucht, Guano, der Dodo, der Baumwollkapselkäfer, Providence Canyon, Bufo marinus, Stickstoffdünger, die Klimaanlage, Cholera, Baedeker, der Eukalyptusbaum, Hybridmais, der Assuan-Staudamm, Chemurgie, DDT, Torrey Canyon.
Grundlagen der Volkswirtschaftslehre: Potosí, Zucker, der Canal du Midi, Abwracken in Chittagong, Walfang, United Fruit, Saudi-Arabien, die Schlachthöfe von Chicago, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, das Käfighuhn.
Entwicklungspfade: Der Canal du Midi, Guano, United Fruit, Saudi-Arabien, der Eukalyptusbaum, Hybridmais, der Assuan-Staudamm, der Traum vom Reis essenden Kautschukbaum, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, DDT.
Der Weg der Fleischfresser: Guano, Walfang, der Dodo, Bufo marinus, die Schlachthöfe von Chicago, Gandhi und das Salz, das Käfighuhn.
Der Katastrophenweg: Der Baumwollkapselkäfer, Providence Canyon, Bufo marinus, Smog in London, Cholera, das Erdbeben von Tangshan, Holodomor, Glücklicher Drache Nr. 5.
Der Weg des Krieges: Potosí, Zucker, der Canal du Midi, Walfang, United Fruit, der Baumwollkapselkäfer, Stickstoffdünger, Opium, Cholera, das Erdbeben von Tangshan, Holodomor, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Autobahn, die Kiefernwurzeln-Kampagne, Glücklicher Drache Nr. 5, DDT.
Der Weg der Mobilität: Der Canal du Midi, Walfang, Bufo marinus, WC, die Schlachthöfe von Chicago, Cholera, Baedeker, der Assuan-Staudamm, Chemurgie, Autobahn, die Kiefernwurzeln-Kampagne, Torrey Canyon, die Plastiktüte.
Der Weg in die moderne Stadt: Potosí, Abwracken in Chittagong, Smog in London, WC, die Schlachthöfe von Chicago, die Klimaanlage, Cholera, Baedeker, das Erdbeben von Tangshan, der Assuan-Staudamm, Autobahn.
Der Weg der großen Männer: Der Canal du Midi, Nachhaltige Forstwirtschaft, die Brotfrucht, United Fruit, Stickstoffdünger, Baedeker, Gandhi und das Salz, ein Treffen in Tokio, Hybridmais, der Assuan-Staudamm, Holodomor, die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe, Chemurgie, Autobahn, das Käfighuhn, DDT.
Am Anfang war der Stoff.
In der globalen Expansion Europas seit 1500, die zu den zentralen Entwicklungen der modernen Geschichte gehört, spielten materielle Ressourcen eine entscheidende Rolle. Gewiss waren stets noch andere Dinge im Spiel, die von interessierter Seite gerne in den Vordergrund gerückt wurden. Die Europäer wollten auch den christlichen Glauben verbreiten, Unterdrückung in der Heimat entkommen, die Welt kennenlernen, Menschen die Freiheit schenken und die Errungenschaften der westlichen Moderne zu jenen bringen, die diese augenscheinlich nicht aus eigener Kraft zu entwickeln vermochten. Historiker diskutieren seit Langem über diese Motive und darüber, ob man sie überhaupt ernst nehmen sollte, aber niemand bestreitet, dass es zugleich um Handfestes ging. Wenn man die Rohstoffe aus der Weltgeschichte der letzten 500 Jahre wegdenkt, dann ergibt sie einfach keinen Sinn mehr. Gewürze, Pflanzen, Metalle, Hölzer, Nahrungsmittel – irgendetwas fand sich immer, was sich daheim mit Gewinn verkaufen ließ.
Manche der Stoffe waren in Europa zuvor unbekannt, wie beispielsweise die Maispflanze oder die Kartoffel. Andere waren im Prinzip bekannt, kamen jedoch im Alltag kaum vor. Im Mittelmeerraum wurde Zuckerrohr bereits vor dem transatlantischen Kolonialismus angebaut, aber im mittelalterlichen Europa war Honig viel wichtiger als Zucker. Schließlich gab es Stoffe wie Silber, die jeder kannte, aber nicht in dem Umfang, der mit dem Bergbau in Amerika verfügbar wurde. Die Stoffe der Moderne waren nicht zwangsläufig neu, aber sie wurden auf neuartigen Wegen in neuartiger Menge produziert, und mit den neuen Produktionsmethoden entstand eine neue Welt.
Die folgenden fünf Kapitel analysieren diesen Umbruch durch zwei materielle Ressourcen (Silber und Zucker), einen Transportweg (den Canal du Midi), eine politische Doktrin (die nachhaltige Forstwirtschaft) und eine Arbeit (Abwracken in Chittagong). Es geht also darum, wie die Menschen der Moderne an Nahrungsmittel, Metalle und Nutzholz kamen, wie sie diese Güter und noch ein paar andere Dinge in Bewegung brachten und wie sie mit den Überbleibseln des Rohstoffkonsums umgingen. Für all dies gab es etablierte Verfahrensweisen, aber in modernen Gesellschaften entwickelten sich neue Methoden für diese Herausforderungen, und diese waren das, was Softwareentwickler heute als »Killerapplikationen« bezeichnen. Die modernen Methoden waren nie alternativlos und gewiss nicht die besten für alle Beteiligten, aber es gab Vorzüge, mit denen die neuen Methoden geradezu unwiderstehlich wurden. Es ging schließlich um Grundbedürfnisse: darum, wie Menschen essen, bauen, sich bewegen, Geld ausgeben und mit Abfällen umgehen. Das ist nicht alles, worauf es im Leben ankommt. Aber es gibt nicht viele Menschen, die sich nicht irgendwann mit diesen Dingen beschäftigen.
Die neuen Methoden entstanden aus bewährten Verfahren, aber das sollte nicht über den revolutionären Bruch mit allem Vertrauten hinwegtäuschen. Der Bergbauboom im spätmittelalterlichen Europa bereitete den Weg für Potosí, aber in dem gleichen Sinne, in dem die Straßen der Inkas den Weg für die Autobahn bereiteten. Die modernen Methoden hatten eine neuartige Qualität in ihren Funktionsweisen und in den Folgen für Menschen und natürliche Umwelten. Genauer gesagt waren sie neuartig in ihrer Reichweite, in ihrem Volumen und ihrer Geschwindigkeit; es ging mithin um economies of scope, scale and speed. Dabei fällt auf, dass diese Veränderungen meistens in einer bestimmten Reihenfolge zum Tragen kamen. Meist kam erst die geographische Entgrenzung, dann folgte die mengenmäßige Expansion und dann die Beschleunigung.
Das Silber von Potosí ist ein Paradebeispiel. Das wertvolle Metall aus den Anden bewegte sich zwischen Amerika, Europa, Indien und China und verwandelte einen Rohstofffluss, der bis dahin eher ein Rinnsal gewesen war, in eine mächtige Strömung der entstehenden Weltwirtschaft. Der Cerro Rico vor den Toren Potosís gab auch viel mehr Silber her als die Bergwerke in Europa. Die Effizienzgewinne hoher Geschwindigkeit schafften es dagegen nie ins Hochland der Anden, denn die Produktion in Potosí hatte ihren Höhepunkt längst überschritten, als Dampfmaschinen und andere Technologien des Industriezeitalters den Bergbau revolutionierten und das Schwergewicht von edlen Metallen zu Massengütern wie Kohle und Eisen verschoben. Diese Innovationen und die neuen Rohstoffe führten zu einem Entwicklungssprung mit Bergwerken neuer Dimension. Diese Bergwerke produzierten freilich auch toxische Hinterlassenschaften, die nicht zwangsläufig im Untergrund blieben. Das Erbe von Potosí dokumentiert sich auch in der Hintergrundkonzentration von Quecksilber in der Erdatmosphäre. Die Altlasten in ehemaligen Bergwerken sind eine materielle Herausforderung, die wohl nicht nur die Sanierungsbestrebungen der Gegenwart überdauern werden, sondern auch unser kulturelles Gedächtnis. Der Silberberg von Potosí existiert immer noch – heutige Bergbaumethoden hätten ihn buchstäblich zu Geröll verarbeitet – und genießt UNESCO-Welterbestatus, gilt jedoch als gefährdet. Erz wird unterdessen weiter gefördert.
Es ist kein Zufall, dass der Name der Stadt berühmter wurde als der Berg, dem Potosí seinen Reichtum verdankte. Das Geschäft mit Rohstoffen hing an urbanen Zentren, die die Extraktion mit technologischen und kommerziellen Dienstleistungen unterstützten und zugleich für andere Dinge sorgten, die Männer nach harter und gefährlicher Arbeit zu brauchen glaubten. Ein erheblicher Teil der Städte, die in der modernen Geschichte neu entstanden, verdankt seine Existenz dem Handel mit Ressourcen. Das konnten Weltstädte wie Potosí sein, aber auch schäbige Holzhütten in Goldrausch-Zeiten. In seinen besten Zeiten glänzte Potosí vor Reichtum, aber der Glanz hatte stets einen Hauch des Fragilen, und das nicht nur, weil das Schicksal solcher Städte untrennbar mit einer endlichen Rohstoffbasis verknüpft war. Ordnung war in den Städten des Bergbaus stets relativ, denn es gab mehrere parallele Konflikte, die sich um Themen wie die Bezahlung und Behandlung der Arbeiter und den illegalen Rohstoffhandel drehten. Diese Kämpfe wurden nicht selten von einer Extradosis Testosteron angeheizt, obwohl Bergleute nicht zwangsläufig Männer waren. Am Cerro Rico war ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft weiblich.
Potosí produzierte einen wertvollen Rohstoff, aber es war auch ein Konsument von Nahrungsmitteln sowie von Quecksilber für die Verarbeitung des Erzes. Ähnlich war die Situation auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik. Sie waren eigentlich Knotenpunkte für mehrere Ressourcenströme – jedenfalls nach den nüchternen Begriffen des Welthandels, denn eine der Ressourcen, die Sklaven, war vielleicht etwas mehr als eine ökonomische Einheit. Ähnlich wie der Silberbergbau in den Anden bauten auch die Zuckerrohrplantagen bei den Arbeitern auf Traditionen auf, aber der transatlantische Sklavenhandel war in seinen Dimensionen und seiner Brutalität ein neues Kapitel in der Weltgeschichte der unfreien Arbeit. Arbeitsteilung, Verarbeitung der Ernte mit Großtechnik, die Externalisierung menschlicher und ökologischer Kosten und ein kategorischer Imperativ, alles so schnell und so reibungslos wie möglich zum Laufen zu bringen – die Zuckerrohrplantagen waren Vorboten industrieller Produktionsregime. Sie waren zugleich flüchtig. Für die Besitzer einer Plantage ging es darum, mit Zucker möglichst schnell reich zu werden, und auch darin unterschied sich das neue System der organischen Produktion von seinen Vorläufern. Anders als Warenketten vor der Moderne war das Netzwerk des Zuckers ein zentripetales System, bei dem sich der Reichtum an bestimmten Stellen konzentrierte.
Zucker war zunächst ein Luxusgut für europäische Eliten, das zu einem Grundnahrungsmittel für die Massen wurde. Zugleich war Zucker ein Stoff, der die Hierarchie der Grundnahrungsmittel erschütterte. Obwohl es in Europa keine Tradition des Zuckerkonsums gab, verfielen die meisten Menschen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften dem Reiz der Süßigkeit – eine transnationale Konvergenz der Geschmäcker, die mehr als einen Kritiker auf den Plan gerufen hat. Manche Konsumenten reagierten mit Apathie, während sich andere für die Low-Carb-Diät begeisterten, aber kaum jemand nahm das zum Anlass für eine Rückkehr zu vormodernen Produktionsweisen, bei denen die Menschen einen erheblichen Teil ihres Essens mit den eigenen Händen anbauten. Die meisten Konsumenten verließen sich auf gesichtslose Nahrungsketten, um ihr tägliches Brot zu erwerben, oder auf das, was Geschmäcker und Gehälter hergaben. Heute sind Gärten in der westlichen Welt eher Hobby als Notwendigkeit, aber auf den Plantagen der Karibik waren die Gärten der Sklaven ein Weg zu überleben, und Sklaven waren nicht die Einzigen, die nach einer solchen Notreserve strebten. Das moderne System der Welternährung ist ein Hasardspiel, aber wenn man genug Geld hatte, konnte man das leicht ignorieren.
Die Karibik verlor ihre Schlüsselstellung in der globalen Zuckerökonomie im 19. Jahrhundert, als zunächst der Rübenzucker und danach Ersatzstoffe wie Saccharin auf den Markt kamen. Ähnlich wie das Zuckerrohr lief der Zuckerrübenanbau auf eine Intensivierung der Landnutzung hinaus, und die Produktion organischer Ressourcen konzentrierte sich zunehmend in einzelnen Regionen. In den Ersatzstoffen spiegelte sich die wachsende Bedeutung wissenschaftlichen Wissens. Damit waren die Neuigkeiten in der Ernährungswirtschaft jedoch nicht erschöpft. Zur Welt des Zuckers gehörten auch Agrarsubventionen und Protektionismus, und das war auf das Engste mit den neuen Produktionsverfahren verbunden. Die neue Agrarproduktion war kapitalintensiv, und die enormen Investitionen riefen nach einem Schutz durch mächtige Instanzen, die auf die Agrarunternehmer hörten oder sich kaufen ließen. Laut David Ricardo erlaubte der Freihandel einen Austausch über Grenzen, der die unternehmerische Initiative ankurbeln und komparative Kostenvorteile generieren würde. Die Zuckerindustrie brachte aber auch korporative Interessen hervor, denen Profite wichtiger waren als makroökonomische Prinzipien. Die moderne Landwirtschaft kann mehr hungrige Menschen ernähren als jemals zuvor, aber sie hat auch Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen geschaffen, und ob es die beste aller möglichen Welten ist, bleibt in hohem Maß umstritten.
Der globale Handel mit Silber, Zucker und anderen materiellen Ressourcen hing an einem Umbruch des Weltverkehrs, aber die Infrastrukturen, die dafür gebaut wurden, waren mehr als nur Mittel zum Zweck. Der Canal du Midi im Südwesten Frankreichs war nach den Maßstäben des 17. Jahrhunderts ein Wunderwerk der Technik, aber er war zugleich ein Staatsakt, eine Manifestation der Macht des Königs, mit dem der Absolutismus in einer peripheren Region zur Geltung kam, ein militärisches Projekt und ein Motor des Wandels für die Wirtschaft des Languedoc. Wie zahlreiche andere Infrastrukturprojekte brachte der Kanal multiple Mobilitäten hervor, denn es kamen nicht nur Güter und Menschen in Bewegung, sondern auch Informationen, Krankheitserreger und politische Hierarchien. Die Wirtschaftlichkeit von Transportprojekten hing stets an den jeweiligen Umständen sowie daran, was als ökonomischer Vorteil galt, aber die Projekte waren mehr als ein wirtschaftliches Instrument. Wenn zwei Orte miteinander verbunden wurden, konnte das sehr unterschiedliche Formen und ganz verschiedene Folgen haben. Aus den Verkehrsprojekten der Moderne gingen so unterschiedliche Dinge wie die Muslimbruderschaft in Ägypten und das Land Panama hervor.
Der Canal du Midi wurde von dem Steuerpächter Pierre-Paul Riquet erbaut, und dessen Nachkommen unterhielten den Kanal, bis er 1897 verstaatlicht wurde. Aber eigentlich war das Bauwerk ein Produkt von Teamarbeit. Riquet gelang das Werk nur deshalb, weil er das Wissen und die technischen Fertigkeiten der einheimischen Bevölkerung einzubinden verstand und seine Arbeiter ungewöhnlich gut behandelte. Die Bauarbeiten gingen auch nach seinem Tod weiter. Vauban baute den Canal du Midi in wesentlichen Teilen neu, und eigentlich haben die Bauarbeiten nie aufgehört: Infrastrukturen versagen, wenn sie nicht ständig repariert und unterhalten werden. Die Arterien des Verkehrs haben ihre Beharrungskraft, aber ähnlich wie menschliche Arterien sind sie nicht statisch, und das Gleiche gilt für ihre sozialen, wirtschaftlichen und biologischen Umwelten. Der heutige Boom der Freizeitschiffe im Südwesten Frankreichs ist nur die jüngste Manifestation einer ständigen Neuerfindung des Canal du Midi.
Der Absolutismus behandelte den Canal du Midi als Beleg für die Macht des Menschen über die Natur, es ging dort aber eher um die Repräsentation royaler Macht als um die natürliche Umwelt. Die wahre Macht des frühneuzeitlichen Territorialstaates zeigte sich im Umgang mit dem Wald. Die nachhaltige Forstwirtschaft verwandelte Wälder mit einer Vielzahl von Funktionen in Besitztümer, die den fiskalischen Interessen ihrer Besitzer dienten. Die Konflikte, die aus diesem Umbruch entstanden, zogen sich über Generationen hin, und sie verschwanden erst mit der Abwanderung in die Städte – sofern sie überhaupt verschwanden. Im Globalen Süden gehen die Konflikte nämlich immer noch weiter, und das Erbe der staatlichen Kontrolle ist in Regionen wie dem Sahel eher ein Hindernis für die Waldentwicklung. Die Macht des Staates war in den Wäldern stets fragil, und das Bündnis zwischen der Autorität der Territorialstaaten und der nachhaltigen Forstwirtschaft war nicht zwangsläufig auf wechselseitige Stärkung programmiert. In Osteuropa zeigte sich nach dem Ende des Sozialismus, dass die Allianz auch in umgekehrter Richtung funktionierte.
Der Zugriff des Staates wurde vom Aufstieg akademisch geschulter Forstbeamten flankiert, aber wenn man die wissenschaftliche Forschung genauer betrachtet, zeigt sich dieselbe Kombination aus grimmiger Entschlossenheit und Bruchstückhaftigkeit. Die nachhaltige Forstwirtschaftslehre strebte nicht nur nach Kontrolle, sondern zielte auch auf die Optimierung der biologischen Leistungsfähigkeit der Wälder. Damit verbanden sich zahlreiche Folgeprobleme, um die sich neue wissenschaftliche Disziplinen wie die angewandte Entomologie kümmern sollten. Die forstwissenschaftliche Forschung war deshalb zu wesentlichen Teilen ein Reparaturbetrieb für die Folgen der menschlichen Interventionen. Der Reduktionismus der spezialisierten Forschung stand zudem quer zur Komplexität der Wälder, was den akademischen Experten nicht verborgen blieb. Es fiel den Forstexperten jedoch leichter, einen holistischen Blick auf den Wald zu fordern, als die Strukturen der Forschung und Lehre entsprechend zu verändern. Karl Escherich, Vater der angewandten Entomologie in Deutschland, war in den 1930er Jahren ein erklärter Anhänger des Dauerwaldes, aber als ein Nachfolger für seinen Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gesucht wurde, plädierte er leidenschaftlich für einen fähigen Spezialisten. Die Berufungskommission entschied sich für seinen ehemaligen Assistenten.
In den Wäldern Mitteleuropas war die Monokultur eher Praxis als Dogma, und wenn die akademische Forschung Hilfestellungen bot, waren das meist eher improvisierte Notbehelfe als endgültige Lösungen. Hans Carl von Carlowitz hatte gewiss nicht die Absicht, eine akademische Profession zu begründen, wenn er die drohende »Holznot« beschwor, aber dieses Horrorszenario war für den Aufstieg der nachhaltigen Forstwirtschaft unverzichtbar. Der Topos verschob den Blick von den kognitiven und konzeptionellen Problemen der Akademiker zu einer Dystopie, die im hölzernen Zeitalter alarmierend wirkte. Was wollte man noch über Details reden, wenn eine solche Katastrophe drohte? Die nachhaltige Forstwirtschaft war eine Schock-Strategie mit dem Unterschied, dass sie sich auf einen Mythos anstelle eines singulären Ereignisses bezog.
Bei der Nutzung von Rohstoffen fielen stets Überbleibsel an, und das war in der modernen Ressourcenökonomie ein wachsendes Problem. Es gab eine Menge Traditionen der Wiederverwertung, aber sie wurden durch die riesigen Materialmengen, die von Industriegesellschaften seit dem 19. Jahrhundert abgesondert wurden, geradezu überrollt. Die schiere Macht des Materiellen verlangte nach neuen Wegen der Entsorgung und Verwertung: Das letzte Kapitel dieses Abschnitts diskutiert die Antworten, die Großstadtverwaltungen, Kriegswirtschaften und Privatunternehmen in den letzten 150 Jahren entwickelten. Das Abwracken großer Schiffe in Chittagong ist die jüngste globalisierte Station einer ewigen Suche, und sie wird wohl kaum die letzte bleiben. Zusammen mit ehemaligen Bergwerken haben Abfallhalden gute Chancen, zu den langlebigsten Hinterlassenschaften unserer Zivilisation zu werden.
Es ging beim Recycling und bei der Müllabfuhr jedoch nicht nur um Technologien und Materialitäten. Es ging auch um Menschen, und das ist umso mehr zu betonen, als diese Menschen einer langen und transkulturellen Tradition der Marginalisierung ausgesetzt waren. Soziale und ethnische Abgrenzung waren nicht einfach ein Teil des Geschäfts mit dem Abfall – sie waren eine Voraussetzung ihres Funktionierens. Das Elend der Arbeitsmigranten in Bangladesch ist nur die jüngste Inkarnation eines altbekannten Phänomens.
Das Kapitel zeigt, dass es laufende Bestrebungen zur Regulierung des Abwrackens auf nationaler und internationaler Ebene gibt. Es wird allerdings nicht weniger deutlich, dass diese Bestrebungen mit kräftigen Gegenströmungen zu kämpfen haben. Abfälle haben ihre eigenen Regeln, und politische Reformen mussten sich immer wieder gegen die rohe Macht der Technik und die Eigenmacht des Materiellen behaupten. Sofern es inmitten des ständigen Wandels eine Tradition gibt, dann geht es um das permanente Überschreiten von Grenzen in allen Dimensionen: materiell, sozial, räumlich, zeitlich.
Das Abwracken in Chittagong hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, doch das liegt vor allem an spektakulären Fotos. Das wahre Drama ist mit dem nackten Auge nicht leicht zu erkennen. Es gibt viele prekäre Existenzen an der Küste von Bangladesch, und ähnlich prekär ist der institutionelle Rahmen, der diese und viele andere Wirtschaftsweisen am Leben hält – ein Thema, das im zweiten Teil dieses Buchs weiter vertieft wird. Es ist kein Zufall, dass im Folgenden immer wieder von regelwidrigem Verhalten die Rede ist. Die Produktionsweisen der Moderne entzogen sich immer wieder der politischen Kontrolle, und ihre globale Hegemonie wird wohl nicht so bald ein Ende finden – und das Gleiche gilt für die Folgen und Belastungen, die sie den Menschen in aller Welt beschert haben. Ähnlich wie die Arbeiter von Chittagong muss die Welt auf absehbare Zeit mit ihren »Killerapplikationen« leben.
Reich an Metallen
Lokalpatriotismus ist nicht ungewöhnlich, wenn Autoren über ihre Heimatstadt schreiben. Die Kultur des Barocks ermunterte auch nicht zur Bescheidenheit. Aber konnte man den Berg südlich von Potosí ernsthaft als »perfektes und ewiges Weltwunder« bezeichnen, als eine »einzigartige Schöpfung der Kraft Gottes«, den »Kaiser der Berge« und »eine Fanfare, die in der ganzen Welt nachhallt«?1 Für Bartolomé Arzáns de Orsúa y Vela, den Autor der Historia de la Villa Imperial de Potosí, konnten die lobenden Worte gar nicht groß genug sein, wenn es um seine Heimatstadt ging, und deshalb begann er sein Buch in diesem Stil. Das wirkt etwas gewagt bei einem Autor, der sein ganzes Leben im Hochland der Anden verbrachte, aber Arzáns, der von 1676 bis 1736 lebte, war mit seiner Meinung nicht allein. Über Potosí und sein Silber haben die Zeitgenossen seit den frühesten Tagen des kolonialen Bergbaus geschwärmt. Kaiser Karl V. verlieh der Stadt einen vielzitierten Wappenspruch: »Ich bin das reiche Potosí, Schatzkammer der Welt, König der Berge, von Königen beneidet.«2 Adam Smith schrieb in Der Wohlstand der Nationen, die Bergwerke von Potosí seien »wohl die ergiebigsten in ganz Amerika«.3 Auch als der Abbau längst im Niedergang war, galt Potosí immer noch als Inbegriff fabelhaften Reichtums. Als er in Das Kapital über »die Teuerkeit der Wohnungen« schimpfte, schrieb Karl Marx, »daß die Minen des Elends von Häuserspekulanten mit mehr Profit und weniger Kosten ausgebeutet werden als jemals die Minen von Potosi«.4 Bis heute ist die spanische Redewendung »vale un Potosí«, wörtlich übersetzt »ein Potosí wert«, ein Synonym für »unbezahlbar«.
Als die spanischen Eroberer 1545 von den Silbervorkommen von Potosí erfuhren, befand sich der Bergbau in Mitteleuropa in einem säkularen Aufschwung. Neue Technologien, neue Formen der betrieblichen Organisation und die Entdeckung neuer Lagerstätten hatten einen langanhaltenden Boom ausgelöst, der Landkarten und Volkswirtschaften veränderte.5 In Tirol wurde das vormals unbedeutende Dorf Schwaz dank seiner Silbervorkommen zur zweitgrößten Stadt Österreichs nach Wien.6 Manche Erzvorkommen hatten über Jahrhunderte einen legendären Ruf, so etwa die Kupferminen von Falun in Schweden, das Salzbergwerk Wieliczka bei Krakau oder die Zinnvorkommen in Cornwall.7 Seit 1520 prägte die böhmische Stadt Joachimsthal eine Silbermünze, die bis heute berühmt ist, weil der »Joachimsthaler« der etymologische Urahn des Wortes Dollar ist.8 In Joachimsthal arbeitete der Arzt und Apotheker Georg Agricola, der später ein monumentales Übersichtswerk über den Stand der Bergbautechnologie schrieb: De Re Metallica wurde 1556 posthum veröffentlicht.9
In der Welt des Spätmittelalters hatte der Bergbau eine Sonderstellung. Große Bergwerke setzten auf Arbeitsteilung, lange bevor dies zu einem Kennzeichen des Industriezeitalters wurde. Man brauchte starke Männer mit Schlägel und Eisen, aber auch chemische Kenntnisse, denn mit dem Zerkleinern harten Gesteins tief im Berg war es noch längst nicht getan. Frische Luft musste ins Bergwerk kommen und Grubenwasser abgeleitet werden. Schächte und Strecken mussten mit Holz ausgebaut werden. Menschen und Zugtiere benötigten Nahrung. Wasserräder benötigten kundige Bedienmannschaften, Reparaturen und Wartung sowie eine ordentliche Wasserversorgung. Kein anderer Wirtschaftszweig des Spätmittelalters wies eine vergleichbare Größe oder einen ähnlichen Komplexitätsgrad auf, und nirgendwo sonst gab es so viele tödliche Gefahren. Für Lewis Mumford war das Bergwerk »die erste vollständig unorganische Umwelt, die der Mensch schuf und in der er lebte«.10 Aber neben diesen gewaltigen Herausforderungen stand die Aussicht auf märchenhaften Reichtum, den der Habsburger Karl V. zum Beispiel in den Erwerb der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation investierte. Es war das Silber von Schwaz in Verbindung mit dem Kapital des Hauses Fugger, das ihm 1519 seine Wahl sicherte.11
Silberbergbau war deshalb um 1545 als Quelle wirtschaftlicher und politischer Macht fest etabliert, aber mit Potosí gewann das Geschäft ganz neue Dimensionen. Der Name des Silberbergs war absolut zutreffend: Der Cerro Rico war tatsächlich ein »reicher Berg«. Als der Abbau im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, produzierte Potosí die Hälfte allen Silbers in Amerika, und der Kontinent sollte für Jahrhunderte der wichtigste Lieferant von Edelmetall bleiben.12 Um 1600 übertraf der transatlantische Strom des Silbers die Produktion in Europa um den Faktor acht.13 Potosí war »der Motor der spanischen Wirtschaft zwischen dem ersten Abbau 1545 und den 1660er Jahren«, und die Folgen waren weltumspannend.14 Laut Dennis O. Flynn und Arturo Giráldez war Silber »das Einzelprodukt, das für die Geburt der Welthandels am wichtigsten war«.15
Eine boomende Ressource ist auf begierige Käufer angewiesen. Der Ökonom Erich Zimmermann formulierte es so: »Natürliche Ressourcen existierennicht einfach – sie werden dazu.«16 Das koloniale Silber hatte in Europa durchaus seine Bedeutung, aber der wichtigste Käufer war China.17 Die einheimische Produktion war in China im späten 15. und 16. Jahrhundert gesunken, und eine wachsende Bevölkerung mit einer Silberwährung hatte eine nahezu unbegrenzte Nachfrage zur Folge.18 Es bewahrte die Ming-Dynastie nicht vor dem Untergang und hat ihn unter Umständen sogar beschleunigt, aber die komplementären Interessen und ein regelmäßiger Schiffsverkehr zwischen Acapulco in Mexiko und Manila auf den Philippinen sorgten für ein florierendes Geschäft. »Die Kombination niedriger Produktionskosten im spanischen Amerika und der Anstieg des Silberwerts in Asien, der vom chinesischen Bedarf befeuert wurde, brachten den vielleicht spektakulärsten Bergbauboom der menschlichen Geschichte hervor.«19
Wie jeder Ressourcenstrom erforderte auch das Geschäft mit dem Silber einen robusten institutionellen Rahmen. In Mitteleuropa gab es umfassende Bergordnungen, aber in Potosí war die Situation chaotischer: Auf und im Cerro Rico arbeiteten Hunderte Unternehmen gleichzeitig.20 Nach der Förderung und Verarbeitung des Erzes übernahmen Institutionen von den Münzstätten bis zu den Händlern, und ein System von Verträgen, Transportwegen und das Trägheitsmoment etablierter Routinen bestimmten den Weg des Silbers. Immanuel Wallerstein hielt die Bergwerke im spanischen Amerika für so wichtig, dass er die Region als eine von zwei peripheren Schlüsselregionen des 16. Jahrhunderts in seine Geschichte des modernen Weltsystems integrierte. Die Flughöhe seiner Weltsystemanalyse lenkt aber leicht davon ab, dass der Strom der Ressourcen in der Praxis unterschiedliche Wege nehmen konnte, die auch schon mal jenseits der Buchstaben des Gesetzes lagen.21 Schmuggel war von Anfang an Teil des Andenbergbaus. Ein Teil des Silbers kam nie in der Münzstätte von Potosí an, sondern wurde von französischen, englischen und niederländischen Schmugglern zur Pazifikküste gebracht oder zu den Portugiesen in Brasilien.22 Illegaler Handel war stets ein Teil des Ressourcengeschäfts, dessen genauer Anteil sich im Rückblick allenfalls grob schätzen lässt.
Der Strom des Silbers war freilich nur einer von mehreren Ressourcenströmen, die sich im Hochland der Anden kreuzten. Die Verarbeitung des Silbererzes geschah seit den 1570er Jahren im Amalgamverfahren, weshalb die Bergwerke große Mengen Quecksilber aus Huancavelica in Peru, Almadén in Spanien und Idrija in Slowenien kauften.23 Eine weitere Herausforderung bestand in der Ernährung einer urbanen Bevölkerung in 4 000 Metern Höhe, zumal die Arbeiter sowohl Kalorien wie auch Coca-Blätter als Stimulanzien brauchten. Potosí war nicht der einzige Ort, an dem hungrige Bergleute Agrarsysteme veränderten. Als der Kupferbergbau zwischen 1750 und 1800 eine viertel Million Arbeiter in die dünn besiedelte Provinz Yunnan im Südwesten Chinas brachte, florierte die Reisproduktion im benachbarten Burma.24
Der koloniale Bergbau in Amerika baute auf den technischen Errungenschaften im spätmittelalterlichen Europa auf. Eine Gruppe deutscher Bergleute reiste in den 1530er Jahren sogar über den Atlantik und brachte ein neues Schmelzverfahren nach Neuspanien.25 David Brading und Harry Cross haben freilich die These vertreten, dass die transatlantischen Parallelen weniger wichtig waren als die Ähnlichkeiten mit einem anderen Produktionsregime der Neuen Welt: »Amerikanische Silberbergwerke eignen sich weniger gut zum Vergleich mit ihren deutschen Vorgängern als mit der anderen großen Kolonialindustrie, der Produktion von Zucker.«26 Ähnlich wie Zuckerrohrplantagen erzeugten die Silberminen auf begrenztem Raum ein hochwertiges Produkt für weit entfernte Kunden, und die Aussicht auf hohe Gewinne schien auch extreme Bedingungen für Arbeiter und Umwelten zu rechtfertigen. Potosí hatte sogar ein Äquivalent zur Sklaverei in Form der von den Inkas übernommenen Mita, einem System unfreier Arbeit, das fast so berüchtigt wurde wie der transatlantische Sklavenhandel.27 »Die ›Mita‹ kam einer Maschine zur Zermalmung von Indianern gleich«, schrieb Eduardo Galeano in Die offenen Adern Lateinamerikas, ein Klassiker im Stil der Dependenztheorie.28 Und ähnlich wie man den georgianischen Häusern in Bristol nicht ansah, dass sie mit Erlösen aus dem Zuckergeschäft gebaut worden waren, so konnte man auch das Leiden der Bergleute leicht vergessen, wenn man durch die Straßen von Potosí ging.
Das Buch, das Arzáns über seine Heimatstadt schrieb, war ein dicker Wälzer. Am Ende kam er trotz kleiner Handschrift auf 1 500 großformatige Seiten.29 Man konnte den Reichtum der Stadt eben nicht mit wenigen Worten beschreiben. Zahllose Gebäude und üppige Zeremonien verlangten nach der Aufmerksamkeit des Autors, und Potosí war gewiss nicht die einzige Ressourcenstadt, die eine Menge vorzeigen konnte. Die US-amerikanische Stadt Aspen, heute als Skifahrerparadies bekannt, wurde 1881 als Bergbaustadt gegründet und hatte nach vier Jahren elektrisches Licht, nach fünf Jahren Leitungswasser, und nach acht Jahren verfügte Aspen über das drittgrößte Opernhaus im Bundesstaat Colorado.30 Es gab auch ein Opernhaus in der brasilianischen Stadt Manaus, die etwa 1 500 Kilometer oberhalb der Mündung am Amazonas liegt. Es war von 1891 bis 1896 mit importierten Materialien gebaut worden und bescherte der Kunst einen Platz mitten im Regenwald, und bezahlt wurde das Spektakel mit den Erlösen aus dem seinerzeit in Brasilien boomenden Geschäft mit dem Kautschuk. Die Oper mit der vergoldeten Kuppel war nicht der einzige Luxus, den sich Manaus gönnte. Es gab auch Gas und Wasser aus der Leitung, Elektrizität, ein Telefonnetz, einen künstlichen Hafen und die erste Straßenbahnlinie Südamerikas.31
Bergbaustädte waren jedoch nicht zwangsläufig reich. »Die großartige Architektur lateinamerikanischer Bergbaustädte wie Guanajuato, Zacatecas, San Luis Potosí, Ouro Preto und Potosí, wo Magnaten als Gönner großartiger Kirchbauten miteinander wetteiferten, könnte keinen größeren Kontrast liefern zum provisorischen, schäbigen Charakter der Bergbaustädte in Kalifornien, dem kanadischen Nordwesten, Victoria und New South Wales«, schrieb Alistair Hennessy.32 Städte im Goldrausch waren für die diversen Manifestationen ungebremster Männlichkeit geradezu berüchtigt, und wenn der Rausch nachließ, hatten oft jene das meiste Geld, die sich um die Versorgung gekümmert hatten. Es konnte der Startschuss für eine Weltkarriere sein. Levi Strauss machte nach dem kalifornischen Goldrausch ein Vermögen mit Jeanshosen, und einer der Giganten des Braugeschäfts, SABMiller, entstand aus einer Firma in Südafrika, die Castle-Bier an durstige Goldgräber verkaufte.33
Ein Goldrausch wurde von der Mobilität freier Männer befeuert, aber viele von ihnen wurden zu Lohnarbeitern. Keine vier Jahre nach dem ersten Goldfund hatte Kalifornien Pochwerke mit großer Belegschaft.34 Als die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ihren Durchbruch erfuhr, schwitzte ein Gutteil des Proletariats unter der Erde, allem voran in den Kohlebergwerken, die den neuen Hunger westlicher Gesellschaften nach fossilen Brennstoffen befriedigten. In Potosí war bis zu einem Drittel der Arbeiterschaft weiblich, aber die Bergwerke des Industriezeitalters waren eine Männerwelt, und empfindliche Seelen blieben ihr besser fern.35 Als Arzáns ins Labyrinth der Gänge im Cerro Rico hinabstieg, wurde der Ausflug zu einer traumatischen Erfahrung. Die Lampen seiner Gruppe erloschen, und so saß er stundenlang im Dunkeln, bis zufällig ein Bergmann vorbeikam. Außerdem kaute Arzáns nicht gerne Coca-Blätter.36
Die Bergleute des Industriezeitalters eroberten sich einen besonderen Platz in der Arbeitergeschichte. Sie boten eine charismatische Verbindung von zahlenmäßiger und symbolischer Macht, und wenn sie ihre Muskeln spielen ließen, liefen Schockwellen durch die Gesellschaft. Mehr als ein Bergarbeiterstreik fand Eingang in die Geschichtsbücher: die Anthrazit-Streiks in den USA 1877 und 1902, die Bergarbeiterstreiks an der Ruhr 1889 und 1905, der britische Generalstreik von 1926 und der Streik der National Union of Mineworkers in Südafrika 1987.37 Hinzu kam das Blut, das vergossen wurde. Das Ludlow-Massaker von 1914 und der folgende Bürgerkrieg in einem Kohlerevier im Süden Colorados, der zehn Tage andauerte, haben »einen zentralen Platz im Martyrologium der amerikanischen Arbeiterbewegung«.38
Abb. 1: Grubeneingänge kleiner Kooperativen am Cerro Rico im Juli 2004
Die Mythologie der Arbeiterbewegung pflegte das Bild einer gemeinsamen Front der Bergarbeiter, was in manchen jüngeren Veröffentlichungen noch nachhallt.39 In Wirklichkeit unterschieden sich Arbeiter je nach Betriebszugehörigkeit, Alter, betrieblicher Stellung und Qualifikationsniveau, und das nutzten clevere Kapitalisten nach Kräften aus. Auch in Potosí schuf die Mita keine homogene Arbeiterschaft, und das nicht nur, weil Arbeiter sich freikauften oder einfach davonliefen. Die Bergleute der Kolonialzeit waren eine Mischung aus nominell freien und unfreien Arbeitern.40 Selbst als die Regierung von Bolivien 1952 nach einer Revolution einen Staatsbetrieb gründete, die Corporación Minera de Bolivia (COMIBOL), gehörte nur ein Bruchteil der Arbeiterschaft zu den Gewinnern. Bei COMIBOL gab es eine festangestellte Arbeiteraristokratie, aber auch Arbeiter in Genossenschaften, die nach Leistung bezahlt wurden, Bauern, die Abraum zur Aufbereitung pachteten, und Bäuerinnen, die Halden nach brauchbaren Steinen absuchten. Ganz unten standen mittellose Außenseiter, die Beamte von COMIBOL nachts gegen Geld in die Tunnel ließen.41
Die Arbeit im Berg war immer eine Gefahr für Lungen und Gliedmaßen, und die Bedingungen in Potosí verschärften die Risiken. Silikose war auf 4 000 Metern Meereshöhe noch einmal ein ganz eigenes Problem. Es wird sich wohl nie klären lassen, ob der Cerro Rico tatsächlich »in drei Jahrhunderten […] acht Millionen Menschenleben« verschlang, wie Galeano in seinem Buch behauptete, aber das lag einfach daran, dass niemand mitgezählt hat.42 Das Schicksal der meisten Arbeiter bleibt in Ermangelung von Quellen im Dunkeln, aber letztlich bezweifelt niemand, dass Potosí nicht nur Silber produzierte, sondern auch jede Menge menschliches Elend. Die Arbeit im Berg war schrecklich, und das Leben danach sah auch nicht besser aus. Der Anthropologe Michael Taussig beschrieb es so: »Die Minen spuckten eine Klasse heimatloser und herrenloser Menschen aus – ein koloniales Lumpenproletariat –, deren Präsenz und Energie sich in einem Anschwellen von Unzufriedenheit und Aufruhr niederschlug, insbesondere im großen indianischen Tupac-Amaru-Aufstand von 1780.«43
Der Glanz von Potosí wirkt zwiespältig, wenn man um das Schicksal der Arbeiter weiß, und das ist nicht bloß eine rückblickende Erkenntnis. Arzáns war sich darüber im Klaren, dass sich mit der Pracht eine Menge Schweiß und Blut verband, und er schrieb darüber in seiner Geschichte. Daraus sprach kein revolutionärer Geist. Arzáns war ein Traditionalist in voraufklärerischen Zeiten, ein »schüchterner, sich zurückziehender Gelehrter«, der mit »einem Gefühl der Resignation« und der »typischen Weltverdrossenheit des Barock« schrieb.44 Ein melancholisches Grundgefühl war auch nicht ganz unpassend, wenn man im frühen 18. Jahrhundert in Potosí lebte.
Das Opernhaus von Manaus schloss seine Türen, als der Kautschukboom am Amazonas auslief. Aller Herrlichkeit zum Trotz waren die Boomtowns der Rohstoffwelt an Stoffströme gebunden, und wenn diese austrockneten, ging es an die Existenz. Es gab bei schwindenden Ressourcen viele Wege des Bedeutungsverfalls, sie waren jedoch alle schmerzhaft. In Potosí gab es keinen plötzlichen Kollaps, aber dafür einen langen Niedergang, der sich über Jahrhunderte hinzog. Der Abbau lief während der gesamten Kolonialzeit weiter, aber Potosí hatte seine besten Zeiten längst hinter sich, als Arzáns im frühen 18. Jahrhundert sein großes Werk schrieb: Das Rekordjahr war 1592.45 Im Herbst 1825, als die Unabhängigkeit Lateinamerikas praktisch sicher war, kletterte Simón Bolívar auf den Gipfel des Cerro Rico und pflanzte dort die Fahnen von Kolumbien, Peru und Argentinien. Die Hoffnungen auf einen postkolonialen Boom zerstoben jedoch, als später im Jahr in London die Potosí, La Paz and Peruvian Mining Association in einem Börsencrash kollabierte.46
Die Rahmenbedingungen im unabhängigen Bolivien sahen auch nicht günstiger aus. Nach Paul Gootenberg bestand ein wesentliches Handicap Lateinamerikas in einer gelähmten wirtschaftlichen Elite, »einer ›Lumpenbourgeoisie‹ des Freihandels«, weil viele Unternehmer »nie auf eigenen Beinen gestanden hatten«.47 Unter dem Einfluss der Dependenztheorie schrieb Gootenberg, die Eliten Lateinamerikas seien »vaterlandslose Anhängsel der Strömungen der Weltwirtschaft« und damit »für die Nationsbildung ungeeignet« gewesen, weshalb sie weiter ihre über Jahrhunderte eingeübte Rolle an der Peripherie des modernen Weltsystems spielten: »Es war die besondere ›koloniale‹ Rolle der Region in der Weltwirtschaft als Lieferant von Exporten, die die historische Rolle der nationalen unternehmerischen Eliten beschränkte.«48 Seit der Unabhängigkeit stagniert der Silberbergbau in Potosí. Er ist zu stark, um zu verschwinden, aber viel zu schwach, um den Wohlstand einer Nation zu schaffen.
Im späten 19. Jahrhundert verschob sich das Augenmerk in Potosí von Silber zu Zinn. Dabei ging es nicht nur um die Qualität der verbliebenen Erze, sondern auch um die neuen Präferenzen der Weltwirtschaft. Die wertvollen Metalle verloren ihre Hegemonie in der Welt des Bergbaus, weil Industriegesellschaften einen wachsenden Hunger nach Massengütern zeigten: Eisen, Kupfer, Zinn, Bauxit, Kohle. Die neuen Bergwerke des 19. Jahrhunderts waren in jeder Hinsicht größer und hochinnovativ; die wichtigste Spin-off-Technologie war die Dampfmaschine, die ursprünglich für die Entwässerung britischer Bergwerke erfunden wurde. Im frühen 20. Jahrhundert revolutionierte der amerikanische Ingenieur Daniel Jackling sogar das hergebrachte Verständnis von Bergbau. Er setzte in der Kupferproduktion auf große Tagebaue und die Verarbeitung der Erze in großen Fabriken. Das funktionierte nur, wenn die Bergleute mit neuer Großtechnik riesige Massen mit hoher Geschwindigkeit bewegten, und entsprechend groß waren die nötigen Investitionen. 1905 überzeugte Jackling die Guggenheim Exploration Company, das neue Verfahren in der Bingham Canyon Mine im Bundesstaat Utah auszuprobieren, und das wurde zu einem Wendepunkt in der Weltgeschichte des Bergbaus.49 Nun gingen nicht mehr die Bergleute in den Berg. Stattdessen ging der Berg in die Fabrik.
Die Bergwerke wurden größer, aber im kollektiven Bewusstsein wurden sie immer kleiner. Potosí ist weltberühmt, aber kaum jemand kennt heute die riesigen Kupfertagebaue in Chile oder den Eisenerzabbau im australischen Outback. Man muss es ja auch nicht kennen. Rohstoffströme sind heute anonym, und das ist durchaus gewollt. »Es ist nicht nur so, dass moderne Wissenschaft und Technik, von Bedürfnissen getrieben, Rohstoffe schaffen; sie zerstören sie auch und verwandeln sie in ›neutrale Stoffe‹«, schrieb Erich Zimmermann.50 Nur die Experten sind mit der Geografie der Rohstoffe noch vertraut, und Firmennamen lassen den Herkunftsort auch nicht mehr erkennen. Die Anglo-Iranian Oil Company änderte 1954 ihren Namen in British Petroleum.51 Selbst prekäre Rohstoffe fanden wenig Beachtung. Uranerz wurde in Niger, Gabun, Madagaskar und Namibia gefördert, aber kaum jemand dachte beim Thema Atomkraft an diese Länder.52
Seit 1966 steht die Bingham Canyon Mine als »National Historic Landmark« unter Denkmalschutz. Zugleich ist sie nach einer Aufstellung des amerikanischen Umweltministeriums von 1994 eine der übelsten Altlasten des Landes.53 Die toxischen Hinterlassenschaften des modernen Bergbaus sind ein ausgesprochen langlebiges Vermächtnis des Industriezeitalters, das vielleicht nur von den Löchern selbst übertroffen wird. In seinem Bestseller Die Welt ohne uns spekuliert Alan Weismann, dass »dieses Vermächtnis durchaus einige Millionen Jahre überdauern« könnte.54 Die Giftigkeit von Stoffen wie Blei, Kadmium und Arsen ist altbekannt, und der moderne Bergbau hat sie in ungeheuren Mengen in Bewegung versetzt. Im Norden Kanadas entsorgte eine Goldmine in Yellowknife das staubförmige Arsentrioxid, das bei der Goldherstellung als Abfallprodukt anfiel, indem sie es als Bergversatz in ausgebeutete Teile des Bergwerks blies. So lagerten schließlich 237 000 Tonnen Arsentrioxid im Untergrund, eine Menge, die ungefähr dem Hundertfachen der tödlichen Dosis für jeden Menschen auf der Erde entspricht. Die Firma ging 1999 bankrott, und bei der Sanierung auf Kosten des Steuerzahlers setzt die Eishockeynation Kanada auf Kältetechnik, um den giftigen Staub an Ort und Stelle einzufrieren.55
Verlassene Bergwerke sind nicht die einzigen Orte, an denen sich die Verheerungen der kolonialen Ressourcenwirtschaft in das Land eingebrannt haben. Marco Meniketti schrieb über die karibische Zuckerinsel Nevis, dass »die Landschaften des Zuckeranbaus nach dem Ende der Ressourcenextraktion verlassenen Bergbauregionen ähneln«.56 Die Hinterlassenschaften des Bergbaus können sich jedoch auf heimtückische und weitgehend unbekannte Weise verbreiten. Die Arsenbelastung des Trinkwassers wurde bereits als »gegenwärtig eines der schlimmsten und am weitesten verbreiteten Umweltprobleme der Menschheit« bezeichnet.57 Daran ist nicht nur der Bergbau schuld – zum Teil hat die Belastung natürliche Ursachen –, aber kaum jemand weiß, dass sich »mehr als 100 Millionen Menschen in der Gefahr befinden, mit Arsen belastetes Grundwasser zu verwenden«.58 Das Silber Lateinamerikas hat vor allem durch das Quecksilber des Amalgamverfahrens seine Spuren in der Umwelt hinterlassen. Die kumulativen Verluste für Süd- und Mittelamerika werden auf 196 000 Tonnen geschätzt, und »sehr wenig ist derzeit über den Verbleib und die Folgen der präzedenzlosen Mengen Quecksilber bekannt, die in den Regionen des Gold- und Silberbergbaus ausgeschieden wurden«.59 Wir wissen nur, dass Quecksilber aus dem Geröll verlassener Bergwerke in die Luft entweichen kann und die Einwohner von Potosí »weiterhin giftige Luft atmen, quecksilberhaltigen Staub aufnehmen und überhaupt den vielfältigen Risiken einer Quecksilbervergiftung ausgesetzt sind«.60
Abb. 2: Nicht jeder, der heute in den Berg von Potosí geht, ist ein Arbeiter. Hier freut sich eine Touristin in Schutzkleidung auf den Ausflug in den Cerro Rico.
Quecksilber kann über Monate in der Luft bleiben. Als Verschmutzungsproblem verbindet es damit eine hohe Belastung in ehemaligen oder aktiven Bergbauregionen mit einer niedrigeren, aber dafür allgegenwärtigen Belastung für jeden Menschen auf der Erde. So lebt das Vermächtnis von Potosí auch in einem erheblichen Beitrag zur globalen Hintergrundbelastung durch Quecksilber in der Erdatmosphäre fort. Der andere Teil des Vermächtnisses ist eine Menge alter Gebäude im Hochland der Anden. »Potosí hat abgesehen vom Silber keine Daseinsberechtigung«, schreibt Alistair Hennessy, und die Stadt, die einstmals eine der größten und prächtigsten der Welt war, ist heute »eine Museumsstadt in einer unwirtlichen baumlosen Landschaft«.61 Potosí steht seit 1987 auf der Liste des UNESCO-Welterbes und seit 2014 auch auf der Liste der gefährdeten Welterbestätten.62 Erhaltungsarbeiten gibt es nicht nur in der Stadt, sondern auch am Cerro Rico, wo ein Projekt der Regierung durch das Verfüllen gefährlicher Löcher den Zusammenbruch des Gipfels verhindern soll. Der Bergbau geht am Cerro Rico unterdessen weiter.63 Kompromisse gehören seit jeher zu den Schutzgebieten der Welt, und doch entbehrt es nicht einer tiefen Symbolik, wenn heute in einem millionenschweren Projekt Zement, Sand und Polyethylen in einen Berg verfüllt werden, den Menschen 475 Jahre lang durchwühlt haben. Es sieht so aus, als ob die Menschheit dem Berg und der Stadt in einem schrecklich verspäteten Akt der Buße eine Stabilität verleihen möchte, die sie nie hatte.
Die neue Landwirtschaft
Im Siebenjährigen Krieg eroberten die Briten 1759 die Karibikinsel Guadeloupe. Das löste in der britischen Öffentlichkeit eine lebhafte Debatte über den Wert der Insel aus. Dabei ging es speziell um den Wert Guadeloupes im Vergleich mit einem anderen Territorium, das zwischen Großbritannien und Frankreich umkämpft war: Kanada. Natürlich war Kanada viel größer und machte deshalb auf einer Weltkarte mehr her, besonders dann, wenn Kartographen die Mercator-Projektion verwendeten, die auf eine übergroße Abbildung der Länder des Nordens hinauslief. Aber Größe war im Geschäft der kolonialen Akquisitionen nicht alles. Kleine Inseln waren leichter zu verteidigen, und Guadeloupe war es wert, verteidigt zu werden, weil es günstige Bedingungen für den Anbau von Zuckerrohr bot. Konnte Kanada ein ähnlich attraktives Exportprodukt bieten? Die Bürger von London, die mit ihren Pamphleten einen regelrechten Papierkrieg ausfochten, diskutierten diese Frage mit Leidenschaft, und sie waren in ihrer Begeisterung für karibische Zuckerinseln nicht allein. Als Frankreich 1763 den Frieden von Paris unterzeichnete, gab es seinen Anspruch auf Kanada auf und erhielt im Gegenzug Guadeloupe und die Nachbarinsel Martinique.1
Rasant wachsende Ressourcenströme gehören zur modernen Geschichte, aber wenige Rohstoffe erlebten einen Boom, der mit dem Zucker vergleichbar war.2 Während das mittelalterliche Europa sein Süßigkeitsbedürfnis mit Honig und Baumsaft befriedigt hatte, eroberte Zucker den Markt in der Frühen Neuzeit im Sturm. Zucker war zunächst ein Luxusprodukt, das sich mit wachsendem Produktionsvolumen und sinkenden Kosten in ein Massenprodukt verwandelte. Es ging um das, was Thorstein Veblen als demonstrativen Konsum bezeichnete. »Durch den demonstrativen Konsum wertvoller Güter erwirbt der vornehme Herr Prestige«, schrieb Veblen in seiner Theorie der feinen Leute. Diesem Zweck diente der Zuckerkonsum, der sich zudem leicht mit dem Genuss anderer Luxusprodukte wie Tee, Kaffee und Schokolade verbinden ließ.3 Später ging es eher um den Energiestoß: Zucker bot jede Menge Kalorien,
