Immer auf Sendung ... nie auf Empfang - Kate Murphy - E-Book

Immer auf Sendung ... nie auf Empfang E-Book

Kate Murphy

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Beschreibung

»Ich war nur kurz abgelenkt.« Viele Menschen halten sich für gute und empathische Zuhörer. Das ist ein Trugschluss – das Gegenteil ist der Fall. Wir sind viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt, planen bereits im Voraus die nächsten Argumente, meinen, im Vorfeld zu wissen, was der Andere sagen will. Wir sind abgelenkt durch ständige Erreichbarkeit auf allen Kanälen, die unterschiedlich bedient werden wollen, durch Multitasking und den beschleunigten Puls der ganzen Gesellschaft. Die vermeintlich simple und passive Tätigkeit des Zuhörens haben wir verlernt. Was das für uns, unsere Familie und unser Miteinander bedeutet und wie wir wieder zurück in den beidseitigen Dialog finden, erläutert die bekannte Wissenschaftsredakteurin Kate Murphy auf anschauliche Weise.

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Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buch

Viele Menschen halten sich für gute und empathische Zuhörer*innen, doch oft ist das Gegenteil der Fall: Im Gespräch sind wir abgelenkt durch ständige Erreichbarkeit auf allen Kanälen, durch Multitasking und den beschleunigten Puls unserer Gesellschaft. Die vermeintlich simple und passive Tätigkeit des Zuhörens haben wir verlernt. Kate Murphy schildert, was das für uns, unsere Familie und unser Miteinander bedeutet, und zeigt wie wir wieder zurück in den beiderseitigen Dialog finden.

Autorin

Kate Murphy ist eine renommierte US-amerikanische Wissenschaftsautorin. Ihre regelmäßigen Fachbeiträge unter anderem in der New York Times und The Economist erhalten große Beachtung und werden leidenschaftlich diskutiert.

Kate Murphy

IMMER AUF SENDUNG…NIE AUF EMPFANG

Warum wir einander endlich zuhören müssen

Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus de Palézieux

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »You’re Not Listening: What You’re Missing and Why It Matters« bei Celadon Books, New York.Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe März 2021

Copyright © 2019 der Originalausgabe: Kate Murphy

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: *zeichenpool, München

Umschlagmotive: shutterstock/Levchenko Ilia (Kopfhörer); shutterstock/Elena Barenbaum (Illustration Klappe hinten)

Redaktion: Eckard Schuster

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

GS/EB ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-23496-6V001

www.mosaik-verlag.deBesuchen Sie den Mosaik Verlag im Netz

Für alle, die etwas missverstanden haben oder sich missverstanden fühlen

Inhalt

Einführung

1 Die vergessene Kunst des Zuhörens

2 Das Gefühl der Übereinstimmung: Zuhören aus neurowissenschaftlicher Sicht

3 Hören Sie auf Ihre Neugier: Was wir von Kleinkindern lernen können

4 Ich weiß, was du sagen willst: Vermutungen als Ohrstöpsel

5 Die Schwerhörigen-Reaktion: Warum Menschen lieber mit ihrem Hund reden

6 Reden wie eine Schildkröte, denken wie ein Hase:94 Die Differenz von Sprache und Denken

7 Auf gegensätzliche Meinungen hören: Warum es sich anfühlt, als würde man von einem Bären verfolgt

8 Konzentration auf das Wesentliche: Zuhören in Zeiten von Big Data

9 Improvisieren: Warum Humor wichtig ist für das Zuhören

10 Dialogorientierte Sensibilität: Was Terry Gross, Lyndon B. Johnson und Betrüger gemeinsam haben

11 Auf sich selbst hören: Die wortgewandte innere Stimme

12 Das Gespräch unterstützen, nicht verändern

13 Hammer, Amboss und Steigbügel: Umwandlung von Klangwellen in Gehirnströme

14 Süchtig nach Ablenkung

15 Was Worte verschweigen und die Stille enthüllt

16 Die Moral des Zuhörens: Warum Klatsch gut für uns ist

17 Wann man mit dem Zuhören aufhören sollte

Schluss

Danksagung

Register

Anmerkungen

Einführung

Wann haben Sie zum letzten Mal jemandem zugehört? Wirklich zugehört, ohne darüber nachzudenken, was Sie selbst als Nächstes sagen wollten, als Sie Ihr Smartphone angestarrt oder den anderen unterbrochen haben, um Ihre eigene Meinung kundzutun? Und wann hat Ihnen jemand das letzte Mal wirklich zugehört? Hat auf das geachtet, was Sie sagten, und hat auf eine Weise reagiert, dass Sie sich wirklich verstanden fühlten?

Heutzutage sagt man uns, wir sollten auf unser Herz hören und unser Bauchgefühl spüren. Aber nur selten werden wir aufgefordert, aufmerksam und mit Bedacht anderen Menschen zuzuhören. Stattdessen lassen wir uns oft auf einen Dialog mit Gehörlosen ein, reden bei Cocktailpartys gern übereinander, auch bei Arbeitsbesprechungen und sogar bei Familienessen. So wie wir eingestellt sind, wollen wir die Unterhaltung lieber selbst bestimmen, als ihr nur zu folgen. Ganz gleich, ob wir online sind oder einem Menschen persönlich gegenüberstehen: Es geht offenbar immer darum, sich selbst zu definieren, das Gespräch zu gestalten und auf Sendung zu bleiben. Wichtig ist, was man selber vorhat; nicht das, was man im Gespräch aufnimmt.

Dennoch, Zuhören ist offensichtlich wertvoller als Reden. Kriege wurden geführt, Vermögen verloren und Freundschaften zerstört, ganz einfach, weil man nicht richtig zugehört hat. Calvin Coolidge [Präsident der USA von 1923 bis 1929, Anm. d. Ü.], hat das einmal auf so schöne Weise ausgedrückt: »Kein Mensch hat sich je aus dem Job gehört.«1 Nur durch das Zuhören engagieren wir uns, verstehen, verbinden und entwickeln wir uns als Menschen und haben Mitgefühl füreinander. Zuhören ist fundamental für jede erfolgreiche Beziehung – persönlich, beruflich, politisch. So sagt schon der antike griechische Philosoph Epiktet: »Die Natur selbst hat den Menschen eine Zunge, aber zwei Ohren gegeben, damit wir von den anderen doppelt so viel hören, wie wir selbst reden.«2

Es ist auffällig, dass Highschools und Colleges zwar Dis-kussionsclubs und Kurse in Rhetorik und Überzeugungsarbeit anbieten, selten aber, wenn überhaupt, Kurse beziehungsweise Aktivitäten, die das sorgfältige Zuhören vermitteln. Man kann einen Doktortitel in Sprachkommunikation erwerben und Clubs wie den Toastmasters [auch in Deutschland zu finden; in diesen Clubs wird die freie Rede geübt, Anm. d. Ü.] beitreten, um das Sprechen vor Publikum zu vervollkommnen, es gibt aber keinen vergleichbaren Abschluss oder auch nur ein Training, welches das Zuhören in den Vordergrund stellt oder dazu ermutigt. Das Bild von Erfolg und Macht ist heutzutage oft damit verbunden, dass man verkabelt ist, auf einer Bühne steht oder von einem Podium herab eine Rede hält. Wenn man einen TED-Talk oder auch eine Eröffnungsrede hält, gilt das oft schon als Erfüllung eines Traumes.

Die sozialen Medien haben praktisch jedem ein virtuelles Megafon in die Hand gedrückt, um jeden Gedanken zu verbreiten, und sie geben auch die Mittel an die Hand, um etwa gegenteilige Ansichten herauszufiltern. Die Menschen empfinden Telefonanrufe als aufdringlich und ignorieren Sprachnachrichten, weil sie Text oder wortlose Emojis lieber mögen. Wenn die Menschen überhaupt auf etwas hören, dann wahrscheinlich über Kopfhörer oder Ohrstöpsel, wo sie in ihren selbstgeschaffenen Klangblasen sicher sind – das ist der Soundtrack zu den Filmen, die ihr eigenes, abgeschottetes Leben ausmachen.

Ergebnis all dessen ist ein schleichendes Gefühl der Isolation und Leere, was die Menschen dazu bringt, nur umso mehr zu swipen, zu tippen und zu klicken. Die digitale Ablenkung besetzt den Verstand, tut dabei aber nur wenig, um ihn zu füttern, ganz zu schweigen davon, dass sie die Gefühlstiefe vernachlässigt, die ja bedingt, dass man den Klang einer anderen Stimme in den eigenen Knochen und der eigenen Seele spürt. Wirklich zuzuhören bedeutet, physisch, chemisch, emotional und intellektuell durch die Worte eines anderen Menschen berührt zu sein.

Dieses Buch ist ein Loblied auf das Zuhören und eine Klage darüber, dass wir drauf und dran sind, unsere Fähigkeiten fürs Zuhören zu verlieren. Als Journalistin habe ich zahllose Interviews mit vielen Menschen geführt, von Nobelpreisträgern bis zu obdachlosen Kleinkindern. Ich verstehe mich als professionelle Zuhörerin, und trotzdem werde auch ich dem zuweilen nicht gerecht, weshalb dieses Buch auch eine Anleitung ist, die Fähigkeit zum Zuhören zu verbessern.

Um dieses Buch schreiben zu können, habe ich mich fast zwei Jahre in die akademische Forschung zum Thema Zuhören vertieft – in die biomechanischen und neurobiologischen Vorgänge wie auch die psychischen und emotionalen Auswirkungen. Auf meinem Schreibtisch liegt eine blinkende externe Festplatte mit Hunderten von Interview-Stunden mit Menschen von Boise (Idaho) bis Beijing, die entweder einen bestimmten Aspekt des Zuhörens erforschen oder deren Job wie der meine ist, nämlich intensiv zuzuhören; dazu zählen Spione, Priester, Psychotherapeuten, Barkeeper, Unterhändler bei Geiselnahmen, Friseure, Fluglotsen, Radioproduzenten und Moderatoren für Gesprächsgruppen.

Ich bin auch auf einige der versiertesten und klügsten Personen zurückgekommen, die ich im Laufe der Jahre porträtiert oder interviewt habe – Entertainer, Vorstandsvorsitzende, Politiker, Wissenschaftler, Ökonomen, Mode-Designer, Profi-Sportler, Unternehmer, Küchenchefs, Künstler, Autoren und Religionsführer –, um sie zu fragen, was ihnen das Zuhören bedeutet, wann sie am besten zuhören können, wie es sich anfühlt, wenn ihnen jemand zuhört oder auch nicht zuhört. Und dann waren da noch all die Menschen, die in Flugzeugen, Bussen oder Zügen zufällig neben mir saßen oder mir vielleicht im Restaurant, bei einer Dinnerparty, einem Baseballspiel, beim Lebensmittelhändler über den Weg liefen, oder als ich mit meinem Hund spazieren ging. Einige meiner wertvollsten Einsichten zum Thema rührten daher, dass ich diesen Menschen zugehört habe.

Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie entdecken – wie es auch mir erging –, dass das Zuhören weit mehr betrifft als nur auf das zu hören, was Menschen sagen. Man sollte immer auch darauf achten, wie sie es sagen und was sie tun, während sie sprechen, in welchem Kontext, und wie das, was sie sagen, in einem nachklingt. Es geht nicht darum, einfach den Mund zu halten, wenn ein anderer sich weitschweifig auslässt. Ganz im Gegenteil. Ein Großteil des Zuhörens hat damit zu tun, wie Sie reagieren – wie sehr Sie anderen Menschen den klaren Ausdruck ihrer Gedanken entlocken und dadurch sich auch Ihr eigenes Denken herauskristallisiert. Wenn man gut und mit Bedachtsamkeit zuhört, kann dies das eigene Verständnis vom Menschen und der Welt um einen herum verändern, und das bereichert und erweitert wiederum unvermeidlich auch die eigene Erfahrung und die eigene Existenz. So entsteht Weisheit, und so entstehen auch sinnvolle Beziehungen.

Zuhören ist etwas, das man jeden Tag tut – oder auch nicht. Auch wenn man das Zuhören für selbstverständlich hält: Wie gut man zuhört, wem und unter welchen Umständen, bestimmt doch den Verlauf des eigenen Lebens – zum Guten wie zum Schlechten. Allgemeiner gesprochen betrifft unser kollektives Zuhören beziehungsweise der Mangel daran uns auch politisch, gesellschaftlich und kulturell. Jede und jeder von uns, wir alle sind die Summe dessen, wonach wir im Leben streben. Die beruhigende Stimme einer Mutter, die geflüsterten Worte eines oder einer Geliebten, die Anleitung durch einen Mentor, die Ermahnung durch einen Vorgesetzten, die Parolen eines politischen Führers, die Sticheleien eines Rivalen sind genau das, was uns formt. Und schlecht, selektiv oder gar nicht zuzuhören ist nichts anderes als eine Beschränkung des eigenen Weltverständnisses und beraubt einen der Möglichkeit, das Beste aus sich zu machen.

1Die vergessene Kunst des Zuhörens

Ich saß auf dem Boden meines Schlafzimmerschranks und interviewte Oliver Sacks. Gegenüber von meiner Wohnung wurde gebaut, deshalb war der Schrank der ruhigste Ort, an den ich mich verziehen konnte. So saß ich also im Schneidersitz in der Dunkelheit, schob die herunterhängenden Kleider und Hosen weg vom Mikrofon meines Telefon-Headsets, während ich mit dem bedeutenden Neurologen und Autor sprach, der vor allem durch seinen mit Robin Williams und Robert De Niro verfilmten Memoirenband Awakenings (dt.: Zeit des Erwachens) bekannt wurde.

Der Zweck des Interviews war es, mit ihm über seine Lieblingsbücher und -filme für eine kurze Kolumne in der Sonntagsausgabe der New York Times zu sprechen.3 Doch wir hatten gerade mit Baudelaire abgeschlossen und stürzten uns nun kopfüber in eine Diskussion über Halluzinationen, Wachträume und weitere Phänomene, die das ausmachen, was Sacks so poetisch als »Geistesklima« bezeichnete. Während mein Hund an der Schranktür kratzte, beschrieb Sacks das Klima seines eigenen Geistes, der gerade damals durch die bei ihm aufgetretene Unfähigkeit getrübt wurde, Gesichter zu erkennen; auch sein eigenes Spiegelbild blieb ihm fremd.4 Und er hatte keine räumliche Orientierung, weshalb es für ihn schwer war, selbst nach einem kurzen Spaziergang den Weg nach Hause zu finden.

An jenem Tag standen wir beide unter Zeitdruck. Außer der Kolumne musste ich eine weitere Geschichte bei der Times einreichen, und Sacks musste mich zwischen seine Patienten, seinen Unterricht und eine Vorlesung quetschen. Doch wir tauchten in unser Gespräch ein, das einmal auch darüber ging, wie wir das Wetter als Metapher für Geisteszustände benutzen: sonnige Aussichten, nebulöses Begriffsvermögen, Geistesblitz, Versiegen von Kreativität, stürmisches Verlangen. Zwar saß ich in einem dunklen Schrank, doch als ich ihm zuhörte, erlebte ich blitzartige Einsichten, Momente von Anerkennung, Kreativität, Humor und Empathie. Sacks starb 2015, einige Jahre nach unserer Unterhaltung, doch in meiner Erinnerung ist unser Gespräch immer noch ganz frisch.

Als häufige Autorin für die Times und gelegentliche Korrespondentin für andere Nachrichtenmedien habe ich das Privileg, brillanten Denkern wie Oliver Sacks, aber auch anderen, weniger bekannten, dabei nicht minder anregenden Geistern zuhören zu können, von Modeschöpfern bis zu Bauarbeitern. Ohne Ausnahme hat jeder von ihnen meine Weltsicht erweitert und mein Verständnis geschärft. Viele von ihnen haben mich außerdem zutiefst berührt. Die Menschen beschreiben mich als jemanden, der mit allen reden kann, aber tatsächlich kann ich allen Menschen zuhören. Für mich als Journalistin hat es so funktioniert. Die Ideen zu meinen besten Geschichten entstehen oft aus zufälligen Unterhaltungen. Vielleicht mit jemandem, der ein Glasfaserkabel unter der Straße verlegt, oder mit der zahnmedizinischen Fachangestellten bei meinem Zahnarzt oder mit einem Bankier, der Viehzüchter wurde und den ich in einer Sushi-Bar traf.

Viele Geschichten, die ich für die Times schrieb, haben es auf Listen mit den meistgemailten und meistgelesenen Artikeln geschafft. Aber nicht deshalb, weil ich einen Mächtigen zur Strecke gebracht oder einen Skandal enthüllt hätte. Sondern weil ich Menschen zugehört habe, die davon erzählten, was sie glücklich oder traurig oder besorgt gemacht, was sie interessiert, gelangweilt oder verwirrt hat, und dann habe ich mein Bestes versucht, in Worte zu fassen und näher auszuführen, was sie gesagt haben. Genau das muss auch geschehen, ehe man einen erfolgreichen Konsumartikel entwirft, einen erstklassigen Kundendienst aufbaut, die besten Angestellten anheuert und an die Firma bindet oder etwas verkauft. Es ist das Gleiche, was man auch als guter Freund, Liebespartner oder Elternteil benötigt. Überall geht es ums Zuhören.

Für jede der Hunderte Geschichten, die ich geschrieben habe und in der es vier bis fünf Zitate gibt, habe ich wahrscheinlich mit zehn bis zwanzig Menschen gesprochen, um meine Argumente zu untermauern, Hintergrundinformationen zu erhalten oder die Fakten zu überprüfen. Doch wie mein Schrankgespräch mit Oliver Sacks vermuten lässt, waren die denkwürdigsten und aussagekräftigsten Interviews für mich nicht diejenigen, die eine Geschichte aufmachten oder sie auf den Punkt brachten, sondern eher die, die vom Thema abkamen und ins Persönliche glitten – vielleicht über eine Beziehung, eine feste Überzeugung, eine Phobie oder ein prägendes Ereignis. Es waren die Momente, wenn jemand sagte: »Das habe ich noch keinem Menschen erzählt« oder »Ich wusste gar nicht, dass ich so fühlte, bis ich es einfach ausgesprochen hatte.«

Manchmal waren die Enthüllungen so persönlich, dass ich der einzige Mensch war, der sie erfuhr – und vielleicht noch bis heute bin. Die betreffende Person schien genauso überrascht wie ich von dem zu sein, was zwischen uns beiden geschehen war. Keiner von uns beiden wusste genau, wie wir an diesen Punkt gekommen waren, doch er war wichtig, fast sogar ein heiliger Augenblick und bislang unberührt. Es war eine gemeinsame Offenbarung, eingebettet in gegenseitiges Vertrauen, das uns beide berührte und veränderte. Das Zuhören schuf die Gelegenheit dazu und diente als Katalysator.

Das moderne Leben lässt solche Momente immer seltener werden. Die Menschen hörten früher einander zu, während sie auf der Veranda oder am Lagerfeuer saßen. Heute aber sind wir zu beschäftigt oder zu sehr abgelenkt, um die Tiefe der Gedanken und Gefühle des anderen zu erkunden. Charles Reagan Wilson, emeritierter Professor für Geschichte und die Erforschung der Südstaaten an der University of Mississippi, erinnert sich daran, Eudora Welty, eine Verfasserin von Kurzgeschichten und Romanen, gefragt zu haben, warum der Süden so viele große Schriftsteller hervorgebracht hätte. »Honey«, meinte sie, »wir hatten ja nichts anderes zu tun, als auf der Veranda zu sitzen und zu reden, und einer von uns hat es eben aufgeschrieben.«

Anstelle von Veranden haben die Häuser heute eher Garagen, die die Autos der Bewohner am Ende eines hektischen Tages in sich aufnehmen. Oder die Menschen leben getrennt voneinander in Apartments und Eigentumswohnungen und übersehen einander im Fahrstuhl. Wenn Sie heute durch die meisten Wohngegenden gehen, wird sich kaum einer über den Zaun lehnen und Sie zu einem Schwätzchen heranwinken. Das einzige Lebenszeichen ist das blaue Leuchten eines Computer- oder TV-Bildschirms in einem der Fenster der Häuser.

Früher haben wir uns noch mit Freunden und der Familie einzeln und persönlich getroffen; heute texten wir eher, twittern oder posten in den sozialen Medien. Heute kann man gleichzeitig zehn, Hunderte, Tausende oder sogar Millionen von Menschen auf dem Display erreichen – und trotzdem: Wie oft haben Sie die Zeit oder die Lust, in ein tiefgehendes, ausführliches und persönliches Gespräch mit einem dieser Menschen einzutreten?

In bestimmten sozialen Situationen reichen wir ein Smartphone herum und schauen uns Bilder darauf an, anstatt zu beschreiben, was wir gesehen oder erfahren haben. Anstatt gemeinsamen Humor im Gespräch zu entwickeln, zeigen wir uns gegenseitig Internet-Memes und YouTube-Videos. Und wenn es eine Meinungsverschiedenheit gibt, ist Google der Schiedsrichter. Erzählt jemand eine Geschichte, die länger als 30 Sekunden dauert, wird der Kopf nach unten gebeugt, aber nicht um nachzudenken, sondern um Nachrichten zu lesen, Sportergebnisse nachzuschauen oder zu studieren, was online gerade Trend ist. Die Fähigkeit, jemandem zuzuhören, ist durch die Möglichkeit ersetzt worden, jeden auszuschließen, vor allem diejenigen, die anderer Meinung sind als wir oder nicht schnell genug auf den Punkt kommen.

Wenn ich Menschen interviewe – sei es jemand auf der Straße, ein CEO oder eine Berühmtheit –, habe ich oft das Gefühl, dass diese Menschen nicht mehr gewohnt sind, dass man ihnen zuhört – als wäre es eine neue Erfahrung für sie. Wenn ich mit echtem Interesse auf das antworte, was sie sagen, und sie ermutige, mir noch mehr zu erzählen, scheinen sie geradewegs überrascht zu sein. Sie entspannen sich sichtbar und werden bei ihren Antworten nachdenklicher und gründlicher, weil sie sicher sind, dass ich sie nicht antreibe, unterbreche oder auf mein Smartphone starre. Ich vermute, das ist der Grund, warum sie mir so viele persönliche Dinge mitteilen – und zwar, ohne dass ich sie dazu aufgefordert hätte – völlig ohne Bezug zu der Geschichte, die ich gerade schreibe. Meine Gesprächspartner finden in mir jemanden, der ihnen schließlich und überhaupt einmal zuhört.

Weil nicht mehr zugehört wird, werden die Menschen einsam. Psychologen und Soziologen warnen bereits vor einer Einsamkeitsepidemie in den USA. Experten bezeichnen dies als öffentliche Gesundheitskrise, da das Gefühl der Isolation und der mangelnden Verbundenheit das Risiko eines frühzeitigen Todes in gleicher Weise erhöht wie das Fettleibigkeit und Alkoholismus zusammen bewirken.5 Der negative Einfluss des Gefühls der Einsamkeit auf die Gesundheit ist größer, als wenn man vierzehn Zigaretten pro Tag raucht. Tatsächlich haben epidemiologische Studien gezeigt, dass es Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und Herzkrankheiten, Schlaganfällen, Demenz und einer schlechten Immunfunktion gibt.

Vielleicht war genau die anonyme Person das Frühwarnsystem gegen die gegenwärtige Geißel der Einsamkeit, die schon 2004, als die Internetrevolution gerade einsetzte, in einem kleinen, unbekannten Online-Chatroom das Folgende postete: »Ich bin einsam, will jemand mit mir reden?«6 Dieser Schmerzensschrei verbreitete sich wie ein Virus, bekam sehr viele Reaktionen und Aufmerksamkeit in den Medien, wie auch dieser Thread ähnliche weitere nach sich zog, die noch heute auf vielen Online-Foren virulent sind.

Wenn Sie die Posts lesen, werden Sie bemerken, dass viele Menschen sich nicht deshalb einsam fühlen, weil sie alleine sind. »Ich bin jeden Tag von so vielen Leuten umgeben, fühle mich ihnen aber merkwürdig unverbunden«, schrieb ein User. Einsame Menschen haben niemanden, mit dem sie ihre Gedanken und Gefühle teilen können, und sie haben – was ebenfalls nicht unwichtig ist – auch niemanden, der ihnen seine Gedanken und Gefühle mitteilt. Es fällt auf, dass der Mensch hinter dem ursprünglichen Post darum bat, dass man ihn ansprechen möge. Er wollte nicht mit jemandem reden; er sehnte sich danach, jemandem zuzuhören. Verbundenheit ist notwendigerweise eine Art Straße mit Gegenverkehr, wobei jeder Partner und jede Partnerin im Gespräch auf das hört und auf das reagiert, was der oder die andere gesagt hat.

Die Anzahl derjenigen, die sich isoliert und alleine fühlen, hat sich seit diesem Post von 2004 noch weiter gesteigert. In einer 2018 durchgeführten Umfrage unter 20 000 Amerikanern gab fast die Hälfte der Befragten an, dass sie keine nennenswerten zwischenmenschlichen sozialen Kontakte hätten, wie zum Beispiel täglich ein ausführliches Gespräch mit einem Freund.7 Ungefähr die gleiche Anzahl sagte, sie fühle sich oft einsam und ausgeschlossen, selbst wenn andere Menschen um sie herum seien. Man vergleiche das mit den 1980er-Jahren, als ähnlichen Studien zufolge nur 20 Prozent sich einsam fühlten.8 Heute haben die Selbstmordraten in den USA den höchsten Stand seit dreißig Jahren, was eine Steigerung von mehr als 30 Prozent gegenüber 1999 darstellt.9 Die Lebenserwartung der Amerikaner verringert sich derzeit aufgrund von Selbstmord, Opiatabhängigkeit, Alkoholismus und anderen sogenannten Stresserkrankungen,10 die oft mit Einsamkeit einhergehen.11

Und das nicht nur in den USA. Einsamkeit ist ein weltweites Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet, dass die Selbstmordrate während der letzten 45 Jahre weltweit um 60 Prozent angestiegen ist.12 Großbritannien sah sich 2018 veranlasst, einen »Minister für Einsamkeit« zu ernennen,13 der den neun Millionen Briten helfen sollte, die sich oft oder immer einsam fühlten, wie ein Regierungsbericht aus dem Jahr 2017 festhielt.14 Und in Japan gab es eine starke Zunahme von Firmen wie Family Romance, die Schauspieler engagieren, die so tun, als wären sie Freunde einsamer Menschen, Familienmitglieder oder Liebespartner.15 An derartigen Verabredungen ist nichts Sexuelles; die Kunden bezahlen nur für die Aufmerksamkeit. So kann sich beispielsweise eine Mutter einen Sohn mieten, der sie besucht, wenn sie von ihrem eigenen Sohn entfremdet ist. Ein Junggeselle kann sich eine Ehefrau mieten, die ihn fragt, wie sein Tag verlaufen ist, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.

Einsamkeit macht keine Unterschiede.16 Neueste Forschungen zeigen keine großen Differenzen zwischen Männern und Frauen oder zwischen ethnischen Gruppen, wenn es sich um das Gefühl der Unverbundenheit handelt. Doch die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Angehörigen der Generation Z, die erste Generation, die vor Bildschirmen aufwuchs, genau die sind, die sich mit größter Wahrscheinlichkeit einsam fühlen und über sich sagen, dass sie bei schlechterer Gesundheit seien als andere Generationen, einschließlich der Älteren. Die Anzahl der Schulkinder und der Jugendlichen, die wegen Selbstmordgedanken oder -versuchen ins Krankenhaus kamen, hat sich seit 2008 mehr als verdoppelt.17

Es ist viel darüber geschrieben worden, dass sich Teenager heutzutage weniger verabreden, mit Freunden abhängen, einen Führerschein machen oder auch nur ohne die Eltern außer Haus gehen.18 Sie verbringen mehr Zeit alleine; sie sind traurig, und ihr Gesicht reflektiert das blaue Licht ihrer Smartphones. Studien legen nahe, dass die Traurigkeit umso größer ist, je mehr Zeit am Bildschirm verbracht wird. Schüler der achten Klasse, die die sozialen Medien intensiv nutzen, haben ein um 27 Prozent größeres Risiko einer klinischen Depression, und sie sagen mit 56 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit, dass sie unglücklich sind, im Vergleich zu ihren Altersgenossen, die weniger Zeit auf Plattformen wie Facebook, YouTube und Instagram verbringen. Eine Meta-Analyse zu Forschungen über Jugendliche, die ständig Videospiele spielen, hat gezeigt, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit unter Angst und Depression leiden.19

Um die Einsamkeit zu bekämpfen, sagt man den Leuten: »Geht hinaus! Schließt euch einem Club an, treibt Sport, arbeitet ehrenamtlich, ladet Menschen zum Essen ein, beteiligt euch an kirchlichen Aktivitäten.« Mit anderen Worten: Hört mit Facebook auf und trefft die Menschen von Angesicht zu Angesicht. Wie aber bereits oben erwähnt, fühlen sich die Menschen oft auch in Anwesenheit anderer Leute einsam. Wie soll man sich mit Menschen verbinden, wenn man »rausgeht« und dann von »Angesicht zu Angesicht« ist? Man hört ihnen zu. Das ist aber nicht so einfach, wie es klingt. Jemandem wirklich zuzuhören ist eine Fähigkeit, die viele vergessen zu haben scheinen, oder sie haben sie vielleicht noch nie wirklich gelernt.

***

Schlechte Zuhörer sind nicht unbedingt schlechte Menschen. Vermutlich haben Sie einen guten Freund, ein Familienmitglied oder eine Partnerin, der oder die ganz schlecht zuhören kann. Vielleicht sind ja auch Sie selbst nicht der beste Zuhörer. Und man muss Sie dafür in Schutz nehmen, weil Sie nämlich sehr oft so konditioniert worden sind, dass Sie schlecht zuhören können. Denken Sie nur an die Zeit, als Sie noch ein kleines Kind waren. Wenn ein Elternteil gesagt hat: »Hör mir zu!«, und Sie dabei womöglich noch fest an den Schultern gepackt hat, kann man eigentlich darauf wetten, dass Sie das, was als Nächstes kam, vermutlich nicht besonders mochten. Wenn Ihr Lehrer, Ihr Sporttrainer oder Ferienlagerbetreuer das Zeichen für »Zuhören!« gab, folgte meist ein Haufen von Regeln und Instruktionen, was der Freude sehr schnell Grenzen setzte.

Und ganz sicher wird die Tugend des Zuhörens weder durch die Medien noch in der Populärkultur aufgegriffen und gefördert. Nachrichten und Talkshows am Sonntagabend sind oft eher Redeschlachten beziehungsweise Übungen in »Jetzt hab ich dich!« als respektvolle Foren zur Darlegung abweichender Ansichten. In den Mitternacht-Talkshows geht es mehr um Monologe und Gags als darum, den Gästen zuzuhören und Diskussionen zu fördern, die über das Banale und Oberflächliche hinausgehen. In den TV-Shows am Vormittag und zur Mittagszeit sind die Interviews meist so angelegt und von Publizisten und PR-Beratern so choreografiert, dass Gastgeber und Gast eher vorbereitete Sätze von sich geben, als dass sie sich wirklich austauschen.

Die dramatische Darstellung von Gesprächen im TV und im Kino ist eher Salbadern und Monologisieren als leichtfüßiger und horizonterweiternder Austausch von Argumenten, der das Zuhören erleichtert. Der Drehbuchautor Aaron Sorkin wird etwa als Meister des Dialogs gepriesen. Man denke an das atemlose Wortgeplänkel und die verbalen Sticheleien in seinen Serien und Filmen The West Wing (dt.: Im Zentrum der Macht), A Few Good Men (dt.: Eine Frage der Ehre) und The Social Network. Seine Walk-and-Talk-Szenen (bei denen die Dialoge im Gehen innerhalb des West Wing im Weißen Haus in Washington, D. C. ablaufen) sowie die epischen Konfrontationen, von denen es zahllose Zusammenstellungen auf YouTube gibt, sind witzig anzuschauen und voll zahlreicher großartiger Wortwechsel – »Man kann die Wahrheit nicht beherrschen!«20 Aber lehrreich im Hinblick darauf, wie man zuhört, damit man ein erfüllendes Gespräch mit wechselseitigen, aufeinander eingehenden Antworten hat, sind sie nicht.

Das steht natürlich alles in der langen Tradition der öffentlichen Gespräche, die bis zum Algonquin Round Table zurückreichen, jener Gruppe von Autoren, Kritikern und Schauspielern, die sich in den 1920er-Jahren täglich zum Mittagessen im Algonquin Hotel in Manhattan trafen, wo sie Witzeleien, Wortspiele und geistreiche Bemerkungen zum Besten gaben. Ihr Schlagabtausch, wetteifernd und messerscharf, wurde damals in den wichtigsten Zeitungen veröffentlicht, zog das ganze Land in den Bann und bestimmt wohl immer noch die allgemeine Vorstellung darüber, wie ein kluges Gespräch ablaufen sollte.

Und trotzdem waren viele Mitglieder dieses Round Table zutiefst einsame und depressive Menschen, auch wenn sie einer lebhaften Gruppe angehörten, die sich beinahe täglich traf.21 So unternahm etwa die Schriftstellerin Dorothy Parker drei Selbstmordversuche,22 und der Theaterkritiker Alexander Woollcott war so voller Selbsthass, dass er kurz vor seinem Tod durch Herzinfarkt meinte: »Ich hatte nie etwas zu sagen.«23 Allerdings war das auch keine Gruppe, bei der einer dem anderen zuhörte. Keiner versuchte, wirklich mit den anderen, die mit am Tisch saßen, in echten Kontakt zu kommen. Sie warteten auf eine Eröffnung, darauf, dass jemand Atem holte, damit sie ihre eigenen verbalen Knallkörper abfeuern konnten.

In ihren späteren Jahren meinte eine nachdenklicher gewordene Dorothy Parker: »Der Round Table bestand nur aus einer Reihe von Leuten, die Witze von sich gaben und einander sagten, wie gut sie seien. Sie waren nichts als ein paar Maulhelden, die sich blicken ließen, ihre Gags tagelang für sich behielten und auf die Gelegenheit warteten, sie loszuwerden. An dem, was sie sagten, war nichts Wahres dran. Es war der schreckliche Tag der Witzeleien, weshalb es auch keinerlei Wahrheit zu geben brauchte.«24

Auch unsere politischen Führer sind nicht gerade Vorbilder, was das Zuhören angeht. Denken Sie nur an das Spektakel von Anhörungen im US-Kongress, die weniger Anhörungen als vielmehr Gelegenheiten für Senatoren und Abgeordnete sind, hochtrabend daherzureden, zu predigen, abzustrafen, zu schimpfen oder sonst wie jeden mitten im Satz zu unterbrechen, der das Unglück hat, vor ihnen auftreten zu müssen. Häufigste Bemerkung in den Mitschriften der Kongressanhörungen ist die Einfügung in Großbuchstaben des Wortes WORTGEFECHT, was besagt, dass jeder gegen den anderen anredet und der Schriftführer der Debatte nicht schlau wird aus dem, was die Beteiligten sagen.

Auf ähnliche Weise wird die wöchentliche Befragung des britischen Premierministers durch Parlamentsmitglieder, die sogenannten Prime Minister’s Questions, weniger als Übung im Zuhören empfunden, sondern vielmehr als Kabuki-Theater. Dieses Theater ist derart ins Extreme abgerutscht, dass viele Parlamentsmitglieder dabei nicht mehr anwesend sind. Der ehemalige Speaker (Parlamentspräsident) des Unterhauses, John Bercow, sagte der BBC: »Ich glaube, wir haben da ein echtes Problem. Einige erfahrene Parlamentarier, die nicht gerade Mauerblümchen sind und ganz gewiss keine zartbesaiteten Wesen, meinen: ›Das ist so schlimm, dass ich da nicht mitmache, ich bin nicht mehr dabei; ich schäme mich deswegen.‹«25

Die Angeberei ist zum Teil für den permanenten politischen Aufruhr und die gesellschaftliche Spaltung in den USA wie auch in anderen Ländern verantwortlich, weil sich die Menschen immer weniger mit denjenigen, die die politische Macht innehaben, verbunden und von ihnen gehört fühlen. Diese Gefühle scheinen berechtigt zu sein, da die politischen Entscheidungsträger, die Mainstream-Medien und die oberen Ränge der Gesellschaft schockiert waren von der politischen Unzufriedenheit, die sich an den Wahlergebnissen offenbarte, vor allem am Wahlsieg 2016 von Präsident Donald J. Trump und am Votum der Briten im selben Jahr, aus der EU auszutreten. Die Wähler haben bei diesen Wahlen eine Art Granate geworfen, um die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich zu ziehen, und nur wenige sahen dies kommen.

Die Stimmabgabe war kein Ersatz dafür, wirklich auf die Menschen in ihren Gemeinden zu hören und ihre Alltagsrealität sowie die Wertvorstellungen zu verstehen, die ihre Entscheidungen bestimmten. Hätten diejenigen, die politische Trends vorhersagen, sorgfältiger, kritischer und länger hingehört, wären die Wahlergebnisse nicht derart überraschend gewesen. Daten aus nicht repräsentativen Stichproben abzuleiten (zum Beispiel von Menschen, die auf unbekannte Telefonnummern antworten, die auf ihrer Rufnummernanzeige erscheinen, und die die Fragen der Meinungsforscher ehrlich beantworten) war irreführend.26 Das Gleiche gilt für die Berichterstattung in den Medien, die sich hauptsächlich auf die sozialen Medien verließen, um die Stimmung in der Öffentlichkeit einzuschätzen.

Und trotzdem werden immer noch die Aktivität in den sozialen Medien und die Stimmabgabe als Blaupause dafür angesehen, was die »wirklichen Menschen« tatsächlich denken. Durch den leichten und anscheinend breiten Zugang verleitet, zitieren heutzutage Print- und Fernsehjournalisten sowie Kommentatoren eher Twitter und Facebook, anstatt hinzugehen und Stellungnahmen einzuholen, die tatsächlich aus dem Mund wirklicher Menschen kommen. Weil es als effizient und datengesteuert gilt, sind der Blick auf die Trends in den sozialen Medien oder Online-Befragungen meist der Weg, wie das Zuhören im 21. Jahrhundert von der Presse, von Politikern und Lobbyisten, Aktivisten und Menschen mit wirtschaftlichen Interessen betrieben wird.

Dabei ist es fragwürdig, ob die Aktivität in den sozialen Medien tatsächlich die Gesellschaft insgesamt widerspiegelt. Wiederholt haben Untersuchungen gezeigt, dass Fake- bzw. Bot-Accounts für einen großen Teil des Inhalts verantwortlich sind.27 Man schätzt, dass 15 bis 60 Prozent der Accounts auf sozialen Medien nicht wirklichen Menschen gehören.28 Eine Studie hat gezeigt, dass 20 Prozent der Tweets zu den US-Wahlen 2016 von Bots stammten.29 Überprüfungen der Twitter-Accounts von Prominenten aus dem Musikgeschäft, darunter auch von Taylor Swift, Rihanna, Justin Bieber und Katy Perry, ergaben, dass die Mehrheit ihrer zig Millionen Follower in Wirklichkeit Bots waren.30

Vielleicht sind die Lurker (Lauscher) in den sozialen Medien noch weitaus stärker verbreitet.31

Dies sind Menschen, die Accounts einrichten, um zu sehen, was andere Menschen posten, dabei aber nur selten, wenn überhaupt, selbst etwas posten. Die Ein-Prozent-Regel beziehungsweise die 90-9-1-Regel der Internetkultur besagt, dass 90 Prozent der User einer Online-Plattform (soziale Medien, Blogs, Wikis, News-Sites etc.) nur beobachten und selbst nicht teilnehmen; neun Prozent kommentieren oder tragen nur in bescheidenem Umfang dazu bei, und lediglich knapp ein Prozent schafft den Großteil des Inhalts.32 Während die Anzahl der User von Plattform zu Plattform schwankt, vielleicht auch deshalb, weil bestimmte Nachrichten die Leidenschaft besonders stark wecken, ist es eine unumstößliche Wahrheit, dass es eben eine ziemlich große schweigende Mehrheit gibt.33

Außerdem gehören die aktivsten User in den sozialen Medien und diejenigen, die auf Websites Kommentare abgeben, einem ganz bestimmten Persönlichkeitstypus an, der allerdings nicht repräsentativ ist. Dieser Typ glaubt a), dass die Welt ein Recht auf ihre Meinung hat, und verfügt b) über die Zeit, diese Meinung regelmäßig zu veröffentlichen. Natürlich ziehen Gewalttaten, Spott und Übertreibung das größte Interesse und die größte Aufmerksamkeit auf sich. Neutrale, ernste oder gemäßigte Posts verbreiten sich dagegen kaum und werden auch nicht in den Medien zitiert. Das wiederum verzerrt den Dialog, verändert den Tenor der Gespräche und lässt Zweifel aufkommen, wie genau die Gefühle, die dort ausgedrückt sind, das wiedergeben, was die Menschen sagen würden, wenn sie einem lebendigen, aufmerksamen Zuhörer persönlich gegenüberstünden.

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Für die Recherche zu diesem Buch habe ich, was das Zuhören angeht, Menschen aller Altersstufen, ethnischen Gruppen und sozialen Schichten interviewt, Experten und Laien. Eine meiner Fragen war: »Wer hört Ihnen zu?« Fast ohne Ausnahme folgte auf diese Frage stets eine Pause. Ein Zögern. Wer Glück hatte, konnte mit ein bis zwei Menschen aufwarten, meistens dem Ehepartner oder vielleicht einem Elternteil, dem besten Freund, der besten Freundin, Bruder oder Schwester. Viele aber meinten, wenn sie ehrlich wären, hätten sie nicht das Gefühl, jemanden zu haben, der ihnen wirklich zuhörte; das galt auch für die Verheirateten oder für diejenigen, die von sich behaupteten, ein riesiges Netzwerk von Freunden und Kollegen zu haben. Andere Menschen berichteten mir, sie sprächen mit Therapeuten, Beratern, Friseuren und sogar mit Astrologen – das heißt, sie bezahlten dafür, dass man ihnen zuhört. Ein paar sagten, sie gingen zu ihrem Pastor oder Rabbi, und das auch nur in einer Krise.

Es war schon ungewöhnlich, wie viele Menschen mir berichteten, sie empfänden es als eine Last, die Familie oder Freunde zu bitten, ihnen zuzuhören – nicht nur, was ihre Probleme anginge, sondern wegen all dessen, was über die üblichen gesellschaftlichen Harmlosigkeiten oder Witzeleien hinausginge. Ein Energiehändler aus Dallas erzählte mir, es wäre »unhöflich«, wenn man das Gespräch nicht leicht gestaltete, andernfalls würde man zu viel vom Zuhörenden verlangen. Ein Chirurg aus Chicago meinte: »Je mehr man Vorbild ist, eine je stärkere Führungsfunktion man hat, desto weniger darf man sich entspannen beziehungsweise von dem reden, was einen selbst betrifft.«

Als ich meine Interviewpartner fragte, ob sie selbst gute Zuhörer seien, gaben viele von ihnen freiwillig zu, dass das nicht der Fall sei. Die Geschäftsführerin einer Schauspielerorganisation in Los Angeles sagte zu mir: »Wenn ich den Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen, wirklich zuhören würde, müsste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass ich die meisten von ihnen verabscheue.« Und sie war bei Weitem nicht die Einzige, die so dachte. Andere meinten, sie seien zu beschäftigt, um zuzuhören, oder könnten eben nicht gestört werden. Zu texten oder E-Mails zu schreiben sei nach ihrer Meinung effizienter, weil sie nur so viel Aufmerksamkeit investieren müssten, wie die Botschaft es verdiente, und sie könnten die Nachricht übergehen oder sie löschen, wenn sie uninteressant oder unangenehm ist. Gespräche von Mensch zu Mensch seien zu nervenaufreibend. Jemand könnte ihnen ja mehr erzählen, als sie wissen wollten, oder sie wüssten nicht, was sie antworten sollten. Digitale Kommunikation sei besser zu kontrollieren.

So also sieht die uns allen bekannte Szene des Lebens im 21. Jahrhundert aus: Anstatt in Cafés, Kaffeehäusern, Restaurants und am heimischen Esstisch miteinander zu reden, schauen die Leute auf ihre Smartphones. Und wenn sie miteinander sprechen, liegt das Smartphone auf dem Tisch, als ob es Teil des Gedecks wäre; es wird immer wieder so beiläufig wie Messer oder Gabel in die Hand genommen, wodurch eindeutig signalisiert wird, dass die gegenwärtig vorhandene Gesellschaft offenbar nicht fesselnd genug ist. Als Folge davon können sich Menschen geradezu schmerzhaft einsam fühlen, ohne so recht zu wissen, warum.

Und dann gab es noch die Menschen, die mir erklärten, sie seien gute Zuhörer, obwohl ihre Behauptung oft durch die Tatsache konterkariert wurde, dass sie mit mir per Handy sprachen, während sie Auto fuhren. »Ich bin ein besserer Zuhörer als die meisten Menschen«, erklärte mir ein Strafverteidiger aus Houston, der während des Berufsverkehrs meinen Anruf in seinem Auto entgegennahm. »Warten Sie eine Sekunde, gerade kommt ein anderer Anruf.« Wenig überzeugend waren auch die Leute, die meinten, sie seien gute Zuhörer, und dann unvermittelt auf ein völlig neues Thema kamen, das mit dem alten nichts zu tun hatte – etwa nach Art eines Cartoons in The New Yorker, auf dem ein Mann bei einer Cocktailparty ein Glas Wein in der Hand hielt und meinte: »Guck mal, wie ich unser Gespräch auf das eng begrenzte Gebiet meiner Erfahrung lenke.«34 Andere, nach eigener Aussage gute Zuhörer wiederholten das, was ich gerade gesagt hatte, als wäre es ursprünglich ihr eigener Gedanke.

Wiederum will ich damit nicht zum Ausdruck bringen, dass schlechte Zuhörer notwendigerweise schlechte oder rüpelhafte Menschen sind. Wenn die Menschen Ihre Sätze an Ihrer statt beenden, glauben sie tatsächlich, das sei hilfreich. Vielleicht unterbrechen sie, weil sie an etwas dachten, das Sie tatsächlich wissen wollten, oder sie dachten an einen Witz, der zu lustig war, um damit hinter dem Berg zu halten. Sie gehören zu den Menschen, die ernsthaft glauben, es sei höflich, Sie zu Wort kommen zu lassen und dann zu warten, bis Ihre Lippen sich nicht mehr bewegen, sodass nun sie endlich reden können. Vielleicht nicken sie schnell mit dem Kopf, um Sie anzutreiben, schauen kurz auf ihre Uhr oder ihr Smartphone, klopfen leicht auf den Tisch oder schauen über Ihre Schulter hinweg, um zu sehen, ob nicht noch jemand anderer da sei, mit dem sie reden könnten. In einer Kultur, die durchsetzt ist von Existenzangst und aggressiver persönlicher Selbstdarstellung, bedeutet leise zu sein, automatisch in Rückstand zu geraten. Zuzuhören ist gleichbedeutend damit, eine Gelegenheit zu verpassen, die eigene Marke voranzubringen und sich zu profilieren.

Denken Sie nur daran, was hätte passieren können, als ich Oliver Sacks interviewt habe, wenn ich mit meiner eigenen Agenda beschäftigt gewesen wäre. Es war eine kurze Kolumne, und ich brauchte nur ein paar knappe Antworten von ihm. Ich musste ihm nicht zuhören, wie er vom Geistesklima schwärmte oder beschrieb, wie herausfordernd es sei, ohne ein Orientierungsgefühl zu leben. Ich hätte ihn unterbrechen und ihm sagen können, er solle auf den Punkt kommen. Oder falls ich den Wunsch gehabt hätte, mich selbst darzustellen und Eindruck zu hinterlassen, hätte ich plötzlich damit anfangen können, Dinge aus meinem Leben und meine Erfahrungen mitzuteilen. Damit hätte ich aber den natürlichen Fluss des Gesprächs unterbrochen, die sich entfaltende Intimität unterbunden und sehr viel von der Freude über diesen Austausch verloren. Bis heute würde ich nichts von Oliver Sacks’ Weisheit in mir spüren.

Keiner von uns ist immer und überall ein guter Zuhörer. Es liegt in der Natur des Menschen, sich von dem ablenken zu lassen, was gerade im eigenen Kopf vor sich geht. Zuhören ist anstrengend. Wie beim Lesen möchte man vielleicht noch einmal sorgfältig manches durchdenken, während man einen anderen Text überfliegt, je nach Situation. Die Fähigkeit aber, aufmerksam zuzuhören, wie auch diejenige, aufmerksam zu lesen, nimmt ab, wenn man sich dem nicht oft genug aussetzt. Wenn Sie allen Leuten nur so zuhören, wie man beispielsweise die Überschriften auf einer Klatsch-Website überfliegt, entdecken Sie nicht die Poesie und Weisheit, die in den Menschen stecken. Und Sie halten das Geschenk zurück, das die Menschen, die Sie lieben beziehungsweise lieben könnten, sich am meisten wünschen.

2 Das Gefühl der Übereinstimmung: Zuhören aus neurowissenschaftlicher Sicht

Der Vorstandsvorsitzende von Facebook, Mark Zuckerberg, verordnete sich 2017 selbst eine »persönliche Herausforderung«, indem er »mit mehr Leuten darüber reden« wollte, »wie sie leben, arbeiten und über die Zukunft denken«.35 Er wollte sich aber nicht mit irgendjemandem unterhalten. Deshalb ließ er ein Vorbereitungsteam im Lande ausschwärmen, das die richtigen Menschen an den richtigen Orten ausfindig machen sollte, die mit ihm reden könnten. Als Zuckerberg dann erschien, war er von bis zu acht Helfern umgeben, wozu auch ein Fotograf gehörte, der ihn beim »Zuhören« aufnahm.36 Die Bilder wurden, welche Überraschung, natürlich auf Facebook gepostet.

Womit Zuckerberg recht hatte, war, dass Zuhören tatsächlich eine Herausforderung darstellt. Was er falsch verstand – und was ihn zum Objekt von Spott in den digitalen Medien und in der Presse machte –, war sein Gedanke, dass gestelltes Zuhören dasselbe wäre wie echtes Zuhören. Vielleicht haben auch Sie Ihre Erfahrungen mit Menschen gehabt, die aus dem Zuhören eine Show machten. Vielleicht taten sie nur so als ob, nickten ernsthaft mit gerunzelter Stirn, trotzdem war hinter ihren Augen eine merkwürdige Leere, und ihr Kopfnicken passte nicht zu dem, was Sie gesagt haben. Vielleicht haben sie allgemein geantwortet (»aha« oder »ich verstehe …«), ließen aber kein echtes Verständnis von dem erkennen, was Sie gesagt haben. Es klang wahrscheinlich herablassend – und Sie hatten vielleicht den Wunsch, ihnen ins Gesicht zu schlagen.

Wenn Sie wie die meisten Menschen reagieren, ärgert es Sie, wenn man Ihnen nicht zuhört, und schlimmer ist es noch, wenn die Menschen Sie herablassend behandeln. Was aber bedeutet es, jemandem wirklich zuzuhören? Interessanterweise können die Menschen leichter beschreiben, was jemanden zu einem schlechten Zuhörer macht, als dass sie sagen könnten, was einen guten Zuhörer ausmacht.37 Die traurige Wahrheit ist, dass die Menschen mehr Erfahrung haben mit dem Gefühl, ignoriert oder missverstanden zu werden, als damit, auf erfreuliche Weise gehört worden zu sein. Zu den am meisten genannten Eigenschaften des schlechten Zuhörens gehört:

unterbrochen zu werden,wenn nur unbestimmt oder unlogisch auf das geantwortet wird, was gerade gesagt wurde,wenn auf ein Smartphone, eine Uhr geblickt oder im Zimmer umhergesehen oder anderweitig vom Sprechenden weggeschaut wird,wenn nervös gezappelt wird (auf den Tisch klopfen, häufiges Verändern der Position, mit dem Kugelschreiber spielen, etc.).

Falls Sie dergleichen tun: Bitte lassen Sie es sein. Aber das allein macht Sie noch nicht zu einem guten Zuhörer. Es macht nur die Tatsache weniger deutlich, dass Sie ein schlechter Zuhörer sind. Zuhören ist mehr eine Geisteshaltung als ein bloßer Katalog von Geboten und Verboten. Es ist die besondere Fähigkeit, die im Lauf der Zeit durch den Umgang mit vielen Menschen entwickelt wird – ohne eine Agenda oder Helfer, die einspringen, wenn das Gespräch unerwartet oder ziellos verläuft. Ganz sicher setzen sich Zuhörer einem größeren Risiko aus, wenn sie zwar zuhören, aber nicht wissen, was sie hören werden, doch noch riskanter ist es, Abstand zu halten und die Menschen sowie die Welt um einen herum gar nicht wahrzunehmen.

Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, warum man im heutigen Technologiezeitalter überhaupt noch die Fähigkeit zum eigenen Zuhören kultivieren sollte. Die elektronische Kommunikation ist sicher effizienter und ermöglicht einem zu kommunizieren, wann und wie man will, zudem mit einer erheblich größeren Anzahl von Leuten. Und es stimmt auch, dass viele Menschen beim Reden nicht schnell auf den Punkt kommen. Die Menschen langweilen Sie vielleicht mit Geschichten, mit denen sie sich selbst wichtig machen oder Ihnen zu viele Details über ihre Darmspiegelung mitteilen. Und manchmal sagen sie auch Dinge, die verletzend oder verstörend sind.

Doch echtes Zuhören bringt Sie mehr als jede andere Aktivität in das wahre Leben. Zuhören hilft Ihnen, sich selbst so gut zu verstehen wie die, die mit Ihnen reden. Daher achten wir seit der Zeit, als wir Babys waren, mehr auf die menschliche Stimme und sind sehr gut auf ihre Feinheiten, Harmonien und Missklänge ausgerichtet.38 Wir fangen sogar an zu hören, ehe wir überhaupt geboren sind. Bereits ab der 16. Schwangerschaftswoche reagiert ein Fötus auf Geräusche,39 und im letzten Drittel der Schwangerschaft können wir klar zwischen Sprache und anderen Klängen unterscheiden.40 Ein ungeborenes Kind kann durch eine freundliche Stimme beruhigt und durch einen Wutanfall aufgeschreckt werden. Das Hören ist außerdem einer der letzten Sinne, die man vor dem Tod verliert. Hunger und Durst vergehen als Erstes, danach das Sprachvermögen, gefolgt vom Sehen. Sterbende Patienten behalten ihren Berührungs- und ihren Gehörsinn bis zum letzten Augenblick.41

Forschung an tauben und hörgeschädigten Kindern hat gezeigt, dass diese eine verminderte Fähigkeit aufweisen, sich einzufühlen und zugehörig zu fühlen.42 Ausführliche Forschungsarbeiten gibt es auch zu den nachteiligen emotionalen, kognitiven und Verhaltensauswirkungen bei denen, die ihr Gehör in späteren Jahren verlieren. Helen Keller [eine berühmte taubblinde US-Schriftstellerin, Anm. d. Ü.] sagte: »Ich bin taub, so wie ich auch blind bin … Taubheit ist ein viel größeres Unglück. Weil es den Verlust des wichtigsten Stimulus im Leben bedeutet – den des Klangs der Stimme, die Sprache hervorbringt, Gedanken antreibt und uns in der geistigen Gesellschaft der Menschen hält.«43

Man sollte aber auch ganz klar sagen, dass Hören nicht dasselbe ist wie Zuhören, sondern eher dessen Vorläufer. Hören ist passiv. Zuhören ist aktiv. Die besten Zuhörer fokussieren ihre Aufmerksamkeit und setzen noch weitere Sinne dafür ein. Ihr Gehirn arbeitet intensiv, um sämtliche eingehenden Informationen zu verarbeiten und ihre Bedeutung zu finden, was wiederum die Tür zu Kreativität, Mitgefühl, Einsicht und Wissen öffnet. Das Ziel des Zuhörens ist Verständnis, und das bereitet Mühe.

Viele der großen Gemeinschaftswerke in der Geschichte entstanden durch Menschen, die das, was der andere sagte, vollständig begriffen und verinnerlichten. Orville und Wilbur Wright, die Pioniere der modernen Luftfahrt, Winston Churchill und Franklin Roosevelt, Regierungschefs während des Zweiten Weltkriegs, James Watson und Francis Crick, die gemeinsam die Struktur der DNA