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Roman Nies

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Beschreibung

Der Philipperbrief ist ein Dokument der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, die durch die Heilswirksamkeit des Gottessohnes Jesus Christus zur Vervollkommnung des Menschen führen wird. Das geistliche Wachstum erfolgt in der Näherung an Christus, nicht in der Gleichschaltung mit der Welt. Paulus fordert folgerichtig die Zentrierung des Lebens auf Christus, dem Vorbild, der Mitte und dem Ziel des menschlichen Strebens, und nicht auf menschliche Überlieferungen. Gott bleibt der Herr über alle Geschehnisse und Entwicklungen. Die Umstände, welche die Unterordnung und Eingliederung aller Dinge unter den Christus anbahnen, müssen gegen alle Widerstände und Störungen heranreifen. Und so entfaltet sich die Wahrheit des Ratschlusses Gottes gegen alle zeitlichen Gegenentwürfe. Das Heil setzt sich gegen das Unheil durch und die Gemeinde Christi wird zur Heilskörperschaft, die mit ihrer Vervollkommnung das anti-christliche Kirchenwesen ablöst. Das Widergöttliche muss ausreifen, damit das Göttliche umso strahlender zur Geltung kommt.

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www.tredition.de

Roman Nies

Im Vertrauen auf den Vollender

Der Philipperbrief

www.tredition.de

© 2019 Roman Nies

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7482-3374-9

Hardcover:

978-3-7482-3375-6

e-Book:

978-3-7482-3376-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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Im Vertrauen auf den Vollender

-

Der Philipperbrief

Eine heilsgeschichtliche Auslegung

von

Roman Nies

Inhalt

Einführung

1. Die Aufgabe im Heilsplan

2. Die Aktivierung des Evangeliums

3. Zuversicht und Widerstand

4. In Christus leben und sterben

5. Standhaft kämpfen

6. Die Christusgesinnung

7. Alle Knie und alle Zungen

8. Vom Ernst des Wollens

9. Zweifellos tadellos

10. Freude der Hingabe

11. Die Christushaber und die Bedrohung

12. Warnung vor dem Gesetz

13. Die Zielsetzung

14. Die Feinde

15. Das Bürgerrecht zur Herrlichkeit

16. Freude

17. Dem Frieden nahe sein

18. Rechtes Bedenken

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Einführung

Wie man aus dem historischen Bericht des Lukas, eines Reisebegleiters des Apostels Paulus, entnehmen kann, war Philippi, die erste Stadt auf dem europäischen Festland, die Paulus betrat und missionierte. Er traf dort als erstes Lydia an und brachte sie zum Glauben (Ap 16,11ff). Sie war somit vielleicht die erste Christin Europas, auch wenn sie aus Thyatira in Kleinasien stammte. *1 Hier in Philippi gründete Paulus also die erste Gemeinde in Europa. *2 Philippi war um 356 v.Chr. durch Philipp II. von Mazedonien gegründet worden. Die Römer siedelten dort viele Veteranen an.

Weder über die Abfassungszeit des Briefes, noch über den Abfassungsort herrscht Klarheit. Paulus hat den Brief während einer Haft geschrieben (Phi 1,7.13.16f). Da er mehrfach in Haft war, ist unsicher um welche es sich handelt. Vieles spricht für Rom. *3 Aber Paulus war im Lauf der Jahre mehrfach mit Bewohnern der Städte, ihren religiösen Gruppierungen und Interessengruppen zusammengestoßen. Jedenfalls war er nach Ap 16,23 in Philippi daselbst in Haft und in Caesarea Maritim nach Ap 25,4ff. Nach 2 Kor 11,24-25 hat er acht Mal Prügel bezogen und einmal ist er sogar gesteinigt worden. Und auch die Apostelgeschichte, die nicht den Anspruch hat, eine Biographie von Paulus zu sein, belegt, dass Paulus oftmals in Gefahr war, weggesperrt zu werden. Aus 2 Kor 1,8-9 ist zu folgern, dass Paulus auch in Ephesus in Haft war, auch wenn diese vielleicht nur kurz war. *4

Die Historiker setzen den Brief nicht später als im Jahre 60 an und vermuten, dass er nicht vor dem Jahr 50 geschrieben worden ist. Die Gründung der Gemeinde dort begann an einem Sabbat, weil sich nämlich die Juden am Sabbat versammelten und an anderen Tagen arbeiteten. *5 Das galt anscheinend auch für Lydia, obwohl sie keine Jüdin war, sonst hätte sie Lukas nicht als „Gottesfürchtige“ bezeichnet, die spezifische Bezeichnung eines am Judenglauben interessierten Nichtjuden (Ap 16,13). Sie wird „mit ihrem Haus“ *6 getauft und „glaubt“ nun „an den Herrn“ (Ap 16,15).

Der Bericht in der Apostelgeschichte zeigt außerdem, dass es in der Stadt Wahrsager gab, deren Geschäfte reichlich Gewinn abwarfen. Und weil Paulus diese Geschäfte gefährdete, warf man ihn ins Gefängnis. Das mehrheitlich nichtjüdische Volk „wandte sich gegen sie“. Man liest aus dem Bericht auch, dass man die Christen als Juden betrachtete (Ap 16,20) und dass das schon an sich nicht begrüßenswert war. Die Juden waren im Römischen Reich privilegiert, weil sie den Kaiser nicht als Gottmensch verehren mussten und ihre Religion ungestört ausüben durften. *7 Das schürte bei nichtjüdischen Minderheiten Neid und Eifersucht. Der eigentliche Grund für die Abneigung gegenüber den Juden, wenn sie nicht einer tieferen geistlichen Ursache hatte, dürfte aber ihr religiöser Separatismus gewesen sein. Im Unterschied zu den anderen Völkern im Römischen Reich, verehrten sie nur einen Gott und erklärten alle anderen Götter für Nichtse. Das wurde als dreiste Ignoranz und Intoleranz betrachtet. Ähnlich geht es heutigen Christen, die an die Bibel glauben und die zahlreichen Götzen und Ersatzgötter in der Gesellschaft, in der sie leben, ablehnen. Vertrauen in den Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, war schon immer ein Grund für die Ausgrenzung.

Paulus und sein Begleiter Silas wurden, nachdem sie mit Stöcken geschlagen worden waren, in Philippi ins Gefängnis geworfen (Ap 16,22-23). Der Kerkermeister, der anscheinend ein Römer war, *8 bekehrte sich ebenfalls, nachdem er etwas erlebt hatte, was vernünftigerweise nur mit der Erklärung von Paulus als ein übernatürliches Geschehen in Übereinstimmung zu bringen war (Ap 16,25-33).

Paulus und Silas werden ganz offiziell wieder frei gelassen, gehen daraufhin nochmals zu Lydia und zu den Brüdern und Schwestern (Ap 16,40), ehe sie die Stadt auf Anraten der Behörden verließen. Dennoch verkündeten die beiden auch in der nächsten Stadt, in die sie kamen, das Evangelium. Das war dann in Thessalonich (1 Thes 2,2).

Die Reise des Apostels Paulus war gekennzeichnet von einem ständigen Wechsel zwischen Schock und Begeisterung. Schock, weil zunächst vieles gehörig schief zu laufen schief. Begeisterung, weil Gott nachhaltig und spektakulär eingriff. So verläuft ein stressiges, aber auch gesegnetes Leben! Ein Auf und Ab an Niederlagen und Katastrophen, Erfolgen und Glücksmomenten. Wer dem „Geh` mit Gott, aber geh`!“ ernsthaft Folge leistet, wird nicht selten eine ähnliche bewegte Biographie haben. Mit Philippi verbindet Paulus angenehme mit weniger angenehmen Erinnerungen. Lebensfreude und Lebensgefahr lagen eng beieinander. Da lebt der Mensch am intensivsten. Und wenn er es überlebt, neigt er dazu, das Gute in den höchsten Tönen zu loben und das weniger Gute zu verharmlosen oder zu beschönigen, wobei die dramatische Übertreibung im Nachhinein auch der „Beschönigung“ dient. Mit den Schriften der Bibel hat man es diesbezüglich mit einfachen Texten zu tun, denn man hat eine unbezahlbare Sicherheit: sie sind wahr. Bei allen anderen Texten muss man sich zuerst einmal fragen, ob sie wahr sind.

In den eigenen Worten von Paulus erlitt er auf seiner Reise durch Makedonien, die Provinz, in der auch Philippi lag, „von außen Kämpfe, von innen Ängste“ (2 Kor 7,5). Die Gemeinde in Philippi bekam einiges von diesen Kämpfen und Ängsten ab. *9 Mit Lydia und den anderen gläubigen Philippern, die das alles miterlebt hatten, verband Paulus selbstverständlich ein besonderes Band der Zusammengehörigkeit.

Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass der Brief an die Philipper der siebte und letzte Brief von Paulus an eine Gemeinde war. Das ist keinesfalls erwiesen. Sieben ist eine Zahl, die im biblischen Kontext oft einen Zusammenhang mit der Vollkommenheit herzustellen scheint. Tatsache ist, dass der Philipperbrief wichtige Ergänzungen zu den anderen Briefen hinsichtlich seiner Lehren liefert. Und gerade der Philipperbrief enthält ausdrücklich einen Hinweis auf die schöpferische Vervollkommnung des Menschen durch die Heilswirksamkeit des Heilandes Jesus Christus. Wüsste man von keinem anderen biblischen Buch, so würde schon der Philipperbrief allein das Beste der Menschheitsphilosophien vom Kopf auf die Füße stellen und das Meiste was Menschen dazu als Beiwerk ersonnen haben als unbedeutend zurückstufen. Der Philipperbrief ist ein Dokument der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen. Er braucht aber die Ergänzung durch weitere Dokumente mit himmlischem Siegel und diese weiteren Dokumente werden bereichert durch den Philipperbrief. Da er aber ein authentisches historisches Dokument in Briefform ist, enthält er auch die Merkmale und Inhalte eines Briefes, und zwar eines seelsorgerischen Briefes.

Der Grund, diesen Brief zu schreiben, müsste zunächst einmal Paulus selber angeben. Und er macht den Grund, bzw. die Gründe recht klar. Er hat nämlich vor denen zu warnen, die nach ihm nach Philippi gekommen sind und ihre Version von Wahrheit und Evangelium anstelle dessen setzen wollten, was Paulus dort groß und standfest gemacht zu haben glaubte. Man bedenke, Paulus war nur eine begrenzte Zeit in einer römischen Stadt, Philippi, geblieben, wo ihn die Bevölkerung nicht mochte. Nur bei einem kleinen Bruchteil der Bewohner war er mit seiner Botschaft auf Gegenliebe gestoßen. In dieser begrenzten Zeit konnte er keine ausformulierte Auslegung der biblischen Bücher hinterlassen und dazu noch die Bedeutung des gekommenen Messias Jesus Christus hieb und stichfest ausbreiten und im Gedächtnis der Gemeinde hinterlegen. Paulus konnte nicht mal geschwind zum Telefon greifen oder sich ins Flugzeug setzen. Und jetzt war er auch noch in Gefangenschaft!

Und so war es nötig einen Lehr- und Ermahnbrief zu schreiben, ebenso wie er auch schon an andere Gemeinden Lehr- und Ermahnbriefe zu schreiben hatte. Man muss also von solchen Briefen, da sie authentisch sind, erwarten, dass sich in ihnen neben Lehrsätzen auch solche Worte der Ermahnung, der Warnung und der persönlichen Aufmunterung oder auch des Tadels finden lassen. Dahingehend spielt es auch keine große Rolle, ob sich der Brief vielleicht aus ursprünglich zwei Briefen zusammensetzt, oder ob es nur eine Spekulation mancher Theologen ist.

Vor was mussten die Philipper gewarnt werden? Vor den gleichen geistlichen Gefahren wie auch die übrigen Briefempfänger in anderen Gemeinden. Die Gefahren kamen von zwei Seiten, der jüdischen und der heidnischen. Von der Heidenseite kam der Götzendienst als Gefahr für die „christliche“ Bewegung, aus der Quelle der widerbiblischen Religion und der widerbiblischen Philosophie. Das „Wider“ umfasst zwei Möglichkeitsformen. Eine objektive und eine subjektive. Das ist zu vergleichen mit kirchlichen Lehren. Manche sind widerbiblisch, weil sie von Menschen ersonnen wurden, die zwar Gott dienen wollen, denen es aber nicht gegeben ist. Andere stammen aus einer anderen Quelle als dem guten Wollen des Menschen. Paulus hätte die Feindseligkeiten gegenüber seiner Verkündigung nicht unbedingt „widerbiblisch“ genannt. Zu seiner Zeit setzten die Gläubigen die Aussagen der heiligen Schrift noch mit den Aussagen Gottes gleich. Von der Judenseite kam die ablehnende Einstellung gegenüber der neuen Erscheinung des „Christentums“, die alle zunächst noch als jüdische Sekte verstanden. Verschiedene Autoren nennen diese Einstellung Judaismus, wohl auch, um es nicht gleichsetzen zu müssen mit dem Judentum. Paulus wurde nicht nur verfolgt von Juden, sondern auch gefolgt. Folgsam sein, sollte eigentlich eine freundliche Nachfolge sein. Paulus erlebte öfter die unfreundliche Variante des Nachfolgens. Man reiste Paulus hinterher, genauer gesagt, man lehrte Paulus hinterher, um das „richtig“ zu stellen, was er nach Meinung der jüdischen Rabbis völlig falsch darstellte. Was Paulus aufbauen wollte, wollten sie wieder niederreißen. Und zum Teil ist es ihnen, jedenfalls, was die förmliche Religion anbelangt, gelungen. Und sie glaubten dabei natürlich, einen Gottesdienst zu tun. Wenn man einer Denkweise aus tiefer Überzeugung folgt, sitzt sie unlösbar fest und kann nicht mehr, außer durch eine andere, tiefere Überzeugung abgelöst werden. Der christliche Glauben, sofern er biblisch ist, ist die tiefste Überzeugung, die man haben kann, weil sie auf Wahrheit gegründet ist. Man steht immer fester auf festem Untergrund, als auf schwankendem.

Von einer Wahrheit kann man grundsätzlich tiefer überzeugt sein als von einer Unwahrheit. Die Wahrheit ist, wenn sie Wahrheit ist, an sich absolut. Die Unwahrheit kann nur eine relative Beziehung zur Wahrheit haben. Dann muss aber die größte Wahrheit, d.h. die Zusage Gottes, denn jedes Reden Gottes stellt die größte Gewissheit dar, immer auch zu einem größten Vertrauen und der größten Zuversicht führen können, während jegliche Form von Unwahrheit immer nur eine relative Gewissheit, die den Irrtum mit einschließt und nicht ausschließt, auslösen und unterhalten kann, bis sich herausgestellt hat, dass sie unwahr ist.

Paulus geht es darum, dass die Philipper an Liebe und Erkennen Jesu Christi noch mehr zunehmen. Daher will er ihnen verdeutlichen, dass sie dazu auch, wie er es gerade eben eindringlich erlebt, bereit sein müssen, einen Weg des Leidens und Kampfes zu gehen. Da gibt es äußere Feinde, aber auch innere Widerstände. Es entsteht also ein zweifacher Glaubenskampf. Christus anzustreben als Vorbild, Mitte und Ziel des Lebens, verlangt Opferbereitschaft, aber auch die Stärkung der geistlichen Tugenden, die Paulus daher auch anmahnt.

Christuswachstum ohne Tugendwachstum gibt es nicht.

Am Anfang jedes geistlichen Wachstums steht aber immer die Gnadenzuweisung Gottes als erster Schritt der Christuswerdung. Die Christuswerdung betrifft jedes einzelne Glied am Leibe Christi, aber deshalb eben auch den ganzen Leib. In den Briefen von Paulus steht neben der Christuszentrierung des Glaubenslebens auch die Ethik der Lebensführung, weil beide organisch zusammengehören. *10 Erkenntniswachstum über die Wege Gottes mit Seiner Schöpfung ist nicht losgelöst von der praktischen Konsequenz wie man nun selber die Erkenntnis an sich wahr werden lässt und dadurch auch ein Zeugnis für Christus in der Welt, die Christus ablehnt, wird. Sie führt daher auch zur Christus eigenen Tugendhaftigkeit, die man sich als Lebensweise zulegt. *11 Zu den äußeren Feinden gehören in Philippi die heidnischen Römer, die wie die fest eingesessenen übrigen Bewohner keine Gefährdung ihrer öffentlichen Ordnung und wirtschaftlichen Interessen dulden können. Wie sich aber sehr bald herausstellte, gehörten zu den äußeren Gegnern auch Juden, sofern ihnen die unerwünschte Sekte ein Dorn im Auge war. Daher kommt Paulus auch in diesem Brief auf die Notwendigkeit der Abweisung der jüdischen Lehren zu sprechen. Man erfährt nicht, ob es in Philippi überhaupt eine Synagoge gab, denn die „Gottesfürchtigen“ versammelten sich im Freien oder in Privathäusern (Ap 16,13). *12 Wen Paulus in seinem Brief als „böse Arbeiter“ bezeichnet, ist ungewiss, außer dass es Juden sein müssen, die noch dem orthodoxen Glauben, den von den Vätern hergebrachten Glauben, zumindest im Wesentlichen, anhingen. Und auch in Philippi dürfte sich gezeigt haben, dass jene Juden ein viel stärkeres Interesse haben mussten, die „Gottesfürchtigen“, also jene Nichtjuden, die den Gott Israels anbeteten, für sich zu gewinnen, die selber nicht nur an den Gott Israels glaubten, sondern auch an Seinen Messias Jesus Christus. Sie sagten sich, wenn es schon Heiden gab, die auf den Gott Israels hören wollten und wie wir in Jesus den Messias verstehen, dann sollen sie aber auch recht unterwiesen werden. Und „Torah“ bedeutet so viel wie „Unterweisung“. Die „Torah-Christen“, die man auch „Beschneidungs-Christen“ nennen kann und sicherlich in der Anfangszeit die große Majorität der zu Jesus bekehrten Christen stellten, waren natürlich Juden und ihren Ursprung hatten sie in Jerusalem. Sie nahmen für sich, nicht ganz zu Unrecht, in Anspruch, dass sie das lehrten, was auch die anderen Apostel, mithin die ersten Christusgläubigen gelehrt hatten und noch lehrten. Wichtige feine Unterschiede nahmen sie wohl eher nicht zur Kenntnis. Daher kann man davon ausgehen, dass sie nicht von den anderen Aposteln, die das Evangelium der Beschneidung verkündeten, beauftragt waren, den Gemeindegründungen von Paulus einen Besuch abzustatten. Sie handelten im eigenen Auftrag und im eigenen Interesse. Aber auch in der eigenen Irrtümlichkeit.

Das sind die Themen bei Paulus: Ermahnung zur Rechtgläubigkeit und zur christlichen Tugendhaftigkeit. Festhalten an seiner Lehre. Zentrierung des Lebens auf Christus. Zeugnis für die Welt und schließlich auch Ablehnung des Halbfertigen aus dem Judentum, da man doch die Fülle in Christus hatte. Paulus verlangte konsequente Konsequenzen. Paulus war der Verkündiger des Evangeliums der Unbeschnittenheit. Und damit stand er weitgehend allein auf weiter Flur! *13

Beinahe gelangt man zu dem Eindruck, der kurze Philipperbrief sei ein letztes geistliches Vermächtnis, das in aller Eile und mit letzter Kraft geschrieben worden ist, von einem Häftling, der damit rechnen muss, dass sein Lauf sehr schnell beendet sein kann. Dass der Brief überhaupt entstanden ist, verdanken die Philipper dem Umstand, dass sie Epaphroditus zur Unterstützung von Paulus nach Rom geschickt haben. Das lässt vermuten, dass sie nichts davon wussten, dass Paulus in Rom Freunde hatte, die das viel einfacher und schneller leisten konnten. Paulus erstattet hier seinen Dank.

Man hat den Philippern nachgesagt, was man aus dem Brief herauszulesen glaubte, dass sie ein besonders inniges Verhältnis zu Paulus hatten. Man erfährt aus der Apostelgeschichte und aus den Briefen von Paulus nichts darüber, dass zu den Bekehrten in Philippi auch Juden gehörten. Wenn es nicht einmal eine Synagoge gab, kann eine jüdische Gemeinde auch nicht zahlreich gewesen sein. Wenn es aber weit überwiegend oder ausschließlich Nichtjuden waren, die sich der Gemeinde anschlossen, dürfte es ihnen weniger schwer gefallen haben, paulusfeindlichen Lehren entgegengetreten zu haben. Sie dürften als Nichtjuden kaum die relative Bedeutung von Torah und Beschneidung, die Paulus vertrat, zurückgewiesen haben. Dafür dürfte es für ankommende Torahlehrer aus dem Kern des jüdischen Glaubensgebietes schwer gewesen sein, in Philippi Fuß zu fassen. Das wiederum hat Paulus die Philipper besonders ins – menschliche – Herz schließen lassen.

Paulus fängt seinen Brief mit der Selbstvorstellung als „Knecht Christi Jesu“ an. Dass er auch Apostel ist, steht nicht im Blickpunkt. Wenn man den persönlichen Stil des Briefes an seine geliebten Philipper, die ihm so viel Freude bereitet haben, berücksichtigt, scheint er um die Festigkeit der Philipper, in dem zu bleiben, was er ihnen beigebracht hat, zu wissen. Und so legt er auf einen anderen Aspekt seines Dienstes Wert. Es ist ein Dienst an den Philippern, aber es ist auch ein Dienst von und für Christus Jesus. Daher nennt er sich „Knecht“. Ein treuer Knecht steht seinem Herrn oft näher und ist mit ihm mehr verbunden als so manches Familienmitglied, jedenfalls aber mehr als so mancher bloß erklärter Freund.

Manche Ausleger wollen in den Bezeichnungen für den Messias einmal als Jesus Christus und dann als Christus Jesus einen Hinweis erkennen. Da Jesus für „JHWH rettet“ steht und Christus für „Maschiach“, was so viel wie „Gesalbter“ bedeutet, würde eine Voranstellung des einen gegenüber dem anderen auf eine Hervorhebung in der Reihenfolge hindeuten können. „Christi Jesu“ zeigt demnach an, dass Paulus und Timotheus als Knechte Gottes zuerst im Dienst des Christus, also des Messias Israels stehen, dann auch im Dienst des Jesus, der der persönliche Erlöser und Heiler aller Menschen ist. Diese Bedeutung würde gerade für den Philipperbrief überraschen, da die Gemeinde zu Philippi anscheinend mehr Nichtjuden hatte als Juden und der Brief auch keine Anhaltspunkte gibt für eine Auseinandersetzung mit der Lehre vom bald kommenden messianischen Reich und der Erfüllung der Verheißungen Israels. Jesus war in erster Linie der Christus für Israel.

Nach der Identifizierung der Botschafter folgt der Adressat. Hier zeigt schon die Aufzählung „allen Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, samt den Aufsehern und Dienern“, dass für Paulus alle Gläubigen Heilige sind. Wenn man, wie die katholische Kirche, lehrt, dass nur die von der Kirche geheiligten Katholiken Heilige sind, *14 müsste man hier Paulus unterstellen, dass er nur mit den Großen des Glaubens redet und die Kleinen nicht für Wert hält, mit angesprochen zu werden. Das ist offenkundig Unsinn. Die „Heiligen“ sind alle Gläubigen und ihnen allen wird auch der Brief in der Gemeinde vorgelesen. Ob es auch „katholische“ Heilige gibt, ist eine ganz andere Frage. *15

„Heiliger“ bedeutet biblisch, von Gott zu einem besonderen Dienst herausgenommen aus der Masse derer, die nicht oder noch nicht dienen sollen. Was unter Dienst zu verstehen ist, ist auch das Thema des Briefes, denn die Philipper werden dazu aufgerufen, treue Nachfolger Jesu zu sein und sich gegen weltliche und antichristliche Anläufe zu verwahren. Sie legen damit auch ein Zeugnis ab, das später wie ein Keim aufgehen soll. In diesem Dienst für Gott ein Zeuge für das Evangelium zu sein, ist man immer ein heiliger Diener, weil man für diesen Dienst auserwählt ist. Und manche dieser „Diener“ dienen dann dem Dienst und den Dienern in einer besonderen Weise, die man nicht Tugendhüter nennt, sondern „Aufseher“. Die Aufseher geben Rückmeldung über die Dienste und ergeben ein Korrektiv, vorausgesetzt sie sind dabei vom Geist Gottes geleitet.

„Aufseher“ und „Diener“ sind also diejenigen, die in der Gemeinde eine dienende Funktion haben. Das zeigt sich auch bei Ansprachen von Paulus andernorts (1 Tim 3,1-2; Tit 1,7). Sie haben gewissermaßen einen doppelten Dienst. Das griechische Wort „episkopos“ bedeutet „Aufseher“, „Hüter“, „Schützer“ und damit auch im übertragenen Sinn „Hirte“. Der erste unserer Hüter und Hirten ist natürlich Jesus Christus selbst. Das Wort wird auch mit „Bischof“ übersetzt. *16 Eine formelle Hierarchie gab es weder bei Paulus noch bei Jakobus, der die Jerusalemer Gemeinde behirtete oder Petrus, der vermutlich der Wander-Hirte der Jerusalemer Gemeinde war. Eine formelle Hierarchie herzustellen, muss nicht per se eine unbiblische Ordnung aufbauen. Vielmehr muss man die geistliche Substanz von Hierarchien und kirchlichen Strukturen immer nach der Lehre beurteilen. Die Frage, ob eine Kirche berechtigt ist, Bischöfe mit umfassender Vollmacht auszustatten, unbiblisch ist, sollte zu allererst daran Interesse haben, aufzuklären, ob diese Kirche überhaupt biblische Lehren vertritt. *17

Wegen der geistlichen Nähe der Philipper zu Paulus, die durch seine mehrfach ausgedrückte Sympathie für sie, anzunehmen ist, ist es unwahrscheinlich, dass die Philipper jemals einen anderen Apostel zu sehen bekommen haben. Sie waren keine Synagogen-Christen und sie waren keine Petrus-Christen. Weder Jakobus noch Petrus haben Gemeinden gegründet, im Unterschied zu Paulus, muss man annehmen. Der Grund dafür ist schnell zu finden. Paulus predigte das Evangelium der Unbeschnittenheit. *18 Dass dieses Evangelium ausgerechnet mit dem Körperteil in namentlichem Zusammenhang gebracht wird, auf den der Mann am ehesten verzichten kann, könnte Zufall sein, zumal ersichtlich ist, dass es bei der Namensgebung darauf ankam, den Gegensatz zum „Konkurrenz-Evangelium“ aufzuzeigen. Wenn es den jüdischen Gläubigen so wichtig war, ihrem Evangelium immer die Frage voranzustellen, ob jemand beschnitten war und geglaubt wurde, dass man ohne Beschneidung kein Mitglied des Heilsvolkes Israel sein konnte, dann konnte einer wie Paulus noch einmal mit der Namensgebung für die eigene Verkündigung verdeutlichen, wie banal und randläufig die Beschneidung für einen nichtjüdischen Messiasgläubigen sein sollte. Weitere Überlegungen dazu müssen sich mit der Frage beschäftigen, warum Gott überhaupt die Beschneidungspraxis einführen ließ. Er schloss einen Beschneidungsbund mit Seinem Volk als Zeichen dafür, wer dazu gehörte. *19 Wer Angehöriger seines Volkes war, sollte nicht an äußerlichen Dingen erkannt werden. Erst wenn ein Mann entblößt war, wusste man, wer er war. Kleidung sagt nichts dazu aus, ob man zum physischen Volk Gottes dazugehört, weil sie leicht zu wechseln ist. Ein körperliches Merkmal ist unverwechselbarer. Wenn es nicht offensichtlich ist, dann kann es doch im Zweifelsfall nachgewiesen werden. Außerhalb Israels konnte ein Mann in substantielle Bedrängnis kommen und dabei doch noch ein Zeugnis seiner Herkunft ablegen. Die von Paulus eingeführte Nichtbeschneidung für Nichtjuden, die vorher noch als Proselyten beschnitten worden wären, war für traditionelle Juden eine Unmöglichkeit, heute würde man sagen „unbiblisch“. Was Paulus hier einführte, war für orthodoxe Juden ein Unding. Das kann man verstehen.

Die Nichtbeschneidung jener, die den Gott Israels anbeten, zeigt dann konsequenterweise nämlich, dass es ein neues Volk gibt. Wo steht dieses Volk in Bezug auf Gott? Und wo steht es in Bezug auf Israel? Paulus hätte auf diese Fragen geantwortet, dass dieses neue Volk nicht Adressat der israel-spezifischen Verheißungen sein würde, weil es andere Segnungen hat, so wie es auch andere Dienste zu bewältigen hat. Wann immer sich Juden und Nichtjuden der paulinischen Glaubensrichtung anschlossen, mussten sie sich von der örtlichen Synagoge getrennt einen Ort und eine Art des Zusammenseins suchen. Dazu blieben nur Versammlungen im Freien oder in den Häusern.

Im Unterschied dazu predigten die anderen Apostel das Evangelium der Beschneidung. Dazu suchten sie die jüdischen Diasporagemeinden des Römischen Reiches auf. Sie brachten also ihre Botschaft den bereits bestehenden Diasporagemeinden. Sie hatten weit weniger Provokantes in ihrer Verkündigung als Paulus und hatten dementsprechend keine „Nacheiler“, die sich mächtig gegen sie stellen mussten.

Während nun die Gemeinden von Paulus, wenn sie von den jüdischen Synagogen ausgeschlossen wurden, einen Halt außerhalb des Judentums finden konnten, weil unter ihnen Nichtjuden waren, deren Leben nicht jüdisch-exklusiv geordnet war, war das für einzelne Gläubige innerhalb des Synagogen-Judentums schwierig. Die Apostel kamen, verkündeten ihre Botschaft und zogen dann weiter, um die nächste Synagoge aufzusuchen. Wenn sich dann vor Ort keine ausreichende Zahl von Gläubigen fand, konnte sich dann auch keine Gemeinde bilden. Oder sie knüpften individuell Verbindungen zu den Gemeinden, die das paulinische Evangelium gehört hatten. Das bedeutet, dass die Jünger Jesu nur da überhaupt Gemeinden ins Leben rufen konnten, wo sich genügend Juden und „Gottesfürchtige“ bekehrten.

Wie schwierig das ist, sieht man auch heute. Wenn ein Jude, der bisher einer Synagogengemeinde angehörte, plötzlich dort etwas von Jesus als dem Messias Israels erzählt, wird er in aller Regel schneller ausgeschlossen, als er zur Tür hinausgehen kann. Sollte sich in den nächsten Jahren etwas ändern, liegt das wiederum daran, dass Gott Seine Heilsgeschichte ins nächste Kapitel führt. Tatsächlich berichten Evangelisten und Mitarbeiter der Kirchen, dass es immer häufiger zur Bekehrung einzelner orthodoxer Juden kommt. Hinzu kommt der Zuwachs bei messianischen Gemeinden. Dort bekennen sich viele zum Messias Jesus Christus, die vorher den jüdischen Glauben nicht praktizierten. Aber auch dort gibt es Juden, die einmal eifrige Vertreter des orthodoxen Judentums waren.

Zur Zeit von Paulus war die Situation aber anders, weil es sich spätestens in den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts immer deutlicher herauskristallisierte, dass die „Judenmission“ nicht sehr erfolgreich sein würde. Es hatte verheißungsvoll in Jerusalem Anfang der dreißiger Jahre angefangen (Ap 2,41). *20 Doch der Zustand der Gemeinde dreißig Jahre später war keineswegs mehr so verheißungsvoll. Lukas berichtet davon, dass schon nach der ersten Predigt von Petrus an Pfingsten in Jerusalem dreitausend Menschen der Gemeinschaft hinzugefügt wurden. Er sagt nicht, dass oder wie sehr diese Menschen gläubig geworden waren. Das wäre aber wichtig, wenn man bewerten möchte, wie nachhaltig diese Bekehrung war. *21

Vielleicht war Petrus ein guter Prediger und die Zuhörer hatten keine Sympathie für die religiösen Oberen und ihre Gruppierungen. Sie hatten vielleicht auch schon mit Jesus sympathisiert und dieser Petrus stieß nun ins gleiche Horn. Was auffällig ist an dieser Geschichte ist aber noch etwas anderes als der Nachweis des vordergründigen Erfolgs von Petrus. Da steht die Zahl dreitausend. In der Bibel steht sie wiederholt in einem Zusammenhang, der keine große Glaubensstärke herausstreicht. Dreitausend Hebräer erlitten das Strafgericht Gottes, weil das Volk ohne Moses sich gegen Gott gestellt hatte (2 Mos 32,28). Dreitausend Israeliten flohen vor den Männern von Ai (Jos 7,4). Dreitausend Männer aus Juda bekannten ihre Angst vor den Philistern (Ri 15,11). Dreitausend Männer und Frauen der Philister fielen bei einem Gottesgericht (Ri 16,27ff). Dreitausend Männer des Saul konnten nichts gegen die Philister ausrichten (1 Sam 13,2-7). Dreitausend Männer nahm Saul, um David zur Strecke zu bringen (1 Sam 24,3; 26,2). Salomo verfasste dreitausend Sprichwörter (1 Kö 5,12) – wäre er doch lieber Gott treu geblieben! Dreitausend Männer von Juda wurden erschlagen, weil der König von Juda Efraim nicht an einem Kriegszug teilnehmen gelassen hatte (2 Chr 25,13). Gutes liest man hingegen nichts über die Zahl dreitausend.

Waren die dreitausend Gläubigen zu Pfingsten verheißungsvoll? In welchem Sinne? Wusste Gott nicht schon längst, wie sich die Dinge entwickelten? Dass die Gemeinde in Jerusalem nur als eine geduldete Sekte Geltung erlangen würde und die nationale Katastrophe der späten sechziger Jahre nicht abzuwenden war, wusste das Gott nicht schon? Und das war voraussehbar, denn wenn das Herz verhärtet ist, kann keine Botschaft zu Gott durchdringen. Es hätte einer nationalen Umkehr Israels bedurft, um die erneute Versklavung des Volkes unter das römische Joch zu vermeiden. Es kam, was kommen musste. Im Jahr 70 wurde Jerusalem mitsamt Tempel von römischen Truppen zerstört, nachdem sich die Stadt unter der Führung von Aufständischen lange einer Belagerung widersetzt hatte. Hunderttausende Juden wurden getötet oder wurden als Sklaven weggeführt. Hätte das Volk dem Evangelium geglaubt, wäre Jesus, so wie Er es angekündigt hatte, zurückgekehrt. Deutet die Zahl 3000 also eher auf eine zweifelhafte Verheißungsfülle der Ereignisse an Pfingsten?

Paulus, Jakobus und Petrus lebten nicht mehr, als Mitte der sechziger Jahre der Aufstand gegen Rom begann und sich dann zu einem verheerenden Krieg auswuchs. Aber Paulus hatte noch verstanden, dass die Schonfrist von Israel ablaufen würde. Die Apostelgeschichte endet mit dieser Vorausschau prophetisch: „Das Herz dieses Volkes ist hart geworden und mit ihren Ohren hören sie nur schwer und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen,sich bekehren und ich sie heile.“ (Ap 28,27). Die Zeit der Nationen brach an, die Zeit Israels war ausgesetzt (Röm 11,25).

Die Geschichte der Gemeinde zu Jerusalem ist also eher keine Erfolgsgeschichte. Das Evangelium nahm dort seinen Anfang. Aber die Bewegung des Christentums wurde erst mit den Gemeindegründungen von Paulus und seiner Mitarbeiter nachhaltig. Damit verschob sich aber der Schwerpunkt der Verkündigung deutlich von der Verkündigung des Evangeliums jerusalemer Prägung zur Verkündigung dessen, was im Bereich der Diaspora, nicht notwendigerweise inmitten der jüdischen Diasporagemeinden stattfand. Das war nicht gleichzusetzen mit der Verkündigung des paulinischen Evangeliums der Unbeschnittenheit, denn Paulus konnte nicht garantieren, dass nach seiner Abreise – sei es nun in eine andere Weltgegend oder in den Himmel – seine Lehren unvermischt und rein weitergeben und weiterverwendet wurden.

Es gehört aus heilsgeschichtlicher Sicht zu den Phänomenen des göttlichen Handelns und Wirkenlassens, dass tatsächlich mit dem Verschwinden der ersten Evangeliumsverkünder, ihre Lehren in ihrer Urform nicht mehr nachhaltig vorkamen. Dass das so sein würde, kann man schon aus den Briefen von Paulus herauslesen. Paulus hatte gute Gründe, die Gemeinden immer wieder zu warnen oder sogar zu tadeln. „Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe.“ schreibt er den Galatern (Gal 4,11). Bei den Thessalonichern lässt er nachforschen, ob er nicht vergeblich unter ihnen gearbeitet hat (1 Thes 3,5). Die Korinther ermahnt er (1 Kor 15,2). Und auch den Philippern hält er es vor Augen (Phi 2,16), denn ein Abfallen vom Glauben, hat auch immer etwas mit dem Nicht-Glauben von Lehren zu tun. Paulus behauptet sogar, dass der heilige Geist ausdrücklich sagt, „dass in späteren Zeiten manche vom Glauben abfallen werden, indem sie auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen achten“ (1 Tim 4,1) Timotheus weist er an: „Bis ich komme, achte auf das Vorlesen, auf das Ermahnen, auf das Lehren!“ (1 Tim 4,13) Er war sich sehr wohl bewusst, was geschehen konnte, und was ganz sicher geschehen würde in naher Zukunft, schon bald nach seiner Abreise: „Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen Begierden sich selbst Lehrer aufhäufen werden, weil es ihnen in den Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren und sich zu den Fabeln hinwenden.“ (2 Tim 4,3-4)

Genau das geschah. Es begann bereits im ersten Jahrhundert, setzte sich fort im zweiten Jahrhundert, wurde mitbestimmend im dritten Jahrhundert und maßgeblich im vierten Jahrhundert. Im vierten Jahrhundert wurde die Kirche, die sich selber als die katholische Kirche bezeichnete, zur Staatskirche. Bis dahin hatte sie sich weit von der Basis des christlichen Glaubens entfernt. Umso wichtiger ist es, Kirchengeschichte und Heilsgeschichte auseinanderzuhalten. Ebenso darf man Kirchengeschichte nicht mit der Geschichte des Christentums gleichsetzen. Wer den Geist Christi nicht hat, hat vielleicht einen Kirchengeist, der dafür sorgt, dass notwendige Differenzierungen gar nicht vorgenommen werden.

Aber warum ließ es Gott so geschehen, dass Seine Wahrheit korrumpiert und verdreht und schließlich unkenntlich gemacht wurde, so dass sich ein anderes Evangelium in der Welt ausbreiten würde? Es ist das Evangelium des bedingten Christusses. Jesus ist der Retter aller Menschen, aber die Rettung wirkt sich nur aus, wenn man in der Kirche ist, die angeblich das Heil verwaltet. *22 In Europas Westen und bald in der halben Welt breitete sich diese Kirche als katholische Kirche aus.

Das ist die Bedingung für die Erlangung des Heils, der Gehorsam gegenüber der Kirche. An die Stelle des Glaubens an das Evangelium über Christus, wie es in der Bibel niedergeschrieben ist, tritt das Evangelium Roms, wonach Christus allein nicht zum Heil reicht und das Heil längst nicht für alle da ist, denn alle Nichtkatholiken müssen in der Hölle die Ewigkeit fristen. Dabei hat man übersehen, dass es nur bei Gott Ewigkeit gibt und dass es bei Gott nichts Böses gibt. Ewigkeit und Böses vereint ist also eine Unmöglichkeit. Also ist beides nicht möglich: Gutes in Abwesenheit Gottes und Böses in Gemeinschaft Gottes.

Die Antwort auf die Frage nach dem Zulassen des Bösen und der Irreführung ist die gleiche wie auf die Frage nach der Erfolglosigkeit der Evangelisierung des Volkes Israel oder dem Ausbleiben der Rückkunft des Messias. Jesus gibt die Antwort Seinen Jüngern: „Meine Zeit ist noch nicht da!“ und „Ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest; denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt.“ (Joh 7,6.8) Er ist der Herr der Geschichte und Geschichten, der Kirchengeschichte und der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte. Die Umstände, die die Unterordnung und Eingliederung aller Dinge unter den Christus anbahnen, müssen heranreifen. Gott hat nicht nur das vieltausendjährige Wirken Satans nicht unterbunden. Satan ist der Widerwirker Gottes. Die Wahrheit entfaltet sich gegen die Lüge, das Heil setzt sich gegen das Unheil durch und die Gemeinde Christi ist die heile Alternative neben und nach der unheiligen anti-christlichen Weltkirche. Und Israel überlebt alle ihre Feinde, die lügenhaft, unheilig und anti-christlich gegen Israels Existenz und Wohlfahrt angekämpft haben werden. Das Widergöttliche muss also Ausreifen (Mt 13,30), damit das Göttliche umso strahlender zur Geltung kommt. Und das tut es, wenn es überall strahlt und nicht nur bei ein paar kleinen, auserwählten Feuerzeugen!

In diesem Kommentar zum Philipperbrief wird es auch darum gehen, die Aussagen des Paulus im Kontext der gesamten Heilsgeschichte Gottes für das Volk Israel und die ganze Menschheit zu verstehen.

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1.

Die Aufgabe im Heilsplan Phi 1,2.5.7

Nach der Adressatenbenennung wird klar, was Paulus bei seiner Brieferöffnung am Wichtigsten ist. Es ist das, was sein Evangelium trägt und fruchtbar machen soll. Er wünscht es den Philippern: „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (Phi 1,2)

Gnade und Friede! Das Evangelium ist eine Botschaft der Gnade Gottes. Gott ist gnädig, dass Er es verkündigen lässt. Man braucht aber auch die Gnade, dass man es hört und versteht und glaubt und befolgt. Es braucht also eine vierfache Gnadengabe. Zu allem gehört die Willigkeit und Bereitschaft, die in der Gnadenzuwendung bereits enthalten ist, weil sie sonst nicht weiterwirken kann. Dies ist ein dauernder Prozess, der nie aufhören wird und deshalb auch fremde und irreführende Lehren abweisen kann, denn wer auf Gott hört, geht auf andere Töne nicht ein.

Aus Gnade hat Gott die Erlösung verwirklicht. Es braucht aber auch Gottes Gnade, wenn man im Glauben bleiben will. Man soll nicht im Glauben stehen bleiben, sondern im Glauben weiter gehen, so wie man von Gott geführt wird. Genau genommen, gibt es gar kein Stehenbleiben im rechten Glauben. Das Vertrauen in Gott steht in ständiger Empfangsbereitschaft, um der Stimme des Hirten Folge leisten zu können. Wer in Christus ist, weiß, dass es immer weiter geht im Laufen nach Gottes Art.

Wichtig ist jedoch, dass man die Stimmen unterscheiden kann. Es ist Gnade, wenn man erkennen kann, was von Gott kommt und was nicht von Gott kommt. Der Hirte kennt seine Schafe, aber die Schafe kennen auch den Hirten. Und es gibt andere Schafe, die einem anderen Hirten vertrauen. Im weiteren Verlauf des Briefes wird das noch deutlich. Wie allen Gemeinden droht auch den Philippern ein Besuch von den Gesetzeslehrern und „arglistigen“ Aposteln (2 Kor 4,2; 11,13). Diese haben ein anderes Gnadenverständnis.

Die Gnade mag von Gott geschenkt kommen, aber dann muss man ihr Verbleiben erarbeiten, denn dann muss man sich im Halten der Torah noch viel mehr bewähren, als vor der Begnadigung. Die Gnade Gottes will gepflegt und verwöhnt werden, sonst verflüchtigt sie sich und man endet doch noch in der Finsternis der Gottferne, glauben diese Schafe der anderen Herde. Es ist eine Gnade der Bedingtheit, ebenso wie ihre Vertreter eine Liebe der Bedingtheit vertreten. Sie sagen, „Gott liebt euch, aber nur, wenn ihr Ihm gehorsam seid!“ Gott wie ein Mafiaboss, dem man Liebe für seine Freunde nicht absagen kann, der aber auch seine Freunde ohne Skrupel beseitigen würde, wenn sie untreu werden. Es ist eine bedingte, menschlich limitierte Liebe. Gott ist anders.

Nur in Christus kann man einrechtes Gnadenverständnis haben.Nur in Christus kann manein rechtes Liebesverständnis haben.

Und ebenso kann man sagen, nur in Christus findet man Frieden für die Seele. Frieden ist das andere, was Paulus gegenüber den Philippern so hervorhebt, dass er es ihnen unbedingt zusprechen möchte. Frieden ist Abwesenheit von Krieg. In der Seele herrscht Krieg, solange sie keinen Frieden hat. Es ist ein Krieg, den sie gegen Gott führt. Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen, weil Gott stärker ist. Aber jetzt kommt mit Christus das Besondere bei Gottes Entgegnung auf die andauernden Kriegserklärungen und kriegerischen Handlungen. Er wartet das Trommelfeuer der Anschuldigungen und der Selbstverteidigung ab, bis alle Köcher leer sind, dann kommt Er mit Seinem entwaffnenden Evangelium. Irgendwann kommt Gott mit Seinem Friedensangebot, dann wenn man erkannt hat, dass man auf der falschen Seite gestanden hat, auf der Seite der sinnlosen Vergötterung des Selbstes.

„Was betrübst du dich, meine Seele, und tumultest so in mir?“ lautet eine Übersetzung von Ps 42,5. So spricht eine noch nicht von Gott ausgefüllte Seele! Die menschliche Seele ist auf Gott geeicht. Solange sie die lebenspendende Nähe zu Gott nicht hat, ist sie innerlich unruhig. Ihren Frieden, das ist die Ruhe, die nach dem Ende des Krieges einkehrt, kann sie nur in Christus finden.

Der paulinische Segensgruß „Gnade und Friede“, den Paulus auch sonst gerne benutzt hat, *23 ist das Programm Gottes mit den Menschen. Zuerst wendet Er sich in Gnade den Menschen zu und dann finden sie den Frieden. Wenn sie im Frieden angekommen sind, sind sie Christus eingegliedert, denn außerhalb von Christus gibt es keinen Frieden.

Paulus wünscht jedem Menschen diesen Segen. Das tut er ganz leicht und froh, denn Paulus weiß, dass Gott Seinen Ratschluss, dahin zu kommen, dass jeder Menschen Gnade und Friede von Ihm erhalten möchte, umsetzen wird. Zuerst beginnt Gott damit an der Gemeinde, die klarer und prophetischer als jeder andere erkennen kann, was Gnade und Frieden bedeuten.

Auch Petrus grüßt mit „Gnade und Friede“, aber erst, nachdem er an die Heiligung zum Gehorsam erinnert hat. Es war für gläubige Juden nie eine Frage, dass es die Gnade Gottes ist, die sie erreichen will, um ihnen Heil angedeihen zu lassen. Und der „Friede“ hatte in dem stark umkämpften Gebiet Israel eine politische und für jeden einzelnen Bewohner eine starke persönliche Bedeutung. Bei Paulus haben „Gnade und Friede“ noch einmal eine erweiterte persönliche und weltgeschichtliche und eben auch heilsgeschichtliche Bedeutung. Die Gnade wird einmal mit ihrem Frieden die ganze Welt erfüllen. Jeder Jude weiß aber, dass er Gottes Gnade braucht, um in jeder Phase des Lebens existieren zu können.

Jakobus, der Gerechte, verwendet die Grußformel in seinem Brief an die Juden in der Diaspora nicht. Der Verfasser des Briefes an die Hebräer ebenso nicht. Beides sind Lehrbriefe. Beide sind nicht an die Gemeinden von Paulus gerichtet. Dieser wenig beachtete und oft nicht bekannte Umstand hat große Bedeutung.

„Gnade und Friede“ sind aber „von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“. (Phi 1,2) Das sind die beiden, die sich bei den Gläubigen bemerkbar machen. Bei Paulus sind beide einheitlich, einig und eins gegenüber ihrem Willen und der Wirkung und der Kommunikation mit dem Menschen, ebenso wie bei Johannes im Johannesevangelium. Von einem heiligen Geist ist hier nicht die Rede, weil ja der Vater und der Sohn bereits der heilige Geist sind. *24 Deshalb steht bei Paulus der heilige Geist immer im Kontext mit dem Vater oder dem Sohn. So z.B., wo Paulus den geistigen Beistand, den er hat, als „Geist Jesu Christi“ bezeichnet. Der „heilige“ Geist ist der Geist Christi, weil der Geist Christi heiliger Geist ist. *25 Der gläubige, geistbeseelte Mensch hat von diesem Geist Gottes.

Paulus fährt nach der Einleitung in seinem Brief mit Dank und Fürbitte an Gott für die Gemeinde in Philippi fort. Er freut sich über „eure Gemeinschaft am Evangelium“ und benennt es als Evangelium, das er verteidigt und bekräftigt (Phi 1,5.7). Damit ist klar, welches Evangelium er meint, denn gegen wen musste er sein Evangelium verteidigen und bekräftigen? Gegen Juden, „Judenchristen“ und Nichtjuden. Paulus hat jeder dieser Gruppen anders angesprochen und mit einer anderen Version „seines“ Evangeliums bekannt gemacht.

Den Nichtjuden predigte er nicht: „Euer Messias ist gekommen!“, sondern „Der Schöpfer der Himmel und Erde wird euch erretten vor dem drohenden Gericht über alles Böse!“ Den messianischen Juden predigte er nicht: „Ihr braucht die Torah nicht zu halten!“, sondern „Ihr könnt eine leibliche Gemeinschaft mit eurem Gott eingehen!“ Den Juden predigte er nicht: „Ihr müsst euch nicht mehr beschneiden lassen!“, sondern „Wenn ihr nicht umkehrt und an Jesus Christus glaubt, wird euer Messias nicht kommen und ihr bleibt im Gericht!“

Hier muss als erstes bedacht werden, dass er am meisten Ärger von den „Judenchristen“, also den messianischen Juden bekam, weil er die Nichtjuden nicht den jüdischen Aufnahmestandards zuführen wollte. Aber war das nicht seit der Apostelkonferenz in Jerusalem (Ap 15) geklärt? Wann war ein Nichtjude zu einem Juden geworden und warum spielte das bei den Jüngern Jesu überhaupt eine Rolle? Weil Jesus den Jüngern nichts davon gesagt hatte, dass Nichtjuden nicht wie bisher bestimmte Bedingungen erfüllen mussten, um in das Volk Gottes aufgenommen zu werden. Also mussten die Jünger zunächst davon ausgehen, dass in Bezug auf die Nichtjuden alles beim Alten geblieben war. Man verlangte von den gottesfürchtigen Interessenten für die Aufnahme ins Volk Gottes, dass sie sich beschneiden ließen und dass sie fortan die Torah einhielten, denn sie gibt den Bund mit dem Gott Israels vor. Als auch viel fremdes Volk mit Israel aus Ägypten mitzog, hatten sie sich natürlich ebenso den Anweisungen von Mose zu fügen. Als am Berg Sinai die Torah an das Volk gegeben wurde, waren unter dem „Volk“ bereits alle Völkerschaften zu verstehen, die sich mit Israel dort einfanden. Und so war es selbstverständlich, dass jeder Nichtisraelit, der zum Volk Gottes dazugehören wollte, auch die Torah einzuhalten hatte. Alle Staaten praktizieren diese Sichtweise, dass ein Zuwanderer nur dann geduldet werden kann, wenn er sich an die herrschenden Gesetze hält. Die herrschenden Gesetze im Staate Israel war die Torah. Jesus hatte daran nichts geändert. Er hatte sogar ausdrücklich betont, dass kein Tüpfelchen von der Torah vergehen würde, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18).

Um was ging es dann bei der Apostelkonferenz, die etwa um das Jahr 48 stattfand, mindestens fünfzehn Jahre nach der Himmelfahrt Jesu? *26 Es ging darum, dass messianische Juden, die von Jakobus keinen Auftrag dazu erhalten hatten, nach Antiochien gegangen waren, um die dortigen Gläubigen, unter denen viele Nichtjuden waren, dazu anzuhalten, sich beschneiden zu lassen. Paulus war dagegen und so schickte man ihn und Barnabas nach Jerusalem, um den Streitfall dort klären zu lassen. Dort traten wiederum messianische Juden, die früher zu den Pharisäern gehört hatten, auf und lieferten, ihrer Überzeugung nach, den biblischen und historischen Beweis dafür, was Nichtjuden ebenso wie Juden, auch wenn sie an den Messias gläubig geworden waren, tun mussten: „ Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten.“ (Ap 15,5) Das sollte man sich merken, es ging ihnen nie nur um die Beschneidung. Die Beschneidung ist nur das Bundeszeichen. Der Inhalt des Bundes ist die Torah mit den Geboten und Satzungen!

Interessanterweise unterscheiden sich diese damaligen messianischen Juden von heutigen messianischen Juden formal lediglich darin, dass die Letztgenannten nicht mehr die Beschneidung fordern, aber im Übrigen stehen sie zur Frage, ob die Torah von Nichtjuden gehalten werden soll, genauso wie die nichtjüdischen Christen der Kirchen und würden sie mit Ja! und Nein! beantworten. Man bekommt dann von der üblichen Aufteilung der Torah in Geboten zu hören, die man angeblich als Christ noch einhalten muss und andere, die angeblich nicht mehr gelten. Manche auf beiden Seiten – Juden und Nichtjuden - verlangen sogar, dass man den Sabbat und die biblischen Festtage noch halten muss und nur hinsichtlich dem, was dann Jakobus auf der Konferenz für die Nichtjuden entschieden hat, herrscht Übereinstimmung: „Dass sie sich enthalten von den Verunreinigungen der Götzen und von der Unzucht und vom Erstickten und vom Blut.“ (Ap 15,20) Bei diesem Streit übersieht man meist jedoch das Wesentliche.

Was die Apostelgeschichte nicht berichtet, ist, ob alle Anwesenden diesem Urteil von Jakobus zugestimmt haben und dann so verfahren sind. Den Briefen von Paulus ist zu entnehmen, dass es auch weiterhin messianische Juden gab, die die Beschneidung und die Einhaltung der Torah verlangten. Die sogenannte Christenheit war also schon von Anfang an ein uneinheitlicher, zerstrittener Haufen! Es gab nie eine reine, tadellose Urgemeinde! Das erinnert an die Worte Jesu: „Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnitternsagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune!“ (Mt 13,30). Hinzu kommt, dass auch ein uneinheitliches Eisen das andere uneinheitliche schärft.

Doch warum hatte Jakobus gerade so entschieden? Aus seiner Rede ist deutlich zu entnehmen, dass er Bezug nimmt auf die Verheißungen des Alten Testaments, dass Gott die „Hütte Davids“, also die Regentschaft Israels, wieder aufbauen würde und dass „von jeher bekannt ist’, weil es so auch die Propheten mehrfach verkündet hatten, dass diese Regentschaft, die eine messianische Regentschaft sein würde, deshalb wieder erstehen würde, „damit die Übrigen der Menschen den Herrn suchen und alle Nationen, über die mein Name angerufen ist, spricht der Herr, der dieses tut.“ (Ap 1,16-17) Das war alles bekannt. Dem hätten auch die Pharisäer nicht widersprochen. Doch als Begründung für die Entscheidung von Jakobus reichte diese Erklärung keineswegs aus. Daher gibt es jetzt eine logische Lücke in der Argumentation von Jakobus, wenn er fortfährt, dass die Bekehrten aus den Nationen nun nicht beunruhigt werden sollten und dass man ihnen deshalb nur das Genannte vorschreiben wollte (Ap 1,19-20). Jakobus vermag hier also nicht zu sagen, warum die Bekehrten aus den Nationen nicht beschnitten werden sollten wie man das in der Vergangenheit mit Proselyten, also Nichtjuden, die Juden werden wollten, getan hatte.

Seine Entscheidung zielt auf das Ende der „Beunruhigung“ der Nichtjuden ab. Das kann nur so verstanden werden, dass die bekehrten nichtjüdischen Messiasgläubigen, nachdem sie die Botschaft über ihren Erlöser von Paulus gehört hatten, nicht einsahen, warum sie sich der schmerzhaften Prozedur der Beschneidung, die ja zumindest ihren Ehefrauen nicht verborgen blieb, aussetzen sollten. Jakobus wollte sie dahingehend beruhigen. Dass er dabei so weit ging, weiter als es bisher in der Geschichte Israels möglich gewesen war, ist, vordergründig betrachtet, vielleicht auch dem Eindruck, den er vom Bericht von Paulus und Barnabas, aber auch vorher schon vom Bericht des Petrus gewonnen hatte, geschuldet. „Eindrücke“ werden ja vom menschlichen Geist beurteilt. Und der heilige Geist kann jederzeit beim Beurteilen mitwirken!

Jakobus erwähnt in seiner Rede ja auch ausdrücklich, was Simon Petrus erzählt hat. Was Petrus erzählt hat, ist in Ap 9 nachzulesen. Was Petrus erlebt hat, musste einen Jakobus beeindrucken. Und schon Petrus hatte mit den messianischen Juden einen Streit gehabt (Ap 11,2ff). Was Petrus widerfuhr, zeigt eindeutig Folgendes:

1. Petrus hielt die Torah und die jüdischen Bräuche wie jeder fromme Jude (Ap 11,8).

2. Eine „Taufe“ mit dem heiligen Geist kann ohne vorherige Beschneidung, ohne vorherige Unterweisung in die Torah und ohne, vorherige Taufe in Wasser erfolgen, was im Fall des Nichtjuden Kornelius und seiner Haushaltsangehörigen geschehen ist. (Ap 11, 15-16).

3. Gott hat auch den Nichtjuden die Umkehr zum gottgefälligen Leben geschenkt, ohne dass sie Juden geworden waren (Ap 11,18).

Die unvermeidbare Schlussfolgerung hat Petrus anscheinend nicht gezogen: da die Taufe mit dem heiligen Geist, das Innewohnen des Geistes Christi bedeutet, mithin die Rettung aus dem alten Adamsleben und der Erwerb des neuen Lebens in Christus, ist sonst nichts weiter nötig. Diese Schlussfolgerung war für Petrus vielleicht zu revolutionär, vielleicht auch zu fordernd, denn wenn sie richtig war, musste Petrus gegen das gesamte Judentum und seine eigenen Glaubensbrüder aufstehen und gegen bestehende Traditionen ankämpfen. So ein Kampf blieb dann ja nicht aus! Stattdessen stand Petrus nur „ein bisschen“ auf und erlebte schon einen Sturm der Entrüstung seitens der messianischen Juden. Dies machte ihn, gelinde gesagt, vorsichtiger. Da brachen möglicherweise alte Fluchtmechanismen bei Petrus durch. Anders ist sein Verhalten kaum zu erklären!

Warum mussten die messianischen Juden mit Petrus streiten? Weil Petrus wie sie gedacht hatte und nun eine andere Meinung als sie vertrat: „Wenn nun Gott ihnen die gleiche Gabe gegeben hat wie auch uns, die wir an den Herrn Jesus Christus geglaubt haben, wer war ich, dass ich hätte Gott wehren können?“ (Ap 11,17) Die messianischen Juden wollten nicht wahrhaben, dass für Nichtjuden jetzt alles so leicht war.

Aber das eigentliche Problem der messianischen Juden teilten sie mit den orthodoxen Juden und war sehr menschlich. Sie waren das auserwählte Volk und stammten von Abraham und Jakob ab, den Gott in Israel umbenannt hatte. Jedes andere Volk war nicht Gottes Volk. Um sich in der Völkerwelt die Eigenständigkeit zu bewahren, musste dieses kleine Volk seine religiöse Eigentümlichkeit bewahren und diese beinhaltete, zu behaupten, dass nur sie den einzig wahren Gott kannten und dieser ausgerechnet Israel zu seinem Verheißungsvolk gemacht hatte. Dies stand alles in Übereinstimmung mit Gottes Willenskundgebung! Die Reaktion der Völker auf den Standesdünkel der Juden war Ablehnung und Feindschaft, was wiederum den Separatismus der Juden förderte. Wer sich über andere erhebt, wird einsam. Wenn nun Petrus daherkam und erzählte, dass die Nichtjuden ohne vorher richtig Jude geworden zu sein, plötzlich zu den Auserwählten Gottes dazugehören sollten, dann konnte das nur auf Skepsis, wenn nicht sogar Ablehnung stoßen. Da wurden heilige Überlieferungen entehrt!

Festzuhalten ist jedenfalls, dass es bei der Geschichte um Kornelius und Petrus darum ging (Ap 10,1ff), dass die „alte Ordnung“ irgendwie nicht mehr gültig war. Wie genau, vermochte man aber nicht zu sagen, denn man konnte ja immer noch argumentieren: Kornelius und die Seinen mussten noch nachträglich beschnitten und in der Torah unterwiesen werden. Das Ereignis um Kornelius wurde also klein gehalten, weil es ganz gewiss nicht ins Glaubenskonzept passte.

Aus heutiger Sicht ist es für christliche Theologen leicht, nachdem man die Schriften von Paulus studiert hat, den Juden eine geistige Schwerfälligkeit zu bescheinigen. Dabei vergisst man aber die Zähigkeit einer Jahrhunderte alten Glaubenshaltung und Tradition, die sich nicht auf Sagen und menschliche Erfahrungen gründete, sondern auf Gottes Wort und Gott selbst. Diese Haltung aufzubrechen, war nur möglich, wenn Christus Höchstselbst Seinen Willen verdeutlichte. Beide Juden, Paulus und Petrus erfuhren eine Sonderbehandlung, denn beide waren überzeugte Traditionalisten gewesen. Petrus hatte sich bereits dagegen gewehrt, anzuerkennen, dass er sich überhaupt in das Haus eines Nichtjuden begeben müsste. Gott überzeugte ihn aber auf übernatürliche Weise, darunter ging es nicht, anerkennen zu müssen, dass Gott neue Fakten des Heils schaffte.

Eben darüber war jetzt auf der Apostelkonferenz zu reden. Und dort nimmt Jakobus auf die Torah Bezug. *27 Er tut es, indem er den Nichtjuden ausrichten lässt, was sie tun müssen, damit die Tischgemeinschaft mit den Juden möglich ist: Götzendienst – geht nicht! Verspeisen von Blut und Ersticktem – geht nicht! Unzuchtgeht nicht! Und er tut es, indem er erklärt: „Denn Mose hat von alten Zeiten her in jeder Stadt solche, die ihn predigen, da er an jedem Sabbat in den Synagogen gelesen wird.“ (Ap 15,21)

Was sind die Konsequenzen davon? Was bedeutet das für messianische Juden und messianische Nichtjuden?

1. Messianische Juden in der Diaspora müssen nicht befürchten, dass es zu einer torah-missachtenden Glaubenspraxis kommt, denn an der Lehre der Torah wird sich nichts ändern.

2. Wenn jemand, der Nichtjude ist und an den Messias glaubt, eine Lücke im Verständnis hat, was gesetzlich und was nicht gesetzlich ist, muss er nur in die Synagoge gehen, denn dort wird der Unterschied gelehrt.

Zu jener Zeit gingen die Christusanhänger nämlich noch in Synagogen, aus der Sicht der Juden entweder als Gottesfürchtige, wenn es Nichtjuden waren, oder als Juden, die an den Messias glaubten. Dass der Keil zwischen Judentum und Christentum bald noch spitz und schwer werden würde, war um das Jahr 48 noch nicht ausgemacht!

Von den Theologen wird kaum darüber nachgedacht, dass es sich bei dem Urteil von Jakobus um eine rein pragmatische, nach dem damaligen Standpunkt des Wissens von Jakobus getroffene Entscheidung handelte und nicht um ein Gottesurteil. Sie spiegelt nur das Bemühen von Jakobus wieder, eine gewisse Einheit unter den Gläubigen zu wahren. Es war aber gar nicht mehr möglich, eine ideale Einheit herzustellen, denn so wie Paulus ein anderes Evangelium gepredigt hatte, gab es entsprechend auch eine andere Zuordnung im Heilsplan Gottes. Jakobus vertrat das messianische Judentum, das auf das Reich Gottes wartete. In diesem Reich würden sich die Verheißungen der Propheten des Alten Testaments für Israel erfüllen und der Messias würde von Jerusalem aus die Nationen weiden. *28 Seine Exekutivorgane und die Judikative würden die messianischen Juden bilden und mit ihnen alle Nichtjuden, die dem Messias folgten.

Die Ausleger haben sich zurecht schon immer gefragt, warum der so sorgfältige Lukas bei der Beschreibung der Ereignisse um die Apostelkonferenz so zurückhaltend und unvollständig berichtet. *29 Wer an die Inspiration der biblischen Schriften glaubt, muss daher glauben, dass es Gott so gewollt hat. Das stimmt überein mit der Beobachtung, dass dem Evangelium nach Lukas zwar gewisse Anzeichen lehrmäßiger Beeinflussung von Paulus nachgesagt werden kann, aber weitaus überwiegend eine inhaltliche Übereinstimmung mit den Evangelien der anderen beiden Synoptiker Markus und Matthäus hat. Lukas schrieb nicht das, was er hätte schreiben können, sondern das, was er schreiben durfte.

Bei Paulus findet man den Hinweis, dass die Gemeinde des Leibes Jesu Christi sogar universal mit Aufgaben im Auftrag Gottes betraut sein würde und noch näher zum Messias stehen würde (1 Kor 6,3.15). In einem zentral geführten Reich ist ja die Regierung das unmittelbare Ausführungsorgan des Regenten. Aber im Unterschied zu einem demokratischen Rechtsstaat, wo sich fehlerhafte Menschen gegenseitig in Schach halten müssen, wird die vollendete Gemeinde Gottes keine Gewaltenteilung kennen und die drei Gewalten, der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtausübung und –durchsetzung sind in einer Hand.

Das Urteil von Jakobus ist ein Kompromiss. Seither tun sich die Kirchen schwer, diesem Kompromiss eine brauchbare Lehre abzugewinnen. Man hat auch gesagt, dass Jakobus damit warten wollte, den Heiden noch größere Lasten aufzubürden, damit sie nicht abgeschreckt würden. Erst einmal sollten sie mit diesen Geboten anfangen, und dann würde man weitersehen. Die vier Gebote als Glaubenstest, Anfangsschritte und Minimalforderung. *30 Allerdings kann man den heiligen Geist nicht abschrecken, er weht, wo er will! Und das tut er sowieso immer mit der hilf- und lehrreichen Behutsamkeit, die wachstumsmäßig voranschreitet. Das sieht man ja auch heutzutage, wo es immer wieder zu Bekehrungen kommt und dem Gläubigen erst nach und nach die ganze Bandbreite des Christuslebens bewusst wird. Die Fülle der Torahgebote schreckt ihn keineswegs im Feuereifer der Bekehrung ab. Was ihm stets mehr zu denken gibt, als die Forderungen des christlichen oder kirchlichen Gebotekatalogs, ist seine Sündhaftigkeit, die er anfangs noch gar nicht überblicken kann, und die Unfähigkeit, dagegen etwas aus eigener Kraft tun zu können – und auch das kann er anfangs noch nicht absehen. Erst im Lauf der Zeit geht einem Christusmenschen erst ein, dann zwei, dann immer mehr Lichter auf!

Dass Jakobus bei seiner torahtreuen Glaubenspraxis blieb und mit ihm die messianischen Juden, *31 zeigt jedenfalls, dass er selber zwei Gruppen von Messiasgläubigen unterschied, die Juden und Nichtjuden. Die Juden hielten weiter die Torah, weil sie zum Bund Gottes mit Israels dazugehörte, die Nichtjuden brauchten mehr oder weniger nur Messiasgläubige zu sein. Juden brauchten sie nicht zu werden.

Ein Teil der messianischen Juden, das zeigen die Briefe von Paulus, sah das anders. Nur als Angehöriger Israels war man Heilsträger, lehrten sie. Dass auch Jakobus zur Fraktion jener gehörte, die von der Torah nicht abzurücken gedachten, wird aus seinem Brief an die Juden in der Diakonie klar. An sie schrieb er genau deshalb, um ihnen zu verdeutlichen, dass die Torah nach wie vor in Amt und Würden war. Was Jakobus über die Heiden dachte, bleibt ungewiss. Nur weil von Jakobus ein Brief in der Bibel überliefert ist, heißt das nicht, dass die Meinung von Jakobus zu allen theologischen Fragen immer kompetent war. Niemand wusste alles, auch Paulus nicht! Und wenn es irgend einen Schriftforscher geben sollte, der heute mehr weiß als Jakobus oder Paulus damals – immerhin haben wir heute das Neue Testament, was es damals noch nicht gab! – dann nur deshalb, weil er auf den Schultern von geistigen Riesen steht.

Das ist also die Situation, in der sich die Gemeinde in Philippi befand, wenn messianische Juden kamen und ihnen ihr Evangelium brachten. „Wir freuen uns, dass Paulus euch die gute Botschaft vom Kommen des Messias gebracht hat. Aber damit ihr Anteil habt am Erbe des Messias, müsst ihr nun noch die Voraussetzung erfüllen. Ihr müsst Christus glauben, dass Er der Messias ist und Ihm gehorchen und nachfolgen. Jesus hat sich beschneiden lassen und hielt die Torah, er hielt den Sabbat und die Festtage.“ So könnte ihre Rede gewesen sein. Wer darüber lacht, sollte bedenken, dass innerhalb der Christenheit auch noch die Meinung vorherrscht, dass man ganz bestimmte „Gebote“ erfüllen muss, damit man gerettet werden kann. Es gibt auch nichtkatholische Glaubensgemeinschaften, die behaupten, dass man als Voraussetzung der Rettung durch Christus, die Taufe oder andere Zusätze zum Glauben braucht. Die Erklärung dafür, warum das so sein müsse, lautet: weil Jesus es uns geboten hat. In dieser Hinsicht war auch ein Luther nur ein Teil-Reformator. Im kleinen Katechismus der EKD heißt es: „Was gibt oder nützt die Taufe?

Sie wirkt Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es glauben, wie die Worte und Verheißung Gottes lauten.“ So denkt man, weil Jesus gesagt hatte: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.” (Mk 16,16) Luther bezog sich also ausgerechnet auf den Teil des Neuen Testaments, der am wenigsten als ursprünglich gilt, Mk 16,9-20. *32

Wenn tatsächlich das Wesentliche über die Apostelkonferenz von Lukas in seinem Bericht überliefert worden ist, befand sich die Gemeinschaft der Gläubigen in einer Situation, die den messianischen Juden erlaubte, zu ihren nichtjüdischen Glaubensgenossen zu sagen. „Jakobus hat ganz besonders hervorgehoben, dass ihr euch enthalten sollt vom Götzendienst, von Unzucht, und von unreinen Speisen. Und im Übrigen wird die Torah ja in jeder Synagoge gelehrt, damit ihr den ganzen Willen Gottes erfahrt!“

Was sollten darauf nach Wunsch von Paulus die Philipper entgegnen? „Unser Glauben an den Messias beinhaltet schon den Glaubensgehorsam Ihm gegenüber. Sein Geist ist in uns wirksam und lehrt uns in alle Dinge. Aber wir hören auch gerne die jüdischen Rabbis.“

Man kann ja immer was dazulernen, so wie Gott immer was lehren kann. Das „Wie“ ist Ihm überlassen. Und so ergab sich bei der Apostelkonferenz für die Zweifler und Grübler, was denn nun zu gelten hatte, eine höchst unbefriedigende Lösung, wie sich spätestens im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte und der Geschichte der frühen Christenheit zeigen sollte. Und es war vor allem Paulus, der das zu spüren bekommen hat. Gott hat nichts dazu getan, was klare und unmissverständliche Verhältnisse geschaffen hätte! Das scheint sich unleugbar aus den Briefen von Paulus zu ergeben!

Langfristig hätte die Apostelkonferenz Paulus helfen, nicht so feindlich von messianischen Juden behandelt zu werden wie vorher. Ob das gelungen ist, scheint fraglich. Dass die messianischen Juden nicht gut auf Paulus zu sprechen waren, ist verständlich, denn er lehrte die Freiheit der Nichtjuden von der Beschneidung und von der Torah, soweit sie heilsverbindlich sein sollten. Er war in ihren Augen ein Anti-Torah-Lehrer, obwohl auch Paulus keines der Gebote abschaffte und keine neuen einführte. Dass Paulus ein schlechtes Ansehen hatte, daran konnte auch das Machtwort von Jakobus nichts ändern. Hätte sich Jakobus eindeutig an die Seite von Paulus gestellt, hätte er vermutlich eher seine Autorität eingebüßt, als dass es Paulus viel geholfen hätte. Aber Jakobus konnte deshalb nicht anders entscheiden, weil er davon überzeugt war, dass man die Torah ohne Einschränkung halten musste, auch wenn man dazu den Tempel zu Jerusalem brauchte. Das Dilemma des messianischen Judentums kam im Jahre 70, als die Römer den Tempel restlos zerstörten. Was nun? Ohne heilige Opferstätte war die Torah gewissermaßen nicht mehr „haltbar“.

In den Gemeinden, die Paulus betreute, gab es viele Juden, die natürlich ihr Brauchtum nicht aufgaben. Es war klar, dass sie auch auf die Nichtjuden einen starken Einfluss ausübten. Wenn Paulus den Korinthern irgendwann später um das Jahr 50 über die Bedeutung des Passahlamms und der ungesäuerten Brote schrieb (1 Kor 5,6ff), ist das ein Hinweis dafür, dass er wusste, dass ihn die Korinther verstanden, weil ihnen das in der Torah verordnete Fest der Ungesäuerten Brote und das Passahfest bekannt war. Und warum war es ihnen bekannt? Weil sie es noch so feierten, wie sie es vorher auch schon getan hatten und wie es Paulus auch noch tat. Das waren Feste, die die Torah zu feiern gebot. Es waren aber auch Feste der Tradition, die den Zusammenhalt der Juden untereinander förderten. *33

Luther hätte nicht die Reformation anstoßen können, wenn Paulus im Römerbrief und Galaterbrief nicht klar zum Ausdruck gebracht hätte, dass Christus mehr als nur eine neue Torah ist, weil Er alles, was früher gut und recht war, völlig in sich trägt. Das zu verstehen, fällt bis zum heutigen Tag messianischen Juden und den Kirchen schwer. Der Grund dafür ist klar. Solange und soweit man Christus nicht in